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Full text of "Psychiatrisch Neurologische Wochenschrift 4.1902 03"

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Medical Library 
8 The Fenway. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 

Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, 

Uchtaprinue (Altnmrkl. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). 

Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, 

Frankfurt a. M Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. 

Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, Direktor Dr. Olah, Direktor Dr. Ritti, 

Leipzig Mons (Belgien). Budapest. St. Maurice (Seine). 

Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, Dr. ined. et phil. W. Weygandt, 

Andernach. Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler 

Kraschnit/ (Schlesieni 

- - Vierter Jahrgang 1902 1903. : 



Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 


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2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Neurologie, dessen Präsidium v. Krafft-Ebing durch 
io Jahre innegehabt hatte, Professor Obersteiner 
das Wort und überreichte dem Jubilar eine Festschrift 
des Vereines mit zahlreichen Beiträgen von seinen 
Schülern und Freunden, darunter von seinen Studien-, 
collegen Professor Erb und Professor Schule. 

Hierauf ergriff der älteste Assistent der Klinik, 
Docent Dr. v. Sölder das Wort und wünschte dem 
Meister Glück für den heutigen Tag sowie für die 
Zukunft. 

Danach beglückwünschten den Jubilar Decan Pro¬ 
fessor Kolisko Namens der Wiener medicinischcn 
Facultät, Hofrath Chrobak Namens der Gesellschaft 
der Aerzte, Primararzt Dr. Redtersbacher für die 
Direction des allgemeinen Krankenhauses, Hofrath 
Nothnagel im Namen der Gesellschaft für innere 
Medicin, Regierungsrath Svetlin Namens der prak¬ 
tischen Aerzte, Professor A. Pick Namens der Prager 
medicinischen Facultät und Dr. Subotic Namens 
des Serbischen Aerzte Vereins. 

Auf diese Kundgebungen erwiderte Hofrath 
v. Krafft-Ebing folgendes: „Ich stehe verwirrt, be¬ 
schämt vor Ihnen und weiss nicht, wie ich es an¬ 
fangen soll, Ihnen allen zu danken. Ich habe nie 


[Nr. i. 


darüber nachgedacht, was ich eigentlich wcrth bin. 
Ich habe nur immer gestrebt, mir die Achtung meiner 
Mitmenschen zu erwerben und die Freundschaft 
meiner Collegen, und es scheint mir dies gelungen 
zu sein. Für die Psychiatrie kann Niemand etwas 
Grosses leisten; das ist eine Wissenschaft, die in 
einem Menschenleben kaum erfasst und ergründet 
werden kann. Es ist möglich, dass ich einige Bau¬ 
steine füri den Bau der Psychiatrie der Zukunft bei¬ 
getragen habe, und hoffe, dass zahlreiche Schüler 
durch einfache klinische, unermüdliche, voraussetzungs¬ 
lose Beobachtungen die Wissenschaft fördern und so 
mein Andenken ehren werden.“ Hierauf gab Pro¬ 
fessor v. Krafft-Ebing eine Schilderung seines Lebens¬ 
laufes, die auch hinsichtlich des von ihm in der Psy¬ 
chiatrie Erstrebten und Erreichten höchst interessant 
war. Damit schloss die Feier. 

Für den Abend war vom Vereine für Psychiatrie 
und Neurologie ein Festmahl zu Ehren des Jubilars 
veranstaltet worden, das bei zahlreichem Besuche 
sehr animirt verlief und bei dem auch die zahlreichen, 
aus Nah und Feme eingelangten brieflichen und 
telegraphischen Glückwünsche verlesen wurden. 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. 

Aus der juristischen Fachlitteratur des Jahres 1901 zusammengestellt 
von Dr. Ernst Schultee , Andernach. 


I. Strafgesetzbuch. 

§ 5i- 

ie Verteidigung hätte mit Rücksicht auf die Art 
ihrer Abweisung in den Entscheidungsgründen 
das ausdrückliche Eingehen auf die Frage nothwcndig 
gemacht, ob die Angeklagte das Bewusstsein von der 
ehrenkränkenden und herab würdigenden Natur ihrer 
gegen den Königlichen Landrath und den Freiherrn 
v. F. erhobenen üblen Nachreden gehabt habe. Das 
Urtheil sagt zwar, die Angeklagte habe das Gut D. 
ganz selbständig und mit grosser Sachkunde verwaltet, 
welche Aufgabe eine Frau von „im Allgemeinen“ auch 
nur wesentlich verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht 
hätte erfüllen können, und spricht der Angeklagten 
ausserordentlich gutes Erinnerungsvermögen zu. Allein 
dies Alles hat mit dem erwähnten Bewusstsein, das 
ein Erkennungsvermögen in ganz anderer und beson¬ 
derer Richtung voraussetzt, nichts zu thun. Dagegen 
ist bei der Strafzumessung erwogen, dass die Ange¬ 
klagte häufiger starken Aufregungen und nervösen 


Ueberreizungen unterworfen und von schweren Krank¬ 
heiten heimgesucht worden sei, die nicht ohne Einfluss 
auf ihr Gemüthsleben bleiben konnten. Hierauf wird 
die Feststellung gegründet, „dass in dieser Beschränkung 
sogar im Allgemeinen eine geminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit“ angenommen werden könne. Es ist unklar, 
was die Strafkammer hierunter versteht, insbesondere 
welche Beschränkung sie annimmt und welche Seite 
der Zurechnungsfähigkeit sic für gemindert hält. Dies 
ist ein Mangel, der gleichfalls zur Aufhebung des 
Urtheils führt; denn es ist nicht ausgeschlossen und 
mit diesen Entscheidungsgründen wohl vereinbar, dass 
das überreizte Gemüthsleben gerade die klare Einsicht 
in die beleidigende Natur ihrer Aeusserungcn getrübt 
und dass die Minderung ihrer Zurechnungsfähigkeit 
gerade in der Einseitigkeit ihres Gedankenkreises 
bestanden hat, vermöge deren sie die Nebenwirkungen 
der Verfolgung einer fixen Idee, hier die beleidigende 
Natur ihrer Verfolgungsthätigkeit, ganz übersehen oder 
nicht erkannt hat. Eine solche fixe Idee stellt das 



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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Urtheil fest. Die Angeklagte betrachtet sich, weil ein 
Gendarm, den sie zur Einschreitung gegen Wilderer 
veranlasst zu haben glaubt, von einem Wilderer er¬ 
schossen worden ist, als die Ursache der „Erschiessung“ 
und hält es für ihre Pflicht, nicht eher zu ruhen, bis 
der „Mörder“ entdeckt ist. Sie nimmt an, dass Frei¬ 
herr v. F. dabei betheiligt gewesen sei, und diese 
Bezichtigung ist im Wesentlichen der Gegenstand der 
beleidigenden Briefe an ihn, seine'Frau und andere 
Personen; die Beleidigungen des Königlichen Lancl- 
rathes stehen damit in innerem Zusammenhänge. Da 
die Urtheilsgründe die Behauptung der Angeklagten 
für glaubwürdig erklären, dass sie fortdauernd ihrer 
Pflicht gemäss von dem Motive beseelt gewesen sei, 
zur Aufklärung der folgenschweren dunklen That nach 
Kräften beizutragen, so scheint die Strafkammer zu¬ 
zugeben, dass auch die fraglichen Briefe diesen Zweck 
verfolgten. Verfolgte sie nun diesen Zweck bei „im 
Allgemeinen geminderter Zurechnungsfähigkeit“, so 
bestand umsomehr Anlass, zu untersuchen und fest¬ 
zustellen, ob davon nicht das Bewusstsein der beleidigen¬ 
den Nebenwirkung berührt und ausgeschlossen war, 
als die Vertheidigung der Angeklagten, sie wisse nicht, 
was sie geschrieben oder gesagt habe, da sie zur Zeit 
krank war (laut Sitzungsprotokoll), offenbar dieses 
Bewusstsein — wie jedes andere — ausdrücklich 
bestritten hatte. Statt dessen spricht das Urtheil nur 
davon, dass die Beleidigten die betreffenden Aeusse- 
rungen'als Angriffe auf ihre Ehre empfunden haben, 
und dass die Angeklagte die Pflicht erkennen musste, 
die Ehre ihrer Mitmenschen nicht freventlich anzutasten. 
Dass hiermit nicht gesagt ist, sic habe bewusst gegen 
diese Pflicht gehandelt, liegt zu Tage. 

Urtheil des I. Sen. vom io. Juni 1901. 1872. 

1901. J. W.*) pag. öoi. 

$ 65 Abs. 3. 

Der von dem Vormunde in eigenem Namen und 
nicht in Vertretung des Entmündigten gestellte Straf¬ 
antrag ist unwirksam, wenn der Bevormundete be¬ 
schränkt geschäftsfähig, also nicht wegen Geistes¬ 
krankheit, sondern nur wegen Geistesschwäche oder 
aus andern Gründen entmündigt ist. Für die Be- 
urtheilung der Geschäftsfähigkeit ist der Entmündigungs¬ 
beschluss maassgebend. 

Urtheil des IV. Sen. vom 18. Januar 1901. 

J. W. pag. 433. 

§ x 75- 

„Unzucht“ ist nicht denkbar, ohne dass wenigstens 
ein Theil in wollüstiger Absicht handelt. Dagegen 
braucht diese nicht noth wendig auch bei dem andern 

*) Juristische Wochenschrift. 


vorzuliegen. Es genügt, dass dieser auch seinerseits 
bewusster- oder gewolltermaassen zu der beischlafs¬ 
ähnlichen Handlung mitwirkt, sie insoweit selbst vor¬ 
nimmt oder duldet, und zwar in Kenntniss 
davon, dass der Andere dabei in der Absicht der Er¬ 
regung oder Befriedigung seines Geschlechtstriebes 
handelt. 

Urtheil des II. Sen. vom 29. März 1901. 632. 

1901. J. W. pag. 436. 

§ 230. 

Die Angeklagte hatte als Oberin des Kranken¬ 
hauses die Anordnungen des dirigirenden Arztes Dr. 
B. zu befolgen. Dabei war es ihre Berufspflicht, mit 
der ihr möglichen durch die Umstände gebotenen Sorg¬ 
falt im Einzelfalle zu prüfen, ob die Voraussetzungen 
Vorlagen, für welche die von ihm im voraus erlassenen 
allgemeinen Anordnungen getroffen waren, und zu 
erwägen, dass derartige Anordnungen alle denkbaren 
Besonderheiten eines jeden einzelnen Falles nicht er¬ 
schöpfen können. Gelangte sie bei ihrer sorgsamen 
Prüfung zu der Ansicht, dass die Voraussetzungen 
einer allgemeinen Anordnung gegeben waren, 
so hatte sie dieser einfach Folge zu leisten. Sie 
würde pflichtwidrig gehandelt haben, w^enn sie selb¬ 
ständig von der Vorschrift abgewichen w r äre, weil sie 
etw a nach ihrem eigenen Ermessen eine andere Maass- 
nahme für geboten erachtet hätte. Sie war nicht 
berechtigt, ihre eigene Ansicht höher zu stellen, als 
die des Krankenhausarztes; sie war nicht verpflichtet, 
ihm Gegenvorstellungen zu machen. Gewinn sie aber 
bei ihrer Prüfung die Meinung, es sei unwahrscheinlich 
oder doch ungewiss, ob die thatsächlichen Voraus¬ 
setzungen der allgemeinen Anordnung Vorlagen, so 
hatte sie, weil es für solche zweifelhaften Fälle an 
einer zutreffenden Anordnung fehlte, je nach den 
Umständen entweder die Bestimmung des Arztes ein¬ 
zuholen oder selbst, wenigstens vorläufig, Bestimmung 
zu treffen. In diesem Sinne ist der Satz des ange¬ 
fochtenen Urtheils zu verstehen oder nur als richtig 
anzuerkennen: „Eine Oberin, die, wie die Angeklagte, 
bereits ib Jahre in ihrem Berufeist, hat nicht wällen¬ 
los und blindlings die von dem Arzt getroffenen 
Anordnungen auszuführen, sondern sie hat nach ihrem 
pflichtmässigen Ermessen zu prüfen, ob dieselben an¬ 
gebracht erscheinen oder nicht.“ Die Angeklagte hat 
in Beziehung auf K., nachdem sie in dem Aufnahme¬ 
schein als Grund der Aufnahme das delirium tremens 
gelesen hatte, diejenigen Anweisungen einfach befolgt, 
welche der Krankenhausarzt für den Fall der Ein¬ 
lieferung eines an delirium tremens leidenden Kranken 
allgemein ertheilt hatte: sie hat K. ohne Benach¬ 
richtigung des Arztes in die Tobzelle bringen und 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i. 


hier ohne Bewachung bis zu dem täglichen Kranken¬ 
besuche des Arztes verbleiben lassen. Das Urtheil 
giebt keine Gründe an, weshalb die Angeklagte bei 
gehöriger Erwägung, etwa wegen des Grades der 
Erkrankung, hätte erkennen müssen, dass der vor¬ 
liegende Fall ein solcher sei, welcher unter die all¬ 
gemeine Anweisung nicht oder vielleicht nicht falle. 
Sie hat nach Einsicht des keine Andeutung über eine 
andere vorhergehende oder fortdauernde Erkrankung 
enthaltenden Aufnahmescheines des Sanitätsraths Dr. 
C. und nach Empfang der Anzeige über die grosse 
Unruhe des Kranken erklärt, die Angehörigen hätten 
die Unwahrheit betreffs der Krankheit gesagt; es ist 
nicht für widerlegt erachtet, dass sie bei ihrer Maass- 
nahme die Angaben des Sohnes und der Tochter des K. 
über die Rippenfellentzündung ihres Vaters für unwahr 
gehalten hat; es ist nicht festgestellt, dass und weshalb 
dieser ihr Glaube etwa ein fahrlässig verschuldeter 
war. Nach den Urtheilsgründen „musste sich die 
Angeklagte bei ihrer langjährigen Thätigkeit sagen, 
dass das Verbringen eines solchen Kranken ohne jede 
ärztliche Untersuchung und ohne jegliche Bewachung 
in die ihr wohlbekannte Tobzelle sehr wohl geeignet 
war, an dem Kranken derartige schwere Verletzungen, 
w'ie bei K. geschehen, herbeizuführen.“ Anscheinend 
ist gemeint, die Angeklagte habe die Untersuchung 
veranlassen müssen, damit der Arzt über die Ein¬ 
schliessung in der Tobzelle und die dabei einzuhalten¬ 
den Maassregeln entscheide. Aber weshalb sie dies 
hätte thun müssen, obgleich der Arzt allgemein seine 
zuvorige Benachrichtigung als unnöthig bezeichnet hatte, 
ist nicht gesagt und aus den Worten „eines solchen 
Kranken“ nicht zu entnehmen. Dass eine Bewachung 
die Selbstverletzungen unmöglich gemacht haben würde, 
ist festgestellt. Aber wenn auch die Tobzelle mit 
ihren vier nackten Wänden und ihrer eisenbeschlagenen 
Thür den Tobsüchtigen Mangels Bewachung Gelegen¬ 
heit zu Selbstverletzungen gab, so war doch dieser 
Umstand für den Arzt nicht ausreichend gewesen, 
stets eine Bewachung darin anzuordnen. Es fehlt im 
Urtheil an der Angabe eines Grundes, weshalb die 
Angeklagte, welche sich die Gefährdung des Kranken 
beim Unterbleiben einer Bewachung klar machen 
musste, berechtigt und verpflichtet war, der Bestimmung 
des Arztes, welcher eben diese den Kranken gefähr¬ 
dende Behandlungsweise vorgeschrieben hatte, nicht 
Folge zu leisten. 

Urtheil des III. Sen. vom io. Dezember 1900. 
4200. 1900. J. W. pag. 278. 

II. Strafprocessordnung. 

§ 5i- 

Der Mangel einer genügenden Vorstellung von 


dem Wesen und der Bedeutung des Eides, welcher 
nach dieser Vorschrift die Unterlassung der Beeidigung 
rechtfertigt, muss auf mangelnder Verstandesreife oder 
auf Verstandesschwäche beruhen. Eine Ausdehnung 
auf andere Gründe ist unstatthaft. Verhindert Trunken¬ 
heit den Zeugen, die Aussage wahrheitsgetreu und im 
Bewusstsein der mit der Eidesleistung zu übernehmen¬ 
den Verantwortlichkeit zu machen, so hat das Gericht 
die Vernehmung und Beeidigung bis zur Hebung 
des Hindernisses zu verschieben, also in einen späteren 
Abschnitt der nöthigenfalls zu unterbrechenden Haupt¬ 
verhandlung zu verlegen oder Aussetzung der Ver¬ 
handlung anzuordnen. 

Urtheil des III. Sen. vom 10. Juni 1901. 1925. 

1901. J. W. pag. 687. 

§§ 56, 260. 

Die Vernehmung eines Geisteskranken als Zeugen 
ist zulässig und in § 56 Str. P. Ö. vorgesehen, indem 
der daselbst Nr. 1 gebrauchte Ausdruc k Verstandes¬ 
schwäche die Geisteskrankheit mit umfasst. 

Urtheil des II. Sen. vom 9. Oktober iqoo. 3479. 
1 900. J. W. pag. 283. 

§ 72 . 

Die Revision rügt, die Vernehmung des Dr. S. 
habe in unzulässiger Weise, unter Verletzung der 
Mündlichkeit des Verfahrens, stattgefunden. Dieser 
Sachverständige sei fast taub, so dass er nicht im 
Stande sei, die an ihn gerichteten Fragen zu verstehen ; 
er habe sich in der öffentlichen Sitzung einer Mittels¬ 
person, des P. bedient, der die vom Vorsitzenden an 
jenen gerichteten Fragen rasch zu Papier gebracht 
und ihm vor Augen gehalten habe, w r orauf die Ant¬ 
wort erfolgte. P. aber sei nicht als Dolmetscher 
vereidigt und nur stillschweigend geduldet worden. 
Nach amtlicher Auskunft des Vorsitzenden ist Dr. S. 
schwerhörig; „er lässt sich“, sagt der Vorsitzende, 
„die an ihn gestellten Fragen, um jedem Missverständ¬ 
nisse vorzubeugen, durch eine Mittelsperson auf¬ 
schreiben. Da ich aus den Antworten des Sachver¬ 
ständigen ersah, dass er meine Fragen stets richtig auf¬ 
gefasst hatte, habe ich diese Art der Verständigung 
für zulässig erachtet.“ Obgleich diese Erklärung nicht 
einer Beurkundung im Sitzungsprotokoll gleichkommt, 
kann sie doch, als zu Gunsten der Revision lautend 
nicht unberücksichtigt bleiben. Das darin zugegebene 
Verfahren erscheint in hohem Grade bedenklich, zu¬ 
mal, da es scheint, dass es, wie die Revision ein- 
fliessen lässt, bei Vernehmungen des genannten Sach¬ 
verständigen sogar stets eingehalten zu werden pflegt. 
Von einer Verpflichtung, überhaupt von den persön¬ 
lichen Eigenschaften der jeweiligen Mittelsperson ist 
in der Erklärung keine Rede. Doch kann eine Ver- 


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i(j02 J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


letzung des Grundsatzes der Mündlichkeit oder einer 
bestimmten Vorschrift der Str. P. O. nicht in dem, 
was der Vorsitzende zugiebt, gefunden werden. Denn 
hiernach wurden von ihm die Fragen mündlich gestellt 
und diese von dem Sachverständigen mündlich be¬ 
antwortet. Und wenn der Vorsitzende, wie er be¬ 
hauptet, sich überzeugte, dass der Sachverständige 
die Fragen richtig aufgefasst habe, so muss an¬ 
genommen werden, dass diese Antworten jeden Zweifel 
hierüber ausgeschlossen haben. Da der Sachver¬ 
ständige nicht taub war, war die Zuziehung eines 
Dolmetschers nicht geboten und hatte eine Belehrung 
oder Vereidigung der Mittelsperson, deren sich nicht 
der Vorsitzende, sondern der Sachverständige, um 
jedem Missverständnisse vorzubeugen, bediente, nicht 
stattzufinden. Sache der Processleitung wäre es 
gewesen, eine solche Einmischung eines Unberufenen 
zurückzu weisen ; aber da die Unterlassung nicht be¬ 
anstandet wurde, konnte die Revision keinen Erfolg 
haben. Denn dass die Schwerhörigkeit des Sachver¬ 
ständigen ihn hinderte, die Einlassung des Angeklagten, 
die Aussagen der Zeugen, die Ausführungen des Staats¬ 
anwaltes und Vertheidigers zu hören, ist nicht er¬ 
sichtlich; im gegebenen Falle waren Zeugen überhaupt 
nicht vernommen, und der Vertheidiger hat nicht 
behauptet, den Versuch gemacht zu haben, direkte 
Fragen ! an den Sachverständigen zu stellen; seine 
hierauf bezüglichen Bemerkungen in der Revisions¬ 
schrift sind darum nicht geeignet, den einzigen Gerichts¬ 
beschluss, der in der Hauptverhandlung erlassen worden 
ist, nämlich die Ablehnung des Antrags auf Ver¬ 
nehmung eines anderen Sachverständigen als auf einer 
Gesetzesverletzung beruhend, nachzuweisen. 

Unheil des I. Sen. vom 11. März 1901. 400. 
1901. J. W. pag. 40b. 

$ 79- 

Dem Revidenten ist zuzugeben, dass die Str. P. O. 
eine Beeidigung von Sachverständigen nur in ver¬ 
sprechender Form kennt. W enn aber im vorliegenden 
Falle der Zeuge S. bald nach Beginn seiner Ver¬ 
nehmung und nachdem sich herausgestellt hatte, dass 
seine Aussage zum Thcile die eines sachverständigen 
Zeugen wurde oder in einzelnen Punkten sich zu 
einem Gutachten gestaltete, „den gesetzlichen Sach¬ 
verständigeneid geleistet hat“ und dann des Weiteren 
vernommen ist, so lässt sich dem nicht entnehmen, 
dass er nicht Alles, wofür seine Eigenschaft als Sach¬ 
verständiger in Betracht kam, nach seiner Eidesleistung 
ausgesagt hat. Die Wiedergabe seiner Aussage im 
Sitzungsprotokolle ist für deren Inhalt nicht beweisend, 
da dieses zu ihrer Beurkundung nicht bestimmt ist 
273 der Str. P. O.j. Hält man sich aber an den 


Wortlaut des Sitzungsprotokolles, so hat der Sach¬ 
verständige nach seiner Beeidigung erklärt, dass er 
Alles, was er gutachtlich ausgesagt habe, auf diesen 
Eid nehme, und damit der Sache nach dieses wieder¬ 
holt, sodass es durch den Sachverständigeneid gedeckt 
ist. Im Uebrigen ist im Allgemeinen der von S. vor 
seiner Vernehmung geleistete Zeugeneid auch zur 
eidlichen Bestärkung einzelner in der Aussage ent¬ 
haltener Urtheile und gutachtlicher Aeusserungen ge¬ 
eignet (vergl. Entsch. des R. G. Bd. 3, S. 100). 

Urtheil des III. Sen. vom 7. Januar iqoo. 4815. 
I 9 no * J. W. pag. 497. 

III. Bürgerliches Gesetzbuch. 

§ 0. z. 1. 

Die Voraussetzungen der zur Entmündigung führen¬ 
den Geistesschwäche sind bei demjenigen gegeben, 
der infolge seines geistigen Defektes sich in intellek¬ 
tueller und ethischer Hinsicht ungefähr auf der Ent- 
wickelungsstufc eines Minderjährigen, der das 7. Lebens¬ 
jahr überschritten hat, befindet. Der Geistessc hwache 
darf nicht befähigt sein, seine Angelegenheiten im 
allgemeinen selbständig zu besorgen, muss aber im 
Stande sein, unter der schützenden Aufsicht eines 
Vormundes bei Besorgung dieser Angelegenheiten mit¬ 
zuwirken. 

(O.-L.-G. Karlsruhe, 30. Mai iqoi.) 

D. R.*) Entscheidungen Nr. 1460. 

$ b. Z. 1. 

Unfähigkeit zur Besorgung einzelner Angelegen¬ 
heiten rechtfertigt nicht die Entmündigung, 

(R. G. 20. Oktober 1000). 

D. R. Entsc heidung Nr. 2305. 

£ b. Z. I. 

Auch wenn sich die geistige Erkrankung in den 
Formen des Querulantenwahnsinns zeigt, kann eine 
Entmündigung nur eintreten, wenn die Wahnideen 
die Person in allen ihren Lebensbethätigungcn erfasst 
haben, sie nach allen Richtungen in der Art be¬ 
herrschen, dass eine allgemeine geistige Erkrankung als 
vorhanden angesehen werden muss. 

(O.-L.-G. Hamburg, 1. April iqoi.) 

D. R. Entscheidungen Xr. 1462. 

$ 6. Z. 1, jüv 104. 

Ein Geisteskranker kann geschäftsfähig sein. 

Der Beklagte ist nach dem Gutachten erheblich 
psychisch krank. Die Thatsache, dass jemand geistes¬ 
krank ist, ist für sich allein weder für die Frage, ob 
der Kranke entmündigt werden kann, noch für die 

*) Das Recht. 


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6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i. 


Frage, ob er auch ohne Entmündigung für geschäfts¬ 
fähig zu erachten ist, irgendwie entscheidend. 

Vergl. §§ 6 Ziff. i, 104 B. G. B. 

(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1901.) 

D. R. Entscheidungen Nr. 1461. 

Zu vj 6. sowie Art. 155 E. G. z. B. G. B. 

1. § 0 B. G. B. enthält gegenüber dem Badischen 
Landrechtssatz 489 eine Aenderung, da er zwischen 
Geistesstörung und Geistesschwäche unterscheidet. 

In beiden Richtungen wird ein geistiger Defekt 
unterstellt; Geistesstörung und Geistesschwäche unter¬ 
scheiden sich nur dem Grade nach und dadurch, dass 
in dem einen Falle der geistig Erkrankte seine An¬ 
gelegenheiten absolut nicht zu besorgen vermag, 
während ihm im anderen Falle nur die Fähigkeit zur 
selbständigen Besorgung, nicht diejenige zur Mit¬ 
wirkung dabei fehlt. Hiernach ist bei einem geistigen 
Defekt, der nach dem Badischen Landrecht zu einer 
Entmündigung führen könnte, nach dem neuen Recht 
zu prüfen, ob er als Geisteskrankheit oder als Geistes¬ 
schwäche anzusehen sei. 

2. Aus der Natur des Anfechtungsverfahrens be¬ 
züglich der Entmündigung ist nicht die Folgerung zu 
ziehen, dass nur das zur Zeit des Entmündigungs¬ 
beschlusses geltende Recht zur Anwendung kommen 
dürfe. 

Vielmehr ergiebt sich daraus, dass es sich dabei 
um ein Statusrecht handelt, sowie aus Art. 155 des 
E. G. zum B. G. B., dass auch in dem Anfechtungs¬ 
verfahren, das sich auf eine vor dem 1. Jan. 1900 
beschlossene Entmündigung bezieht, das neue materielle 
Recht zur Anwendung kommt. Dass ein Antrag auf 
Entmündigung wegen Geistesschwäche im Sinne des 
B. G. B. vorliegt, ist in dieser Beziehung nicht er¬ 
forderlich ; denn die Gerichte sind bei der Ent¬ 
scheidung über den Grad der Entmündigung an den 
Inhalt des Antrages nicht gebunden. 

Urtheil des R. G. vom 20. Novbr. 1900 i. S. 
Rep. II Nr. 260/00. (Ebenso Entscheid, des V. C. 
S. des R. G. in einem Urtheile vom 29. N. 1900). 

D. R. Entscheidung Nr. I. 

§ 6. Z. 2. 

Die Entmündigung kann stattfinden, wenn der zu 
Entmündigende arbeitsscheu ist und erheblich mehr 
als di<? jährlichen Einkünfte seines Vermögens ver¬ 
braucht. 

(O.-L.-G. Rostock, 1. Oktober 1900). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1309. 

§ 6. Z. 2. 

Verschwendung für sich genommen ist der Hang 


einer Person zu sinnloser, ihren Vermögensverhältnissen 
nicht entsprechender Vergeudung des Vermögens. 

(R. G. IV. 20. Mai 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1690. 

§ 6. Z. 3. § 1906. 

Während des Entmündigungsverfahrens wegen Ver¬ 
schwendung kann das Vormundschaftsgericht gemäss 
§ 1906 den zu Entmündigenden unter vorläufige Vor¬ 
mundschaft stellen. Diese endigt unter den in § 1908 
aufgeführten Voraussetzungen und schafft nur einen 
vorübergehenden Zustand, der erst durch den Hin¬ 
zutritt der Entmündigung sich in einen endgültigen 
verwandelt. 

(L.-G. Kaiserslautern, 22. September 1900). 

D. R. Entscheidung Nr. 244. 

§ 6. A. 2. 

Erkenntniss des Reichsgerichts IV. C. S. i. S. v. d. 
Luhe c. v. Oertzen vom 20. Mai 1901, Nr. 92/1901 IV. 

II. J. O. L. G. Rostock. 

Gründe: 

Mit Recht macht hiergegen die Revision geltend, 
dass zur Begründung der auf Wiederaufhebung der 
Entmündigung gerichteten Klage nur gehört, dass nach 
derjetzigenS ach läge die Voraussetzungen der Ent¬ 
mündigung nicht vorliegen, nicht aber, dass auch eine 
Besserung des Entmündigten eingetreten ist. Liegen 
nach der jetzigen Sachlage die Voraussetzungen der Ent¬ 
mündigung nicht vor, so ist der Grund der Entmündigung 
weggefallen und deshalb die Entmündigung aufzuheben. 
Das Erfordemiss einer „Besserung“ als Voraussetzung 
der Wiederaufhebung der Entmündigung bedingt die 
Heranziehung des früheren Zustandes zur Vergleichung 
mit dem jetzigen Zustande als entscheidenden Maass¬ 
stab auch für die Wiederaufhebung der Entmündigung; 
damit wird aber dem früheren Zustande eine Trag¬ 
weite beigelegt, die er nicht haben kann und auch 
nicht haben darf. Denn bei der Wiederaufhebung 
kommt ausschliesslich der gegenwärtige Zustand in 
Frage; ist danach der Entmündigte frei von dem 
Mangel, auf dem seine Entmündigung beruht, der 
wegen Verschwendung Entmündigte also insbesondere 
mit dem Hange zu sinnloser Vermögensvergeudung 
nicht behaftet, so besteht kein Grund für die Aufrecht¬ 
erhaltung der Entmündigung und ist diese aufzuheben, 
ohne dass zu prüfen ist, ob eine „Besserung“ im 
Vergleich zu dem früheren Zustande cingetreten ist. 
Es ist nicht nur kein Grund ersichtlich, weshalb gegen¬ 
über dem Nachweise, dass der Entmündigte jetzt mit 
dem für seine Entmündigung erforderlichen Mangel 
nicht behaftet ist, die Wiederaufhebung noch von 
dem Nachweise einer Besserung im Verhältnis zu 
dem früheren Zustande abhängig gemacht werden 


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1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


sollte; es steht ein solches Verlangen auch geradezu 
mit dem Gesetze in Widerspruch, nach welchem die 
Entmündigung bei dem Wegfalle ihres Grundes ohne 
weiteres aufzuheben ist. Mit Recht weist die Revision 
auf die mit dem Verlangen einer „Besserung“ als 
Voraussetzung der Wiederaufhebung der Entmündigung 
verbundene unannehmbare Folge hin, dass danach ein 
in Folge unzutreffender Würdigung des früheren Zu¬ 
standes unzutreffend für geisteskrank oder für einen 
Verschwender erklärter Entmündigter, der in Wirklich¬ 
keit gar nicht geisteskrank oder gar kein Verschwender 
war, die Wiederaufhebung der Entmündigung niemals 
würde erreichen können, da seiner Klage stets der 
Einwand entgegenstände, dass er so gesund, so haus¬ 
hälterisch, wie jetzt, schon zur Zeit der Entmündigung 
gewesen, also eine Aenderung zum Besseren nicht ein¬ 
getreten sei. J. W. pag. 476. 

S 7. ' 

Zur Begründung eines Wohnsitzes wird in der 
Regel erfordert, dass die Person an einem Orte sich 
niederlässt und den Willen hat, dass dieser Ort auf 
die Dauer des Mittelpunkt ihrer Verhältnisse und 
Thätigkeit bilden soll. 

(O.-L.-G. Köln, 27. März 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 2175. 

$ «. 

Selbst bei lebenslanger Festhaltung des Geistes¬ 
kranken in der Heilanstalt muss der ursprüngliche 
Wohnsitz begrifflich solange fortdauem, bis der Vor¬ 
mund namens des Entmündigten den Willen kund 
giebt, den Wohnsitz an den Ort zu verlegen, wo sich 
die Heilanstalt befindet. Eine solche Kundgebung 
kann in der Erklärung an sich nicht erblickt werden, 
durch die der Vormund dem Aufenthalt und der 
Verpflegung in der Anstalt zustimmt. 

(O.-L.-G. Karlsruhe, 6. Dezember 1900). 

D. R. Entscheidungen Nr. 14Ö4. 

§ Io 4- 

Das Prozessgericht ist auch durch den dispositiven 
Theil des Entmündigungsbeschlusses nicht gebunden 
und kann daher annehmen, dass jemand gemäss § 104 
Nr. 2 B. G. B. geschäftsunfähig ist, auch wenn derselbe 
lediglich wegen Geistesschwäche entmündigt worden 
ist. 

Urtheil des O.-L.-G. München vom 27. Februar 
1901. D. R. Entscheidungen Nr. 13 11. 

823, 826. 

Nicht schon jede, die freie Willensbestimmung des 
anderen irgendwie beeinflussende Einwirkung ist unter 
den Begriff der Freiheitsverletzung zu stellen. 

R. G. VI. 11. IV. 1901. 

D. R. Entscheidungen Nr. 1161. 


§ 828. A. 2.. 

1. Um den Thäter von der Verantwortung zu 
befreien, genügt es nicht schon, wenn ihm die zur 
Erkenntniss der Gefährlichkeit der Handlung erforder¬ 
liche Einsicht fehlte, w’ährend andererseits auch hier 
nicht Voraussehbarkeit des Schadens erfordert wird. 

2. Der Thäter ist für den Mangel der Einsicht 
beweispflichtig. 

(O.-L.-G. Dresden, 20. September 1901). 

D. R. Entscheidung 2461. 

§ 832. 

Der Aufsichtspflicht, ist genügt, wenn im allgemeinen 
die zur Beaufsichtigung der Minderjährigen erforder¬ 
lichen Maassnahmen getroffen sind, ohne dass es da¬ 
rauf ankommt, ob eine genügende Beaufsichtigung 
gerade hinsichtlich der schädigenden Handlung statt- 
gefunden hat. 

(O.-L.-G. Kiel, 29. April 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1479. 

§ L5b8. 

Bei Entscheidung der Frage, ob schwere Pflicht¬ 
verletzungen vorliegen, kann das subjektive Moment, 
die Aufgeregtheit und die demzufolge fehlende bös¬ 
liche Absicht, in Erwägung gezogen werden. 

(R.-G. IV. 13. Dezbr. 1900.) 

D. R. Entscheidung Nr. 673. 

§ 1368. 

Wenn auch das Unvermögen zur Leistung der 
ehelichen Pflicht für sich und als solches keinen 
Scheidungsgrund bildet, so ist es doch nicht ausge¬ 
schlossen, dass die Herbeiführung des Unvermögens 
durch schuldvolles unsittliches Verhalten den anderen 
Ehegatten berechtigt, auf Grund § 1568 die Scheidung 
zu verlangen. 

(R.-G. IV. 13. Dezember 1900). 

D. R. Entscheidung Nr. 476. 

§ I3ö8. 

Aus diesem Paragraphen kann auf Scheidung geklagt 
werden, wenn der Ehemann fortdauernd arbeitsscheu, 
trunksüchtig und streitsüchtig ist, auch wenn er einen 
Offenbarungseid wissentlich falsch geleistet hat und 
deshalb zu längerer Zuchthausstrafe verurthcilt ist. 

(O.-L.-G. Rostock II, 26. Oktober 19.00)* 

D. R. Entscheidungen Nr. 1340. 

£ 1308. 

Ist eine Handlung im allgemeinen geeignet, eine 
völlige Zerstörung der ehelichen Gesinnung hervor¬ 
zurufen , so erübrigt sich ein weiteres Eingehen auf 
die individuellen Verhältnisse der Ehegatten, solange 
nicht besondere Umstände angeführt sind, die eine 
Ausnahme begründen könnten. Sind derartige Um- 


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8 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. i. 


stände nicht geltend gemacht, so bedarf es nicht der 
Feststellung ihres Nichtvorhandenseins. 

(R.-G. III, 22. Juni 1900). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1495. 

§ I5&9- 

Der Paragraph beschränkt sich nicht auf die Fälle 
eines geistigen Todes des erkrankten Ehegatten, sondern 
verlangt nur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft 
durch die Geisteskrankheit, eine solche liegt aber vor, 
wenn der kranke Ehegatte nicht mehr im Stande ist, 
an dem Lebens- und Gedankenkreis des anderen Ehe¬ 
gatten irgendwie theilzunehmen. 

Die Entstehungsgeschichte des $ 15dg eit. zeigt, 
dass nur eine qualificirte Geisteskrankheit zur Ehe¬ 
scheidung genügen sollte und dass man diese Quali¬ 
fikation der Geisteskrankheit nicht in ihrer Wirkung 
auf die eheliche oder häusliche Lebensgemeinschaft, 
sondern in ihrer Wirkung auf die geistige Gemeinschaft 
finden wollte (Prot. 2. Lesung S. 5671 ff). Diese 
Fassung verbietet es, ausschliesslich den Zustand des 
geisteskranken Theils zu beachten; vielmehr ist auch 
die Lage des gesunden Ehegatten, zu dessen Gunsten 
das Gesetz gemacht ist, in Betracht zu ziehen. Ist der 
kranke Theil infolge seiner Geisteskrankheit nicht mehr 
im Stande, an dem — hier gewiss einfachen — 
Lebens- und Gedankenkreis des anderen Ehegatten 
irgendwie theilzunehmen, so kann von einer geistigen 
Gemeinschaft zwischen den Ehegatten keine Rede 
mehr sein. 

Hanseat. O.-L.-G. Urtheil vom 22. I, 01, II 293/00. 

D. R. Entscheidung Nr. 571. 

§ I 5 & 9 - 

Der Mangel des Bewusstseins der mit dem anderen 
Ehegatten gemeinsamen Interessen und des Willens, 


diesen nach Kräften zu dienen, genügt nicht, vielmehr 
hat nur der geistige Tod, also ein Zustand, in welchem 
der Kranke die Scheidung nicht mehr empfindet und 
nur mehr von einer animalischen Fortexistenz gesprochen 
werden kann, als Scheidungsgrund angenommen werden 
sollen. 

(O.-L.-G. Köln, 23. März 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1181. 

§ 1569- 

Selbst wenn infolge des Verhaltens des kranken 
Theiles ein Zusammenleben der Ehegatten nicht mehr 
möglich ist, kann noch eine geistige Gemeinschaft 
zwischen ihnen bestehen, so hinsichtlich der Besorgung 
vermögensrechtlicher Angelegenheiten und vor allem 
hinsichtlich der Fürsorge für das Wohl und die Er¬ 
ziehung der Kinder. 

(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1001). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1875. 

£ 1 3Ö9. 

Nach der Entstehungsgeschichte des § 1569 B. 
G.B. ist die Annahme gerechtfertigt, dass die gesetz¬ 
gebenden Faktoren mit dem Ausdruck „Aufhebung 
der geistigen Gemeinschaft zwischen den Ehegatten“ 
nichts anderes sagen wollten, als was bei den Be- 
rathungen mit dem bildlichen Ausdruck „geistiger Tod“ 
zum Ausdruck gebracht wurde, also Zustand völliger 
Verblödung. Ob aber die Absicht des Gesetzgebers, 
dem Ehcscheidungsgninde des § 1369 so enge Grenzen 
zu setzen, im Gesetze hinreichenden Ausdruck gefunden 
hat, ob nicht vielmehr die Worte nothwendigerweise 
dem Ehescheidungsgrunde eine weitere Ausdehnung 
gaben, ist zweifelhaft. 

(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1496. 

(Fortsetzung folgt.) 


Mittheilungen. 


— Einladung zur Jahresversammlung des 
Vereins der deutschen Irrenärzte. Die Ver¬ 
sammlung wird am Montag, den 14. April und 
Dienstag, den 15. April in München statt¬ 
finden. Beginn Montag Vormittag 9 Uhr im physi¬ 
kalischen Hörsaal des Polytechnikums. 

Tagesordnung: 

I. Begrüssung der Versammlung und geschäftliche 
Mittheilungen. 

II. Referate: 

a) Die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund¬ 
lage. Referent: Herr Dr. Alzheimer in Frank¬ 
furt a. M. 

b) Vorschläge zur Schaffung einer Centralstelle für 
Gewinnung statistischen Materials über die Be¬ 


ziehungen der Geisteskranken. Referent: Herr 
Prof. Dr. Ho che in Strassburg i. E. 

III. Vorträge: 

1. Herr Geh. Hofrath Prof. Dr. B i n swa ng e r (Jena): 
Ueber hysterische Myoclonie. 

2. Herr Dr. Brosius (Sayn): Ueber den Mangel 
an Irren-Patronaten in Deutschland. 

3. Herr Dr. Degen kolb (Neustadt): Beiträge zur 
Pathologie der kleinen Hirngefässe. 

4. Herr Hofrath Prof. Dr. F ü r s t n e r (Strassburg i. E.): 
Giebt es eine Pseudoparalyse? 

3. Herr Privatdocent Dr. Gudden (München): Bei¬ 
träge zur Anatomie und topographischen Anatomie 
des Hirn Stamms. 

6. Herr I)r. Räcke (Kiel): Ueber Hypochondrie. 


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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 9 


7. Herr Dr. H. Vogt (Göttingen): Ueber Gesichts¬ 
feldeinengung bei Arteriosklerose. 

8 Herr Prof. Dr. A. Westphal (Greifswald): Beitrag 
zur Pathogenese der Syringomyelie. 
q. Herr Privatdocent Dr. G. Wolff (Basel): Die 
physiologische Grundlage der Lehre von den 
Degenerationszeichen. 

Die Reihenfolge der Vorträge wird am Vorabend 
der Versammlung festgesetzt werden. 

Die Herren, welche den Projectionsapparat zu 
benützen wünschen, werden ersucht, sich an Herrn 
Privatdocent Dr. Gudden in München (Steinsdorf¬ 
strasse 2, 11.) zu wenden. 

Nach der Nachmittagssitzung am Montag, den 
14. April wird ein gemeinsames Essen im Hotel 
Bayrischer Hof (Promenadeplatz) stattfinden. Am 
Vorabend der Versammlung, Sonntag, den 13. April, 
findet von 8 Uhr ab im Cafe Luitpold (Brienner- 
strasse) zwangloses Beisammensein und Begrüssung 
der Teilnehmer der Versammlung und ihrer Damen 
statt. 

Das Lokalcomite besteht aus den Herren Med.- 
Rath Prof. Dr. ßumm (als Vorsitzender), Privatdocent 
Dr. Gudden und Director der Kreisirrenanstalt Dr. 
Vocke. Die Herren haben sich freundlichst bereit 
erklärt, über Wohnungsverhältnisse u. s. w. Auskunft 
zu geben. Frau Director Vocke wird sich gütigst 
der mitkommenden Damen annehmen und ihnen 
beim Besuch der Sehenswürdigkeiten Münchens hülf- 
rekh sein. 

Der Vorstand. 

Fiirstner, Strassburg. Hitzig, Halle. Jollv, Berlin. 

Kreusser, Schussenried. 

Laehr, Zehlendorf. Pelman, Bonn. Siemens, Lauenburg. 

— „Ueber die Anrechnung der Detentdonszeit 
in einer Irrenanstalt auf die Strafzeit“ macht Dr. 
jur. Alfred Manes, Referendar in Göttingen, in der Zeit¬ 
schrift das „Recht“ (10. III. 1902) folgende beraerkens- 
werthe Ausführungen: „Die Aufmerksamkeit, welche 
dem Geisteszustand eines Angeklagten geschenkt wird, 
hat sich in den letzten Jahren stark vermehrt, und 
damit ist die Bedeutung der strafrechtlichen und 
strafprozessualen Vorschriften erheblich gestiegen, die 
bezüglich des Geisteszustandes des Angeklagten und 
seiner Begutachtung Bestimmungen enthalten. Dabei 
zeigt sich, dass die in Betracht kommenden Gesetze 
einer Verbesserung fähig sind, insbesondere hin¬ 
sichtlich der Anrechnung der Detentionszeit 
in einer Irrenanstalt auf die Strafzeit 
des beobachteten und für gesund erklärten Angeklagten. 

Die Psychiatrie ist nicht derartig ausgebildet, dass 
in allen Fällen ein unzweifelhaftes Gutachten seitens 
eines Sachverständigen auf Grund einer mehrstündigen 
Beobachtung des' Angeklagten in der Hauptverhand¬ 
lung oder des Angeschuldigten vor derselben abge¬ 
geben werden kann. Der § 81 Str. P. O. bestimmt 
daher im Abs. 1: Zur Vorbereitung eines Gutachtens 
über den Geisteszustand des Angeschuldigten kann 
das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach 
Anhörung des Vertheidigers anordnen, dass der An¬ 
geschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht 
und dort beobachtet werde. Und im Abs. 4 heisst 


es: Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer 
von sechs Wochen nicht übersteigen. 

Durch diese prozessuale Anordnung wird also eine 
Internierung des Angeschuldigten oder Angeklagten 
zwecks Untersuchung seines Geisteszustandes möglich. 
Diese Untersuchungszeit ist nicht als Unter¬ 
suchungshaft im Sinne der Strafprozessordnung 
anzusehen. Die Bestimmungen über die Untersuch¬ 
ungshaft finden auf diese Internierung durchaus keine 
Anwendung. Sämmtliche Commentare schweigen sich, 
soweit ich sehe, über diesen Punkt aus. Eine gegen¬ 
teilige Ansicht ist mir nicht bekannt. Sie Hesse sich 
auch kaum begründen. Es gelten mithin für die 
Beobachtungsdetention nach § 81 Str. P. O. nicht die 
Vorschriften über die Anrechnung der Unter¬ 
suchungshaft auf die Strafzeit, § 60 Str. G. B., 
§ 482 Str. P. O.; auch § 493 Str. P. O. kann nicht in Be¬ 
tracht kommen, welcher die Anrechnung der nach 
Beginn der Strafvollstreckung wegen Krankheit in 
einer von der Strafanstalt getrennten Krankenanstalt 
verbrachten Zeit auf die Strafzeit anordnet. 

Hieraus folgt, dass es an gesetzlichen Bestim- 
mungen über die Anrechnung der Detentionszeit 
fehlt. Und man wird wohl nicht irre gehen, wenn 
man dieses Manko aus dem Umstand erklärt, dass 
der § 81 Str. P. O. erst in einem späten Stadium des 
Gesetzentwurfes in diesen hineingekommen ist, näm¬ 
lich erst in den Commissionsberathungen, während er 
in den Regierungsentwürfen nicht vorhanden war. 
Wie so häufig, zeigt sich auch hier, dass bei der¬ 
gleichen späten Einschiebungen nicht alle ihre C011- 
sequenzen ausreichend beachtet werden, sonst hätte 
man wohl noch eine weitere Bestimmung getroffen 
über die Anrechnung dieser Detentionszeit auf die 
Strafzeit. 

Dass aber eine solche Anrechnung in zahl¬ 
reichen Fällen angebracht erscheint, ist wohl 
kaum zu bezweifeln. Insbesondere ist eine Nicht¬ 
anrechnung unbillig in folgendem Fall. In der Haupt¬ 
verhandlung oder kurz vorher ergeben sich Zweifel 
über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Der 
herbeigezogene Sachverständige erklärt, ein Gutachten 
erst nach genauer Beobachtung in der Irrenanstalt 
abgeben zu können, und stellt einen Antrag auf 
Ueberweisung dorthin. Der Staatsanwalt stimmt 
zu. Der Angeklagte und sein Vertheidiger wider¬ 
sprechen aus dem Grunde, weil selbst bei sofortiger 
Annahme der Zurechnungsfähigkeit die zu erwar¬ 
tende Strafe — vielleicht nur Geldstrafe — für 
den auf freiem Fusse befindlichen Angeklagten ein 
weit geringeres Uebel wäre als die sechswöchentliche 
Internierung, die ihn und seine Familie brotlos machen 
kann und die ihm nicht einmal zu gute kommt, wenn 
er aus der Anstalt als geistig normal entlassen wird. 
Es ist aber äusserst hart, einem Angeklagten die Kosten 
der Detention — nach § 497 Str.P.O. — aufzuerlegen 
und in einer erneuten Haupt Verhandlung ihn dann 
als zurechnungsfähig erklärten Thäter zu Strafe zu 
verurtheilen, auf die die Detention keine Anrechnung 
findet. 

Es erscheint fraglich, ob die Dententionszeit über¬ 
haupt bei Bemessung der Strafzeit in Berück- 


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I<> PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i. 


sichtigung gezogen werden darf, denn das Ge¬ 
setz bestimmt ausdrücklich und ausschliesslich nur, 
dass die Untersuchungshaft in Anrechnung gebracht 
werden kann. Auch der Richter, der gewillt wäre, 
auf eine kleinere Strafe zu erkennen, weil der Delin¬ 
quent mehrere Wochen in der Irrenanstalt war, könnte 
an der Fassung der bezüglichen Paragraphen be¬ 
rechtigten Anstoss nehmen. 

Die Aufnahme einer Bestimmung in die künftige 
Strafprozessordnung in dem hier dargelegten Sinne 
erscheint unbedingt erforderlich. Diesem Erfordcmiss 
könnte genügt werden durch eine erweiterte Fassung 
des öo Str.G.B., die etwa dahin zu lauten hätte: 

Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung 
des Urtheils auf die erkannte Strafe ganz oder thcil- 
weise angerechnet werden. Ebenso die in einer 
Irrenanstalt verbrachte Beobachtungszeit.“ 

— Die alljährliche Konferenz der Landes- 
directoren und Landeshauptleute der preussi- 
schen Monarchie wird in diesem Jahre in Düssel¬ 
dorf in den Tagen vom 3. bis 5. Juni abgehalten werden. 

— Eine psychiatrische Klinik für die Uni¬ 
versität Breslau. Ueber eine psychiatrische Klinik 
für die Universität Breslau ist, wie aus dem stenogra¬ 
phischen Bericht über die Sitzung des Abgeordneten¬ 
hauses am 11. März hervorgeht, nach einer Bemerkung 
des Ministerialdirectors Dr. Althoff eine Verständigung 
der Unterrichts Verwaltung mit der Finanzverwaltung 
so gut wie gesichert. 

— Hessen. Wie mitgctheilt wird, dürfte die 
für Rheinhessen piojectirte Irrenanstalt nach 
Alzey kommen. 

— Notiz zur „zellenlosen Behandlung 44 . In 

dem neuesten (XXVI.) Jahrgang der Charite- 
Annalen giebt Geh. Rath Jolly Erläuterungen zum 
Neubau der psvchiatrischcn und Nervenklinik der 
Kgl. Charite und lässt sich am Schlüsse derselben 
folgendermaassen aus: 

„Bezüglich der Isolirzimmer ist zu bemerken, dass 
dieselben sämmtlich mit Fenstern aus 2 cm dickem 
durchsichtigem Glas in eisernen Rahmen versehen sind 
und in üblicher Weise die möglichste Vermeidung 
scharfer Ecken und Kanten an den Wänden und 
Thüren erkennen lassen. Im Uebrigen machen sie 
aber vermöge der Grösse der Fenster einen durchaus 
zimmerartigen Eindruck, und es besteht die Absicht, 
sie überwiegend nur als solche zu benutzen, um Kranke, 
welche durch das Zusammenschlafen mit anderen ge¬ 
stört werden oder diese selbst stören, während der 
Nacht getrennt schlafen zu lassen. Dass sie gelegent¬ 
lich auch zur Abschliessung aufgeregter Kranker be¬ 
nutzt werden müssen, ist selbstverständlich. Die 
„zellenlose Behandlung“ bis zu dem Extrem durchzu¬ 
führen, dass man darauf verzieht#, auch sinnlos ver¬ 
wirrte und aufgeregte Kranke vorübergehend von 
ihrer Umgebung abzusperren, halte ich vorläufig , so 
lange nicht bessere Mittel zur Verfügung stehen, für 
unmöglich. Wohl aber kann ich fcststcllcn, dass wir 
selbst unter den verhältnissmässig ungünstigen Ver¬ 
hältnissen, wie sie die bisherigen Baueinrichtungen 
der Charite darboten und trotz des ausserordentlich 
grossen Materials an acut erkrankten aufgeregten 


Geisteskranken, Epileptischen und Deliranten, durch 
systematische Einschränkung der Isolirungen zu auf¬ 
fallend viel günstigeren Verhältnissen gekommen sind, 
als sie früher bestanden und, ich kann wohl hinzu¬ 
fügen. als wir erwartet hatten. Das extreme Ziel des 
Fanatiker braucht in dieser Frage ebenso wenig ver¬ 
wirklicht zu werden, wie in der Frage der Alcohol- 
abstinenz. Aber der Fanatismus hat schon oft das 
Gute gehabt, dass er die Grenzen des wirklich Erreich¬ 
baren erheblich weiter hinausrückte, als es der kühlen 
Ueberlegung zunächst möglich erschien, und wenn in 
beiden Fragen nur dieser Nutzeffect erzielt wird, so 
müssen wir den Fanatikern wenigstens mildernde 
Umstände bewilligen“. 

Falls die Eiferer der sogenannten „zellenlosen 
Behandlung“ diese Ausführungen in loyaler Weise 
neben dem früheren Jolly’schen Ausspruch von dem 
„Stichworte für das neue Jahrhundert“ citiren werden, 
sollen ihnen die mildernden Umstände bewilligt werden. 

s. 


Referate. 

— A m erica n Journal o f I n s a n i t y, April 
1 < )<) 1. 

1. Francis (). S i m p s o n (Lancaster County 
Asylum, Rainhill): Some points in the treatment of 
the chronic insane. 

S. bespricht die hygienischen, diätetischen und 
mechanischen Maassregeln bei der Behandlung chro¬ 
nischer Geisteskranker; das Pavillonsystem scheint hier 
zu kostspielig. Er hält es für weiser, die Kranken 
in einfacheren und weniger grossartigen Gebäuden zu 
halten, sie in eine Umgebung zu bringen, welche 
mehr ihren früheren Gewohnheiten entsprechen und 
das Geld, welches so erspart wird, für die Vermeh¬ 
rung der Aerzte und Wärter zu verwenden. Doch 
ist dies nach Ansicht des Ref. sehr wohl mit dem 
Pavillonsystem vereinbar, wenn nur nicht prunkende 
Villen, sondern ganz einfache Landhäuser gebaut 
werden. 

Wenn S. behauptet, dass auf dem Festlande auf 
105 Kranke etwa 1 Arzt kommt, so wüsste ich nicht 
wo (abgesehen von den Kliniken) dieses Verhältniss 
erreicht ist. Wimsehenswerth ist dieses Verhältniss 
ohne Frage und er fordert mit Recht eine wesent¬ 
liche Vermehrung der Aerzte (in Rainhill kommt 1 Arzt 
auf über 400 Kranke). Desgleichen hält er die 
Besserstellung (in Rainhill ca. 9—10 M. wöchentlich 
Gehalt) und Vermehrung des Wartcpersonals und 
ferner auch die Vermehrung des Personals für nöthig, 
damit die Kranken in ausreichender Weise zur Be¬ 
schäftigung gezogen und angehalten werden können. 

Die Bemerkungen über Abfuhr,‘Beleuchtung und 
Ventilation bieten nichts Neues. 

In Bezug auf die Ernährung der Kranken fordert 
S. grössere Abwechslung des Speisezettels und Rück¬ 
sichtnahme auf die Gewohnheiten der Kranken; täg¬ 
liche Verabreichung von Fleisch in irgend einer Form 
würde auch die Hinfälligkeit und Morbidität herab¬ 
setzen ; die miserable Ernährung in der Irischen An¬ 
stalt finde ihren sprechenden Ausdruck in der er- 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. n 

schrecklichen Sterblichkeit an Tuberkulose. Die Epi- eines wissenschaftlichen Buches an die Spitze eines 


leptiker sollten eine rein vegetarische Diät bekommen. 

Von Getränken sei die Wahl zwischen Thee, 
Kaffee und Cacao zu lassen, von denen jedoch das 
letztere das zweckmässigste sei. Den Werth der Milch 
hebt S. nicht genügend hervor. — Was die alkoho¬ 
lischen Getränke betrifft, so erklärt S.: „Die A b - 
Schaffung des Bieres bei den Mahlzeiten 
ist so er folg re ich ge wese n, dass es unnöthig 
ist eine Praxis zu besprechen, welche cin- 
müthig angenommen worden ist. Es genügt 
zu bemerken, dass die Verabreichung von Alkohol 
an Geisteskranke in irgend einer Form (mit Ausnahme 
bei schweren körperlichen Erkrankungen als Medicin) 
zu verurtheilen ist“. Eine Untersuchung über den 
Einfluss des Alkohols auf die Entstehung von Geistes¬ 
störungen hat ihm etwa dreimal so hohe Procentzahlen 
ergeben als die officiellen Daten zeigen. 

Was schliesslich die medicinische Behandlung der 
Geisteskranken betrifft, so ist S. ein warmer Verthei- 
diger der Isolirungen und der Schlafmittel. Von dem 
eigentlichen Wesen der Wachsaalbehandlung scheint S. 
keine Ahnung zu haben. Indem er auf eine (wahr¬ 
scheinlich englische) Arbeit Bezug nimmt, in welcher 
der Autor behauptet, dass die chronischen Kranken 
von ihren lärmenden, zerstörenden und schmutzigen 
Gewohnheiten durch Unterbringung in helle Schlaf¬ 
räume mit Nachtwärtern geheilt werden können, wirft 
er die Frage auf, wie die Gegenwart einer Wartper¬ 
son oder eines Lichtes auf die jahrelangen üblen Ge¬ 
wohnheiten oder Degeneration einen Einfluss ausüben 
soll, und weist, um die Unmöglichkeit des Verfahrens 
zu demonstriren, auf einen Versuch des Directors 
von Hawkhead, Dr. Watson hin, welcher eines Abends 
16 weibliche Kranke, die wegen ihres lärmenden, 
gewaltthätigen und störenden Verhaltens bisher regel¬ 
mässig in Zellen geschlafen hatten, in einen hellen 
Schlafraum unter Aufsicht von 3 Wärterinnen legte 
und natürlich bei dieser ingeniösen Insccnirung des 
Versuchs denselben schon nach einer Stunde mit einem 
glänzenden Misserfolg abschloss. 

Als Schlafmittel empfiehlt S. Chlorid, Hyoscyamin und 
Hyoscin, warnt aber vor dem regelmässigen Gebrauch, 
bei unruhigen Kranken mit seniler Demenz Paraldehyd, 
bei chronisch lärmenden Kranken eine „grüne Mixtur“ 
aus Kal. brom. und Tinctura Canabis Indic. zu glei¬ 
chen Theilen, besonders bei Frauen, Sulphonal, Trio- 
nal etc. 

Zuletzt bespricht S. die Epilepsie ohne neue Ge¬ 
sichtspunkte beizubringen. 

2. William II. B u c k 1 e r: Notes on the con- 
tracts and torts of lunatics with special refurme to the 
law of Maryland. 

Bietet für deutsche Leser nichts besonderes Inter¬ 
essantes. 

3. J. F. Lear c y (Tuscaloosa): 11 e r c d i t v. 

Allgemeine Betrachtungen über Erblichkeit vom 

biologischen Standpunkt. 

George J. Preston (Baltimore): Insane or 
criminal ? 

Eine 41 jährige begabte und tüchtige Lehrerin 
von besserem Ruf, war gelegentlich der Ucbersetzung 


grossen literarischen Unternehmens getreten, für wel¬ 
ches ihr innerhalb d oder 7 Jahre 150000 Dollar 
anvertraut wurden, wovon aber die Actieninhaber nur 
die Hälfte als Dividende zurückbekamen. Das Uebrigc 
war spurlos verschwunden, ohne dass die Dame Aus¬ 
kunft über den Verbleib des Geldes geben konnte 
und ohne dass sie es für sich verbraucht hatte, da 
sie ausserordentlich einfach lebte. Sie selbst sträubte 
sich für geisteskrank gehalten zu werden, und es war 
auch kein deutliches Zeichen der Geistesstörung bei 
ihr zu finden mit Ausnahme einer grossen Gleich¬ 
gültigkeit gegen ihr Schicksal und hartnäckigstem Fest¬ 
halten an der Ansicht, dass das Geld sich aus dem 
(fingirten) Unternehmen schon wieder finden werde. 
Sie wurde zu 5 Jahren Gefängniss verurtheilt. 

P. lässt die Frage offen, ob die Lehrerin von 
andern Personen, welche sie für ihre Zwecke benutzt 
hatten, vorgeschoben und dirigirt worden war, oder 
ob es sich um Geisteskrankheit handelt. 

5. A. R. Moulton (Philadelphia): Death of an 
insane man from fracture of skull and haemorrhage 
of the brain; skull abnormal}’ tliin. 

Es handelt sich um einen 59jährigen Mann, der 
eine Zeit lang stark getrunken hatte und wegen Un¬ 
ruhe und Grössenideen in die Anstalt gebracht worden 
war, wo er zeitweise sehr erregt und obscoen war. 
Eines Morgens wurde derselbe tot auf dem Rücken 
liegend neben seinem Bett gefunden. Er war jeden¬ 
falls beim Verlassen des Bettes hingestürzt und hatte 
sich, wie die Sektion ergab, einen Bruch des beson¬ 
ders an der Fossa posterior und den Seitentheilen 
hinter dem äussem Gehörgange äusserst dünnen Schä¬ 
del zugezogen. Die Schädelbasis zeigte 2 Brüche. 
Starke Blutklumpen bedeckten die linke Stirn- und 
die rechte Parietal- und Occipitalgegend. Ferner zeig¬ 
ten sich neben allgemeiner Atheromatose aller Ge- 
fässe im linken Stirnlappen und im linken Kleinhirn 
Erweichungsherde. 

6. E. B. Delabarre: The rclation of mental 
content to nervous activity. 

7. Richard Dewey: Mental therapeutics in 
nervous and mental disease. 

I). bespricht in diesem Vorträge den Werth und 
die Anwendung der Suggestion bei Nerven- und 
Geistesstörungen und erläutert seine Ausführungen 
durch zahlreiche Beispiele. 

8. Chac. A. Drews (Massachusets): Signs of de- 
generaev and types of the criminal insane. 

D. wendet sich mit viel Humor gegen die Aus¬ 
wüchse der Lehre von den Degenerationszeichen, 
welche schon geringe Abweichungen von der angeb¬ 
lichen Norm als Stigmata der Entartung auffasse und 
so bei Geisteskranken und Verbrechern zu grossen 
Zahlen komme. D. erkennt nur sehr deutliche und 
augenfällige Abweichungen als Degenerationszeichen 
an und hat so unter den letzten 100 Aufnahmen in 
der Staatsanstalt für geisteskranke Verbrecher in 
Massachusets 44 mit Schädelabnormitäten, 40 mit ver¬ 
bildeten Ohren, 3c) mit abnormer Gaumenbildung ge¬ 
funden. Würde er nach den Beispiel anderer Auto¬ 
ren verfahren sein, so hätte er kaum 25°/ n normal 


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12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i. 


gesunde und qo °/ 0 hätten als Besitzer von dege- 
nerirten Ohrformen bezeichnet werden müssen. 8 
Fülle von ausgesprochener Degeneration werden kurz 
beschrieben und ihre Photographien nebst Schädel - 
diagrammen beigefügt. Hoppe. 

— Sil b ersc h m id t, W. Zur Auslegung von 
§ b Ziffer i. B. G. B. Das Recht. 1901. Nr. 22. 

Nach $ <) Ziffer 1 ist Voraussetzung der Entmün¬ 
digung : 

1) dass jemand seine Angelegenheiten nicht zu 
besorgen vermag; 

2) dass Geisteskrankheit oder Geistesschwäche 
Schuld hieran trägt. 

Es ist leicht begreiflich, dass der Jurist bei der 
ersten Frage einsetzt, während der ärztliche Sachver¬ 
ständige zuerst die zweite Frage entscheidet. 

Nach zwei grundlegenden Entscheidungen des 
Reichsgerichts sind unter den Worten „seine Ange¬ 
legenheiten“ alle Angelegenheiten zu verstehen. Wenn 
also der zu Entmündigende nur einzelne Angelegen¬ 
heiten oder einen bestimmten Kreis von solchen zu 
besorgen ausser stände ist, treffen die Voraussetzungen 
einer Pflegschaft gemäss § 1900 Abs. 2, nicht aber 
die der Entmündigung zu. Wenn auch Angelegen¬ 
heiten nicht ausschliesslich Vermögcnsangelegenheiten 
betreffen, so ist es doch zu weit gegangen, sie auch 
auf strafrechtliche und öffentlich-rechtliche Interessen 
auszudehnen. Mit Samter trennt auch er die Frage 
der Gemeingefährlichkeit völlig von der der Entmün¬ 
digung. Eine andere Frage hinwiederum ist die, ob 
Jemand, der wegen Gemeingefährlichkeit dauernd aus 
Gründen der öffentlichen Sicherheit etc. in einer Irrenan¬ 
stalt versorgt ist, hierdurch verhindert ist, seine An¬ 
gelegenheiten zu besorgen, wobei aber wiederum zu 
erwägen ist, dass es sich um die Gesammtheit der 
Angelegenheiten handelt.“ Der Kranke, der insbe¬ 
sondere seine Vermögensangelegenheiten zu besorgen 
in der Lage ist, darf nicht entmündigt werden. 

Ebenso ist auch die Frage der Delictsfähigkeit von 
der der Geschäftsfähigkeit, mit der allein bei der Ent¬ 
mündigung gerechnet wird, zu trennen. 

Die Frage, ob das Unvermögen zur Besorgung 
der Angelegenheiten vorliegt und ob diese durch die 
etwa vorhandene Geistesstörung bedingt ist, hat der 
Richter vollständig selbständig zu lösen. 

Ernst Schultzc. 


Bibliographie. 

(Besprechung der wichtigeren Arbeiten erfolgt unter „Referate“.) 

Archiv für K rimin al-Anthropologie und 
K r i in i n a 1 i s t i k , von Pf. Hanns Gross, VIII. Bd., 

1. Heft, Dezember 1901. 

Welchen Werth diese bedeutende Zeitschrift für 
den gerichtlichen Medicus hat, zeigt das Verzeichniss 
der bereits erschienenen Abhandlungen, von denen 
wir nur die für die Psychiatrie wic htigen hier anführen: 

I. Bd. Höfler, Zurechnungsfähigkeit. 

II. Bd. Gross: Reflexoide Handlungen, Levin- 

sohn: Identität. 


III. Bd. Näcke: Richter und Sachverständiger, 
Altmann und Ne m an o w itsch: Sadismus, 
Homosexualität u. A. 

V. Bd. v. Sehren ck-Notzing: Suggestion, Rosen¬ 
blatt: Mord oder Selbstmord, eine Warnung 
für Gerichtsärzte, Kautzner: Aus der gerichts¬ 
ärztlichen Praxis. 

VII. Bd. v. Sch r enck - N o t zi n g: Fall Mainonc, 
Gross: Reflectoides Handeln etc. 

Obiges Heft enthält u. A. einen Fall von „Betrug 
in Sinnesverwirrung“ von Pollak, in dem die Ange¬ 
klagte, die unter zureichenden Motiven mit Ueber- 
legung versucht hatte, einen Schmuck zu unterschlagen, 
auf Grund eines ausgezeichneten Gutachtens als 
hysterisch (bei gleichzeitiger unehel. Schwangerschaft) 
ausser Verfolgung gesetzt wurde. Schrenck-Notzing 
bespricht unter Hinzufügung eigener Beobachtungen 
die Frage nach der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“, 
Näcke den Verlauf des V. Congresses für Krim.- 
Anthrop. in Amsterdam. Aus den zahlreichen Refe¬ 
raten und kleineren Mittheilungen sei hervorgehoben: 
Gross: Beweis durch Photographien (betr. die Phot, 
mit aufgesetzten Köpfen, die im Ernstfälle, z. B. 
Momentphotographie bei Untreue grosses Unheil an- 
richten könnten). H. Kornfeld. 

Psychiatrische en Neurologische Bladen, 
1902, Januar/Februar. 

Ziehen: Zur Differentialdiagno.se der Hcbephrenie 
(Dementia praecox). 

Hulst: Een geval van dementia paralytica als para- 
noia hallucinatoria debuteerend. 

Mceus: Een katatonisch geval van dementia präcox. 
Bo um an: De verpleging van Patienten, lijdende 
aan dementia senilis 

Wert heim Salomo nson: Bijdrage tot de kennis 
van de theorie van den Resonoteur van Oudin. 
Verslag der Commissie ter omsehrijving der ziekte- 
vormen der tegenwoordige Nomenclatuur. 

Personalnachrichten. 

(Um Mit'hcilung von Peraonalnacbrichtrn e'c an die Redaktion 
wird gebeten.) 

— Kgr. Sachsen. Oberarzt Dr. Krell am 1. Jan. 
als design. Direct«>r von Hochweitzschen nach Gross¬ 
schweidnitz versetzt; mit dem 1. April werden versetzt: 
Oberarzt Dr. Ilberg von Sonnenstein, Dr. Arnemann’ 
von Zschadrass, Dr. H e i n i c k c und Dr. Hahn von 
Hubertusburg nach Grossschweidnitz; Dr. Klem m 
von Hochweitzschen, Dr. Goetzc von Colditz nach 
Zschadrass; Oberarzt I)r. Frühstück von Colditz 
nach Hochweitzschen; Oberarzt Di. Kellner von 
Hubertusburg nach Untcigöltzsch. 

— Der Vortragende Rath im preuss. Kultusmini¬ 
sterium Geheimer Oberregienmgsrath Förster ist zum 
Ministerialdircctor der Med.-Abtheilung und Wirklichen 
Geheimen Oberregierungsrath mit dem Range der 
Räthe erster Classe ernannt. 


Das Inhalts-Verzeichniss des III. Jahr¬ 
ganges der „Psychiatrischen Wochenschrift“ wird der 
nächsten Nummer beigegeben. 


Für den rcdactionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sebe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch -Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

hpiansgegeben von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E Mendel, 

IJchnpnne** tAltmarki Graz. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin Rerlin 

Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel, 

Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr~Z 12. April. 1902 . 

Die ,,Psych ia tr i sc h -Neur o 1 o g ische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

R-«*fllnni»en n-htn<»n iede Rurhhandiung, di** Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Frmässigung ein. 

Zuschriften für riie Redaktion sind an 1 Uierarzt Dr |. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), /.u richten 

Inhalt. Originale: Psychische Aberration. Psychopathie. Von Sanitätsrath Dr. Alfons Bilharz-Sigmariugen (S. 13). — 

Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. Von Dr. Ernst Schultze, Andernach (Fortsetzung) 
(S. 18). — Mittheilungen (S. 23). — Referate (S. 25). — Personalnachrichten (S. 28). 


Psychische Aberration. Psychopathie.*) 

Von Sanitäts-Rath Dr. Alfons ^////«rc-Sigmaringen. 


W* haben es bisher als unsere Hauptaufgabe 
erachtet, an allen möglichen Punkten die dünne 
Rasendecke der Erscheinungen abzuheben und un¬ 
mittelbar darunter das gleichartige Grundwasser der 
Metaphysik, als eines Erklärungsgrundes, hervortreten 
zu lassen; was eben heisst: Physik auf Metaphysik 
zurückführen oder Physik aus Metaphysik deduciren 
oder erklären. Wir können daher in einer Lehre 
vom Lehen an seinen krankhaften Ei scheinungen 
nicht vorübergehen, obwohl sie gewöhnlich eine weit¬ 
abliegende Disciplin ausmachen; besonders aber des¬ 
wegen nicht, weil die metaphysische Erklärung oder 
Auffassung, die wir hier vertreten wollen, anderen 
Orts, d. h. ohne den innigsten Zusammenhang mit 
Metaphysik, gar nicht verstanden werden würde. 

*) Als besonderes Kapitel erschienen in des Verfassers 
eben erschienenem Werke: „Die Lehre vom Leben“, 
Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1902, 502 S. Die Lektüre 
obigen Aufsatzes setzt diejenige dieses hochinteressanten Werkes 
voraus, bezw. muss nebenhergeheu. 


Den sichersten Leitfaden, damit gleich der erste, 
wichtigste Schritt in der Beurtheilung der psychischen 
Entgleisung richtig ausfalle, bietet uns die Thatsache, 
dass sie, wie die sittliche Entgleisung, nur beim 
vernunftbegabten Wesen, dem Menschen, vorkommt. 
Psychopathie, wie Ethopathie, ist an den Besitz der 
Vernunft, also der Sprache, geknüpft. Irrsinn und 
Verbrechen, im Lehen oft so schwer auseinander zu 
halten, erweisen sich, als Vernunftkrankheiten, auch 
als metaphysisch verwandt; verschieden nur nach den 
Weltaxcn, in denen sie veilaufen, also wie Inhalt und 
Form, und daher rechtwinkelig aufeinander. 

In der That ist durch die Sprache, d. h. durch 
die Erschaffung einer zweiten Welt von Objecten 
(deren Uebereinstimmung mit der Welt der Wirklich¬ 
keit keineswegs immer gewährleistet ist), durch die 
Herstellung einer fast unbegienzten Menge von Diffe¬ 
rentialbegriffen verschiedener Ordnung gegenüber der 
gegebenen Welt integraler Vorstellungen, ein zweites 
Mal die gefährliche Möglichkeit des Bruches des 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


ethophysischen Gesetzes gegeben, das (als 
Ausdruck der Welthälftigkeit des Gegensatzpaares der 
metaphysischen Seinsgrösse) Anspruch auf unverbrüch¬ 
liche Allgemeingültigkeit machen darf. Denn so wenig 
Leben (Bewusstsein) bei Zerfall des Subjectpunctcs 
bestehen kann, so wenig darf ihm ein doppelter 
Objectpunct entsprechen: in beiden Fällen ist der 
Bestand des künstlichen Staatengebildes, das eine 
Welthälfte darstellt, bedroht. 

Die tägliche Erfahrung lehrt, dass dies schon beim 
gewöhnlichen Verstandesirrthum der Fall ist. 
Wer einen Wolf für einen Schäferhund, das Trugbild 
der Wüste für Wasser hält, der wird für sein Leben 
Gefahr laufen. Bleibt es bestehen, so sind solche 
Irrthümer leicht zu verbessern; man nennt dies Er¬ 
fahrungen sammeln, durch Erfahrung klug werden. 

Sinneserkenntniss ist Verwandlung (also enantiale 
Uebereinstimmung) des subjectiven Forminhalts der 
Empfindung in die subjcctive Inhaltsform der Zeit¬ 
räumlichkeit, die mit der objectiven Inhaltsform 
identisch ist. In diesem Punct findet sich das eiho- 
physische Gesetz verwirklicht: zwischen der auf den Be- 
wusstseinsmittelpunct hinbezogenen, also vorbewussten 
und daher dem Sein angehörigen Empfindung und 
der daraus gemachten Vorstellung besteht die voll¬ 
kommene Uebereinstimmung, wie sie uns in der 
Synthese des Quadrates, als dem Bild des Be¬ 
griffs überhaupt, vorgeführt wird. In diesem Punct 
wurzelt auch das, was sowohl an der monistischen 
Welttheoric, als auch an der Identitätsphilosophie 
Schell ing's*) richtig ist: die Uebereinstimmung 
oder (enantiale) Identität zwischen metaphysischer 
und physischer Form. 

Die ethophysischc Uebereinstimmung wird auch 
dann nicht verletzt, wenn thatsächlich eine Ver¬ 
schiedenheit der Empfindung vorkommt; wenn z. B. 
bei einem Zusammensein von Grau und Blau ein 
Auge nur grau**) empfindet, also für Blau farben¬ 
blind ist. Hier liegt kein Irrthum, sondern eine 
Mangelhaftigkeit in der Organisation, ein Mangel an 
Unterscheidungskraft der Sinne vor. Die Synthese 
vollzieht sich in der reinen Zeitlinie, und diese führt 
Nothwendigkcit bei sich. Irrthum kommt in das 

*) Schelli hielt es für seine Lehensaufgabe, den philo¬ 
sophischen Dualismus zu überwinden: ,,Unser Geist strebt nach 
Einheit im System seiner Erkenntnisse.“ Er hat es sehr ver¬ 
kehrt angefangen und vollendet. Wer aber nicht wenigstens 
eine Faser der Wahrheit in Händen hat: wo sollte er die 
Kraft und den Mnth hernehmen, ein so gewaltiges Werk wie * 
ein System der Philosophie durchzuführen? 

**) Empfindungen können natürlich nicht selbst verglichen, 
nur aus der Gleichheit oder Verschiedenheit des Eindrucks 
kann auf das Qualitative geschlossen werden. 


sinnliche Erkennen erst dann, wenn der Verstand 
sich über die flächenhaften Sinnesdaten hei macht 
und sie im Raum, also gesetzlos-willkürlich, zu einem 
dreidimensionalen, pseudoinhaltlichen Gebilde, einem 
Helmholtz'sehen Begriff vereinigt. 

Die Verstandesirrthümer, denen auch die ge¬ 
schärften Sinne der Thicrc unterliegen, verschwinden 
aber gänzlich vor der ungeheuren Masse der Ver- 
nunftirrthtimer, die auf einem falschen Differentiations¬ 
verfahren beruhen. Die sprachliche Bildung abstrac- 
tiver Begriffe hat es nicht so gut, wie die mathematische 
Differentiation. So gross ist der Unterschied, dass 
die Wesensverwandtschaft beider Vorgänge bisher 
überhaupt nicht erkannt worden ist; weder die 
Bildung von Wortbegriffen als einer Differentiation, 
noch das Wesen der Differentiation als einer successiven 
Abstossung einer Dimension. Die mathematische 
Differentiation sucht den im Begriff der Constanten 
liegenden Inhalt aus der (gleichgültigen) F o r in 
durch wiederholte Abstossung der formalen Dimen¬ 
sionen herauszuschälen. Da Inhalt auf Form, als 
reiner conträrer Gegensatz, rechtwinkelig steht, so 
muss das mathematische Verfahren, um dem Enantial- 
satz oder dem ethophysischen Gesetz zu entsprechen, 
demgemäss verfahren: die Rectangularität ihres Ver¬ 
fahrens liegt denn auch sowohl in der Gleichung, als 
auch in der analytisch-geometrischen Curve überall zu 
Tage; ein Irrthum kann nicht stattfinden. 

Trotz der Geschicklichkeit der Mathematiker in 
ihrer Kunst, sind sie doch, kleinlaut gemacht durc h 
den bereitwillig verschluckten Widerspruch des Un¬ 
endlich-Kleinen, und wie hvpnotisirt durch das ewige 
Hinstarren auf die räthselhaft-fascinirende Gestalt des 




Bruches , , hinter den Sinn 
äx 


ihres hierophantischen 

Verfahrens nie gekommen. Angesichts der Wichtig¬ 
keit der Sache sei mir folgende Abschweifung ge¬ 
stattet. 

Ihre Unfähigkeit, erkenntnisstheoretisch richtig zu 
denken, verrathen die „unendlich kleinen“ Mathe¬ 
matiker deutlich darin, dass sie mit Verachtung aller 
erkenntnisstheoretischen Grenzen schreiben: 


h -/ 


n . dx, 


während es heissen muss: 


oder 



y = a x . 


Folgende anschauliche Nebeneinanderstcllung dei 
zwei mathematischen Sprachen giebt ein deutliches 
Bild ihres Unterst .Liedes: 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Differentialrechnung Gewöhnliche Mathematik 



links die Sprache der Metaphysik, das Unausgedehnte, 
Punctuelle, Constante, der Inhalt (A): rechts die 
Sprache der Physik, das Ausgedehnte, Veränderliche, 
die Form, das Integral (£u). 

Man sieht, dass man mit der Grösse — --, 

dem Handschuh für die constante Hand A , machen 
kann, was man will, umstülpen, einstülpen, Zusammen¬ 
legen, zusammenrullen, auseinanderwickeln, aufblasen : 
immer bleibt es dasselbe, so lange A besteht, d. h. 
s*> lange dasselbe metaphysische Wesen hinter der 
Erscheinung steht; so lange der Enantialsatz die 
Gleichwerthigkeit aller dieser Formumwandlungen ver¬ 
bürgt, und so lange sein eisernes Gesetz auch die 
kleinste Abweichung eines Zuviel oder Zuwenig ver¬ 
wehrt. Man erkennt aufs Deutlichste den Fehler, 
eine mathematische Gleichung ein synthetisch e s 
Urtheil zu nennen, und erkennt das Gleichgültige 
aller Manipulationen mit endlichen Wcrthen der 
Veränderlichen. 

Ich glaube, dass die Einsicht in die Gleichgül¬ 
tigkeit der mathematischen Formurmvandlungen, der 
Zeiträumlichkeit eines Vorgangs in Hinsicht auf den 
Werth der Sache selbst, den Gedanken der Differen¬ 
tialrechnung im Kopf des grossen Newton zuerst er¬ 
zeugt habe: er wollte alle Verschiedenheiten der zeit¬ 
räumlichen Daten in einem einzigen Denkact zusam¬ 
mendenken und so von ihnen abstrahiren. 

So erhielt er, im Falle der astronomischen Cen¬ 
tralbewegung, die constante B e z i e h u n g der Wclt- 
körper zu einander ganz unabhängig von ihrer je¬ 
weiligen Lage, die vielmehr von jener bestimmt wird. 
Er musste dabei offenbar aus der Schwereebene, in 
der die zeiträumliche Ausdehnung (= Bewegung) vor 
sich geht, gänzlich heraustreten, sich also senkrecht 
dazu stellen. Er schaute, entfremdet, in eine neue 
Welt des Wesens selbst hinein, in die einst der Künstler- 
Philosoph Plato hineingeschen hatte; wo die Ideen, die 
Geister der Erschlagenen, die Schiller ’sche „Gestalt“ 
hausen; das Land der „intcllectuellcn Anschauung,“ wo 
die höchste Abstractionskraft den Sieg über sich selber 
feiern darf, ohne Widerspruch. 

Diese zusammenschauende, synthetische, genialisch- 

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*5 

künstlerische Ncwton’schc Art der Differentiation 
ist die eigentliche Sprache der Metaphysik, der Lehre 
vom Inhalt, der Vereinigung aller Formen, und führt 
auch allein zum Verständniss des Wesens dieser 
Rechnungsart. Newton bedurfte für seine Flucht aus 
der Welt der Veränderlichkeit .in die Welt der C011- 
stanz keiner besonderen Ausdrucksweisc; wohl aber 
bedurfte einer solchen der dissecirende Verstand eines 
L e i b n i z , der sie auc h fand. Der Gedanke w r ar leicht 
und secundär: was für jede Zeit gilt, das gilt auch 
für den Zcitpunct, die ausdehnungslose Zeit, das 
„Zeitdifferential“: damit war die Sprache der Meta¬ 
physik in eine Rechnungsart verwandelt und in ein 
Lehrgebäude, wie eine solche zu erlernen sei. 

In der That führen, wie tavg 0 °und tavg 90 0 
zeigen, zwei Thore aus der Zeitlichkeit oder der Welt 
des Veränderlichen hinaus, deren gleichwertige 
Grenzen Null und Unendlich sind. Doch ist ein Unter¬ 
schied: das zur Einheit und Constanz zusammengefasste 
Unendliche ist etwas; der Gedanke kann sich daran 
festhalten und jenseits der Veränderlichkeit sich ein 
Gebiet von constanten Werthen wohl vorstellen. Mit 
der Null aber kann man gar nichts anfangen. Die 
Mathematiker wären die Letzten gewesen, zur Be¬ 
gründung ihres stolzen Gebäudes ein so unsicheres 
Ding, wie die Metaphysik, zu Hülfe zu rufen, und 
sicherlich hatten weder L e i b n i z noch seine Schüler 
eine Ahnung davon, dass sie sich mit ihren Differen¬ 
tialgleichungen in eine neue und gänzlich verschiedene 
Welt hinein begeben. 

Man kann, wenn man will, den Gedanken der 
Differentialrechnung bis zu Diophantcs zurück 
verfolgen , der zuerst in der Gleichung etwas C011- 
stantes und etwas Veränderliches unterschied. Nach 
Decartes’ grosser synthetischer That war ihre 
Entdeckung nur noch eine Frage der Zeit: die 
Gleichung selbst wurde zum Gesetz der Curve. 
L e i b n iz übersetzte Newt on ? s Gedanken , vor 
dessen zusammenschauendem Blick die Grenze 
zwischen Physik und Mcthaphysik verschwend, in 
das mathematische Schlagwerk und gab der Constanz- 
betrachtung die streng mathematische Form; freilich 
um einen ungeheuren Preis, den zu entrichten dem 
gewandten Philosophen vielleicht selbst nicht so schwer 
ankam, um so schwerer aber allen Denen, die, ohne 
das Opfer des Verstandes bringen zu können, seine 
Schüler werden wollten : nämlich um den Preis, den 
Unendlichkeitsbegriff (um der Null zu entgehen) in 
die Welt der Endlichkeit hinein zu tragen. Die 
philosophischen Winkelzüge der Mathematiker in der 
Beschönigung dieses Gevvaltstrcic'hs sind einfach 
schändlich. Aber so fest ist das Gefüge der mathe- 

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[Nr. 2. 


16 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


matischen Form, dass man ohne Verständniss der 
Saclie Differentiiren lernen kann, wenn man sich nur 
entschlossen hat, jenen Widerspruch mit Haut und 
Haaren hinunter zu schlucken. Indessen irren heute 
noch Schüler umher mit der Fiage, was man denn 
eigentlich mit der Differentialrechnung wolle, und er¬ 
halten keine Antwort. Die Thatsachc der Diffe¬ 
rentialrechnung ist der starke Schild, hinter den sich 
die erhabene Unnahbarkeit des Meisters verbirgt; erst 
klagt der Schüler seinen dummen Verstand an; später, 
in seiner Kunst geübt, setzt er mit Lust das mathe¬ 
matische Schlagwerk in Gang, ohne sich mehr an die 
schweren Stunden des Eintritts in die höhere Mathe¬ 
matik zu erinnern, d. h. des Eintritts in die Meta¬ 
physik, ohne es zu wissen ! Ich habe schon ander¬ 
wärts hervorgehoben, dass es dem ausgezeichneten 
Mathematiker P. Dannegger durch den Begriff der 
Constanz gelungen ist, sich ganz selbständig einen Weg 
zum Verständniss der Differentialrechnung zu bahnen, 
indem eben der Begriff der Constanz ihn befähigte, 
den Differentialquotienten als das aufzufassen, was er 
ist, nämlich als blosses Zeichen, den Rückweg zum 
Integral wieder zu finden *) 

Denn, worauf die mathematische Differentiation 
immer ausgeht, das ist, die Constanz aus der Hülle 
der Zeitlichkeit successive herauszuschälen. Sie ver¬ 
wandelt den Cubus in die Fläche, die Fläche in eine 
Ordinate.**) Differentiiren heisst Hinausdenken, Ab- 

*) Dannegger hat, abgesehen von der von ihm und 
mir gemeinschaftlich herausgegebenen Schrift „Metaphysische 
Anfaugsgründe der mathematischen Wissenschaften“, seine Ge¬ 
danken nur noch in einem Schulprogramm der Ackerbauschule 
zu Sigmaringen niedergelegt. Er behandelt darin die Frage, 
wie weit man von den Grundsätzen der höheren Mathematik 
schon in den niederen Schulen Gebrauch machen könne und 
zeigt die Möglichkeit an mehieren Beispielen. Dass dies jetzt 
geschehehen müsse, wenn Metaphysik eine Wissenschaft, und 
Differentialrechnung ihre Sprache ist, steht ausser Frage. Man 
gelangt zum Verständniss der höheren Mathematik nicht durch 
die niedere, sondern umgekehrt; wie Metaphysik Physik erklärt, 
nicht umgekehrt. 

**) Ein Mathematiker machte gegen meine Definition der 
Differentiation die Einwendung, dass sie zu enge sei, nur die 
Potenzen betreffe, aber z. B. die Gleichung y — c x nicht be¬ 
rühre, deren Ableitungen j ' 4 (e x ) u.s. w. immer wieder — c* seien. 
Der geehrte Kritiker bemerkte nieht, welche Blösse er sich 
gab. Denn er konnte sich wohl hinter den Schirm flüchten, 
selbst nicht zn wissen, was für ein Vorgang bei der Differen¬ 
tiation stattfinde, nicht gut aber, dass überhaupt nichts vorgehe, 
wofür sein Beispiel doch zu sprechen scheint. Sicherlich wäre 
seine Definition, wie sie auch lauten mochte, alsdann ebenfalls 
zu enge ausgefallen. Noch weniger aber wird ihm bewusst ge¬ 
wesen sein, dass sein Beispiel eine glänzende Bestätigung 
meiner Auffassung enthält. e x ist eine Constaute, die in un¬ 
bestimmt vielen Dimensionen ausgedehnt ist. Ertheilt man 
x einen endlichen Werth, so verwandelt sich der Ausdruck in 


strahiren, Dimensionen wie Geweihe abwerfen, die in 
der Frühlingswelt der Integration von neuem wachsen 
sollen; z. B. 

y — a . x . x 
dy 

r = 2U.X 

dx 


Ich füge diesem parenthetischen Streifzug ins Ge¬ 
biet der Mathematik noch hinzu, dass die Verhült- 
nissanalogie der Differentialrechnung und der Variations¬ 
rechnung des Lag ran ge einerseits, und der zeitlich¬ 
physischen und der zeitlos-metaphysischen Erkenntniss 
andererseits, — das Recht, das Metaphysik verleiht, 
in ihr Gebiet der Constanz auch den Begriff der Ver¬ 
änderlichkeit zu übertragen, nur eben nicht den Be¬ 
griff der zeitlichen Veränderlichkeit, — eine der 
schönsten Coincidenzen der Wissenschaft ist, die es 
geben kann; deren Werthschätzung aber mehr philo- 


eine constante Grösse, die auch mein Gegner nicht wird dilfe- 
rentiiren wollen. Das Beispiel gilt also nur für x ~ x * and 
nun möge er anfangen zu differentiiren, oder, nach meiner An¬ 
gabe, zu dedimensioniren.ein e nach dem anderen ab¬ 
zuwerfen, und möge dabei die Geduld nicht verlieren. Was 
herauskommt, ist in der That immer wieder die Grösse e x ; er 
kommt dem Ziel (6 l ) nicht näher. 

Dasselbe zeigt sich bei der Differentiation der Kreisfunctionen. 
Da die Differentialrechnung, wie wir oben sagten, die Sprache 
der Metaphysik ist, d. h. durch fortgesetztes Abstossen der 
formalen Dimensionen den Inhalt herausschält, Inhalt aber auf 
Form senkrecht steht, so ist klar, dass die Differentialconstantc 
des Sinus nur immer wieder der Cosinus sein kann, und um¬ 
gekehrt. 

Die Discussion des Ausdrucks e x giebt Anlass zu einer 
weiteren Bemerkung. Naeh Obigem ist es ebensowohl ein 
Differential als ein Integral und ist in diesem Sinne der adue- 
quate Ausdruck für die metaphysische Seins¬ 
grösse. Wir hatten schon oben (im II. Theil) gesagt, im 
Verhältniss zum formalen, dreidimensionalen, physischen 
Pseudoinhalt müsse das metaphysische I nhalts- Integral als 
Körper von unendlich vielen Dimensionen aufgefasst werden, 
da es ja auf allen Punkten von seinem Gegensatz, dem Object, 
umgeben ist. Wir hatten ferner durch die Figur 9, Seite 176, 
erläutert, dass Wegnahme oder Hinzufügen von Dimensionen 
an der metaphysischen Seinsgrösse nichts ändere; dass ein 
eigentliches Differentiiren oder Integriren hierbei nicht statt- 
linde, und zwar deswegen nicht, weil das Metaphysische d i e 
Zeit nicht enthält, nur im Raum veränderlich ist. Hierüber 
spricht sich nun der Ausdruck e x , als Träger einer constanten 
Seinsgrösse e, mit aller Deutlichkeit aus. 

Man wird der Sprache der Mathematik, diesem voll¬ 
kommensten Werkzeug des menschlichen Geistes, die Bewuuderung 
nicht versagen können. Sie giebt auch da eine richtige 
Antwort, wo die ihr vorgelegte Aufgabe ihre Tragweite über¬ 
schreitet. Metaphysik aber ist im Stande, die todte Form mit 
dem herrlichsten Inhalt anzufüllen. 


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iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


sophisches Verständniss der Mathematik voraussetzt, 
als die vereinigten Wissenschaften der Mathematik, 
Philosophie und Naturwissenschaft bisher aus sich 
hervorgebracht haben. 

Vergleicht man nun mit dem Abstractionsvorgang 
der mathematischen Differentiation die sprachliche 
Begriffsbildung, die den Menschen befähigt, auch ohne 
Gegenwart des H e 1 m h o 11 z’schen Integralbegriffs 
oder des sinnlichen Objects eine Vorstellung davon 
in sich hervorzurufen, so bemerkt man sofort die 
Aehnlichkeit und die Verschiedenheit des Vorganges. 

Zuerst wird die erste Dimension der Empfindungs¬ 
grösse abgestossen, und an ihre Stelle tritt (dem 
Differentialquotienten entsprechend) ein Zeichen, 
das die Rückkehr zur Integration wieder möglich 
macht: der articulirte Laut. So ist aus dem drei¬ 
dimensionalen Vorstellungsgebilde eines bestimmten 
einhufigen Thieres der zweidimensionale Begriff „Pferd“ 
entstanden, aus dem also, bis auf das wesentliche 
oder c har acteristische Prädicat der Einhufig- 
keit, alle anderen Formalbestimmungen hinausgedacht 
worden sind, und der demgemäss alle Einzelvorstel¬ 
lungen, wenn sie nur dem characteristischen Prädicat 
Genüge leisten, in sich befassen kann. In dieser zwei¬ 
dimensionalen Gestalt entspricht der differentiirte h »go- 
centrische Begriff der metaphysischen Synthese aus 
Inhalt und Form: A. ^ = A 2 , d. h. einem Begriff 
überhaupt, und man übersieht sofort, dass der Ein- 
heiistrieb der analytischen Vcrnunftthätigkeit sich die 
Gelegenheit nicht entgehen lassen werde, den Ab- 
stossungsvorgang noch einmal zu wiederholen, ein 
zweites Mal zu differentiiren und sich zur Bestimmung 
des Begriffs mit der einfachen Grösse A genügen zu 
lassen; in diesem Fall mit der wesentlichen Be¬ 
griffsbestimmung der Einhufigkeit = So entstehen 
simmtliche substantivirte Eigenschaftsbegriffe, die in 
so ungeheurer Anzahl das logocenfrische Gebiet be¬ 
völkern: sie sind die Producte einer wiederholten Dif¬ 
ferentiation, aus der die wesentliche Bestimmung übrig 
geblieben ist. 

Bis hierher ist die Analogie der zwei verglichenen 
Verfahrungsweisen so vollständig, dass inan nicht nur 
berechtigt ist, die sprachbcgriffliche Abstraction Diffe¬ 
rentiation zu nennen, sondern auch als das gemein¬ 
same Wesen der Differentiation überhaupt das suc- 
cessiv wiederholte Abstossen der Dimensionen eines 
Begriffs, bis zur übrigbleibenden letzten Dimension, 
anzusehen. 

Aber die erkenntnissthcoretisch überaus wichtigen 
Unterschiede müssen andererseits gebührend hervor¬ 
gehoben werden. 

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Ihrem a p r i o r i s c h e n *), d. h. auf Metalogik und 
Metaphysik zurück verweisenden Character und ihrem 
subjectiven, vom Object ganz unabhängigen Ursprung 
getreu, verfährt Mathematik in allen Punkten correct: 
aus den tausenderlei formalen Umhüllungen schält 
sie den Inhalt heraus, der sich in der zuletzt übrig 
bleibenden constanten Grösse darstellt; der ganze 
Process ist durchsichtig und klar von Anfang bis zu 
Ende. Bei der aposteriorischen Erkenntniss 
tritt vor allem die Umkehrung des noocentrischen 
Standpunkts, der sogenannte geocentrische Irrthum, 
in die Quere, der das letzte Glied der durch und 
durch formalen Begriffssynthese für einen Seins- 
inhalt und die Vorstellung für das die Empfindung 
und Vorstellung erzeugende Object nimmt. Die 
ganze Welt wird dadurch auf den Kopf gestellt, (wie 
denn ein Mensch, der sich auf meiner Retina präsen- 
tirt, thatsächlich auf dem Kopf steht,) und es kostet 
Mühe, die Begriffsverschiebungen erkenntnisstheoretisch 
richtig zu stellen. Was überhaupt an metaphysischem 
Inhalt in der ganzen Synthese enthalten ist, steck 
im Form inhalt der Empfindung, dem erstgegebenen 
Element; gerade dieses aber wird in der sprachlichen 
Differentiation zuerst entfernt, und der logocentrische 
Inhaltsbegriff wird dem allerunsichersten, weil nur räum¬ 
lich-synthetischen, Element der dritten Dimension 
übertragen. Diese kann dann ebenfalls entfernt werden, 
und übrig bleibt als wesentlicher Bestandtheil des 
ganzen Begriffs, nicht etwa ein Element des Seins, 
sondern die Form der Form, die bestimmende Eigen¬ 
schaft, die vorletzte Dimension. 

In dieser Durchbrechung und Verwirrung aller 
erkenntnisstheoretischer Grenzen kann von mathema¬ 
tischer Strenge der Differentiation nicht mehr die 
Rede sein. Die Unähnlichkeit wird hier so gross, 
dass Kant entschuldigt ist, wenn er die logocentrische 
Begriffsbildung sogar für einen Act der Synthesis an- 
sah. Die Unsic herheit steckt sowohl in der „Sub- 
jectivität“ der Empfindungsdaten, d. h. in ihrer nur 
individuellen Gültigkeit, als auch in der gesetzlosen, 
dem Zufall und der Willkür unterworfenen zweiten 
Synthese, (der Zusammenfassung aller empfindungs¬ 
haltigen Formalbcgriffe zum Pseudoinhalt des „Gegen¬ 
standes“,) die im Raum geschieht. Verlass ist nur auf 
die enantiale Gleichheit der in der Zeiteinheit des 
Denkens verbundenen, also rectangularen Dimensionen 

*) Es ist immer ein wahres Vergnügen, mit den unsterb¬ 
lichen Begriffsbestimmungen der Transscendentalphilosophie zu¬ 
sammenzutreffen und so ihren Werth zu demonstriren. Syn¬ 
thesis apriori ist allerdings ein Widerspruch; aber dass mathe¬ 
matische Urtheile apriorische sind, wird Niemand so leicht 
widerlegen können. 

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18 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2. 


der aufs Bewusstsein bezogenen, also vorgestellten 
Empfindung, in der allein sich das ethophysische Ge¬ 
setz verwirklicht. Daran und an der Unverbrüchlich¬ 
keit des geocentrischen Irrthums hat indessen das 
physische Erkennen Halts genug, um sich in der 
Welt des Objects mit grosser Sicherheit zurecht zu 
finden. Beim Menschen macht die Häufigkeit der 
Vergleichung zwischen Wort- und Wirklichkeitsbegriff 
und der Denkdrehung, die dabei stattfindet, und deren 
man sich wegen der Geläufigkeit des Vorgangs kaum 
bewusst ist, die Sicherheit im Gebrauch des ersten 
Differentiationsbegriffs um so grösser, als dieser ja 
eine Rückkehr zur quadratischen Urgestalt des Be¬ 
griffs bedeutet. Allein beim zweiten Differential, bei 
den sogenannten abstracten Begriffen ist aller Halt 
verloren. Ein Begriffsstab ist noch vorhanden, die 
Form der Form, an der das characteristische Attribut 
des Inhalts, nämlich die Constanz, nur noch in der 
«konstanten Form des articulirten Lautes erhalten ist. 
In diesen tönenden Schlauch kann Alles gepackt 
werden, was drein geht und nicht drein geht. Diese 
Begriffe fügen sich der logischen Form des Urtheils 
gerade so gut, wie ihre Integrale, von denen sie ab¬ 
geleitet sind, und eignen sich trefflich dazu, den 
fressenden Wurm des verdeckten Widerspruchs durch 
die glänzendsten Deduclioncn zu schleppen und sie 
dadurch werthlos zu machen. Und gerade diese be¬ 
griffe haben für den Menschen die grösste Bedeutung 
und Tragweite. Von jeher haben die grossen Denker 
der Menschheit Alles aufgeboten, um den Inhalt 
solcher Abstractioncn sicher und richtig zu stellen; ja, 
ihre Grösse besteht geradezu in der Reinheit ihrer 
Grundbegriffe. In der That handelt es sich um eine 
Richtigstellung. Denn das aus Subject und Prä- 
dicat bestehende Urteil ist der zerlegte Begriff, also 
das zerlegte Quadrat, dessen Dimensionen (als Inhalt 
und Form) einander gleic h gesetzt werden, und ein 
richtiges Urtheil ist daher ein solches, dessen 
Dimensionen rechtwinklig auf einander sfehen. Aber 
wo ist im Gebiet des Abstracten, so wie es in der 
Anschaulichkeit der mathematischen Grössenlehre vor¬ 
handen ist, das Richtscheit, das die Sc hiefwinkligkeit 
der gebrauchten Begriffe sofort aufzeigen würde? 

Allerdings giebt es ein solches in der strengen 
Gegensätzlichkeit der Begriffe, dem logischen 
Aequivalentdcr mathematischen Rectangularität Ueber- 
all, wo die auf der Höhe der Abstraction gebrauchten 
Begriffe als reine Gegensätze nachgewiesen werden 
können, (denen also im letzten Grund der Urgcgcn- 
satz von Inhalt und Form unterliegen muss,) da ge¬ 
winnt auch die Darstellung der speculativen Vernunft 
den Grad mathematischer Gewissheit oder nähert sich 


ihr in demselben Maasse an. Es ist das gemeinsame 
Merkmal der grossen Erzeugnisse der Literatur, dass 
sie der Prüfung in dieser Hinsicht Stand halten, und 
nichts ist leichter für Den, der gewohnt ist, rectan- 
gular oder streng gegensätzlich zu denken, als den 
Werth oder Unwerth einer Schrift nach diesem Kri¬ 
terium auf den ersten Blick zu erkennen *). So ist 
die ganze orientalische speculative Literatur in wissen¬ 
schaftlicher Hinsicht werthlos, so hoch sie als Er- 
zeugniss dichterischen Geistes stehen mag. Erst die 
hohe Vernünftigkeit der Griechen erhob sich zur 
Klarheit reiner Gegensätze. Wir hatten schon oben 
darauf hingewiesen, dass die Geburtsstunde der wissen¬ 
schaftlichen Speculation, d. h. der Philosophie, damals 
schlug, als es Thaies gelang, sein Denken aus der 
Zeit in den Raum, also um einen rechten Winkel zu 
drehen, und der dialektischen Methode des Sokrates, 
die nichts anderes ist, als das Bestreben, durch immer 
wiederholte logische Prüfung einen abstracten Begriff' 
richtig d. h. rectangular zu stellen, hat der gesammte 
Orientalismus nichts an die Seite zu stellen. Und 
sollte nicht Philosophie überhaupt die Missachtung, 
in der sie steht, dem Umstand zu verdanken haben, 
dass sie gar oft griechische Strenge im Denken ver¬ 
missen lässt? 

Das Differential muss, wie Form auf Inhalt, auf 
dem Intregal senkrecht stehen. Ist dies innerhalb 
der log< »centrischen Begriffswclt der Fall, so füllt sich 
das Gebiet des vernünftigen Denkens mit dem werth- 
vollsten Material, durch das der Mensch die ganze 
Welt dem wissenschaftlichen Verständniss unterwerfen 
und sich zu ihrem Herrscher machen kann. Es ist 
aber überaus bemerkenswert!), dass erst, seitdem das 
dialektische Experiinentiren der Philosophen durch 
das exacte Experiment der Naturforscher ersetzt worden 
ist, ein so ausserordentlicher Fortschritt in der wissen¬ 
schaftlichen Erkenntniss des Seienden, wie heute, ge¬ 
macht wurde. Wir sehen leicht den Grund davon 
ein: von einer durch unbefangene Beobachtung ge¬ 
sicherten integralen Grundlage steigen die Natur¬ 
forscher an der Hand der Mathematik zu immer 
höheren Differentialbegriffen, immer bereit eine Wahr¬ 
heit (Hypothese, Theorie) durch eine besser be¬ 
gründete zu ersetzen, d. h. an der erstrebten Rectan¬ 
gularität ihrer .Begriffe eine genauere Correctur an¬ 
zubringen. Die Philosophen verfuhren immer um¬ 
gekehrt und integrirten ihre speculativen Abstractioncn, 

*) Schopenhauer brauchte, wie er sagt, nur die erste 
Seite eines Buches zu lesen, um urtheilen zu können, ob es 
lesenswerth sei. Unwillkürlich, und ohne davon zu wissen, 
liess er das Gitterwerk der Coordinaten seines klaren Denkens 
auf den Autor sich herabsenken und wusste dann genug. 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


19 


d. h. Differentialbegriffe, deren Herkunft keineswegs 
immer einer streng-wissenschaftlichen Prüfung unter¬ 
zogen worden waren,, ja, die sogar ausdrücklich eine 
Heimatsberechtigung in einer Erfahrung verschmähten! 
Wissenschaft weist solches Ansinnen zurück. Zwar 
gelang es dem speculativen Denker immer, die Wirk¬ 
lichkeit mit seinen Grundbegriffen in Einklang zu 
bringen*); er konnte sagen: die Integration meiner 

*) Das schönste Beispiel liefert Kant in der Kritik der 
reinen Vernunft. Nach der Entdeckung der Subjectivität von 
Raum und Zeit musste ein reiner erkentnisstheoretischer Idea¬ 
lismus folgen, der sich ebenso nothwendig durch einen reinen 


Differentialbegriffe ist erreicht — aber fragt mich nur 
nicht wie! 


Realismus im Sinn einer metaphysischen Ontologie hätte er¬ 
gänzen müssen. Beidem aber stand der altgewohnte Rationa¬ 
lismus entgegen. Kant war keineswegs gewillt, die Realität 
der Aussen weit aufzugeben. Den idealistischen Grundgedanken 
in den sogenannten empirischen Realismus auslaufen lassen zu 
können, das eben sollte der gewaltsame Gedankengang der 
Kritik der reinen Vernunft besorgen. Eine leise Schiefwink- 
licbkeit, über eine lange Denkfläche vertheilt, vermag den Denker 
über sich selbst, sowie den Leser zu täuschen. Ein Philosoph, 
der in seinen Begriffen von der strengen Gegensätzlichkeit ab¬ 
weicht, ist sicher verloren. 

(Fortsetzung folgt.) 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. 

Aus der juristischen Fachlitteratur des Jahres 1901 zusammengestellt 
von Dr. Ernst Schnitze , Andernach. 

(Schluss). 


Erkenntniss des Reichsgerichts IV. c. S. i. S. Böttcher 
c. Bottelier vom 4. März, 1901 Nr. 380/1(100 IV. 

II. I. O. L. G. Celle. 

Die Klägerin hat beantragt, auf Grund des § 1369 
des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Ehe der Parteien 
zu scheiden, indem sie behauptet, dass ihr Ehemann 
in Geisteskrankheit verfallen sei, und diese seit länger 
als drei Jahren während der Ehe bestelle und einen 
solchen Grad erreicht habe, dass die geistige Gemein¬ 
schaft zwischen den Ehegatten ohne jede Aussicht 
auf Wiederherstellung aufgehoben sei. Der Vormund 
des Beklagten hat die Abweisung der Klage beantragt. 
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Be¬ 
rufung der Klägerin ist durch das obenbezeichnete 
Urthcil des Oberlandesgerichts zurückgewiesen. Auf 
Revision der Klägerin ist das Beruf ungsurtheil auf¬ 
gehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückge¬ 
wiesen. 

Gründe. 

Das Beriifungsurtheil beruht auf der Annahme, 
dass nach dem Gutachten des ärztlichen Sachver¬ 
ständigen, Professors Dr. C.. der Beklagte nicht an 
Geisteskrankheit leide*, event. aber die etwa vor¬ 
handene Geisteskrankheit nicht einen solchen Grad 
erreicht habe, dass die geistige Gemeinschaft unter 
den Ehegatten ohne jede Aussicht auf Wiederher¬ 
stellung aufgehoben sei. 

Diese Begründung muss beanstandet werden. 

In Ansehung der Frage, ob der Beklagte an 
Geisteskrankheit leidet, bedarf es nach Lage der 
Sache nicht einer grundsätzlichen Entscheidung da- 

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rüber, ob der $ 1569 des Bürgerlichen Gesetzbuchs 
einem Ehegatten die Scheidungsklage nur im Falle 
der Geisteskrankheit oder auch im Falle der Geistes¬ 
schwäche des anderen Ehegatten giebt. Die Klägerin 
hat behauptet, dass der Beklagte an Geisteskrankheit 
leide. Das Berufungsgericht ist gegenüber dieser Be¬ 
hauptung dem Gutachten des Sachverständigen C. 
gefolgt. Diese Würdigung giebt aber zu Bedenken 
Anlass. Der Sachverständige hat bei seiner zweima¬ 
ligen Vernehmung sich im Wesentlichen überein¬ 
stimmend dahin geäussert: 

Der Beklagte sei im Jahre 1893 geisteskrank 
gewesen. Er habe sich aber im Laufe der Zeit 
gebessert. Gegenwärtig sei er im Sinne des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs geistesschwach, im 
wissenschaftlichen Sinne auch geisteskrank. Er 
leide an sekundärer Demenz auf dem Boden des 
chronischen Alkoholismus im Anschluss an ein 
delirium tremens. 

Dieses Gutachten bietet aber keine genügende 
Grundlage für die Beantwortung der Beweisfrage. 
Dasselbe argumentirt mit dem Begriffe der Geistes¬ 
krankheit bald im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 
bald im Sinne der Wissenschaft. Dabei ist aber das 
Verhältnis« nicht dargelcgt, in welchem beide Begriffs¬ 
arten zu einander stehen. Dies macht sich besonders 
insofern geltend, als der Sachverständige selbst da¬ 
von ausgeht, dass der Beklagte im Jahre 1893 an 
Geisteskrankheit im Sinne des Bürgerlichen Gesetz¬ 
buchs gelitten habe, dann nur konstatirt, dass der 
Beklagte sich später in gewissem Grade gebessert 


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20 


[Nr. 2. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT* 


habe, und schliesslich den gegenwärtigen Zustand des 
Beklagten doch nicht als abgeschwächte Geisteskrank¬ 
heit, sondern als Geistesschwäche im Sinne des Bür¬ 
gerlichen Gesetzbuchs bezeichnet. 

Im Zusammenhänge hiermit steht das Bedenken, 
welches die Vorentscheidung hinsichts der eventuellen 
Frage hervorruft, ob die etwa vorhandene Geistes¬ 
krankheit des Beklagten derartig gesteigert ist, dass 
demselben das Bewusstsein der ehelichen Gemein¬ 
schaft völlig und dauernd abhanden gekommen ist. 
Das Berufungsgericht erwägt hier : 

Nach dem C.’schen Gutachten bethätige sich 
das Bewusstsein der ehelichen Gemeinschaft sei¬ 
tens des Beklagten noch fort, theils krankhaft 
durch die Eifersuchtswahnideen, theils nicht 
krankhaft durch den Widerspruch gegen die 
Scheidung wie durch Aeusserungen dahin, dass 
er nach L. zurückkehren und sein Geschäft über¬ 
nehmen wolle, und dass dies schon gehen werde, 
wenn seine Frau sich so verhalte wie er. Aller¬ 
dings bekunde der Sachverständige, dass der 
Beklagte noch immer zum Trinken neige und 
beim Rückfalle gemeingefährlich werden würde, 
deshalb auch seine Entlassung bisher nicht an- 
gängig gewesen sei, sowie, dass auf einen Brief¬ 
wechsel des Beklagten mit der Klägerin so wenig 
wie bisher zu rechnen sei. Aber alles das ge¬ 
nüge nicht im Sinne des § 1569 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs. 

Dem gegenüber muss davon ausgegangen werden, 
dass die eheliche Gemeinschaft ein auf sittlichen 
Rechten und Pflichten beruhendes Lebensverhältniss 
ist, und dass, wenn von einem Fortbestehen, einer 
Fortbethätigung dieser Gemeinschaft gesprochen wer¬ 
den soll, entsprechende reale Anhaltspunkte dafür 
zu erfordern sind. Nun hat der Sachverständige 
C. bei seiner ersten Vernehmung bekundet: 

Die Entlassung des Beklagten aus der Pro¬ 
vinzialirrenanstalt sei bis dahin immer am Mangel 
anderweiter geeigneter Unterbringung gescheitert. 
Dies werde bei der Natur seiner Geisteskrank¬ 
heit und bei den bestehenden Verhältnissen 
auch für die Zukunft geschehen. Deshalb sei 
eine geistige Gemeinschaft zwischen den Ehe¬ 
gatten für jetzt und in der Zukunft ausgeschlossen. 
Zwar sei eine Bethätigung der Gemeinschaft 
durch Briefwechsel nicht absolut ausgeschlossen, 
aber auf diese Möglichkeit bei der hochgradigen 
Interesselosigkeit des Beklagten nicht zu rechnen. 
Angesichts dieser Angaben des Sachverständigen 
wird das Bedenken nahe gelegt, inwiefern sich für 
Gegenwart und Zukunft thatsächlich noch eine ehe- 

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liehe, d. h. von dem Bewusstsein sittlicher Rechte 
und Pflichten getragene Gemeinschaft unter den Ehe¬ 
gatten ermöglichen soll. J. W. *) p. 29. 

§ 1569 B. G. B. 

In die hier geforderte Dauer von mindestens 3 
Jahren ist auch die schon vor dem 1. Januar 1900 
abgelaufene Zeit einzurechnen. 

Urtheil des L.-G. Kaiserslautern vom 3. Mai 1901. 

D. R. **) Entscheidung Nr. 909. 

§ 1602, iriio. 

Erwerbsunfähigkeit ist schon dann anzunehmen, 
wenn eine der Lebensstellung des Bedürftigen ent¬ 
sprechende Erwerbsthätigkeit ausgeschlossen erscheint. 

(R.-G. IV. 25. April 1901.) 

D. R. Entscheidungen Nr. 1731. 

§ 1829 A. 3. 

Die durch den volljährig gewordenen Mündel er- 
theilte Genehmigung gemäss § 1829 Abs. 3 B. G. B. 
muss dem anderen Theile gegenüber erklärt werden 
und nicht etwa dem Vormunde gegenüber. 

Nach dem Eintritte der Volljährigkeit ist der Vor¬ 
mund nicht mehr zur Vertretung des Mündels be¬ 
rechtigt und kann derselbe deshalb auch keine Er¬ 
klärungen mehr für diesen abgeben. Daraus folgt, 
dass der Mündel nur dem anderen Theile gegenüber 
die Genehmigung erklären kann. Der Wortlaut des 
Gesetzes (§ 1829 Abs. 1 B. G. B) spricht zwar 
scheinbar dafür, dass die Erklärung dem Vormunde 
gegenüber zu machen ist, der sie seinerseits dem 
anderen Theile mitzutheilen habe. Es darf aber 
nicht übersehen werden, dass in Abs. 1 die Existenz 
der Vormundschaft vorausgesetzt wird. 

(L.-G. Metz, 28. August 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 2023. 

§ 1906; § 27 R. F. G. 

Die Entscheidung des Vormundschafts- bezw. Be¬ 
schwerdegerichts, dass eine „vorläufige Vormundschaft“ 
i. S. des B. G. B. § 1906 gegebenenfalls erforder¬ 
lich sei, kann, weil Sache des rein thatsächlichen Er¬ 
messens, nicht im Wege der weiteren sofortigen Be¬ 
schwerde (R. F. G. § 27, 69 5 , 20, 29 2 ) zur Nach¬ 
prüfung des O.-L.-G. gebracht werden, insofern die 
gesetzlichen Voraussetzungen des § 1906 im übrigen 
inhaltlich der Feststellungen des Beschwerdegerichts 
(L.-G.) vorliegen. 

Beschluss d. O.-L.-G. Karlsruhe vom 14. No¬ 
vember 1900. D. R. Entscheidungen Nr. 1039. 

§ 1909. 

Das Vomiundschaftsgericht hat vor Einleitung 
einer Pflegschaft aus § 1909 Abs. 1 Satz 2 B. G. B. 

*) Juristische Wochenschrift. 

**) Das Recht. 

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1002.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 2 1 


zunächst die formelle und materielle Gültigkeit des 
Testaments zu piüfen. 

(K. G. 22. April 1 t;o 1). 

D. R. Entscheidungen Nr. 2203. 

§ 1910. 

Uübereinstimmend mit „Recht“ 1900 S. 51 (>, Nr. 
786, 787 (Bestellung eines Pflegers für einen geistes¬ 
kranken Beamten im Zwangspensionierungsverfahren. 
Unmöglichkeit der Verständigung mit einem Geistes¬ 
kranken). 

(K.-G. 21. Januar 1901). 

D. R. Entscheidung Nr. 577. 

§ *2231. 

Zur gültigen Errichtung eines privatschriftlichen 
Testaments ist nicht erforderlich, dass dasselbe in 
deutscher Sprache verfasst wird. Das Gesetz stellt 
vielmehr bezüglich der Sprache, in welcher ein der¬ 
artiges Testament zu errichten ist, kein Erfordern iss 
auf. 

(K. G. 29. Mai 1 o< > 1). 

D. R. Entscheidungen Nr. 22 io. 

§ 2238 A. I. 

Zugelassen ist nur eine Erklärung durch ge¬ 
sprochene Worte, nicht durch .Zeichen, sodass ein 
Testament, bei dem der Errichter sein Einverständ¬ 
nis« lediglich durch Kopfnicken zu erkennen gegeben 
hat, nichtig ist. 

(O.-L.-G. Stuttgart, 23. März 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1505. 

§ 2242 A. 1 S. 2. 

Die hier vorgeschriebene Feststellung im Testa¬ 
mentsprotokoll kann nicht durch eine nachträgliche 
Bescheinigung des Protokollanten, „er habe das 
Schriftstück dem Kranken . . . vorgelcsen, worauf 
derselbe seine letztwillige Verfügung unterschrieben 
habe“, ersetzt werden und noch weniger 'durch eine 
ähnliche Bestätigungserklärung des bei der Aufnahme 
der Urkunde zugegen gewesenen Zeugen. 

(L.-G. Dresden, 13. Juni 1900h 

D. R. Entscheidung Nr. 41 1. 

IV. Einführungs-Gesetz zum 
Bürgerlichen Gesetzbuch. 

Art. 153 bis 156, 160. 

Erkenntniss des Reichsgerichts IV. C. S. i. S. Marg. 
c. Staatsanwaltschaft u. Gen. vom 3. Januar 19m 

Nr. 277/1900. IV. 

II. J. Kammergericht. 

Das Berufungsurtheil ist aufgehoben und die Sache 
an das Berufungsgericht zurückgewiesen. 

Aus den Gründen. 

Die aus dem materiellen Rechte hergenom- 

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mene Beschwerde erweist sich als durchschlagend. 
Auch wenn mit dem Berufungsgericht auf Grund der 
Fassung des § 669 Absatz 1 der Civilprozessordnung 
angenommen wird, dass demselben lediglich eine Prü¬ 
fung darüber oblag, ob der amtsgerichtliche Entmün¬ 
digungsbeschluss zur Zeit seiner Erlassung, 
d. i. am 13. August 1898, gerechtfertigt war, — was 
vorliegenden Falles um so unbedenklicher ist, als der 
Kläger den Eintritt einer Aenderung in seinem gei¬ 
stigen Zustande für die seitdem verflossene Zeit gar 
nicht behauptet —, so hatte doch das Berufungsge- 
gericht auch in diesem Falle bei der Beschliessung 
seines Urtheils, am 29. Juni 1900, hierüber nicht 
mehr nach Allgemeinem Landrecht, sondern nach 
Maassgabe der Vorschriften des seitdem in Kraft ge¬ 
tretenen Bürgerlichen Gesetzbuch zu entscheiden. 
Die Frage, ob eine Person geisteskrank und deshalb 
geschäftsunfähig oder bezw. in seiner Geschäftsfähig¬ 
keit beschränkt ist, betrifft die Feststellung eines Zu¬ 
standsrechts (Statusrechts). Dass auf dergleichen Zu- 
standsrechtc seit der Wirksamkeit des neuen Gesetzes 
dessen Satzungen anwendbar sind, geht schon im 
Allgemeinen aus der Tendenz des Gesetzes, insbe¬ 
sondere aber auch aus den Artikeln 153 bis 156 
und 160 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen 
Gesetzbuche, zur Genüge hervor. Auch in dem Ur- 
theil des erkennenden Senates vom 29. Oktober 1900 
(IV, Nr. 244/00) ist bereits ausgesprochen worden, 
dass vom 1. Januar 1900 an die Entmündigung wegen 
Geisteskrankheit in einem zu dieser Zeit noch an¬ 
hängigen Verfahren nicht mehr nach altem, sondern 
nach dem neuen Rechte zu beurtheilen ist. 

In der vorliegenden Sache genügte es demnach 
für den Berufungsrichter nicht, in Uebereinstimmung 
mit dem Beschlüsse des Amtsgerichts vom 13. Au¬ 
gust 1898 festzustellen, dass der Kläger damals im 
Sinne des £ 28 Titel I Thcil II des Allgemeinen 
Landrechts blödsinnig (unvermögend, die Folgen sei¬ 
ner Handlungen zu überlegen) war. Seine Prüfung 
hatte sich vielmehr nach dem 1. Januar 1900 darauf 
zu erstrecken, ob sich aus dem von dem Amtsge¬ 
richte festgestellten Thatbestand auch die Folgerung 
ziehen lasse, dass der bei dem Kläger damals vor¬ 
handene Geisteszustand eine Geisteskrankheit oder 
Geistesschwäche nach Maassgabc des § 0 Nr. 1 
des Bürgerlichen Gesetzbuchs darstelle und 
dass Kläger in Folge derselben gehindert war, seine 
Angelegenheiten zu besorgen. Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass der Gegenstand dieser Prüfung in dem 
einen und in dem anderen Falle nicht derselbe ist. 

J. W. p. 72. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2. 


Art. 155. 

Die Frage, ob jemand geisteskrank und deshalb 
geschäftsunfähig ist, muss von dem Richter, der da¬ 
rüber nach dem i. Januar i c>« »o zu erkennen hat, 
auf Grund des neuen Rechts entschieden werden. 

(R.-G. IV, 3. Januar 1901). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1045 
Art. 210. 

Pflegschaften, die nach § 90 der Pr. Vorm.-Ord¬ 
nung eingerichtet sind, verbleiben auch unter der 
Herrschaft des B. G. B. in Kraft. 

(O.-L.-G. Frankfurt a. M., 17. Okt. 1900). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1207. 

Art. 210 A. 2. 

Die Vorschrift, dass die bisherigen Vormünder 
als nunmehrige Pfleger im Amte bleiben, greift dann 
nicht Platz, wenn an Stelle der mit dem 1. Januar 
1900 zu Ende gegangenen Vormundschaft eine Pfleg¬ 
schaft tritt. 

(O.-L.-G. Jena I., 28. Mai 1 <j<>0). 

D. R. luitscheidungen Nr. 1O9. 

Art. 210. 

Vormünder und Pfleger, die unter der Herrschaft 
des früheren Rechtes befreit worden sind, sind vom 
1. Januar 1900 nicht weiter befreit, als dies das B. 
G. B. zulässt; insbesondere fällt jede Befreiung von 
ij 1807 weg. 

(K.-G. 29. Oktober 1900). 

D. R. Entscheidung Nr. 418. 

Art. 2 io A. 2. 

Die Vorschrift des Art. 210 Abs. 2 E. G. z d. 
B. (i. B., dass die bisherigen Vormünder im Amte 
bleiben, bezieht sich nicht nur auf die bestellten, 
sondern auch auf die gesetzlichen Vormünder. 

Die allgemeine Fassung jener Gesetz Vorschrift 
schliesst eine Unterscheidung zwischen Vormündern, 
welche nach dem bisherigen Rechte bestellte oder 
gesetzliche waren, aus, und auch die Materialien zu 
derselben - Motive zu $ 128 d. Entw. eines E. G. 
z. B. G. B. S. 303 — rechtfertigen die Annahme 
nicht, dass eine solche Unterscheidung gewollt war. 
In diesem Sinne wurde die in der Litteratur be¬ 
strittene Frage von dem Kammergericht (Johow Jahrb. 
Bd. 10, S. 43) entschieden. Den gleichen Stand¬ 
punkt hat mit Bezug auf Landrechtsatz 393 a auch 
das Grossherz. Bad. Justizministerium in den an die 
Badischen Amtsgerichte erlassenen Belehrungen vom 
6. Januar und 26. Februar 1900 (Bad. Rcchtspraxis 
1900 S. 73, 74) vertreten. 

R. G. Urth. vom 12. Febr. 1901. II 310/1900. 

D. R. Entscheidung Nr. 489. 


V. Civilprozessordnung. 

§ 41 Z. b. 

Die Ablehnung eines Sachverständigen kann in 
der Berufungsinstanz nicht unter Anrufung des §41 
Nr. 6 C. P. O. in der Weise begründet werden, dass 
derselbe bereits in erster Instanz vernommen worden 
sei und somit als Richtergehilfe bei der Entscheidung 
erster Instanz mitgewirkt habe. 

Entsch. des R. G. VII vom 7. Mai 1901. 

D. R. Entscheidungen Nr. 1215. 

§ 56* 

Stellt sich heraus, dass der Beklagte schon zur 
Zeit der Klagezustellung prozessunfähig war, ohne 
mit einem gesetzlichen Vertreter versehen zu sein, 
so ist das Gericht nicht befugt, das Verfahren durch 
Beschluss auszusetzen, sondern es muss durch Urtheil 
entscheiden. 

(O.-L.-G. Dresden, 13. Juli 1900). 

Stellt sich in der Berufungsinstanz heraus, dass 
der Beklagte und Berufungskläger prozessunfähig ist, 
und dies auch schon zur Zeit der Klagezustellung 
war, ohne mit einem gesetzlichen Vertreter versehen 
zu sein, so ist nicht etwa die Berufung als unzulässig 
zu verwerfen, sondern die Klage unter Aufhebung 
des ersten Urtheils und des bisherigen Verfahrens 
abzu weisen. 

(O.-L.-G. Stuttgart, 24. Mai 1901). 

D. R. Entscheidungen 2119, 2120. 

§ 406. 

Die Ablehnung eines Sachverständigen ist nach 
$ 406 Abs. 2 der C. P. O. nur so lange zulässig, 
als nicht dessen Vernehmung oder bei schriftlicher 
Begutachtung die Einreichung des Gutachtens erfolgt 
ist, es sei denn, dass — was hier nicht zutrifft — 
der Ablehnungsgrund früher nicht geltend gemacht 
werden konnte. Der Sachverständige N., gegen 
den die Kl. ein in dem angefochtenein Beschlüsse 
zurückgewiesenes Ablehnungsgesuch eingebracht hat, 
ist aber in dieser Prozesssache bereits wiederholt 
vernommen und hat mehrfache schriftliche Gutachten 
erstattet, darum ist die jetzt erst erfolgte Ablehnung mit 
Recht als pfo< essual unzulässig angesehen. Die Be¬ 
schwerdeführerin behauptet zwar, es handle sich jetzt 
um eim: neue Ernennung des Sachverständigen be¬ 
hufs der Beweiserhebung über ein neues Beweisthema, 
allein das ist, wie die Fassung des ßeweisbeschlusses 
vom 14. November 1900 klar zum Ausdruck bringt, 
thatsächlich nicht der Fall. VI. C. S. i. S. Pfister e. 
Kyllmann und Heyden vom 27. December 1900, 
B. Nr. 232/1900 VI. J. W. p. 59. 

§ 406. 

Ein Ablehnungsgrund betreffs eines Sachverstän- 


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tgoi.) PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 23 


digen kann nicht daraus entnommen werden* dass 
derselbe bereits in einer früheren Instanz vernommen 
worden ist. 

( 0 .-L.-G. Karlsruhe, 28. December igoo). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1088. 

§§ 407,413- 

Der Sachverständige kann die Erfüllung der ihm 
obliegenden Verpflichtung zur Erstattung eines Gut¬ 
achtens nicht von der begehrten Zusicherung be¬ 
stimmter Gebührensätze abhängig machen. 

(Kammergericht, 1. October igoo). 

D. R. Entscheidungen Nr. 1089. 

S 48/ Z. 3» 488. 

Das Gericht ist an die benannten Sachverstän¬ 
digen gebunden und muss sie vernehmen. Der An¬ 
tragsteller hat somit ein durch § 4<>4 Abs. 1 nicht 
besc hränktes Vorschlags r e c h t. 

(R. G., 24. September 1901.) 

D. R. Entsc heidungen Nr. 2554. 

$ 5 () 7 - 

Wenn der Antrag der das Entmündigungsverfah¬ 
ren betreibenden Staatsanwaltschaft auf nochmalige 
Vernehmung von Sachverständigen seitens des Amts¬ 
gerichts abgelehnt worden ist, so ist hiergegen Be¬ 
schwerde zulässig. 

(L.-G, Darmstadt, b. Juni igoi). 

D. R. Entscheidungen Nr. 2275. 

$ () S°- 

Dem Geiste des Gesetzes entspricht cs, dass über¬ 
all da, wo der Eindruc k der Person des zu Entmün¬ 
digenden für den Ausfall der richterlichen Entscheidung 
Bedeutung gewinnen kann, dieses Erkcnntnissmittel 
auch verwerthet wird. ‘ Deshalb wird sich der Richter 
des Aufenthaltsortes im Zweifel nicht der Aufgabe 
entziehen dürfen, über die beantragte Entmündigung 
sachlich Entscheidung zu treffen. 

(O.-L.-G. Dresden, 5. November 1900.) 

D. R. Entscheidung Nr. 1433. 

§ ( > 5 °- 

Uebereinstimmend mit „Recht“ S. 375. Nr. 202. 

K. -G. 30. März 1000, während das Bayr. Oberst. 

L. -G. vom 10. März 1900 anscheinend etwas weiter 
geht, indem es sagt: 

„Leitender Gesichtspunkt für Zulassung der Ueber- 
weisung war, dass es für die Sicherheit des Verfahrens 
von erheblichem Werthc sei, wenn derjenige Richter 
das Urtheil fälle, der den zu Entmündigenden vor 
Augen gehabt und vernommen habe. Demgegenüber 
könne die Folge der Ueberwcisung nicht durchschlagend 
sein, dass bei einzelnen Gerichten, in deren Bezirk 
sich Irrenanstalten befinden, eine Fülle von Entmün¬ 
digungssachen erwachsen könne.“ Nach der Ansicht 


des Kammergerichtes sollte durch die Fassung des 
Gesetzes gerade die Möglichkeit der Ueberlastung 
einzelner Gerichte ausgeschlossen werden. 

D. R. Entscheidung Nr. 219. 

$ f> 50 . 

Die nac hträgliche UeberweisungdcsEntmündigungs¬ 
verfahrens an das Amtsgericht, das den zu Entmün¬ 
digenden bereits auf Ersuchen des zur Einleitung des 
Verfahrens zuständigen Amtsgerichts vernommen hat, 
ist zulässig. 

(O.-L.-G. Dresden, 8. Oktober iqoo.) 

D. R. Entscheidungen Nr. 1656. 

S 650. 

Gegen die Entscheidung aus $ 050 Abs. 3 giebt 
es keine Beschwerde. 

(K. G. 30. März igoo.) 

D. R. Entscheidung Nr. 220. 

$ <> 50 . 

Gegen die Entscheidung aus § 650 :l steht den be¬ 
theiligten Gerichten kein Rechtsmittel zu. 

(O.-L.-G. Dresden, 13. Dezbr. igoo.) 

D. R. Entscheidungen Nr. 1432. 

§§ 650, (>53. 

Die Uebernahme der Verhandlung und Entschei¬ 
dung über den Entmündigungsantrag kann nicht wegen 
mangelnder Angabe der Gründe, aus welchen die 
Verbringung des zu Entmündigenden in die Irren¬ 
anstalt erfolgte, abgelehnt werden. 

(Bayer. Oberstes L.-G., I. Juli igoi.) 

D. R. Entscheidungen Nr. 2428. 

f>54* f>55» () 7 l - 

Auc h in solchen Fällen, in denen für das Prozess¬ 
verfahren der ersten Instanz der § 598 a F. (jetzt 
$ <>54) massgebend war, ist, wenn zur Zeit der Ver¬ 
handlung in der Berufungsinstanz die neue Vorschrift 
des § O34 in Kraft getreten war, diese Bestimmung 
anzuwenden. § O71 Abs. 1 C. P. O. muss nach den 
allgemeinen Vorschriften dieses Gesetzbuches auch in 
der Berufungsinstanz Anwendung finden. In gleicher 
Weise hat schon der III. C. S. des R. G. in einem 
Urt. vom 12. Oktober 1900 Rep. III Nr. 185/00 
entschieden. 

Urtheil des R. G. vom 20. November igoo in 
der Sache Rep. II Nr. 2b0/00. 

I). R. Entscheidung Nr. 118. 

8 654. 

Die Vorschrift, dass der zu Entmündigende per¬ 
sönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sach¬ 
verständigen zu vernehmen ist, ist im Interesse und 
zum Schutze des zu Entmündigenden gegeben. .Die 
Vernehmung darf deshalb nicht aus dem Grunde unter- 


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-4 

bleiben, weil das Gericht dieselbe als unerheblich für 
seine Entscheidung erachtet. 

Beschluss der I. C. K. des L.-G. Elbcifeld vom 
20. September i()Oi. 

D. R. Entscheidungen Nr. 2153. 

£1 f) 54 > (r> 7 1 • 

Als eine „besondere Schwierigkeit 4 " i. S. des Abs. 
3 des | #134 ist das Ausbleiben oder die Weigerung 
des zu Entmündigenden, zu erscheinen, nicht anzu¬ 
sehen, da das Gesetz die Vorführung desselben ge¬ 
stattet, die Vernehmung des zu Entmündigenden muss 
unter Zuziehung mindestens eines Sachverständigen 
erfolgen. Dies gilt auch für das Anfechtungsverfahren. 
§ O71 Abs. 2 bezieht sich nur auf $ (>55. 

(R.-G. IV. C. S. 12. Oktober 1900.) 

D. R. Entscheidung Nr. 851. 

§ () 57 * 

1 lat der Entmündigungsrichtei dem Vormundschafts¬ 
richter Mittheilung von der Einleitung eines Entmün- 
digungsverfahiens behufs Anordnung der Fürsorge für 
die Person oder das Vermögen des zu Entmündigenden 
gemacht, so hat der Vormundschaftsrichter nicht zu 
prüfen, ob das Verfahren zu Recht eingeleitet ist 
bezw. fortgeführt wird. 

(K. G. 25. Februar iqoi., 

L). R. Entscheidungen Nr. 1057. 

II (>04, <)(*(>. 

Im Prozesse über die Anfechtungsklage ist nur 
darüber zu entscheiden f ob die Entmündigung zu der 
Zeit, zu der sie ausgesprochen wurde 4 , zu Recht er¬ 
folgt ist. Für diese Frage ist es ohne Bedeutung, 
wenn die Legitimation der Antragsteller weggefallen ist. 

Dies hat nur zur Folge, dass sie vom Augenblic ke 
des Wegfalls an kein Recht mehr haben, zum Pro¬ 
zesse zugezogen zu werden. 

(O.-L.-G. Hamburg* 18. März.) 

I). R. Entscheidungen Nr. 1538. 

I 071 

Zutreffend erscheint der von der Revision er¬ 
hobene Vorwurf einer Verletzung des | (>71 Abs. 1 
und des § Ö54 der C. P. O. Der zunächst nur für 
das amtsgerichtliche Entmündigungsverfahren geltende 
| 054 a. a. O. leidet nach | (>71 Abs. 1 auch in 
dem Verfahren über die Anfechtungsklage, und zwar, 
wie Mangels einer entgegenstehenden Bestimmung 
nach den allgemeinen civilprozessualen Grundsätzen 
anzunehinen ist, sowohl in der landgeriehtliehcn wie 
in der Berufungsinstanz entsprechende Anwendung. 
Das B. G. musste daher, abgesehen von dem hier 
nicht in Betracht kommenden Falle des £ 054 Abs. 
3 a. a. O. dem von dem Amtsgericht entmündigten 
Kl. persönlich, unter Zuziehung eines oder mehrerer 


[Nr. 2. 

Sachverständiger vernehmen. Ausweislich des Ver- 
handlungsprotokolles vom 29. Juni 1900 ist jedoch 
diese Vernehmung ohne Zuziehung eines Sachver¬ 
ständigen erfolgt. Der gerügte Verstoss liegt mithin 
vor, und dass auf ihm das angefochtene Urtheil auch 
b< ruht, erscheint nach dem Inhalt der Entscheidungs¬ 
gründe keineswegs ausgeschlossen, da die Zurück¬ 
weisung der Berufung daselbst ausdrücklich auf das 
Gutachten der vernommenen Sachveiständigen mit- 
gegründet wird. (Vcrgl. auch die Urtheilc des R. G. 
III. C. S. vom 12. Oktober 1900, III Nr. 185/00, 
und II. C. S vom 20. November 1900, II Nr. 2(10/00.) 
R.-G. IV. C. S. i. S. Marg C. Staatsanwaltschaft u. 
Gen. vom 3. Januar 1901, Nr. 277/1900. IV. 

J. W. pp. 80. 

|| Ö71, 054. 

Wenn der Berufungsrichter es unterlassen hat, in 
dem auf Aufhebung der Entmündigung gerichteten 
Verfahren den Entmündigten mit Zuziehung von Sach¬ 
verständigen zu vernehmen, so ist das Urtheil nichtig. 

(R.-G. IV. 3. Januar iooi.) 

1 ). R. Entscheidungen Nr. 1098. 

|| (>8b Abs. 4, (>(>5. 

Zuständig für die Wiederaufhebungsklage ist das 
Landgericht, in dessen Bezirk das Amtsgericht belegen 
ist, welches den Antrag auf Aufheining der Entmün¬ 
digung abgelehnt hat. 

(O.-L.-G. Naumburg, 15. März 1901.) 

D. R. E 7 ntscheidung.cn Nr. 1539. 

VI. Handelsgesetzbuch. 

S 2- 

Ist der Betrieb einer Krankenheilanstalt Selbstzweck, 
hat also der Arzt die Absicht, gerade aus der Ge¬ 
währung von Aufenthalt und Unterhalt gegen Knt- 
geld Gewinne zu ziehen, und stellt die ärztliche 
Thätigkeit sieh nur als ein, wenn auch wesentliches, 
Glied in der Kette derjenigen Einrichtungen dar, 
welche in ihrer Zusammenfassung als Anstaltsbetrieb 
Gewinn ab werfen sollen, so muss das Vorhandensein 
eines gewerblichen Unternehmens anerkannt werden 
und die Anstalts-Firma ist zur Eintragung in das 
Ha 11 delsregistei anzumelden. 

Gerade in Bezug auf die Anwendung des | 2 des 
Handelsgesetzbuchs ist in der Denkschrift hierzu be¬ 
merkt : „Der Ausdruck gewerbliches Unternehmen 
braucht im Gesetze nicht näher erläutert zu werden ; 
schon vermöge der Bedeutung, welche ihm nach dem 
allgemeinen Sprachgebrauchc zukommt, genügt er, um 
die Ausübung der Kunst, der Rechtsanwaltschaft, des 
ärztlichen Berufs u. s. w. auszuschliessen 4 ' (Hahn- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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u;o2.] PS YCHIAT RISCH-N E U R<) LOG ISCHE \VO( H ENSCH RIFT. 


Mr.gdan a. a O. S. 197). Auch in der einschlägigen 
handelsrechtlichen Litteratur wird zumeist angenommen, 
dass der Beruf des Arztes nicht als Gewerbe im Sinne 
des Handelsgesetzbuches gelten könne. (Kumm, zum 
II. G. B. von Düringer-Hachenburg, Bd. i, S 27, 
Lehmann S. 4, Staub 0. und 7.. Aufl. Bd. 1, S. 44.) 
Nach allen diesen Zeugnissen kann es keinem be¬ 
gründeten Zweifel unterliegen, dass nach dem allge¬ 
meinen Sprachgebrauche die Berufsthütigkeit des Arztes 
nicht ein Gewerbe darstellt und dass, da dieser Sprach¬ 
gebrauch für Hie Auslegung des § 2 des Handelsge¬ 
setzbuchs entscheidet, die Ausübung dieser Thätig- 
keit nicht die Begriffsmerkmale des gewerblichen 
Unternehmens im Sinne des § 2 erfüllt. Allerdings 
gilt alles dies nur von der Ausübung des ärztlichen 
Berufs als solchen. Ist dagegen mit ihr der Betrieb 
einer Heilanstalt verbunden, so kann darin sehr wohl 
ein Gewerbebetrieb gefunden werden. Für die Ab¬ 
grenzung ist entscheidend, ob der Betrieb der Anstalt 
selbständiges Mittel zur Erzielung einer dauernden 
Einnahmequelle ist oder ob der Anslaltsbetrieb sich 
lediglich als Mittel dem Zwecke unterordnet, die, wenn 


25 

auch mit Gewinnbezug verbundene, Ausübung der 
ärztlichen Berufsthütigkeit zu ermöglichen oder zu 
fördern. Im ersteren Falle liegt ein Gewerbebetrieb 
vor, im letzteren nicht. Danach ist das Moment der 
Gewerbsmüssigkcit jedenfalls dann nicht gegeben, wenn 
der Arzt eine Pri »'atkrankcnanstalt lediglich für Lehr¬ 
zwecke oder zur eigenen Fortbildung oder für wissen¬ 
schaftliche Untersuchungen halt. Aber auch in den¬ 
jenigen Fällen, in welchen der Arzt mit dem Betliebe 
solcher Anstalt nur bezweckt, die sachgemässe Aus¬ 
übung seiner ärztlichen Thätigkeit zu sichern, ohne 
dass die Absicht bestellt, aus dem Anstaltsbeti ieb als 
solchen Gewinn zu ziehen, kann ein Gewerbebetrieb 
nicht angenommen werden. lYbeiall ist hier das die 
Gewerbsmässigkeit ausschliessende Moment, dass der 
Arzt, wenn er auch wie jeder, der einer gewinn¬ 
bringenden Beschäftigung nachgeht, Geld verdienen 
will, dies doch nur mittels seiner Benifstbüligkeit als 
Arzt und nicht als Anstaltsuntei nehmei thun will 
Kammergericht Berlin, 14. Januar 1901. 

D. R. Entscheidung Nr. 04 7. 


Mittheilungen. 


— Die schweizerische Psvcbietci Versammlung 
findet am 19. Mai (Pfingstmontag) in Pirmingsberg 
statt. 

— Kgr. Sachsen. Aus der neuerbauten Kgl. 
sächsisc hen Anstalt G n »ss - S e h we i d n i t z , welc he 
wegen ihre Vorzüglichen Einrichtung das Interesse 
weitester Kreise erweckt, wird uns gesc hl ichen: 

„Es haben während der letzten Wochen rund 
8000 Personen aus allen Theilen des Aufnahmebe¬ 
zirkes, darunter 44 Vereine, die hiesige Anstalt be¬ 
sichtigt. Täglich fanden ärztliche Führungen statt. 
Allen Besuc hern wurden vor der Besic htigung populäre 
Vorträge über moderne Irrenpflege, Anstaltseinrich- 
tungen, besonders die von Gross-Sehweidnitz, über die 
sächsischen Pflcgcreinrichtungcn, sowie über den säehs. 
Irrenhilfsverein gehalten, die mit grossem Interesse 
entgegengem unmen wurden. 

Hoffentlic h ist auf diese Weise manches Vorurtheil 
bekämpft, manche schiefe Ansicht der hiesigen Be¬ 
völkerung über Irren pflege u Anstaltseinrichtimgen 
beric htigt worden. Die 4 Wochen waren allerdings 
sc hwer. Das Gedränge war oft geradezu beängstigend.“ 

Die Anstalt Gross-Sc hweidnitz dürfte unter den 
in der letzten Zeit erbauten Instituten dieser Art die 
erste Stelle einnehmen. 

— Pommern. Aus den Beschlüssen des 29. 
Provinzial-Landtages der Provinz Pommern, der vom 
12. bis 16. März d. Js. in Stettin getagt hat, ist 
Folgendes als für das Irren wesen von Interesse zu 
erwähnen. 


Bei der Provinzial-Irren-Anstalt bei Ue< bei münde- 
wird eine zweite Erweiterung vorge-nommen weiden 
und zwar sollen erbaut werden 2 massixe Baracken 
für anslec krude Krankheiten, ein Wohnhaus für weib¬ 
liche Pensionäre-, ein Beamtenhaus (III. Arzt und 
Rendant) und ein Würtcrw«»lmhaus, ausserdem wird 
der Wirt.sc. haftshof durc h Neu-und Erw eiterungshauten 
vergrössert; die Gesammtanschlagssumme beläuft sich 
auf 202 400 Mark. Bei der Provinzial-Trrenanstalt zu 
Treptow a. R. wird ein Wohnhaus für den Yeiwal- 
tungsassistenten und zwei Unterbeamten zum An- 
schlagsprcise voll 40000 Maik errichtet werden. 

Bei der Provinzial-Irren-Anstalt Lei Ucckermünde 
ist die Stelle eines Assistenzarztes in die: eines III. 
Arztes iimge-wandelt. Die Gehälter der Obeiärzte 
und 4. Aerzie sind nicht unwesentlich aufgebessert. 
Nicht nur den zweiten ()beiärztcn an den 4 Anstalten, 
sondern auch den 4. Aerztcn in Lauenbiirg 
und Treptoxv a. R. ist Anstellung a 11 f Leb c n s z e i 1 
verliehen; — die Bezeichnung „Warte-personal 1 * i>t in 
„Pflegepeis» >nal“ umgexvandelt. 

Der bekannte Prozess „Fuhrmann** hat am 
20. März 1002 in zweiter Instanz bei dem Land¬ 
gericht in G »1 »lenz mit einem Vergleich der Parteien 
geendet, wobei die Angeklagten folgende! Erkiäirmu 
abgaben; 

Erklärung. 

Die Vnferwidmeten erkennen hiermit ri'nk- 
haltslos an, dass die Verbringung des 

Joseph Fuhrmann aus Neuenahr 


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26 PSYCHIATRISCH-NEUR« >LOGISCIIK WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2. 


in die Provinzial-Heil- und Pflege-Ansalt Ander¬ 
nach durch seine Ehefrau vollständig gerechtfer¬ 
tigt und geboten war , nnd dass dabei alle gesetz¬ 
lich gegebenen Vorschriften beobachtet worden sind. 
Wir erkennen ferner an, dass die im Urtheil 
erster Instanz des Amtsgerichts Ahrweiler vom 
14. December enthaltenen Feststellungen , insofern 
sie Nachtheiliges über die Persönlichkeit und den 
Charakter der Ehefrau Fuhrmann enthalten, den 
thatsächliehen Verhältnissen nicht entsprechen. 

Wir bedauern , dass durch unsere Mitthei- 
Inngcn, und namentlich durch den Artikel in dem 
Köhier Tageblatt, über das Verhalten der Ehe¬ 
frau Fuhrmann , sowie über das Verhalten der 
betheiligten Aerzle und Anstalt unrichtige Vor¬ 
stellungen in die Oeffentlichkcit gebracht worden 
sind. 

Wir übernehmen ah Gesmnmtschiddner die 
sämmtlichcn Kosten beider Instanzen und ermäch¬ 
tigen die Ehefrau Fuhrmann, vorstehende Er¬ 
klärung in folgenden Zeitungen auf unsere Kosten 
öffentlich bekannt zu machen , nämlich; 

1. dem Kölner Tageblatt, 

2. dem General-Anzeiger für Bonn und Um¬ 
gegend , 

2. der Ahrweiler Zeitung , 

1. einer in Magen erscheinenden Zeitung. 

5. der Coblenxer Volkszeitung. 

Coblenz , den 26. Marx 1902. 

J. Dietz. M. Borg. Emil Borg. 

A. J. Irmgartz. Frau A. J. Irmgartz. 

Für diejenigen Herrn Kollegen, welche diesen 
Prozess in der Tagespresse nicht verfolgt haben, 
theilen wir folgendes mit. 

Im August wurde der Kaufmann Jos. Fuhrmann zu 
Neuenahr in Folge starken Trinkens in die Irrenan¬ 
stalt Andernach gebracht und zwar auf Grund des 
Gutachtens des Dr. Niesen durch Leute, die von der 
Frau des Fuhrmann bezahlt waren. Hierauf erschie¬ 
nen in dem Kölner Tageblatt drei Artikel vom 30. 
August, 4. September und 12. September v. J., in 
welchen behauptet wurde, dass die Frau Fuhrmann, 
ein früheres Dicnstmfnleben bei ihm, ihren Mann 
Familienverhaltnisse halber widerrechtlich in eine 
Irrenanstalt hätte unterbringen lassen. Wegen dieser 
Artikel und wegen verschiedener Acusserungen, die 
über die Frau F. gemacht wurden, erhol) sic beim 
Schöffengericht in Ahrweiler eine Privatklage und 
zwar 1. gegen den Direktor und Chefredacteur Jean 
Dietz, 2. den Redacteur Gustav Delphy zu Köln, 
3. den Kaufmann Moritz Borg, den Kaufmann Emil 
Borg, 5. den Gästwirth Aut. |os. Irmgartz und 6. 
dessen Ehefrau, alle aus Neuenahr. Das Schöffenge¬ 
richt wies aber durch Urtheil vom 14. December die 
Klage kostenfällig ab, weil das Schöffengericht an- 
nalnn, dass die Beschuldigten in Wahrung berech¬ 
tigter Interessen gehandelt hätten. Gegen dieses 
Urtheil hat die Privatklägerin und die königliche 
Staatsanwaltschaft Berufung erhoben. Zu der neuen 
Verhandlung waren etwa Oo Zeugen und als Sach¬ 
verständige die Herren Dr. Niesen, Kreisarzt Dr. 
Kohlmann, Dr. Ehrenwall, Dr. Schultzc und Dr. 

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Länderer, Direktor der Provinzial-Irrenanstalt in An¬ 
dernach geladen. 

Besonderen Dank verdient das energische Vor¬ 
gehen des Herrn San.-Rath Dr. Ehren wall, der 
bei Gericht, als der Vergleich angebahnt wurde, da¬ 
rauf hinwies, dass die Irrenärzte ebenfalls an dem 
gerichtlichen Urtheilsspruch ein hohes Interesse hätten 
angesichts des Schadens, welchen das Ansehen der¬ 
selben durch die Presse bei diesem Vorfall erlitten 
hätte. 

Der Vorsitzende erklärte darauf, dass die Inter¬ 
essen der Aerzte im Tenor des gerichtlichen Ur- 
tlieils keinesfalls, dagegen sehr wohl in den Ver¬ 
gleichsverhandlungen wahrgenommen könnten. Und 
so geschah es auch. 

Referate. 

— Bloch, Beiträge zur Aetiologie der Psycho¬ 
pathie sexualis. Dresden, Dohrn, 1002. 272 Seiten. 

7 M. Erster Thcil. 

Verf. will vor allem in seinem sehr anregenden, 
neben vielem Bekannten doch auch Neues, hie und 
da freilich Anfechtbares, enthaltenden Buc he den 
Nachweis führen, dass allen sexuellen Anomalien all¬ 
gemein menschliche Bedingungen zu Grunde liegen, 
dass sie sich deshalb zu allen Zeiten und bei allen 
Völkern in gleicher Weise wiederfinden. Er stellt 
diese seine „anthropologisch-medizinische Theorie“ der 
medizinischen und historischen Theorie gegenüber auf. 
Auf der andern Seite leugnet er so ziemlich ganz die 
„angeborenen Fülle von Homosexualität und führt sie 
auf äussere Ursachen zurück. Freilich ist er sich 
selbst bewusst, dass seine Beweisführung keine ganz 
strenge ist. Rcf. glaubt, dass es in der That, 
wenn auch selten genug, „angeborene“ Homosexualität 
giebt. Siedler tritt hier die Neigung zum gleichen 
Geschleckte sehr früh auf und durchaus nicht immer 
gelingt es, eine äussere Ursache dafür aufzufinden. 
Aber selbst wenn das geschieht, sc'» muss man doch 
eine sehr grosse Disposition dazu als angeboren an¬ 
erkennen, wenn unbedeutende Ursachen, Anblick von 
Genitalien, ein sexueller Schmerz etc', eine so tiefe 
Wirkung hervorbrachten. Uebrigens behandelt Bloch 
in seinem Buche blos allgemein die Ursachen der 
perversen Sexualität und nur die speziellen der Homo¬ 
sexualität. Die einzelnen Perversionen sollen in einem 
2. Buche näher betrachtet werden. Mit Recht ver¬ 
langt Verf., dass jeder sexuell Perverse auf schwere 
erblic he Belastung und Stigmata hin untersucht werde. 
Unter den Gründen zum Abirren des Gesell lech ts- 
trieb’s stellt er den geschlechtlichen „Reizhunger“ oben 
an; wichtig sind auch ferner Klima, Rasse. Bei den 
Juden soll Homosexualität sehr selten sein (dafür aber 
wohl die Geilheit grösser. Ref.). Sämmtliche Per¬ 
versionen finden sieh schon bei Naturvölkern vor. 
Sehr wichtig ist vor allem das Geschlecht (bei Frauen 
sind Perversionen seltener), Ehe, Cölibat, die Civili- 
sation, die Phantasie (daher so oft bei Künstlern). 
Die meisten Perversionen finden sich als religiöse 
Institutionen vor, wie des Näheren bewiesen wird. 
Der Abschnitt über religiöse Prostitution ist ein sehr 

Original fram 

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1 902.1 PSVCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


interessanter, wie auch bez der steten Berührung des 
Religiösen mit dem Sexuellen, in Askese, Mönchsthum 
und besonders im Hexenglauben, der nur aus dem 
Geschlechtstrieb abgeleitet wird (Letzteres möchte 
Ref. doch nicht als so absolut sicher hinstellen). Die 
casuistischc Literatur der Theologen, wie die Schriften 
der Heiligen sind wahre Fundgruben für Sexualität, 
ebenso die Predigten des Mittelalters Klassisch zeigt 
sic h diese religiös-sexuale Berührung im Phallus-Kultus, 
im Flagellantismus etc. Neben allgemeinen Einflüssen 
auf das Geschlechtsleben kommen noch individuelle 
in Betracht; Abnormitäten der Genitalien, Kürze des 
Frenulums, Impotenz, Hermaphroditismus; sehr die 
Onanie (besonders wichtig für Päderastie), dann Al¬ 
kohol, Opium, die Mode, (deren Rolle sehr hübsch 
geschildert wird, besonders im Korsett und der Tur- 
nüre,) spezielle Kleiderstoffe (Wolle, Pelz). Noch viel 
wichtiger aber ist das Bedürfnis nach Variation im 
geschlechtlichen Verkehr und die Sucht, den Genuss 
zu vergrössem. Mit der Häufigkeit der Reize steigert 
sich das sexuelle Variationsbedürfnis. Dazu kommen 
Müssiggang und Blasirtheit. Ebenso gross ist die 
Rolle der direkten Verführung (durc h Dienstmädchen, 
Erzieher, Bordellhuren etc.), dann Anhäufungen von 
Menschen (Schulen, Klöster, Kasernen etc.), Kriegs¬ 
züge, Theater, öffentliche Aborte, intimes Zusammen¬ 
leben mit Thieren. Von ungeheurer Bedeutung ist 
ferner die erotische und obseöne Literatur, die ein¬ 
gehend berücksichtigt wird, ebenso die obseönen Dar¬ 
stellungen, namentlich Photographien, sogar Museen, 
Kunstausstellungen können gefährlich werden, auch 
Ballette, Zirkus. Bez. der Homosexualität glaubt 
Verf., dass die Zahl der Urninge keine grosse ist 
(? Ref.). Neben den ersten Eindrücken sexueller Art, 
kommt noch alles dazu, was die Abneigung gegen 
das Weib begünstigt, die Furcht vor Ansteckung, Ab¬ 
norme Beschaffenheit und Erkrankung der Analgcgcno, 
die eine erotogenc Zone erzeugt, Analmasturbation, 
Berühren dieser Gegend, künstliche Effemination, Miso- 
gynie des Wüstlings, starke Geilheit, meist aber Ver¬ 
suchung durch Urninge und die männliche Prostitution. 
Verf. will endlich den $ 175 nicht aufgehoben, sondern 
nur geändert haben. Er hält eine Aufhebung des¬ 
selben für sehr gefährlic h, was Ref. nicht anerkennen 
kann. Medizinalrath I)r. P. Näcke, 

Hubertusburg. 

— Havelock Ellis. Geschlechts trieb und Scham¬ 
gefühl. Autorisierte Übersetzung von Julia E. Kötsrher 
unter Redaction von Dr. med. Max Kötschor. Zweite, 
unveränderte Auflage. Würzburg. A. Stübers Verlag 
(C. Kabitzsch). icjoi. p )4 S. Brosch. Mk. 5,—, 
gebunden Mk. 6,—. 

Verf. giebt in der vorliegenden Arbeit drei Studien, 
die er als nothwendige prolcgomena für eine Ana¬ 
lyse des geschlechtlichen Instinctes bezeichnet. 

In der ersten Studie bespricht er die Entwicklung 
des Schamgefühls, der instinctiven Frucht, welche sexu¬ 
elle Vorgänge zu verheimlichen bestrebt ist. Sie tritt 
beim Weibe um so viel stärker auf als beim Mann, 
dass sie geradezu als einer der wichtigsten secundären 
Gescbleehtscharaktere des Weibes auf psychischem Ge¬ 
biete bezeichnet werden kann. Es lassen sich beim 


Schamgefühl zwei Furchtgefühle unterscheiden; das 
eine ist von vormenschlichem Ursprung und geht 
nur vom weiblichen Wesen aus — ursprünglich dazu 
geschallen, den aggressiven Mann femzuhalten fordert 
cs ihn später vielmehr zu seiner Ucberwindung auf —, 
das andere ist von ausgesprochen menschlichem 
Character, eher socialem als sexualem Ursprung; hier¬ 
zu gehören die Furcht, F.kel zu erregen, sowie rituelle 
und gesellschaftliche Rücksichten. Besonders nach¬ 
drücklich hebt er hervor, dass das Schamgefühl ur¬ 
sprünglich von der Kleidung ganz unabhängig ist; es 
isi eher ein Resultat als eine Ursache der Bekleidung; 
diese hat nicht sowohl den Zweck, die Geschlechts¬ 
organe zu bergen als vielmehr hervorzuheben. Nackt¬ 
heit ist eben keuscher als theilweise Verhüllung. Die 
physiologische Grundlage des Schamgefühls bildet der 
vasomotorische Mechanismus, dessen sic htbares Zeichen 
das Errothen ist. Fast ist es richtiger zu sagen, dass 
Mensc hen schamhaft, weil sie errothen oder fühlen, dass 
sic errothen können, als umgekehrt. Unter den Wilden 
ist das Schamgefühl viel eingewurzelter als bei civi- 
lisierten Völkern, bei den unteren Klassen ist es viel 
unüberwindlicher als bei den gebildeten Klassen. 

Im zweiten Kapitel behandelt er das Phänomen 
der Sexual-Periodicität. Ueberall ist zu beobachten, 
dass sich die Geschlechtsthätigkcit in regelmässigen 
Zeiträumen wiederholt. Rhythmus ist überhaupt das 
Kennzeichen jeden biologischen Vorgangs. Wenn 
Verf. hierbei, um einen gewissen Einfluss des Mondes 
darzuthun, auf die bekannte Koster sehe Arbeit zurück- 
greift, so werden ihm hier sicherlich nur wenige Psy¬ 
chiater folgen. Verf. setzt bei der ihrem Wesen nach 
unbekannten Menstruation ein und äussert sieh des 
eingehenderen über deren Einfluss auf die sociale 
Stellung der Frau. Imlcss kann man auch beim 
Manne einen menstrual-phvsiologischen Cyclus an¬ 
nehmen, wenngleich bestimmtes Beweismaterial noch 
fehlt. Schon früher ist des öfteren daraufhingewiesen 
worden, dass man beim Manne rnonatliclieSchwankungcn 
oder Aenderungen von körperlichen und geistigen, nor¬ 
malen und pathologischen Eigenschaften beobachten 
kann; vor allem lässt sieh dann eine Zunahme der ge¬ 
schlechtlichen Erregung beobachten. Pan Professor der 
Biologie constatierte bei sich in einem zweijährigem Zeit¬ 
raum einen Höhepunkt de*r Träume und Pollutionen, 
der regelmässig alle 28 Tage einsetzte. Die Selbst¬ 
beobachtung eines anderen Autors, die 1 2 Jahre währte, 
wird angeführt; hier Hess sic h ein deutlicher wöchent¬ 
licher Rhythmus bezüglich der Pollutionen teststrllen, 
der den monatlichen Rhythmus fast verdeckte. In 
einem Nachtrage berichtet PerrydA »sie über seine Jahre 
lang hindurc h geführten Aufzeic hnungen ; hier Hessen 
die Pollutionen einen jälnlirhen, monatlic hen, wöchent¬ 
lichen Rhvthmus erkennen. Uebrigens bittet dieser 
Autor die Vorsteher der Hochschulen, eine Anzahl 
ihrer Studenten zu weiteren Nachforschungen zu ver¬ 
anlassen; er verhehlt sieh hierbei nic ht, dass verwerth- 
bare Resultate nur erreicht werden können bei aller 
Sorgfalt und Genauigkeit der Notizen sowie bei sexueller 
Abstinenz. 

P'r erörtert auch die jährlic he Sexualperioclicität, die 
Tendenz einer periodischen Steigerung des Geschlechts- 


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2 8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2. 


triebes im Frühjahr und Herbst, eine Tendenz, welche 
sieh auch bei der unwillkürlichen geschlechtlichen Er¬ 
regung kundgiebt. 

Der dritte und bei weitem grösste Abschnitt ist 
eine Studie über den Autoerotismus. Hierunter ver¬ 
steht Yerf. die unwillkürlichen Aeusserungen des Ge- 
schlechlstriebos, die spontane geschlechtliche Erregung 
ohne irgend welche? Anregung, direct oder indirect, 
seitens einer anderen Person. Das ist ein weites Ge¬ 
biet geschlechtlicher Bethätigung, das sic h entrollt 
von den gelegentlichen wollüstigen Tagesträumen bis 
zur sc hamlosen Onanie Geisteskranker. Als typische 
Form des Autoerotismus bezeichnet Verf. die gesteigerte 
geschlechtliche Erregung während des Schlafes, wo 
das Individuum im Gegensatz zu anderen Formen des 
Autoerotismus keine' freiwillige Rolle spielt. Er will 
keine erschöpfende Discussion über alle Erscheinungen 
des Autorrotismus geben, sondern nur bestimmte 
Punkte untersuchen , wie seine Ausdehnung, seinen 
Charaeter, seine moralisc hen, phvsischcn und sonstigen 
Folgen. U. a. erörtert er die ursächlichen Beziehungen 
zwischen Autoerotismus und Hysterie; erzeigt, welche 
Umwandlungen die Lehre? von der Actiologic der 
Hysterie im Laufe der Zeiten erfahren hat las zu der 
jüngsten von Freud und Breuer aufgestellten Lehre. 
Yerf. steht dieser sympathisch gegenüber, wenn er 
auch in den Verletzungen der sexuellen Empfindungs¬ 
sphäre nicht grade den Hauptfac tor sieht. 

Ausführlich spricht Verf. über die Ausbreitung der 
Masturbation bei den verschiedenen Geschlechtern 
und Altern, ihre Folgen und deren Beurteilung zu den 
verschiedenen. Zeiten. Die berüchtigten populären 
Bücher, deren Auspreisung mau in so vielen Tages¬ 
blättern begegnet, deren weitverbreitete; Lectiirc solchen 
Schaden stiftet, sind übrigens schon recht alten Da¬ 
tums. Das erste derartige Machwerk erschien in Eng¬ 
land und zwar bereits im Anfänge des 18. Jahrhun¬ 
derts; es erlebte nicht weniger als 80 Auflagen. Natür¬ 
lich wurde eine „stärkende Tinctur“ empfohlen und 
deren Wirkung in vielen mitabgedruckten Briefen sehr 
geh >bt. 

Massige Masturbation schadet einem erblich 
nicht belasteten Menschen nicht. Eine sprei fische ona- 
nistische Psychose giebt es nicht: eher ist das Onaniren 
(‘in Symptom als Ursache' des Irreseins. Wird die 
Masturbation bei Leuten beiderlei Geschlechts geübt, 
die über das Pubeitätsalter hinaus sind und sonst ein 
keusches Leben führen, so geschieht das wohl, weil 
sie eine körperliche und geistige Erleichterung und 
Beruhigung erfahren. Er enthält sich eingehender 
Bemerkungen über 'Heilung und Verhütung; wir 
wissen noch zu wenig, vor allem auc h über das Ver¬ 
halten normaler Personen und arbeiten vielfach mit 
einer übel angebrachtem, nicht berechtigten didaelischen 
Moralität. 

Das Buch fesselt durch eine Fülle von Beobachtungen 
und Bemerkungen, die nicht nur den Arzt, sondern 
auch den Anthropologen und Ethnologen angehen; 
gerade* hierbei zeigt Verf. seine ausserordentliche Bo- 

l‘iir den i odactioin-ll« ii lini; \ r: antw 01 t'm h : Üla 
Krsrhrmt irden Sonnabend — Schiuss der Inse» alonann.ihmr ) Tilge 

1 ieynemann’scbe Burhdrm kejrei 


lesenheit, die es ihm ermöglicht, die Stellung der ver¬ 
schiedensten Völker und der verschiedensten Zeiten 
zu den einschlägigen Fragen anzugeben. 

Verf. stellt weitere Studien, so über die Ver- 
schiedenheitder Tendenz des Auftretens des Geschlechts¬ 
triebes bei den beiden Geschlechtern in Aussicht, 
und auch diese werden sicherlich die gleiche Aufnahme 
finden, wie das vorliegende Buch, das innerhalb kmzer 
Zeit in zweiter Auflage erscheinen konnte. 

Ernst Sehultze. 

Personalnachrichten. 

(Um Mittheilung von Personnlnachrichtrn etc an die Redaktion 
wird gebetend 

- - In Ueckermünde ist der Assistenzarzt Dr. 
Deutsch vom 1. April 1002 ab zum 3. Arzt ernannt 
und dem Assistenzarzt I)r. Panselius ist zum 15. 
Juli IQ02 die beantragte Entlassung aus dem Provin¬ 
zialdienst ertheilt; — in Lauenburg ist der practische 
Arzt Dr. Vol 1 heim als kommissarischer Assistenzarzt 
einberufen. 

— Nieder- O est er reich. Direktor Dr. Joseph 
Krayatsch zum Direclor in Mauer-Oehling, Director 
Dr. Heinrich Schloss zum Director in Kierling-Gug- 
ging, Dr. Theophil Bogdan zum dirigirenden Primar¬ 
arzt in Ybbs, Dr. Joseph Beize zum Primararzt in 
Wien, (Irrenanstalt), Dr. Joseph Gnirchtmayer zum 
Primararzt in Mauer-Oehling ernannt. Zu dirigirenden 
Aerzten wurden ernannt : Dr. Matthias Burkhardt 
für Wien (Irrenanstalt), Dr. Franz Sickinger für 
Klosterneuburg, Dr. Anton Ilockauf für Kierling- 
Gugging, Dr. Carl Richter für Ybbs, Dr. Adolph 
Bavcr für Mauer-t )ehling; diese Veränderungen gelten 
vom 15. A]>ril a. c. ab. 

N a c h t rä g 1 i ch ein gegangen: 

— Verein der Irrenärzte Niedersachsens und 
"Westfalens. 37. Versammlung am 3. Mai 1902. nachmittags 
3 Uhr in Hannover, Lavcsstr. 26. 

Tagesordnung: 1. Bruns-Hannover: Ncuropnthologische De¬ 
monstrationen. 2 A 1 t-Uehtspringe: Zur Genese des paralytischen 
Anfalls. 3. Sne 11 - Hildesheim: Irrenhilfsvtrcine. 4. Cramer- 
Göttingen : lieber krankhafte Eigenbeziehung und Bcachtungs- 
wahn. f). Wehe r-Göttingen: Ueher einige Neubauten an der 
Göttinger Anstalt. 6. V og t-Güttingen : Ueher die Beziehungen 
zwischen Aphasie und Demenz. 7 . Q u a e t - F a sl e m - Göttingen : 
Mittheilungen aus der Universitäts-Poliklinik für psych. und 
Nervenkranke. 8. B ehr-Lüneburg: lieber die Fainilienpflege 
in Göttingen. 

Nach der Sitzung findet in Kastens Hotel ein gemeinsames 
Essen (Couvert 4,50 M.) um 7 Uhr statt. Anmeldungen 
werden rechtzeitig an den Vorsitzenden erbeten 

Der Vorsitzende. 

Gerstenberg-Hildesheim. 

— Auf der vom 16. — 19. April in Bremen tagenden 
VIII. Versammlung der deutschen bandesgruppe der inter¬ 
nationalen kriminalistischen Vereinigung wird Director 
Dr. Delbrück, Bremen einen Vortrag halten über die ver¬ 
mindert Zurechnungsfähigen und deren Verpfleg¬ 
ung in b e s o n d e r e n A n s t a 1 1 e n. Der V ornag fällt auf den 
18. April, Schwurgerichtssaal, nachmittags 4 Uhr. Anfragen 
und Anmeldungen sind an Herrn Staatsanwalt Lön i n g-Bremen, 
Gerichtshaus zu richten. 

rar /.L 1 >i. J . llrrslrr Krasclinitz, (Sch csien). 

■ vor der Ausgabe. — Wrl.ijf von C. a r I Marhold in Halle a. S 
( ( «<*br. Woiff) in Hallo a. S. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


ruiig), Begriffe also, die in der reinen Vernunft ihren Begriffsart gesondert auf den gemeinschaftlichen 

Ursprung haben, nicht zulassen, ist Metaphysik eine Bewusstseinsmittelpunct bezogen werde, wie es in dem 

Erfahrungswissenschaft so gut wie Physik, nur mit Schema des physiologischen Faservcrlauf s 

dem Unterschied des Innen und Aussen und dem, (s. Abb.) dargestellt ist. 

dass die ganze Erfahrung der Metaphysik in einem In dieser Uebcreinstimmung aller, oder (wie man 

einzigen Actus der Seinsbeziehung erschöpft ist. auch sagen kann) im Gleichgewicht dieser zwei Bc- 

Sie ruht alsdann aber auf einem absolut sicheren griffsarten ist alsdann die Einheit des objectiven Welt- 

Grund. — bildes trotzdem gewährleistet, wie es dem Gegensatz 

Integral- und Differentialbegriffe stehen im Ver- Subject-Object im Sein oder der metaphysischen 

hältniss von Inhalt und Form, und Abstracta, wenn Enantialität und ihrem Ausdruck, dem cthophvsischen 

sie richtig gebildet, d. h. wenn sie von den Concretis Gesetz, entsprechen muss. Auf der anderen Seite, 

richtig abdifferentiirt worden sind, müssen auf diesen im Falle der Nichtübereinstimmung, kann die eon¬ 
senkrecht stehen. Der Irrthum überhaupt enthält stante Wortform eine ganze Reihe verschiedener In- 

daher ein Agens, das die Begriffe aus dieser Rieh- halte beherbergen, von denen nur ein einziger dem 

tung abzudrängen sucht, einen transversalen Zug, ethophysischcn Gesetz gemäss ist, und der Rest das 

und wir sind im Recht, wenn wir 
Irrthum im Allgemeinen als Trans- 
versismus bezeichnen. Der ver- 
hältnissmässig seltene Irrthm der 
Sinne (des Verstandes) ist alsdann 
corticaler Transversismus der Em¬ 
pfindungssphären des Gehirns, der 
Körperfühlsphärc, der Sehsphäre 
des Hinterhauptlappens u. s. w. oder 
der sogenannten Projectionsfaser- 
systeme; der überaus häufige Ver¬ 
nunftsirrthum dagegen corticaler 
Transversismus der Assoeiations- 
centren. 

Man kann wohl sagen, dass in 
den letztgenannten Rindengebieten 
eines jeden Gehirns es von solchen 
Transversismen wimmelt, nicht nur 
täglich neugebildeter falscher Vor¬ 
stellungen, sondern auch ererbter, 
atavistischer, in die Gehimorgani- 
sation und Faserlage übergegangener, und dass unsere Seinsgesetz aufzuheben scheinen. In diesem partialen 
ganze Erziehung daraufhinausläuft, Schiefstellungen in Transversismus liegt daher eine Gefährdung des Ganzen, 
den Begriffen zu verbessern, neue zu vermeiden. Die des Subjectpunkts selbst *). 

sensoriellen, in diesem Fall überhaupt corticalen, Or- Bleibt aber die Bewusstseinseinheit des Amoeben- 

thismen der Thiere entsprechen dem, was man bei uns Staates Mensch erhalten; tritt der Transversismus des 
gesunden Menschenverstand nennt. falschen Differentials in das Ganze ein, so dass es 

Schärfe der Intellects und hohe Vernünftigkeit mit vollem Bewusstsein als Motiv des Handelns zu¬ 
werden dagegen Demjenigen zuerkannt, dem es ge- gelassen wird, so muss dem I ransversismus des Denkens 
lingt, seine Vernunftbegriffe (der Associationssph ire) nothwendig ein rransyersismus des Wollens folgen: 
mit den sinnlichen Verstandesbegriffen in Uebercin- dem Irrthum entspricht die Irrthat, die sittliche Ent- 
stimmung zu bringen. Das Vermögen, dies zu thun, gleisung, die Ethopathie, das Böse. Die Welt ist 
heisst Urtheilskraft, der Mangel daran physiologische vollkommen (d. h. cthophvsisch) überall, wo der 
Dummheit, wie sie einem ganz gesunden, aber be- Mensch nicht ist mit seinem falschen Differential. 



schränkten Geist angehören kann. Unter allen Um¬ 
ständen verlangt aber die geforderte Ucbereinstim- 


*) Ich habe an anderer Stelle schon die Gewissensangst 
eine Art Todesangst genannt; ein Wort, hinter das ein geehrter 


rnung zwischen Integral und Differential, dass jede Kritiker ein Fragezeichen setzte. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3 i 


1902.] 


Erst das Böse, die Ethopathie, macht aus dem etho- 
physischen oder Seinsgesetz das Sittengesetz. Daher 
ist dieses so tiefgründig, an das Wesen des Subjects 
gebunden; nicht zwar unabhängig von Differential¬ 
begriffen, also der Sprache, also der Vernunft, wohl 
aber unabhängig von der Gegenwart anderer Wesen. 
Das Böse betrifft Denken und Wollen zugleich, also 
das Ganze; im Gegensatz zum corticalen oder neo¬ 
plastischen Transversismus des Irrthums wäre demnach 
das Böse in der von uns gewählten Sprache als cen¬ 
traler oder palaeoplastischer Transversismus, kürzer als 
Seinsquerung zu bezeichnen (im Punkt e der Figur). 

Wir sehen, wie richtig sich dem ethischen Pro¬ 
blem gegenüber Sokrates stellte, als er die Bedeutung 
des Erstgegebenen, des Motivs in den Vordergrund 
stellte und sagte, rechtes Denken müsse rechtes Han¬ 
deln im Gefolge haben. Theoretisch ist der Satz 
unanfechtbar, practisch aber bedeutungslos; denn der 
Irrthum aller V01 fahren, von der Entstehung des 
Menschengeschlechts an, ist die grosse Schuld der 
Zeiten, an der jeder Einzelne abzuzahlen hat, und von 
der man nicht weiss, ob sie noch wachse oder abnehme. 

Wir verfolgen an dieser Stelle die ethische Ange¬ 
legenheit nicht weiter und fragen: Was ist neben Irr¬ 
thum und Irrthat der Irrsinn, das pathologische 
Denken, die Psychopathie? — Wir können bei Be¬ 
trachtung der physiologischen Gehimfaserung (s. Fig.) 
nicht im Zweifel sein: Irrsinn entsteht, wenn die 
Relativirung der zwei Begriffsarten (seien diese mit 
Irrthümem behaftet oder nicht) nicht im Bewusst¬ 
seinsmittelpunkt e selbst, sondern durch Qucrschlag 
oder Kurzschluss irgendwo auf dem Weg zwischen 
Centrum und Peripherie schon vorher geschieht, 
also durch Aufhebung der Isolation zwischen den 
Gebieten der Projektion und Association, der Irttegralc 
und Differentiale selbst. Irrsinn ist intermediärer 
Transversismus (bei n oder b\ 

Demgemäss ist geistige Gesundheit als interme¬ 
diärer Orth i smus zu bezeichnen, d. h. gesunder 
Geisteszustand ist dann vorhanden, wenn nicht nur 
die einzelnen Begriffe, sondern die gesammten Vor¬ 
stellungsmassen der Fühlsphärcn einerseits und der 
Associations-(Abstractions-)Sphären andererseits, also 
diese selbst, mit einander im Gleichgewicht stehen. 
Wir dürfen uns die integralen Verstandesbegriffc 
(— Vorstellungen) und die Vernunftdifferentiale als 
wie in zwei grossen Behältern angesammelt denken, 
die durch eine membranöse Scheidewand von ein¬ 
ander geschieden sind, und in denen annähernd die 
gleiche Druckhöhe aufrecht erhalten ist. 

Die Möglichkeit einer wirklichen Begriffsbestimm¬ 
ung (synthetischen Definition) der geistigen Ge* 

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sundheit, ist, wie man sieht, durch die Erforsch¬ 
ung der anatomischen Verhältnisse des Gehirns an¬ 
gebahnt worden, beruht aber wesentlich auf der Er¬ 
kenntnis des gegensätzlichen Verhältnisses der Ver¬ 
standes- oder Vernunftbegriflfe, oder der Erkenntnis«, 
dass letztere analytischen, und nicht, wie jene, 
synthetischen Ursprungs sind. Sie setzt also eine 
gegen früher gänzlich veränderte Auffassung des Er- 
kenntnissproblems und, wie weiteres Zurückdenken 
ergiebt, die Thatsache einer ontologischen Metaphysik 
oder die Entdeckung des ontocentrischen Standpuncts 
voraus; woraus wiederum hervorgeht, dass Psychologie 
ihrem Hauptsinne nach eine philosophische Wissen¬ 
schaft ist. Die Forderung des endopsychischen Gleich¬ 
gewichts ergiebt sich keineswegs aus anatomischen 
Gründen, sondern aus der Gleichweithigkeit der Ge¬ 
gensätze Inhalt und Form. 

Jeder von uns hat davon vielfache Erfahrung, dass 
das Gleichgewicht der Seele, der aequus animus ge¬ 
stört ist; ja, wir dürfen annehmen, dass die Drucke 
der beiden Behältnisse während der psychischen Action 
überhaupt fortwährend wechseln, sich gegeneinander 
ausspielen und im Leben so wenig jemals ganz in 
Ruhe sind, wie die Quecksilberkuppe eines empfind¬ 
lichen Barometers, oder so wenig, wie die Erde in 
einer streng mathematischen Ellipse um die Sonne 
läuft. Bisweilen wogt und stürmt es darin so sehr, 
dass man glaubt „den Verstand verlieren zu müssen“, 
d. h. dass die trennende Schicht in Gefahr ist zu zer- 
rcissen. Geschieht es dann wirklich, so dass die zwei 
psychischen Wellen aufeinander treffen, sich kreuzen, 
interferiren, sich hemmen, sich mischen, und geschieht 
die verderbliche Querung nicht gerade im Bewusst- 
scinsmittelpunct, wie dies offenbar in der prämortalen 
Bewusstseinstrübung der Fall ist *), so muss nothwendig 
die höchste Verwirrung des Denkens eintreten, über 
die sich das centrale Bewusstsein keine Rechenschaft 
geben kann, weil ihre Störung erfolgt, bevor noch 
die Beziehung auf den Mittelpunct, in der die Ein¬ 
heit der Begriffsbildung besteht, sich vollendet hat, 
und die eben deswegen den Stempel des Krankhaften, 
der Psychopathie, an sich trägt. 

In der Hallucination, auch gewissen Traum Vor¬ 
stellungen, Begriffsbildem, die so lebhaft sind, dass 
sie die Gegenwart wirklicher Objecte Vortäuschen, tritt 
die vor bewusste Mischung der zwei verschiedenen 
psychischen Wellen deutlich hervor. Das centrale 
Bewusstsein wird die begriffliche Vorstellung „Pferd“ 
von einem wirklichen Pferd dann nicht unterscheiden 

*) In diesem Fall spricht man wegen der Kürze der Dauer 
nicht von Geistesstörung, obwohl sie der Sache nach eine solche 
ist. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3. 


können, jene also für ein solches halten müssen, wenn, 
vermöge Aufhebung der Isolation, eine Erregung des 
Sehnervverlaufs von Seiten der differentialen Vor¬ 
stellung aus geschieht, und sich der integrale Strom 
gewissermaassen in das leere Bett des formalen Be¬ 
griffs, seine (identischen) Grenzen ausfüllend, ergiesst. 
Denn der Nerv überträgt seine Erregung dem nächsten 
Querschnitt, unwissend, woher sie stamme. 

Natürlich kann der Durchbruch von jeder der 
beiden Seiten her erfolgen. Bei der ungeheuren 
Masse von Vorstellungen und Begriffen, die der mensch¬ 
liche Geist in sich beherbergt, werden die Erschein¬ 
ungen , die ihre pathologische Mischung im Gefolge 
hat, und die der Ausdruck dieser Mischung sind, 
ausserordentlich mannigfaltig sein, und es wird nicht 
so leicht angehen, sie in typisch-einheitliche Krank¬ 
heitsbilder zu vereinigen, wie dies bei körperlichen 
Krankheiten gelingt, zumal beim Gehirn der patho¬ 
logisch-anatomischen Untersuchung die grössten 
Schwierigkeiten entgegen stehen. Wir erörtern hier 
indessen einige Umstände, die die psychopathischen 
Erscheinungen jedenfalls bestimmen müssen. 

1. Der menschliche Geist wäre der Gefahr allzu¬ 
heftiger Eindrücke rettungslos überantwortet, wenn er 
nicht, wie das Auge, eine Art Schirmvorrichtung da¬ 
gegen besässe; ja, die freie Willensbestimmung, die 
den Menschen dem Thier gegenüber auszeichnet, wäre 
nicht denkbar, wenn sie sich nicht auf seine negative oder 
receptive Seite bezöge, die die eigentliche Seinsseite 
ist (gegenüber der positiven oder Vorstellungsseite). 
Die Willensfreiheit muss sich auf die Zulassung 
der Willensmotive beziehen; denn, einmal zugelassen 
oder ins Bewusstsein eingetreten, ist das Motiv dem 
Willen entrückt und der Zeitfolge anheimgegeben, wo 
nicht mehr die Freiheit, sondern strenge Nothwen- 
digkeit herrscht. In dem Zwischengewebe der Neu- 
roglia hat der menschliche Geist das Mittel, eine be¬ 
drohte Isolation zu verstärken, wie wir annehmen *). 
Es handelt sich aber um active, amoeboide Beweg¬ 
ungen ; wie etwa ein Feldherr Soldaten auf einen be¬ 
drohten Punct schickt. Ebenderselbe Eindruck wird 
ein Gehirn heftiger und gefährlicher treffen, wenn es 
von ihm überrascht wird, wenn es keine Zeit zur 
Gegenwehr hat, sich in einem labilen Gleichgewichts¬ 
zustand befindet, oder wenn gar die peripheren 
Amoeben dem Befehl der Centralamoebc, die Soldaten 
dem Feldherm, nicht oder nur zögernd gehorchen. 
Daher muss in einem festen Gefüge der Zellenindivi¬ 
duen, besonders in einer atavistisch festgefügten und 
gesicherten Faserlage der beste Schutz gegen Geistes- 

*) Ich verweise der Kürze halber auf meinen Aufsatz: „Ueber 
die Natur und die Eintheilung der Geisteskrankheiten“ in der 
Jubiläumsschrift ..des Landesspitals zu Sigmaringen 1897. 

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Störung gelegen sein, und daher legen die Psychiater 
so grosses Gewicht auf die sogenannte erbliche Be¬ 
lastung, die eben den Ausschluss der genannten 
Vorzüge bedeutet. 

Die Isolation kann auf zweierlei Weise aufgehoben 
werden: erstens passiv durch gewaltsame Ruptur von 
aussen, von der Objectseite her, und zweitens activ, 
von der Subjectseite her, durch Vorschieben und An¬ 
einanderlagern von Pseudopodien, unabhängig von 
dem Befehl der centralen Amoebe. Nach diesem 
durchgreifenden Gesichtspunct, der sich dem der 
metaphysischen Gegensätzlichkeit von Subject und 
Object anschlicsst, habe ich mir erlaubt vorzuschlagen, 
die geistigen Störungen in Impressions-Psy- 
c h o s e n und S e d i t i o n s - P s y c h o s e n einzutheilen, 
eine Eintheilung, die im Allgemeinen auch der oben 
angeführten hereditären Verschiedenheit entsprechen 
wird. Man sagt im Sprichwort: „Wer unter diesen 
Umständen den Verstand nicht verliert, hat keinen 
zu verlieren“; das heisst: auch ein gesunder Mensch 
kann geisteskrank werden; aber dann wird er eher 
einer Impressionspsychose anheimfallen und im all¬ 
gemeinen überhaupt weniger in Gefahr sein, so dass 
man sogar die Frage der Heilbarkeit einer Geistes¬ 
krankheit nach demselben Gesichtspunct wird beant¬ 
worten dürfen. Es ist denkbar, dass die Widerstands¬ 
kraft einer gesunden und atavistisch gefestigten Faser¬ 
anlage gross genug sei, um eine Durchbruchstelle, wie 
ein feindliches Fort, mit Schutzbauten so zu umgeben, 
dass sie aufs Ganze nicht mehr reflectirt und ihr 
Dasein bedeutungslos wird. Dass in dieser Wider¬ 
standskraft ein grosser Unterschied wirklich besteht, 
zeigt das Verhalten verschiedener Menschen gegenüber 
dem „furchtbarsten Grosshimgift“, dem Alkohol, dessen 
Wirkung auf „psychopathisch Minderwerthige“ so eigen- 
thümlich ist, dass man von pathologischen Rauschzu¬ 
ständen sprechen darf. 

Die Wirkung des Alkohols überhaupt scheint in 
einer Lähmung der Isolationsmechanismen zu bestehen, 
während man die plötzliche Einwirkung äusserer und 
innerer Traumen (Fall auf den Kopf, Hirnerschütterung, 
heftige Gemüthsbewegung) wohl als eine Einziehung 
der Neuropodien auffassen darf, ähnlich den Vor¬ 
gängen an den Polypenbeeten der Südsee, deren 
Farbenpracht in der klaren Tiefe uns die Reisenden 
mit Entzücken schildern, während ein einziger Ruder¬ 
schlag hinreicht, um sie zum Verschwinden zu bringen. 

Im Allgemeinen aber wird die Anwesenheit par¬ 
tieller Transversismen innerhalb der Bewusstseinseinheit, 
auch wenn, wie oben angedeutet, bisweilen eine func- 
tionelle Ausschaltung angenommen werden darf, doch 
nicht gleichgültig sein. Obwohl v o r dem Bewusstsein 

gelegen, müssen sie als etwas unbestimmt Fremdes, 

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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Feindseliges empfunden und so nach aussen projicirt 
werden. Daher die Häufigkeit von Verfolgungswahn - 
ideen. Sodann aber müssen sie, als Theil einer un- 
theilbaren Einheit, aufs Ganze reflectiren; wie die 
früher als Beispiel aufgeführte, zum Theil gefärbte 
weisse Scheibe, wenn sie rasch gedreht wird, ihre 
Weisse verliert und einen gleichartigen Farbenton er¬ 
hält. Das heisst: ein neuer Gleichgewichtszustand 
muss nothwendig wieder hergestellt werden, und eben 
dieser muss eine ganz andere Erscheinung darbieten; 
daher die auffallenden hypo- und hyperkinetischen 
Symptome, als Grenzformen die Apathie und die 
Tobsucht, die nur der motorische Reflex aufs Ganze 
siud, das Suchen der Seele nach dem neuen Gleich¬ 
gewichtszustand. 

Oder aber die Schwankungen um die zu suchende 
Ruhelage spielen sich mehr im Gebiet der Vorstellungen 
selbst ab. Der Bewusstseinsinhalt muss sich mit dem 
localen Transversismus, dem fremden Eindringling, 
abfinden; das ganze Gedankensystem muss nach ihm 
umgearbeitet werden; die ganze Persönlichkeit wird 
verschoben, der Subjectpunct „verrückt“ (Paranoia). 

2. Ein wesentlicher Gesichtspunct, von dem aus 
die Erscheinungen der geistigen Störung beurtheilt 
werden müssen, ist der Ort, wo der Transversismus 
erfolgt. Die Anatomie sagt uns bei den rein func¬ 
tioneilen Störungen darüber nichts und kann nicht 
leicht etwas sagen, da sie ja als vitale Bewegungs¬ 
störungen des Neurokyms aufzufassen sind. 

Glücklicher Weise zeigen die physiologischen 
Analysen und Zusammenordnungen der Symptomen- 
complexe grösseres Entgegenkommen zu einer Ver¬ 
ständigung mit der philosophischen Psychologie, die 
indessen hier wiederum Gelegenheit hat, die Ueber- 
legenheit der Deduction, die von der Einheit zur 
Vielheit hinabsteigt, zu erweisen. Besonders sind hier 
die Leistungen Kräpelin’s hervorzuheben, in denen 
es diesem ausgezeichneten Forscher gelang, die ver¬ 
wirrende Mannigfaltigkeit und Mischung psycho¬ 
pathischer Erscheinungen zweier grosser Reihen zu¬ 
sammenzufassen. So gelangte er zur Vereinheitlichung 
der Stimmungspsychosen, wie ich sie nennen 
möchte, in den Begriff des manisch-depressiven (cir¬ 
cularen) Irreseins, und zur Zusammenfassung schein¬ 
bar weit auseinander liegender Symptomgruppen, für 
die er die Bezeichnung des Dementia praecox 
vorschlug. Niemand, der sich im gleichen Fall befand, 
wird der unnachgiebigen Wissenschaftlichkeit dieses 
Forschers die Hochachtung versagen können, die aus 
dem freimüthigen Geständniss spricht, dass er rathlos 
lange lange Jahre hindurch der Fülle von geistigen 
Schwächezuständen gegenüber gestanden habe, die 

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in ihrer Mannigfaltigkeit zu oberflächlicher Gruppirung 
gedrängt hätten, in der Tiefe aber doch bestimmte, 
überraschend gleichförmig wiederkehrende Grundzüge 
erkennen Hessen. 

Wenn wir nun versuchen, für die klinisch als 
zusammengehörig sicher gestellten Symptomgruppen 
zu einem Verständnis ihres Wesens zu gelangen, 
dadurch dass wir sie auf unsere psychologischen 
Grundlagen zurückführen, so fassen wir die Stimmungs¬ 
psychosen der ersten Reihe als Transversismus 
eines bestimmten Theils der Rinde auf, wobei 
die Ausgleichungsbestrebungen der Seele den grossen 
Resonanzboden des Gemüths in so starke Mitschwingung 
versetzen, dass die täglichen kleinen positiven und 
negativen Schwankungen der Gemüthslage sich zu 
grossen Wellen sammeln, die im Sinne eines Wechsels 
von ausserordentlicher Depression und Exaltation sich 
geltend machen, so in die Tiefe dringen und sogar 
den Bestand der palaeoplastischen Faserlagen in Ge¬ 
fahr bringen. So vermag der Gleich tritt eines Truppen¬ 
körpers [eine sonst festgefügte Brücke zum Einsturz 
zu bringen. Der mächtige Reflex aufs Ganze zeigt 
sich ebensowohl im Stupor und bei Apathie, wenn 
gleichstarke Querströmungen motorische Explosionen 
hemmen, als wenn sie, vereinigt, diese zu einer exor¬ 
bitanten Höhe gelangen lassen, oder die innere Spannung 
sich in dem unwiderstehlichen Trieb, den Bestand 
des Staatengebildes aufzulösen, Luft zu machen sucht. 
— Multiple corticale Transversismen da¬ 
gegen, die sich in der Rinde abspielen ohne tiefere 
Theile in Mitleidenschaft zu ziehen, und daher oft 
nur transitorische Bedeutung haben, finden ihren symp¬ 
tomatischen Ausdruck als V erw i r rth ei t. Ein solches 
Rindenfeld bietet dann den Anblick eines alten Kirch¬ 
hofes dar, in dem die morschen Kreuze in allen 
Winkelneigungen stehen. 

Diesen Störungen, die wesentlich Transversismen 
der neoplastischen Hirngebiete sind und daher auch 
der Wiederausgleichung günstigere Aussichten bieten, 
steht nun die Dementia praecox Kräpelin’s 
gegenüber. Kräpelin will die Bezeichnung nur als 
vorläufig gelten lassen; mit Recht, denn sie trifft nicht 
den nosologischen Kern, sondern nur den sich oft 
lang hinziehenden Ausgang des eigentlichen, auffallend 
abgekürzten» (praecox) psychopathischen Vorgangs. 
Während aber das Leben selbst keineswegs dadurch 
bedroht ist, das palaeoplastische Gebiet also nicht 
berührt wird, deutet dennoch Alles darauf hin, dass 
wesentlich gerade die tieferen Schichten der Faserlage 
in Mitleidenschaft gezogen seien, und unser Gedanken¬ 
gang scheint uns dazu zu nöthigen, diese Formen als 

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HARVARD UNIVERSUM 




PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


34 


mesoplastischen Transversismus neben corti- 
ealem Orthismus zu erklären. 

Ich wage zu sagen, dass der Psychiater, der 
sich die Mühe nehmen will, die Symptome der De¬ 
mentia praecox in die Begriffe der ontocentrischen 
Psychologie umzudenken, erstaunt sein wird, zu finden, 
wie das gewohnte Bild voller scheinbarer Ungereimt¬ 
heiten und Widersprüche sich aufzuhellen und sich 
dem Verständniss zu erschlossen beginnt. 

Die Dementia praecox ist, im Gegensatz zur phy¬ 
siologischen Beschränktheit, also pathologische Dumm¬ 
heit, als Logopathie, als Störung der Urtheilskraft, als 
Nichtübereinstimmung der (an sich richtig gebildeten) 
Vorstellungen der corticalen Verstandes- und Ver¬ 
nunftsphäre zu bezeichnen. Anstatt dass die getrennten 
Leitungsbahnen sich erst im obersten Bewusstseins- 
inittelpunkt zum Gleichgewicht von Inhalt und Form 
im quadratischen Begriff vereinigen, wie es die geistige 
Gesundheit verlangt, confundiren sie sich durch eine 
intermediäre Ruptur schon in dem mesoplastischen 
Gebiet (siehe Fig. bei b) der grossen subcorticalen 
Ganglien, die als solche ganze Rindenkeile beherrschen. 
Wir können hier auf Einzelheiten nicht eingehen, 
doch erlaube ich mir Folgendes zu berühren. Un¬ 
erklärlich schien bisher das Zusammenbestehen eines 
extravagant kindisch - läppischen Benehmens neben 
leichtem Denken und gutem Gedächtniss, von scharfer 
Beobachtung neben blockigem Stumpfsinn; aber das 
heisst eben subcorticaler Transversismus neben corti- 
calem Orthismus. — Wenn Jemand uns plötzlich gegen¬ 
über tritt, so bemerken wir kaum, dass wir uns in 
Positur setzen, uns innerlich aufrichten, überhaupt 
Stellung dazu nehmen. Bei den Logopathischen tritt 
dies deutlich hervor, aber auch, wie der motorische 
Impuls sich in falsche Bahnen ergiesst, in den eigen- 
thümlichen und so charakteristischen *), negativistisch- 
katatonischen Widerstandsbewegungen. — Gegenüber 
der gewaltigen constanten Strömung der Durchbruch¬ 
stelle verschwinden gewöhnlich alle anderen Impres¬ 
sionen, nur die zufällig nächstgelegene bleibt; daher 
die wiederum so charakteristischen Erscheinungen der 
sogenannten Befehlsautomatie, der Echopraxie, der 
Katalepsie, der Flexibilitas cerea, und dann wieder, 
bei einer ungewöhnlichen Willensanstrengung, die den 
Lauf der falschen Strömung kreuzt und hemmt, der 
ganz unerwartete Beweis des corticalen Orthismus, 
der mit der ungeheuren Demenz in so schroffem 
Widerspruch steht. 

Ich glaube nicht zu irren, wenn ich als die 

*) Bekanntlich gaben diese dem hochverdienten Kahlbaum 
die Veranlassung zur Aufstellung des bahnbrechenden Begriffs 
der Katatonie. 

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LNr. 3. 


Hauptursache, also das Wesen dieser geistigen Stö¬ 
rung die Incongruenz der integralen und der diffe¬ 
rentialen Vorstellungen der sexuellen Sphäre in An¬ 
spruch nehme; dies jedoch im alleweitesten Sinne 
der Sache. *) In der Uebergangszeit der sogenann¬ 
ten Entwicklungsjahre des Menschen („Hebephrenie“), 
oder in der sich daran anschliessenden Zeit, vermag 
die einseitig ungezügelte Wucht solcher Impressionen, 
gerade auch bei feiner organisirten Naturen, oder im 
zufälligen Zustand eines labilen Gleichgewichts, oder 
bei geringer Widerstandskraft der atavistischen Faser¬ 
lage, leicht in die Tiefe zu dringen und subcorticales 
Gewebe zu verletzen. — Auch beim gewöhnlichen 
Altersblödsinn treten, als ominöse Vorboten der nahen 
Auflösung, katatonisch-negativistische Erscheinungen 
auf: zum Zeichen, dass die von der Peripherie nach 
dem Centrum fortschreitende Entartung auf der meso¬ 
plastischen Station bereits angekommen sei. 

Für das Schicksal und die Auflassung der meisten 
functioneilen Geistesstörungen ist daher die entschei¬ 
dende, aufs Wesen gehende Hauptfrage die, ob eine 
Rindenquerung oder eine Hüge 1 querung vor¬ 
liege. Letztere ist es, die von den oben erwähnten, 
auffallenden Erscheinungen vorzeitiger Demenz be¬ 
gleitet ist. 

3. Dass es in der zweiten Uebergangszeit des 
Menschen, wenn die sinkende Kraft dazu mahnt, die 
Summe des Lebens zu ziehen, und sich dabei ein 
lächerlich kleiner Betrag zu ergeben scheint, zu de¬ 
pressiven Dauerzuständen kommt, zumal wenn man 
die thörichte, von der Zeitbedingung regierte Frage 
„Wozu?“ auf das Sein anwendet, und auf die leere 
Frage das Echo einer ebenso leeren Antwort zurück¬ 
tönt, ist an sich nicht verwunderlich; eher sollte man 
sich wundern, dass man über solche wohl unvermeid¬ 
lich sich einstellenden Reflexionen dennoch meist so 
leicht hinwegkommen kann. Offenbar handelt es sich 
auch hier, wie bei der negativen Welle der Wechsel¬ 
psychose, 11m impressionistische Rindenquerung mit 
depressivem Seelenreflex, dessen Stärke Aussicht hat, 
zugleich mit der seelischen Receptivität überhaupt, 
abzunehmen, also der Heilung wieder entgegen zu 
gehen. 

4. Die Incongruenz zwischen Verstand und Ver¬ 
nunft kann auch darin begründet sein, dass entweder 
das Gesammtgehim auf einer dem Thier angenäher¬ 
ten Stufe zurückbleibt, oder die Entwicklung der 
Associationssphären mit den Fühlsphären nicht glei¬ 
chen Schritt hält. Im ersteren Fall spricht man von 
Idiotie und angeborener Imbecillität; der zweite liefert 

*) Erfahrungsgemäss disponirt auch das Puerperium zu 
dieser Krankheit. 

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HARVARD UNIVERSITY 



1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


die neuerdings berühmt gewordene Gruppe der soge¬ 
nannten geborenen Verbrecher (Lombroso). Dies 
sind demnach Individuen, die wohl in den Verstand, 
aber nicht in die Vernunft des erwachsenen Menschen 
hineingewachsen sind, und in letzterer Hinsicht Kinder 
bleiben. In Beziehung auf den Verstand gewöhnlich 
nicht zu kurz gekommen, gewandt und schlau in den 
Verrichtungen des gewöhnlichen Lebens, weshalb man 
sich nur schwer entschliesst, sie für Geisteskranke 
(also auch für nicht-verantwortlich für ihre Handlungen) 
zu halten, sind sie deswegen höchst gefährlich, weil 
sie den Impulsen der Sinnlichkeit, denen sie wie 
andere Menschen unterworfen sind, keine genügend 
starken Vernunftmotive entgegensetzen können, weil 
sie ihrer Anlage (nicht ihren Willen) nach keine haben. 
Sie sind also nicht für im gewöhnlichen Sinne freie 
Menschen zu erachten, da ihnen die Wahl in der 
Einführung der Motive nicht frei steht; daher auch 
nicht für verantwortlich, obwohl sie sich der Strafbar¬ 
keit einer verbrecherischen Handlung bewusst sind. 
Hier decken sich die Begriffe nicht, weil man den 
Begriff der Geisteskrankheit in der That weiter und 
enger fassen kann: weiter, als Gleichgewichtsstörung 
zwischen Verstand und Vernunft überhaupt; enger, 
als eine derartige Gleichgewichtsstörung durch inter¬ 
mediären Transversismus. Im letzteren Fall ist die 
Störung stets vor dem Bewusstsein gelegen, und 
alsdann die Nicht-Verantwortlichkeit auch nicht in 
Frage gestellt; im ersteren Fall liegt sie im Bewusst¬ 
sein, und hieraus ergiebt sich, wie schwer dem Richter, 
sowie dem Arzt, im einzelnen Fall die Entscheidung 
fallen mag, ob Verbrechen vorliege, das strafbar macht, 
oder Geisteskrankheit ohne Verantwortlichkeit. Hieran 
wird selbst die theoretische Einsicht in den psychi¬ 
schen Process nichts ändern, weil die Grenzen hier 
fliessend sind, und die Entscheidung sich vom Quali¬ 
tativen (Intensiven) ins Quantitative (Extensive) hin¬ 
über spielt. 

Es kann nun noch die Frage aufgeworfen werden, 
ob die psychische Gleichgewichtsstörung nicht auch 
durch unverhältnissmässiges Ueberwiegen der Vernunft 
hervorgerufen werden könne. Sie ist deswegen nicht 
zu übergehen, weil die Versuche, Genialität als 
pathologische Erscheinung zu nehmen, vielfach Bei¬ 
fall gefunden haben. Es ist richtig, dass Wunder¬ 
kinder in iher späteren Entwicklung selbst hinter 
bescheidenen Erwartungen Zurückbleiben. Es ist 
richtig, dass genialische Menschen auf der Höhe 
ihres Daseins oft zu Schaden kommen, weil sie 
sich, seiltänzergleich, an den Grenzen der Mensch¬ 
heit auf schwindligen Pfaden ergehen. Es ist richtig, 
dass solche Menschen, nach einem Leben der un- 

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geheuersten Denkanstrengung, immerhin noch vor¬ 
zeitig, oft geistigem Siechthum verfallen. Aber die 
Genialität, oder die höchste Offenbarung derjenigen 
Seelenkräfte, die die Abwendung von der Thierheit 
bedeuten, als Psychopathie zu erklären, ist ein grober 
Verstoss: er deutet auf hoffnungslos-atavistische („ein- 
gefleischte‘‘) UnWissenschaftlichkeit hin, deren untrüg¬ 
liches Zeichen ist, gerade in der Hauptsache daneben 
zu hauen. 

5. Das Paradigma der Seditionspsychosen ist die 
Fallsucht; Aufhebung des Gleichgewichts zwischen 
Theil und Ganzem, Störung der festen Relation, 
zwischen Peripherie und Centrum, und daher Be¬ 
wusstseinstrübung ohne Gefährdung des Subjektpunkts 
selbst, der nur wegen Lockerung des corticalen Ge¬ 
füges (also des einheitlichen Objektpunktes oder der Vor¬ 
stellung) die Zuleitungen von dort her nicht mehr in 
sich vereinigen kann. Wir setzen hier Eigenbeweg¬ 
ungen von einzelnen Rindenamoeben oder Gruppen 
derselben voraus, die sich ausserhalb der Befehls¬ 
macht der Centralamoebe vollziehen, und Bewusstsein 
nothwendig aufheben müssen, weil dieses auf völliger 
Gleichheit von Einheit und Vielheit, Ganzem und 
Theilwerk, Inhalt und Form beruht, die ihrerseits 
wiederum nur der Ausdruck der metaphysischen 
Enantialität von Subjekt und Objekt ist, unter welcher 
Bedingung allein ein Object in eine Erkenntniss (Be¬ 
wusstsein) eintreten kann, wenn diese den Sinn haben 
soll, ein Abdruck des Seienden zu sein. Das Be¬ 
wusstsein wird immer dann aufgehoben, wenn den 
Bedingungen der Welthälftigkeit, die im Sein vor¬ 
handen ist, im Erkennen (Denken) nicht entsprochen 
wird. 

Dauert der Zustand der partiellen Insubordination, 
die, obwohl eine grosse initiative Beweglichkeit der 
Neurone ein Vorzug genannt werden könnte, dennoch 
aber in Hinsicht auf das Ganze als eine Entartung 
angesehen werden muss, länger, so wird auch der 
Reflex auf’s Ganze sich mehr und mehr bemerklich 
machen; wie ein Staat, der von innerem Bürgerkrieg 
und Strassenkampf durchwühlt wird, in seiner Kraft¬ 
entfaltung nach aussen gelähmt ist. Auch hier be¬ 
deutet die Zunahme der Demenz Fortschreiten des 
Proccsscs nach den mesoplastischen Gebieten. 

Es lässt sich denken, dass, wenn jene oben als Vor¬ 
zug gerühmte Beweglichkeit nicht eben eine untergeord¬ 
nete, sondern die centrale Amoebe selbst beträfe, anstatt 
einer Entartung ein hoher Grad von geistiger Begabung 
daraus folgen müsste. In der That ist Epilepsie nicht 
selten zusammen mit einer solchen angetroffen worden, 
und insbesondere wird hervorgehoben, dass „alle 
grossen Cäsaren“ (Flechsig) auch Epileptiker gewesen 

Original from 

HARVARD UN1VERSITY 



36 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


seien. Auch die Entstehung eines neuen Gedankens, 
die eigentlich geniale, künstlerische Leistung muss 
wohl auf dieselbe Eigenschaft zurückgeführt werden. 
Das Wesen des Genie’s liegt dann in dein Hochmaass 
coörcitiver Kraft, das starke Eigenbewegungen der 
peripherischen Amoeben (Seditionsbestrebungen) im 
Keime zu unterdrücken vermag, das Pathologische aber 
darin, dass solche gelingen. Nie und nimmer aber 
ist das Genie an sich etwas Pathologisches; seine 
Leistung vielmehr der Ausdruck höchster geistiger 
Gesundheit, Zusammenfassung der höchsten Geistes- 
thätigkeit zum völligen Einklang aller Kräfte, und 


verhält sich, um bei unserem Bilde zu bleiben, zu 
einer Entartungserscheinung wie ein siegreicher Krieg 
nach aussen, in dem alle gesunden Kräfte des Staates 
zur höchsten Anstrengung angefacht werden, zu einer 
bürgerlichen Empörung im Innern, wobei der Bestand 
des Ganzen doch in ganz anderer Weise ins Schwanken 
geräth. 

Die Geisteskrankheiten mit grob-anatomischer und 
chemischer Grundlage, die dem physischen Verständniss 
mehr offene Seiten darbieten und im gleichen Maass 
für die philosophische Psychologie an Bedeutung 
verlieren, sollen hier nicht näher besprochen werden. 


Mittheilungen. 


— Herrn Prof, 
wurde aus Anlass des 
25 jährigen Jubiläums 
der von ihm begrün¬ 
deten Rivista speri- 
mentale di Freniatria 
eine besondere Wid¬ 
mung zu Theil. Das 
Heft III/IV des Vol. 
XXVII bringt einen 
Festartikel, den wir 
im Folgenden wieder¬ 
geben. 

An 

AugustTamburini. 

Von dieser selben 
Rivista, die seine 
höchsten Ideale wie¬ 
dergespiegelt hat und 
wiedcrspiegelt, möge 
an August Tam¬ 
burin i die Huldi¬ 
gung und der hoch¬ 
achtungsvolle Gruss 
zukommen; von die¬ 
sem Blatte, das wie 
sein geistiges Haus 
ist, voll Erinnerun¬ 
gen, w f orin seit 25 
Jahren, um seine 
Gedanken herum, die 
Gedanken von Colle- 
gen und Schülern ge¬ 
sammelt wurden und 
noch w erden. Es sind 
heute fünfundzwanzig 
Jahre her, dass Au¬ 
gust Tamburini 
das Geschick dieses 
Blattes zu lenken be¬ 
gann , und dass 
er berufen wurde, 


Tamburini in Reggio-Emilia Carlo Livi in der Direction des Irrenhauses von 

Reggio-Emilia nach¬ 
zufolgen ; und dass 
die Regierung ihn zu 
der Würde des Hoch¬ 
schullehrers hob: drei 
grundlegende Augen¬ 
blicke seines Lebens; 
drei Formen der Thä- 
tigkeit, die er vervoll¬ 
ständigt und harmo¬ 
nisch verschmolzen 
hat zum Vortheil und 
zur Ehre der italieni¬ 
schen Psychiatrie . . . 

. . . Das Studium 
der Psychiatrie nach 
den Grundsätzen und 
Forderungen der po¬ 
sitiven Methode zu 
richten: das ist der 
leitende Gedanke, den 
er mit seinen ausge¬ 
dehnten Forschungen 
in die That umsetzte, 
Forschungen, die zum 
ständigen Erbgut der 
Wissenschaft gewor¬ 
den sind, die von 
der Gehimlocalisation 
bis zu den Erschein¬ 
ungen des Hypnotis¬ 
mus, von der Physio¬ 
pathologie der Spra¬ 
che bis zu den kör¬ 
perlichen und mora¬ 
lischen Entartungen 
des Menschen, von 
den telepathischen u. 
spiritistischen Phäno¬ 
menen bis zur Ent¬ 
stehung der Halluci- 



□ igitized by 


Go. gle 


Original fmm 

HARVARD UNiVERSITY 




37 


igoj.J PSYCH 1 ATKISCH-NEUROLC: 

naiiuiien gehen; ein Gedanke, den er auch zu ver¬ 
wirklichen suchte dadurch, dass er die objectiven 
Forschungsmittel im psychiatrischen Institut zu immer 
grosserer Wichtigkeit erhob . . . 

.... Er ist ein Meister, der sich seine 
Scliule gegründet, sie aber nicht als die Sklavin 
einer Formel, sondern als ein starkes Geschöpf, dem 
aus allen Quellen Leben zufliesst, aufgefasst hat. Nicht 
das vorgezeichnete Schema, sondern die Ableitung 
der zur Beleuchtung der Seelenprobleme nützlichen 
Elemente aus allen Anschauungen und von allen Ge¬ 
sichtspunkten heraus zeichnete ihn aus. Er wollte 
alle Stimmen mitsprechen lassen, vorausgesetzt, dass 
sie Wahrheit sprächen, dass alle wissenschaftlichen 
Mittel zum Studium versucht, alle Wege begangen 
würden; und auf diesen mannigfaltigen Wegen hat er 
die Energien geleitet, die sich ihm darboten, indem 
er sie zuerst sichtete und die nützliche Richtung auf¬ 
deckte und diese nährte: und er hat es nie zugegeben, 
dass irgend eine Flamme, die lebendig und rein war, 
verlöschen durfte. 

So hat er, mit Rath und That, mächtig dazu bei¬ 
getragen, dass die Psychiatrie ihre Wurzeln auf dem 
weiten Boden der Biologie ausbreitete und daraus eine 
tiefe und neue Belebung erfuhr. 

Aber er hat die Wissenschaft nicht nur als eine 
erhabene und abstracte Erscheinungsform des Ge¬ 
dankens betrachtet, er hat sie auch als die Form ver¬ 
standen , di - das gute Wort eingiebt, die herunter¬ 
steigen und unter den Menschen, die leiden, als Trösterin 
wandeln soll . . . 

. . . Möge er nun den Gruss in diesem 25 jährigen 
Jubiläum der ersten wissenschaftlichen und practischen 
Anerkennung empfangen; in dieser idealen Ruhepause 
zwischen Vergangenheit und Zukunft möge er die 
besten Erinnerungen wieder anknüpfen, möge er die 
Glück- und Segenswünsche von allen denen, die die 
ganze Poesie fühlen, welche in seinem Werke als Ge¬ 
lehrter und als Mensch eingeschlossen ist, empfangen. 

15. December 1901. Das Comite. 

Das vorliegende Heft der Rivista + ), zum grössten 
Theil aus Artikeln von Schülern Tamburinis zusammen¬ 
gesetzt, trägt dessen Bildniss und ist ihm zugeeignet, 
als eine Huldigung seiner Mitarbeiter, zur Erinnerung 
an das freudige Datum dieses Jahres, in welchem der 
fünfundzwanzigjährige Jahrestag sich erfüllt, dass e r, 
mit der grössten Sorgfalt und der erleuchtetsten Weis¬ 
heit, die Direction der Rivista übernahm. 

Zeitverhältnisse, also unabhängig vom Comite und 
von den Unterzeichnenden, haben es verhindert, die 
erste Absicht verwirklichen zu können, d. h. einen 
ganz aus den Tamburini zugeeigneten Arbeiten zu¬ 
sammengesetzten Band hersteilen zu können; man 
hat daher geplant, die gesammelte Summe von 
2000 Franken anders zu verwenden und hat be¬ 
schlossen, ihm, am 15. dies., eine goldene Medaille zu 
überreichen, die auf der rechten Seite das Bildniss des 
Meisters trägt, auf der Kehrseite die Widmung: 

Dem August Tamburini 
die Collegen und die Schüler 
_ 1876— 1901. 

*) Referate erscheine demnächst. 

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GISCHE WOCHENSCHRIFT. 

— Jahresversammlung des Vereins deutscher 
Irrenärzte in München. Im Mineralogischen Hör¬ 
saale der Technischen Hochschule, dem durch Pflanzen¬ 
schmuck ein festliches Aussehen gegeben w^ar, begann 
am 14. ds. Mts. vorm. 9 Uhr die Tagung, zu der 
sich Vertreter der staatlichen und städtischen Behörden, 
hervorragende Aerzte und Universitätsprofessoren ein¬ 
gefunden hatten. Es waren zur Begrüssung anwesend 
der Rector magnificus der Universität Professor Dr. 
Brentano, der Generalstabsarzt der Armee Dr. B e s t e 1 - 
meyer, Ministerialrath im Kultusministerium Dr. von 
ßumm, der Vorstand der oberbaycrischen Kreisiiren- 
anstalt Dr. Vocke u. A. 

Geh. Univ.-Prof. Medicinalrath Dr. Jolly (Berlin), 
der Vorsitzende des Vereins, eröfFnete mit kurzen 
Worten die Versammlung und begrüsste die Ver¬ 
treter der Behörden, die Mitglieder und Gäste; 
Oberinedicinalrath Dr. von Grashey ergriff Namens 
der Staatsregierung das Wort, um die Versicherung 
zu geben, dass die Regierung, an der Spitze Minister 
Freiherr von Feilitzsch, der selbst Ehrendoktor 
der Medicin sei, den Bestrebungen des Vereins das 
lebhafteste Interesse entgegenbringe. Die Wissenschaft 
der Psychiatrie habe einen grossen Aufschwung ge¬ 
nommen und daran habe auch der Verein ehren¬ 
vollen Antheil. Sein Einfluss habe sich bei Fragen 
der Gesetzgebung auf psychiatrischem Gebiet geltend 
gemacht, er habe auch auf die Ausgestaltung der 
neuen Prüfungsordnung dahin gewirkt, dass der Psychi¬ 
atrie bei den allgemeinen ärztlichen Prüfungen ein 
grösserer Einfluss zukomme. Die Fürsorge für die 
Geisteskranken bekunde sich in Bayern in weitgehender 
Weise, das zeige die Einrichtung neuer grosser und 
mustergiltiger Anstalten in Oberbayem und in Mittel- 
franken, in welch letzterem Kreise sechs Millionen für 
die neue Irrenanstalt aufgewendet wurden. 

Regierungs- und Kreismedicinalrath Dr. Messerer 
sprach als Vertreter der Kreisregierungaus, dass diese als 
Oberaufsichtsbehörde über die Kreisirrenanstalt be¬ 
gründetes Interesse an den Beratungen habe. 

Bürgermeister von Brunner wies auf die Ent¬ 
stehung der neuen Kreisirrenanstalt Eglfing und der 
Universitäts-Irrenklinik hin und gedachte der hervor¬ 
ragenden verdienstlichen Arbeit, welche die Medicinal- 
räthe Dr. von Grashey und Dr. von Bumm, bei 
antiquirten Einrichtungen, geleistet. Die Stadt wünsche, 
dass die Arbeit der Psychiater von Nutzen sein, und 
dass nach gethaner Arbeit die Versammelten von 
dem gastlichen und künstlerischen München gute Ein¬ 
drücke gewinnen mögen. 

Als „Hausherr“ richtete Prof. Dr. von Dyck, der 
Director der Technischen Hochschule, herzliche Worte 
an die Versammlung, die, w*ie vor ihr schon viele 
andere, dem Wohle der Menschheit ihre Arbeit widme. 

Medicinalrath Prof. Dr. von Bumm sprach Namens 
des Lokalkomites. 

Der Vorsitzende des Vereins, Gchcimrath Dr. 
Jollv, dankte wiederum den Rednern und den Ver¬ 
tretern der Behörden und Ehrengästen für die liebe¬ 
volle Aufnahme des Vereins, der seit 1860 bestehe, 
und bei seinen Wanderversammlungen öfter nach 
Bayern sich gewendet habe, in dessen Hauptstadt 


Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



38 PSYCH 1 ATR 1 SCH-NEUR<.»LOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3. 


er zum letzten Male vor 2 7 Jahren getagt. Dem 
unvergesslichen Dr. Gudden, der damals der Ver¬ 
sammlung präsidirt, werde der Verein einen Kranz 
auf’s Grab niederlcgen. Seit jener Zeit habe die 
Psychiatrie in Bayern grosse Fortschritte gemacht und 
es herrsche hier das Bestreben, diese Wissenschaft zur 
höchsten Vollkommenheit zu heben. Der Redner 
gedenkt hierbei auch der Verdienste des ehemaligen 
Coli egen Medieinalrath Dr. Grashey. 

Nach Bekanntgabe der Namen der Mitglieder, die 
der Verein durch den Tod verloren (Bandorf, Lang¬ 
reuter, Binder, Gessler, Müller) und zu deren Ehrungen 
man sich von den Sitzen erhob, wurde in die Be¬ 
rathungen eingetreten. (Forts, in nächster Nr.) 

— Vor Gericht. Ei n e Lüek e im Gesetz. 
Bedenken gegen einige Entscheidungen des Reichs¬ 
gerichts drückte kürzlich der Vorsitzende der vierteil 
Strafkammer des Landgerichts I Berlin bei der Ver¬ 
handlung eines Straffalles aus, der allerdings recht charak¬ 
teristisch war. Angcklagt waren der pensionierte ge¬ 
prüfte Heizerbei der Anhalter Balm H. und dessen Ehe¬ 
frau wegen wiederholten Ladendiebstahls bezw. Hehlerei. 
II. hatte am 6. März das Werlheimsche Geschäft 
in der Leipzigerstrasse besucht; er trug eine grössere 
Ledertasche in der Hand, und eine Detektivin, die 
ihn beobachtete, glaubte wahrzunehmen, dass er einen 
ausgelegten Gegenstand in diese Tasche hinein cs- 
kamotierte. Der Angeklagte suchte, als er sich be¬ 
obachtet fühlte, zu entkommen, wurde jedoch festge¬ 
halten und visitiert. Da fand man denn in der Tasche 
eine ganze Anzahl grösserer und kleinerer Gegen¬ 
stände, die dem Werthcimschen Geschäft entnommen 
waren. Ergab auch zu, diese aus Vergesslichkeit 
in die Tasche gesteckt zu haben. Als bei ihm Haus¬ 
suchung abgehalten wurde, stellte sich seine Wohnung 
als eine Art Filiale des Wcrtheimschen Geschäftes 
dar. Bei einer grossen Reihe von Gegenständen der 
alleiverschiedensten Art, Bedarfsartikel. Nippes, ganzen 
Kartons mit Seife, Zimmerschmuck u. s. w. konnte 
fcstgestellt werden, dass sie aus dem Wcrtheimschen 
Geschäft herstammten. Die Anklagebehörde nahm 
an, dass alle diese Gegenstände, zu deren Anschaffung 
dem Angeklagten die Mittel fehlten, von ihm gestohlen 
seien. Die angeklagte Ehefrau behauptete dagegen, 
dass sic die Gegenstände in der festen Meinung in 
Empfang genommen, dass er sie ehrlich erworben 
habe. Im gestrigen Termin blieb die Frau bei dieser 
Behauptung, während aus dem Ehemanne überhaupt 
nichts hcrauszubringen war: er erklärte auf alle Fragen 
des Vorsitzenden, dass er sich auf nichts besinnen 
könne. Die Erklärung hierfür gab der Sachverstän¬ 
dige Dr. mccl. Bohnstedt, welcher bekundete, dass 
der Angeklagte wegen licrv«^tretender geistiger Ab¬ 
normität seinerzeit pensioniert, sein Geisteszustand 
von Professor Dr. Mendel und in der Maison de saute 
untersuc ht worden sei und kein Zweifel obwalte, dass 
bei ihm eine unheilbare Paranoia vorliege. Auf 
Giund dieses Gutachtens musste der Gerichtshof nac h 
Paragraph 51 St. G. B. zur Freisprechung des Ange¬ 
klagten kommen; längere Berathung widmete er aber 
der Frage, wie die Frau strafrechtlich zu behandeln 
sei. Wie der Vorsitzende hervorhob, hatte der Gc- 

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richtshof nicht den geringsten Zweifel, dass die Frau 
den unredlichen Erwerb der Sachen vollkommen ge¬ 
kannt habe, er musste sie aber dennoch freisprechen , 
weil nach mehrfachen Reichsgeiichtserkenntnissen, die 
dem Gerichtshof bedenklich erscheinen, der Fortfall 
der Haupithat auf Grund des Paragraphen 51 auch 
die Unmöglichkeit einer Bestrafung wegen Begünstig¬ 
ung, Hehlerei u. s. w. zur Folge habe, und anderer¬ 
seits nicht alle Thatbestandsmerkmale gegeben seien, 
um die Frau etwa wegen Unterschlagung verurtheilen 
zu k«'innen. 

— Ansbach. Am I. Mai wird die hiesige 
Kreisirrenanstalt mit vorläufig bo Kranken, welche 
von Erlangen hierher überführt werden, in Betrieb 
genommen. 

— Ein geisteskrank er Attentäter. Die Polizei 
in Brüssel verhaftete einen Geisteskranken, der in das 
Königliche Palais eindringen wollte, um, wie er angab, 
den König zu ermorden. Der Kranke wurde einem 
Irrenhause überwiesen. 

— Dortmund. Die vom westfälischen Pro¬ 
vinzial - Landtag eingesetzte Commission zur Vor¬ 
bereitung einer neuen Provinzial-Irrcnanstalt hat für 
den 18. d. Monats eine Besic htigung der von der 
Rheinprovinz neuerdings erbauten und im vorigen 
Jahre in Benutzung genommenen Provinzial-Irrcnanstalt 
zu Galkhauscn bei Langenfeld in Aussicht genommen. 

Referate. 

— Ewald Stier, Uebcr Verh titun g und 
Behandlung von Geisteskrankheiten in der 
Armee. Hamburg iqo2. 43 S. Gebrüder Lüdeking. 

Die Zahl der beim Militär beobachteten Geistes¬ 
krankheiten ist nach den einschlägigen Sanitätsberich¬ 
ten eine auffallend geringe; in Wahrheit ist sie viel 
grösser, da noch viele hier nic ht rubricirten Fälle von 
Epilepsie, Neurasthenie, Hysterie, manche Selbstmörder 
hinzukommen, und die wegen Geistesstörung Entlasse¬ 
nen sowie die Psychosen im (Ifficierslande lind bei 
den (/adelten hierbei keine Berücksichtigung gefunden 
haben. Bedenkt man nun weiterhin den weitgehen¬ 
den Einfluss, den Geistesstörungen ausüben, so erhellt 
daraus sattsam die Bedeutung der Psvchiatrie für die 
Militärmedirin. Sic herheit wird jeder Psychiater den 
Ausführungen des V. beistimmen, dass neben den 
längst anerkannten und zweifellos wichtigsten Zweigen, 
der Hygiene, der Chirurgie und der Lehre von den 
Infectionskrankheiten, auch die Psychiatrie als noth- 
wendige Spccialdisciplin anerkannt werden muss. Muss 
doch V. zugeben, dass in psychiatrischen Fragen die 
Armee auf Civilärzte angewiesen ist. 

Selbstverständlich soll kein Geisteskranker einge¬ 
stellt werden; ebenso befreit nach der Verordnung 
überstandene Geisteskrankheit oder ein hoher Grad 
von geistiger Beschränkt-beit, der die militärische Aus¬ 
bildung verhindert, von der Dienstpflicht. Um erste- 
res zu ermöglichen, sollen die Civilbehörden gezwungen 
werden, den überstandenen Aufenthalt in einer Irren¬ 
anstalt bei einem jeden Namen in der Stammrolle 
zu vermerken. Wichtiger ist noch die Fernhaltung 
von Schwachsinnigen, die grade hier so oft verkannt 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 39 


werden ; deshalb sollen auch die in der Stammrolle 
vorgemerkt werden, welche eine Schule für sehwach¬ 
befähigte Kinder besucht haben. 

Bei fast allen psychisch erkrankten Soldaten ist 
hereditäre Belastung nachzuweisen. Deshalb aber 
alle Belasteten auszuscheiden ist weder ausführbar 
noch auch unbedingt zweckmässig. Immerhin ver¬ 
dient die Erblichkeit bei der Einstellung berücksich¬ 
tigt zu werden, ebenso wie das mehrfache Vor¬ 
kommen von Degenerationszeichen als ein objeetiv 
sichtbares Zeichen der erblichen Belastung. Diese 
Faktoren sollten in jedem fraglichen Falle zu Ungunsten 
der Einstellung sprechen. Dies gilt in noch höherem 
Maasse bei der Einstellung von Berufssoldaten. 

Nach der Einstellung kommt wesentlich die 
Prophylaxe und die Therapie der Seelenstörungen in 
Betracht. 

Die beste Prophylaxe gegen Psychosen nicht nur 
sondern auch gegen Vergehen ist eine Entlassung aller 
Individuen, welche bei ihrer Ausbildung sich geistig 
als wesentlich unter dem Durchschnittsniveau stehend 
ausweisen, bei möglichst freier Auslegung des Begriffs 
der Beschränktheit. Daneben spielt der Kampf gegen 
den Alkohol und die Lues eine wichtige Rolle. 

Eine der schwierigsten Aufgaben wird eine früh¬ 
zeitige Erkennung der Störungen sein ; das beste 
Mittel ist eine längere Beobachtung im Lazareth. 
Simulation ist im ganzen selten und heute noch selte¬ 
ner dank unserer erweiterten klinischen Kenntnisse. 
Eine gute psvehiatrische Ausbildung der Militärärzte 
ist nüthig und eine Berücksichtigung der Psychiatrie 
in den Fortbildungskursen ist dringend wünschenswert!!. 

Jedes Lazareth sollte Einrichtungen haben zur 
vorläufigen Unterbringung auch der erregtesten Kran¬ 
ken. Das ist aber nur ein Nothbchelf. Alle zweifel¬ 
los Kranken sollen möglichst bald einer Irrenanstalt 
überwiesen werden. Zur Untersuchung fraglicher und 
zur Begutachtung gerichtlicher Fälle soll in dem gröss¬ 
ten Lazareth eines jeden Armcccorps eine Nerven- 
abtheilung unter Leitung eines psychiatrisch vorge¬ 
bildeten Arztes eingerichtet werden. Einer Militärirrcn- 
anstalt bedarf cs nicht für die Mannschaften, eher für 
die Behandlung erkrankter Officiere und Unterofficiere, 
zur Erleichterung ihrer wirtschaftlichen Nothlage. 

Dies der Inhalt der Broch uro, der ein Litteratur- 
verzeielmiss beigefügt ist. Ihre Lectüre ist dringend 
anzucmpfchlen. Sie bringt viele beachtenswerte Vor¬ 
schläge, zumal sie von einem Militärarzt stammen, 
der einen offenen Blick für bestehende Mängel und 
psychiatrische Kenntnisse hat. Ernst S c h u 1 1 z c. 
Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

1. Quartal 1902. Zusammengestellt von Medicinalrath 
Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 
Murache: Le mariage; etude de socio-biologie et 
de medecine legale. Paris, Meau, 4 fr. 
Haberlandt: Erklärung in det Biologie. Rede, 
2. Aufl , Prag, öo Pf. 

Bonhöffer: Die akuten Geisteskrankheiten der Ge¬ 
wohnheitstrinker. Jena, Fischer, 22b S. 5 M. 
Pöchc: Die sexuelle Ncurothcnie etc. Leipzig, 
De: iss er. 1,50 M. 

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Steingiesser: Das Geschlechtsleben der Heiligen. 
Ein Beitrag zur Psychopathia sexualis der Asketen 
und Religiösen. Berlin, Walter. 1 M. 

Hundt: Ueber scheinbaren Selbstmord bei akuter 
Erkrankung. Diss., Kiel 1901. 

Le Rutte: Onderzock van J. B., beschuldigd van 
het feit strafter volgens Art. 247 W. v. G. Psy¬ 
chiatrische cn neurologische Bladen 1901, p. 387. 

S c h ermers: Ecnige anthropi logische maten bij 
krankzinnigen en nich krankzinnigen onderling ver- 
gleken. Ibidem p. 306. 

Ferri: Cursus over Crimineele Sociologic. Ref. van 
Mcijers. Ibidem, p. 45b. 

X ä < k e: Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher. 
Halle, Marhold, 1902. 57 S., 2 M. 

T a 11 ) o t: Degeneracy and pohtical assassination. Me- 
dicine, Dec. 1901. 

W i n t e r and Steinach: Identification of the insanc. 
Archives of neurology and psychopathology 1900, 
vol. 3, p. 313 (erst Jan. 1902 erschienen). 

Winter: The cephalic iudex. Ibidem, p. 373. 

Fliess: Ueber den ursächlichen Zusammenhang von 
Nase und Geschlechtsorgan, Halle, Marhold, 1902, 

24 s . 

F erronc-Gapano: II diritto, dinanzi alle nuove 
correnti soeiali e poliLiehe (l’anarchia e il socialismo 
rivoluzionario). Rivista mens, di psich for. etc., 
die. 1901 (erschienen im Januar 1902). 

Ed. v. Hart mann: Der vierte, fünfte und sechste 
Stand. Die Woche 1902, Nr. 3. 

H c n n e b e rg: Beitrag zur forensischen Psychiatrie: 
Beeinflussung einer grösseren Anzahl Gesunder 
durch einen geisteskranken Schwindler (Pseudo¬ 
logia phantastica). Charite-Annalen. XXII. Jahrg. 

Näcke: Einige „innere“ somatische Degeneration* - 
zeichen bei Paralytikern und Normalen, zugleich 
als Beitrag zur Anatomie und Anthropologie der 
Variationen an den inneren Hauptorganen der 
Menschen. Allgcm. Zeitschr. für Psychiatrie etc. 
38. Bd., p. 1009 —1078. 

Au dif freut: Quelques considerations sur l’infanti- 
cide. Archives d'antrop. crim. etc. 1902, p. 16. 

Brouardel: Les empoisomements criminels etc. 
Paris, Bailiiere, 238 S., 1002. 

Baelz: Ueber den Nutzen wiederholter Messungen 
der Kopfform und der Schädclgrösse bei denselben 
Individuen. Correspondcnz-Blatt der deutschen 
Gcsellsch. f. Anthrop. etc. 1901, p. 131. 

Virchow: Ueber Schädelform und Schädeldeformation. 
Ibidem p. 133. 

Wald cy er: Das Gehirn des Mörders Bobbe. Ibi¬ 
dem, p. 140. 

R ou bin ovi c h : Tabes et inculpation d’attentats aux 
moeurs Archives d’anthrop. crim. etc. IQ02, p. 36. 

Süll i van: Crime in general paralysis. Journal of 
mental sciencc, january 1902. 

L i e p iri ann: Ueber das Vorkommen von Talgdrüsen 
im Lippenroth der Menschen. In.-Diss., Königs¬ 
berg 1900. 

Krakow: Die Talgdrüsen der Wangensehleimhaut. 
In.-Diss., Königsberg 1901. 

Else Conrad: Va^nbundiren mit Vagabunden. 

Original ffom 

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40 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3. 


Archiv für Kriminal-Anthropologie etc. 8. Bd., 
2. H., p. 12g. 

Ose* Stern: Verbrechen und Gesetzniedrigkeit. Ibi¬ 
dem, p. 166. 

v. Soli renck - Natzing: Eine Freisprechung nach 
dem Tode. Ibidem, p. 177. 

Lchmann: Die Polizei und der Zeugnisszwang im 
Strafverfahren. Ibidem, p. 185. 

H. Kornfeld: Ueber überflüssige Sektionen. Ibi¬ 
dem, p. 192. 

Pollak: Ein Fall reflexoiden Handelns. Ibid., p. 198. 

de Blasio: Nuove ricerche interno al tatuaggio psi- 
chico dei delinquenti napoletani. Riv. mens, di 
psich. for. etc. 1902, p. 1. 

Penta: Sulla responsibilitä diminuita. Ibidem, p. 12. 

Gumpertz: Ueber die Behandlung geisteskranker 
Verbrecher. Deutsche medio. Presse 1902, Nr. 1. 

Lacassagne: La medecine d’autrefois et le medecin 
au 20. siede. Archives d’anthropol. crimin. etc. 
, 1902, p. 65. 

Epaulard: Le vampvre de Muy. Ibidem, p. 107. 

Mac D o n a 1 d and S p i t z k a: The trial, execution, 
autopsy and mental Status of Leon Czolgosz etc. 
The journal of mental pathology, igo2, dec. igoi 
and jan. 1902. 

Spitzka: Remarks on the Czolgosz case ad allied 
questions, as presented by Dr. Talbot. Medical 
Critic, Jan. 1902. 

Giuffrida-Ruggeri: Un caso di atrofia dell’ ala 
magna dello sfenoide e altre particolarta nella 
norma laterale. Considerazioni sul signifcato ge- 
rarchico delle anomalie craniche. Monitore zoo- 
logico Italiano, anno XIII, Nr. 1, 1902, 

S e 1 i g m a n n: Sexual insersion among primitive races. 
Alienist and Neurologist 1902, Nr. 1. 

Courtney: Mamal Stigmata of degeneration. Ibid. 

Talbot: Juvenile female delinquents. Ibidem. 

Hughes (Charles Hamilton): Medical aspect of the 
Czolgosz case. Ibidem. 

Drah ms: (Rev. August) Leon F. Czolgosz. Ibidem. 

Masi: La stereodiografia del cranio. II Manicomio 
etc. 1902, Nr. 3. 

Tiessen : Der Ausdruck der Ohrmuschel. Der Tag. 
1902, No. 109. 

E. C. Spitzka: Regenticides-not abnormal as a dass. 
— A protest against the chimera of degeneraey. 
Philadelphia med. Journal 1902, p. 8. 

Bö hl au: Zur Lehre von den Degenerationsanomalien 
der Ohrmuschel mit Berücksichtigung der Dege¬ 
neration im Allgemeinen. Diss. Würzburg 1901. 

II ennig: Ueber congenitale echte Sacraltumoren. 
Diss., Jan. 1900. 

Meyersohn: Zur Casuistik der embryonalen Drüsen¬ 
geschwülste der Niere. Diss., Würzburg 1901. 

Müller: Ueber congenitale Sacraltumoren. Diss. 
München igoi. 

Reibmayr: Ueber den Einfluss der Inzucht und 
Vermischung auf den politischen Charakter einer 
Bevölkerung. Politisch-anthropologische Revue, 
1902, Nr. 1. 

Pactet: Les alienes devant les tribunaux. Revue 
de psvehiatrie etc., mars 1902. 


Perrier: La vie en prison. Archives d’anthropologie 
criminelle etc. 1901, p. 129. 

Rollet: L’homme droit et l’homme gauche. Ibi¬ 
dem, p. 177. 

Baumgarten: Polizei und Prostitution. Archiv für 
Kriminalanthropologie etc. 1902, p. 233. 
Robins: Eine Studie über Postamtsverbrecher. Ibi¬ 
dem, p. 298. 

Stern: Das Wesen des Strafregisters. Ibid. p. 2b o. 
A m s c h 1 : Der Mord an Therese Puchei. Ibi¬ 
dem, p. 268. 

Kenyeres: Fremdkörper in Verletzungen. Ibi¬ 
dem, p. 309. 

van Ledden-Hulsebosch: Eine Vergiftung mit 
Mohnfrüchten. Ibidem, p. 317. 

Loh sing: Bedeutung und Vornahme der Werth¬ 
erhebungen im österreichischen Strafverfahren. 
Ibidem, p. 319. 

Neman itsch: Ein zerkochter Ermordeter. Ibid., p. 3 2 7. 
Näcke: Angebot und Nachfrage Homosexueller in 
Zeitungen. Ibidem, p. 339. 
van Ledden-Hulsebosch u. Ankersmit: Ueber 
die Haupteinflüsse, welchen Schriftstücke und 
Werthpapiere ausgesetzt sind. Ibidem, p. 351. 

A s s e l i n : L’etat mental des parricides. Paris, Bailiiere, 
1902. 

Meige: L’infantilisme. Gazette des hdpitaux. 
Richard: Le mensonge chez la femme hysterique. 
Diss., Bordeaux. 

Claitre: Degenerescence et mysticisme. Dissert. 
Bordeaux. 

Butler Metzger: The insane criminal. American 
Journal of insanity 1901, Oct. 

M oll: Gesundbeten, Medicin und Occultismus. Berlin 
1902, Walther, 47 S. 

Bloch: Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia 
sexualis. Dresden, Dohau 1902, 272 S., 7 M. 

Personalnachrichten. 

— Ostpreussen. Der pract. Arzt Dr. Wehowski 
aus Mirau als fünfter Arzt der Prov.-Irrenanstalt Allen¬ 
berg, der pract. Arzt Bibro wie zaus Grätzals sechster 
Arzt daselbst angestellt. Die Stelle des zweiten Arztes 
'der Ostpreussischen Provinzial - Besserungs -, Land¬ 
armen- und Irrenanstalt zu Tapiau ist dem appro¬ 
bierten Arzt Dr. Krakow von hier zunächst auf 
Probe vom 1. April d. J. ab übertragen. — Bei der 
Provinzial-Irrenanstalt Kortau sind folgende Aende- 
mngen eingetreten a) der V. Arzt Dr. Ehrhardt 
scheidet am 1. April d. J. zwecks Uebenritts zur 
Anstalt für Epileptische zu Carlshof aus dem Pro¬ 
vinzialdienst aus; b) die V. Arztstelle ist dem zeit¬ 
weiligen VI. Arzt Dr. Dekowski; c) die Stelle des 
VI. Arztes dem bisherigen Volontärarzt Dr. Bosse; 
d) die neu geschaffene VII. Arztstelle dem Dr. Fritz 
Hoppe von hier z. Z. in Soldau übertragen worden. — 

Den dieser Nr. beigefügten Prospect der 
Verlagsbuchhandlung Otto Liebmann, Ber¬ 
lin W. 35, betr. die „Deutsche Juristen-Zeitung. 
Herausgegeben von Prof. Dr. Laband, Reichsgerichts¬ 
rath a. D., Dr. Stenglein, Justizrath Dr. Staub,“ 
empfehlen wir besonderer Beachtung. 


Erscheint jede» Soi 

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Für den redactionellen Tlieil verantwortlich: Überarzt Dr. J. Iiresler Kraschnitz, (Schlesien). 
Sonnabendl-^Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Cari Marhold in Halle a. S 
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WolflF) in Halle a. S. 


U 


gle 


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Psychiatrisch -Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. - 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Aaslandes 

herauftgngeben von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Gutta tadt, 

Urbuprine#* -Altmark» Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin. 

Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel, 

Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: MarhoId Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 257a. 

Nr. 4. 26 . April. 1902, 

Oie ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

H—»frU.intfcn nehm-n jt-de Rurhhandlung, di« Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marho Id in Halle a. S. entgegen. 
lii«*rate werden für die 3»paitige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermaasigung ein. 

Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), Zu richten. 

Inhalt. Originale: Wie gross sollen neue öffentliche Gehirnkrankenanstalten gebaut werden? Von Dir. Dr. Schaefer-Lengerich, 
Landesbaurath Zimmermann-Münster und Direktor Dr. K. Alt (S. 41). — Mittheilungen (S. 49). — Referate (S. 51). 


Wie gross sollen neue öffentliche Gehirnkrankenanstalten gebaut werden? 


Jn Nummer 51, S. 504 Jahrg. III dieser Wochenschrift 
wird die westfälische Provinzial-Verwaltung davor 
gewarnt, den Gedanken des Baues einer Gehirnheil- 
und Pflegeanstalt zur Ausführung zu bringen, welche 
bis 1400 Plätze enthielte. Warum ich einen neuen 
Namen für diese Anstalten anwenden möchte, be¬ 
gründe ich weiter unten. Die Frage der Grösse der¬ 
selben aber ist noch bestritten genug, um es wünschens¬ 
wert! 1 erscheinen zu lassen, sie von Neuem zu erörtern. 
Seit den letzten Verhandlungen darüber sind wieder 
einige Jahre ins Land gegangen, und man hat neue 
Erfahrungen gesammelt. Fast überall in Deutschland 
drängt der Umfang der Anstalten weiter über das 
anfänglich so gern festgehaltene Muss hinaus. Blickt 
man statt 5 Jahren 50 Jahre zurück, so sind aus dem 
früher für zulässig gehaltenen Höchstmasse der in 
einer Anstalt unter einem dirigirenden Arzte zu be¬ 
handelnden Kranken von 300 allmählich 400, dann 
500 und boo geworden. Neuerdings wird auch diese 
Zahl noch überschritten, und zwar ohne dass man 
glaubt, damit das System der einheitlichen ärztlichen 
Leitung der ganzen Anstalt zu verlassen. Durch die 

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nöthige Zahl der Abtheilungsärzte, welche dem Director 
beigegeben werden, glaubt man zu erreichen, dass der 
letztere entlastet werde und doch zugleich noch im 
Stande bleibe, nicht allein den ganzen Betrieb der 
Anstalt zu übersehen und im Einzelnen zu controlliren, 
sondern auch der massgebende Arzt aller Kranken 
zu sein. Das Mass der in einer Gehirnkrankenanstalt 
zu leistenden ärztlichen Arbeit hängt bekanntlich fast 
noch mehr von dem Wechsel der Kranken, der sich 
in der Aufnahme und Abgangsziffer ausdrückt, als 
von dem Durchschnittsbestände ab. Während nun 
bisher eine prcussische Normalanstalt eine Aufnahme- 
zifler von 150 bis 200 zu haben pflegte, sieht sich 
heutzutage der Direc tor eines Provinzial-Gehirnkranken- 
hauses nicht mehr selten vor die Aufgabe gestellt, 
eine Anstalt von 600—700 Kranken und einer Auf¬ 
nahmezahl von 300 und mehr ärztlich zu leiten 
und sachlich zu verwalten. Er soll die Personalien 
behandeln, die Bausachen, dgs Inventar, die Küche, 
Landwirtschaft, Bekleidung, Wäsche nicht nur im 
Auge haben, sondern auch bei allen die Entscheidung 
geben, Stockungen beseitigen, Fehler abstellen, zahl- 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 


reiche Berichte schreiben, sämmtliche Rechnungen 
an weisen, und dabei soll er nicht nur alle Kranken 
im Kopfe haben, sondern er soll die Behandlung der 
Kranken wirklich leiten, auf ihre gesammte gute 
Haltung und Pflege achten, zu ihrer Beschäftigung 
antreiben, er soll alle Aufnahmeanträge erledigen, 
alsdann auf das Pflegepersonal achten, die jüngeren 
Collegen anleiten, endlich die wichtigeren Gutachten 
selbst schreiben, Tennine wahmehmen und was es 
sonst noch giebt. Wie das ein Mensch fertig bringen 
soll, ist mir ein Räthsel. Dass so ein Director auch 
nebenbei noch Mensch sein, d. h. allgemeine Interessen 
vertreten, für seine Familie sorgen und bestrebt sein 
soll, der Wissenschaft zu dienen, sich und die Anstalt 
weiter fortzubilden, dass wird wohl stillschweigend 
auch noch erwartet. Wer aber glaubt, dass das möglich 
ist, möglich bei den gestiegenen Anforderungen an 
die Krankenbehandlung und an exakte Verwaltung, 
der befindet sich meines Erachtens in einer voll¬ 
ständigen Illusion. Die Collegen, welche solche aus 
dem ursprünglichen Plan herausgewucherten Anstalten 
zu leiten haben, werden selbst diese Illusion nicht 
theilen. Sie werden wissen, wieviel sie von ihrer 
Selbständigkeit und Verantwortung auf Andere über¬ 
tragen haben, aber sie werden auch das Missverhältniss 
empfinden, welches auf diese Weise entsteht. Der 
Director fühlt sich getrieben, nach Möglichkeit der 
Aufgabe, selbst zu arbeiten, gerecht zu werden, weil 
dies der durch die Dienstvorschriften begründeten Er¬ 
wartung der Behörden entspricht, so kommt er in die 
Gefahr, sich mehr zuzumuten und sich eine grössere 
Verantwortung aufzuladen, als er tragen kann. Er 
reibt sich auf und kann doch vielleicht nicht verhindern, 
dass Mängel im Anstaltsbetriebe eintreten, welche ihm 
zur Last gelegt werden. Wenn solche Nachtheile in 
den über 500 Kranke wesentlich hinausgewachsenen 
Anstalten nicht entstehen, so kann das meines Er¬ 
achtens nur daher kommen, dass thatsächlich die in 
Alles eindringende ärztliche und administrative Leitung 
des Directors in jenen Anstalten nicht mehr besteht. 
So wird aber in jenen Anstalten ein Schein entstehen, 
welcher den Thatsachen nicht entspricht. Wird aber 
die Verantwortlichkeit des Directors wissentlich auf 
das erträgliche Mass eingeschränkt, sodass nicht nur 
Nachtheile, sondern auch jener falsche Schein vermieden 
werden, so können darum jene Grössenverhältnissc 
doch nicht als zweckmässig angesehen werden, denn 
dann ist das alte güte Prinzip des Alles vertretenden 
Directors verlassen, ohherlass für diesen Verlust ein ent¬ 
sprechender Ersatz gewonnen wäre. Die Mehrverpflegung 
von 200 Kranken kann als ein solcher Ersatz nicht an¬ 
gesehen weiden, es müsste denn sein, dass eine Anstalt 

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eine ganz ungewöhnlich hohe Zahl von Aufnahmen 
hätte; ein voller Ersatz tritt erst ein, wenn das Prinzip 
der getheilten Verantwortung wirklich ausgenutzt und 
demgemäss bei einer normalen Aufnahmeziffer eine 
weit höhere Verpflegungszahl als 700 erreicht wird. 

Sobald man die Grenze von 500 Bestand und 
höchstens 200 Aufnahmen überschreitet, verlässt man 
das normale, der Kraft eines dirigirenden Arztes an¬ 
gepasste Verhältniss, und je weiter man sich von ihr 
unter Aufrechterhaltung der einheitlichen ärztlichen 
Leitung entfernt, um so grösser wird das Missver¬ 
hältniss in der Organisation. Fügt man zu dem 
einen Oberarzt ohne Aenderung des Systems einfach 
einen zweiten hinzu, so hat man eine Halbheit, denn 
dann hat der Director zwar einen Geholfen mehr, aber 
seine Verantwortlichkeit ist dieselbe geblieben. Geht 
man aber dazu über, die Verantwortlichkeit zu theilen, 
und stattet den Oberarzt mit voller Verantwortlichkeit 
neben dem Director aus, so ist bei 700 Kranken und 
der dieser Zahl gewöhnlich entsprechenden Aufnahme¬ 
ziffer die Aufgabe für jeden Einzelnen zu gering, 
weil dann der Director bei seiner Vcrwaltungsarbeit 
immer noch die Behandlung von etwa der Hälfte der 
Kranken verantwortlich leiten kann, und der Ober¬ 
arzt mit Hülfe der darum doch nicht entbehrlichen 
Assistenzärzte weit mehr als die übrig bleibende Hälfte 
der Kranken zu versehen im Stande ist. Auch der 
Ausweg, den man noch wählen kann, dass der Director 
dem Oberarzt gewisse Verwaltungsarbeiten überträgt, 
führt nicht zu einer günstigen Eintheilung. Ein 
richtiges Verhältniss tritt erst wieder ein, wenn eine 
Grösse der Anstalt erreicht ist, bei welcher Beide, der 
Director und der Oberarzt, bei voller Arbeitsteilung 
ausreichend beschäftigt sind. 

Das kann zunächst bei 800 bis qoo Kranken sein, 
bei denen der Director die gesammte Verwaltung und 
ein paar wichtige Abtheilungen, der Oberarzt aber 
das Gros der Kranken haben wird. Man kann aber, 
wenn man einmal soweit gegangen ist, nun sehr leicht 
noch einen Schritt weiter thun und einen zweiten selb¬ 
ständigen Oberarzt anstellen. Jeder von ihnen über¬ 
nimmt mit den nötigen Hülfsärzten eine Geschlechts- 
seitc, der Director die Verwaltung, und er versieht 
mit Hülfe eines Assistenzarztes, welcher für ihn die 
Status und Krankengeschichten schreibt, zugleich eine 
Aufnahmeabtheilung. Bei einer solchen Eintheilung 
können ohne Schwierigkeit 1200 —1400 Kranke einer 
Klasse in einer Anstalt verpflegt werden. Man kann 
aber dann alle Vortheile des Grossbetriebes ausnutzen, 
der Grunderwerb wird billiger, und dass sich auch 
die Baukosten niedriger stellen ist nicht zweifelhaft. 
Durch Vergleiche der Baukosten \»>n Anstalten ver- 

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1 Q02.] 


schiedener Grösse kann man sich wegen der zahl¬ 
reichen in Betracht kommenden Umstände hierüber 
schwer Klarheit verschaffen. Zu einem überzeugenden 
Ergebnis» gelangt man aber, wie jeder Baumeister 
bestätigen kann, wenn man berechnet, wieviel unter 
ganz gleichen Verhältnissen eine Anstalt kostet und 
wie hoch die Bausumme für 2 oder 3 Anstalten kommt, 
welche zusammen nicht mehr Personen fassen können 
als die eine. Alsdann sind alle Mittel des praktischen 
und ärztlichen Betriebes in einer solchen Anstalt grösser 
und reicher, das Anstaltsleben im Ganzen ist bedeuten¬ 
der und anregender. Gewiss, die alte kleinere Anstalt 
mit ihrem einheitlichen Geist und patriarchalischen 
Anstrich ist im gewissen Sinne ein Ideal und wird 
es bleiben, aber neue Zeiten bringen neue Forderungen, 
und man kann es den Behörden, welche sehen, dass 
es mit den grossen Anstalten geht, nicht übel nehmen, 
wenn sie lieber eine grosse als mehrere kleine An¬ 
stalten bauen. Die grossen Anstalten halte ich jeden¬ 
falls für besser als solche, die weder gross noch klein 
sind. Ich will gerne bekennen, dass ich keine eigene 
Erfahrung von grossen Anstalten habe, und die oben dar¬ 
gelegte Anschauung nur aus vergleichender Beobacht¬ 
ung abgeleitet ist; mögen daher Collcgen, welche nach 
den angedeuteten Richtungen eigene Erfahrung besitzen, 
die Güte haben, auch ihre Meinung mitzutheilen. *) 
Nun habe ich mir gestattet, in den vorstehenden 
Zeilen statt des Wortes „Irrenanstalt“ Ausdrücke wie 
„Anstalt für Gehirnkranke“, „Gehirnkrankenhaus“ zu 
gebrauc hen. Man kann diese Ausdrücke noch weiter 
abändern, indem man sagt „Gchirnheil- und Pflegc- 
anstalt“ oder sogar kurz „Gehirnanstalt.“ Bekanntlich 
sind die Bemühungen, den Ausdruck „Irrenanstalt“ 
los zu werden, so alt wie die moderne Irrenpflege, 
sagen wir „Gehirnkrankenpflege“ überhaupt. Man 
empfindet, dass der Ausdruck „Irrenanstalt“ hart und 
sachlich nicht zutreffend ist; die Insassen unserer 
Anstalten sind grossentheils nicht „irre“, und die 
falschen Vorstellungen, welche das Publikum mit diesen 
Anstalten verknüpft, werden durch das Wort „Irre“ 
und „Irrenanstalten“ wesentlich genährt. Man hat 
nun versucht, der Sache abzuhelfen, indem man aus 
den Bezeichnungen einfach die Silben „Irren“ fort- 

*) Siehe die am Schlüsse dieses Artikels bcigefüfjlen Be¬ 
merkungen des Herrn Direktor Dr. Alt, Uchtspringe. D. R. 


43 


lässt und nur von „Landes- oder Provinzial-Heil- und 
Pflegeanstalten“ spricht. Oder man gebraucht statt 
der Artbezeichnungen Eigennamen und verbindet da¬ 
mit oft die Bezeichnungen „Asyl“, „Hospital“ u. dgl. 
So entstanden Namen wie „Friedrichsberg“ (Hamburg), 
„Lindenhaus“ (Lemgo), „St. Jürgen-Asyl“ (Bremen), 
„Karl-Friedrich-Hospital“ (Blankenhain) u. a. Man 
muss dieselben als wohlgemeint und angenehm be¬ 
zeichnen, aber sie selbst beweisen eben die Scheu, 
welche man empfindet, den eigentlichen Artnamen 
„Irrenanstalt“ auszusprechen, und sie erreichen ihren 
Zweck nur zum Theil. Ja es wird ihnen sogar zum 
Vorwurf gemacht, dass sie die vulgäre Scheu vor den 
Irrenanstalten unterstützen. Wie dem sei, so können 
jene Eigennamen und alle Bezeichnungen überhaupt, 
welche Art und Zweck der Anstalten nicht zum Aus¬ 
druck bringen, den Gebrauch der Artbezeichnung jeden¬ 
falls nicht überflüssig machen. Denn man wird immer 
wieder genöthigt sein, schriftlich und mündlich den 
Begriff der Anstalten durch ein kurzes Wort wieder- 
zugeben, und so stellt sich denn immer wieder die 
noch ungelöste Frage dar, wie das Wort „Irrenanstalt“ 
passend durch ein anderes zu ersetzen sei. Das Wort 
„Gehirnkrankenanstalt“ mit seinen Ableitungen ist ein 
Versuch, diese Frage zu lösen. Ich bitte um w'ohl- 
wollende Aufnahme dieses Versuches. Neue Namen 
haben zuerst immer etwas Fremdartiges. Aber nur 
etwas ganz Neues kann hier zum Ziele führen; der 
Name, den ich vorschlage, ist sachlich richtig und 
sicherlich aufklärend für das weitere Publikum; man 
darf erwarten, dass er ebenso helfen würde, richtigere 
Vorstellungen über Geisteskranke und deren Anstalten 
zu verbreiten, als der alte Name geeignet ist, falsche 
Vorstellungen fest zu halten. Geht man bis zu den 
Ausdrücken „Gehirnheilanstalt“, „Gehimpflegeanstalt“, 
„Gehirn-Heil- und Pflegeanstalt“, wenn man will auch 
kurz „Gehimanstalt“, so hat man Bildungen ganz gleich 
wie „Augenheilanstalt“, „Nervenanstalt“ und ähnliche. 
Es dürfte nicht gering anzuschlagen sein, wenn durch 
allmähliche Einbürgerung und offizielle Anwendung 
dieser Bezeichnungen die öffentliche Anerkennung 
erreicht würde, dass Geisteskranke Gehirnkranke sind, 
und dass Irrenanstalten ebenso wie andere Kranken¬ 
anstalten Krankenhäuser sind und nichts weiter. 

Schaefer-Lcngerich. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Z u der wichtigen Frage, ob es wirtschaftlich zw r eck- 
mässig und vom ärztlichen Standpunkte aus un¬ 
bedenklich sei, Irrenanstalten mit einer Belegungs¬ 
fähigkeit von 1000 und mehr Kranken zu bauen, hat 
der Director der diess. Provinzial-Anstalt Len ge rieh, 

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Herr Dr. Schaefer auf eine kurze darauf bezügl. 
Ausführung in dieser Zeitschrift Nr. 51 in dem Vor¬ 
stehenden eine Erwiderung zugehen lassen. 

Da sich diese Erwiderung mehr mit der ärztlichen 
und vcrwaltungstechnischcn Seite der Frage befasst, so 


Original frnm 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4 


habe ich in Ergänzung der Ausführungen Dr. Schaefers 
vom bautechnischen und finanziellen Standpunkte aus 
eine vergleichende Berechnung darüber angestellt, wie 
sich die Baukosten einer grossen Anstalt von 1000 Kran¬ 
ken ergeben, gegenüber zwei getrennten Anstalten von 
je 500 Kranken. 

Der beigefügten Uebersicht ist in Sp. 1 zu Grunde 
gelegt das genaue Abrechnungs-Ergebniss 
der Provinzial-Irrenanstalt Aplerbeck, die 
mit 500 Kranken belegt ist, in ihren centralen Ein¬ 
richtungen aber für 600 Kranke ausreicht. 

Die Zahlen in Sp. 2, die voraussichtlichen 
Kosten der einzelnen Theile und Anlagen 
einer Anstalt für 1OOO Kranke, wollen zwar 
keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit erheben, 
sind aber auf Grund zuverlässiger Unterlagen so er¬ 
mittelt, dass sie zur Beurtheilung der Frage ausreichend 
sein dürften, und auch einer eingehenderen Prüfung 
Stand halten werden. 

Zur Erläuterung möchte ich mir folgende Bemer¬ 
kungen gestatten: 

Der Grunderwerb wird um so billiger, je grösser 
der zusammenhängende Complex ist, zumal der Guts¬ 
hof, wie er in Aplerbeck mitgekauft wurde, auch bei 
einer Anstalt für 1000 Kranke nicht wesentlich grösser 
zu sein brauchte. Der angesetzte Betrag von 280000 
Mk. ist sogar höher, als in andern Provinzen für 
Grunderwerb bei grossen Anstalten gezahlt worden 
ist. 

Die Kosten der Central ge bäude für Ver¬ 
waltung und Verpflegung erhöhen sich nicht wesent¬ 
lich, weil der Raumbedarf in den betr. Gebäuden, 
sowie die Zahl der Dienstwohngebäude, abgesehen 
von Aerzten und Pflegern, nicht der Krankenzahl 
entsprechend steigen wird. 

Auch bei den Central -Anlagen tritt, wie jeder 
Techniker aus Erfahrung bestätigen wird, bei weitem 
keine der Krankenzahl entsprechende Verdopplung 
der Kosten ein; doch ist hier, wie auch die Tabelle 
zeigt, die Steigerung im Einzelnen procentual sehr 
verschieden. 

Bei den Krankengebäuden hingegen werden 
sich die Ausführungskosten verdoppeln, weil bei doppelter 
Krankenzahl sich auch die Anzahl der Gebäude mit 
ihren Installations-Einrichtungen an Heizung, Beleuch¬ 
tung, Be- und Entwässerung verdoppeln wird. 

Die Kosten für die Inventarbeschaffung 
werden sich ebenfalls annähernd verdoppeln; die Ein¬ 
richtungen der Centralgebäudc für Verwaltung und 
Verpflegung im geringeren Maasse, als diejenigen der 
Krankengebäude. 


Mögen sich nun auch bei detaillirter Berechnung 
die Ausführungskosten der einzelnen Positionen noch 
etwas verschieben, das Gesamintergebniss wird das¬ 
selbe bleiben und -dieses beweist, dass der Bau 
einer grossen Anstalt für 1000 Kranke um 
fast 900000 Mk. billigerwird, als derzweier 
getrennten Anstalten für je 500 Kranke. 

Es dürfte auf der Hand liegen, dass dies wirt¬ 
schaftliche Moment für die Entschliessung der Pro¬ 
vinzial-Vertretung angesichts der stetigen Steigerung 
der Belastung durch die Irrenfürsorge von ausschlag¬ 
gebender Bedeutung sein musste, nachdem die psy¬ 
chiatrischen Sachv erständigen den Bau einer so grossen 
Anstalt für unbedenklich von ihrem Standpunkte aus 
erklärt hatten. 

Ich habe geglaubt, durch vorstehende Ausführungen 
die Darlegungen des Herrn Dr. Schaefer ergänzen 
zu sollen. 

Vergleichende KostenUbersicht über den 
Neubau von Anstalten mit 500 Kranken und 
mit 1000 Kranken. 

Die Ausfiih- 2. 

rungskosten Die Ausfüh- 
der Provinzial- rungskosten 
Irrenanstalt zu einer ent- 
Aplerbeck, sprechenden 
belegt mit 500 Anstalt für 
Kranken, haben 1000 Kranke 
nach der Ab- würden be- 
rechnung be- tragen: 

tragen: 

Mk. Mk. 

i. Grund erwerbskosten 
einschl. des alten Gutshofes 


(etwa 200 Morgen) 

(in Aplerbeck) 

105 OOO 

2 80 OOO 

2. Gebäude für Verwal¬ 
tung, Verpflegung u. dgl. 
a) Verwaltungsgebäude 

83 OOO 

120000 

b) Betsaal (anstossend an a) 

36 OOO 

50 OOO 

c) Wirthschaftsgebäude (in Ap¬ 
lerbeck für hoo Kr. gebaut.) 

200 OOO 

240000 

d) Kesselhaus mit Central¬ 
bädern u. 2 Dienstwohn. 

91 OOO 

I 10 OOO 

e) Leichenhalle mit Secir- 
Räumen 

14 OOO 

16 000 

f) Director-Wohnhaus 

38 OOO 

40 OOO 

g) Beamten-Wohnhaus 

40 OOO 

40 OOO 

h) Fcstsaal 

43 OOO 

54 000 

i) Dienstgebäude für den Geist¬ 
lichen, Pfleger, Handwerker 

u. s. w. 

94 000 

(für Ober¬ 
ärzte) 

200 OOO 

Pos. 2 zusammen Mk. 

639 OOO 

870 OOO 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3. Central-Anlagen 



a) Terrain-Regulirung 

15 000 

25OOOO 

b) Pflasterungen , Wege-An¬ 



lagen, (Anschlussgeleise) 

57000 

80 OOO 

c) Garten-Anlagen 

40000 

60 OOO 

d) Einfriedigungen, Wandel¬ 



hallen 

33000 

50 OOO 

e) Be- und Entwässerungs- 



Anlagen 

123 000 

210 000 

f) Heizungsanlagen, Koch- und 



Waschküchen-Einrichtung 

277 000 

455 000 

g) Electrische-Beleuchtung 

. 58 000 

100000 

h) Telephon-Anlage 

5000 

9 000 

i) Blitzableiter-Anlage 

13 000 

24 000 

k) Bauleitungskosten 

74 000 

130000 

1) Insgemein 

19 000 

33ooo 

Pos. 3 zusammen Mk. 

715 000 

1176 000 

4. Gutshof mit Stallge¬ 



bäuden, Scheunen und 1 



Landhaus für Kranke. 

104 000 

130 000 

5. Krank enge- 



bäUÜe - Zahl 



2 Aufnahme und Beob- 



achtungs-Abtheilungen 56 

0 


2 Gebäude für Unruhige 48 

122 OOO 


2 „ „ Halb „ 120 

22 I OOO 


2 „ „ Sieche 56 

151 OOO 


4 .. ». Ruhige 120 

193 OOO 


2 Pensionsgebäude, 60 

156 OOO 


Dazu die Kranken im 



Wirthschafts-Geb. und 



auf demGutshof zus. 40 



zus. ( 500 

960 OOO 

1900 000 

für | Kr. 


für 1000 Kr. 


45 


6. Inventarbeschaffung 
für 500 Kranke mit Pflege¬ 
personal 

Zusammenstellung. 

1. Grunderwerb 

2. Centralgebäude 

3. Centralanlagen 

4. Gutshof' 

5. Krankengebäude 
ö. Inventar 


227 000 

195 000 
639 000 
715000 
104 000 
960 000 
227 000 


430 000 
für 1000 Kr. 

280 OOO 
870000 

I 176 OOO 
130 000 
1900 000 
430 OOO 


zusammen 2840000 4786000. 

Die Kosten betragen also einschl. G runderwerb 
und Inventar pro Kopf der Belegung 
bei Aplerbeck mit 500 Kranken 5680 Mk. 

bei einer Anstalt mit 1000 Kranken 4786 „ 

Ohne Grunderwerb und Inventar stellen 
sich die Kosten wie folgt pro Kopf 
bei Aplerbeck mit 500 Kranken 4836 Mk. 

bei einer Anstalt mit 1000 Kranken 4076 „ 

Werden zwei Anstalten von der Grösse und Bau¬ 
art der Aplerbecker gebaut, so kosten dieselben zu¬ 
sammen 5680 000 Mk. 

Wird für diese 1000 Kranken eine Anstalt gleicher 
Bauart errichtet, so kostet diese nur etwa 4786 000 Mk. 

Also ergiebt sich als Ersparniss ein Betrag 
von 894 000 Mk. 

durch den Bau einer grossen Anstalt von 
1000 Köpfen gegenüber zwei von je 500 Köpfen. 

Diese Minder-Anlagekosten werden sich noch ver- 
grössem, wenn die Anstalt, statt für 1000 Kranke, 
für 1200 bis 1400 eingerichtet wird. 

Münster, den 10. April 1902. 

Zimmermann, Landesbaurath. 


l^ie von Herrn C<»liegen Schäfer vorstehend ge- 
gebene Anregung, den wenig zutreffenden Aus¬ 
druck „Irrenanstalt“ endgültig auszumerzen und 
durch einen in den Augen der Kranken wie des 
Publikums minder anstössigen Namen zu ersetzen, 
dürfte dem Wunsche der Mehrzahl der Fachgenossen 
entsprechen. Aus ganz den gleichen Erwägungen 
heraus hat auch der letzte Landtag der Provinz 
Sachsen die Bezeichnung Provinzial-Irrenanstalt 
beseitigt und dafür allgemein „Landes-Heil- und 
Pflege-Anstalt“ eingeführt; auch andere Provinzen 
und Staaten sind in gleichem Sinne verfahren. Es 
sei zugestanden, dass auch diese Benennung, welche 
meines Erachtens immerhin schon einen grossen Schritt 


vorwärts bedeutet, verbesserungsfähig ist und in ab¬ 
sehbarer, hoffentlich baldiger Zeit durch eine noch 
treffendere verdrängt wird. In diesem Sinne ist der 
Schäfer’sche Versuch sehr zu begrüssen, wenngleich 
ich vermuthe, dass der Ausdruck Gehirn krank en- 
anstalt, Gehirnheilanstalt oder kurzweg Gehirn¬ 
anstalt bei Publikum und Kranken wenig Anklang 
finden und zur Beseitigung der Scheu vor den Kranken¬ 
häusern für psychisch Kranke nicht viel beitragen 
dürfte. Wenn im gewöhnlichen Leben davon ge¬ 
sprochen wird, dass Jemand viel mit seinen „Nerven“ 
zu thun hat, dass seine „Nerven überreizt oder er¬ 
schöpft“ oder gar „ganz alle“ sind, so wird darunter 
keineswegs blos eine Erkrankung der peripheren 


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Original frnm 

HARVARD UNiVERSITY 




46 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 


Nerven verstanden, sondern vielmehr eine krankhafte 
Schwäche, Ueberreizung oder Erschöpfung des Nerven¬ 
systems überhaupt, also auch des Gehirns. Erscheint 
es nöthig, der Bezeichnung Landes-Heilanstalt noch 
einen abgrenzenden Zusatz zu geben, so dürfte die 
Vorsetzung des Wortes „Nerven“ jeden Zweifel be¬ 
heben und dabei dem allgemeinen Sprachgebrauch 
vollauf gerecht werden, ohne unrichtig oder anstössig 
zu sein. Mir persönlich will übrigens auch das Wort 
Anstalt wenig gefallen. Ich habe deshalb vor Jahren 
schon einmal einer Verwaltung die Bezeichnung Pro- 
vinzial-Nervenklinik vorgeschlagen. Auch das Wort 
Nerven -Heilstätte hat vieles für sich. Hoffentlich 
geben die Schäfer’schen Ausführungen von Neuem 
den Anstoss, einen passenden Namen zu finden (»der 
bekannt zu geben. 

Die Frage, wie gross sollen neue Anstalten 
gebaut werden, ist von mir schon früher wieder¬ 
holt berührt worden. Ich habe bei jeder sich bie¬ 
tenden Gelegenheit es für meine Pflicht erachtet, vor 
dem unaufhaltsamen Anwachsen derselben zu warnen. 
Selbst wenn es vollständig erwiesen sein sollte, dass 
entsprechend der Grössenzunahme der Anstalt die 
Anlage- und Unterhaltungskosten pro Bett sich nennens- 
werth verringerten, die sehr grossen Anstalten abo 
erwiesenermaassen wirtschaftlich erheblich vortheil- 
hafter wären, dürfte nur bis zu jener Grenze der 
Krankenzahl vorgegangen werden, welche eben noch 
ohne Gefährdung der Einheitlichkeit der Leitung und 
Behandlung zulässig ist. Wo liegt aber diese Grenze ? 
Die Antwort hierauf wird von verschiedenen Anstalts¬ 
leitern wohl nicht ganz gleichlautend gegeben werden, 
auch nicht gleichwertig sein. Denn es ist, worauf 
Herr Schäfer schon sehr richtig hindeutet, gewiss ein 
grosser Unterschied, ob man in solchen Fragen seine 
Ansicht blos vergleichend theoretisch ableitet oder 
aus eigener praktischer Erfahrung heraus ein Urtheil 
zu bilden Gelegenheit hatte. Letzteres darf ich w r ohl 
für mich in Anspruch nehmen als langjähriger Leiter 
einer unter meinen Augen entstandenen, von Haus 
aus für 1000 Kranke bestimmten und — hauptsäch¬ 
lich auch in Folge glücklicher Entwickelung der Fa¬ 
milienpflege — auf über 1100 Kranke angew r achsenen 
Anstalt. 

Ich nehme keinen Anstand zu bekennen, dass 
bei dieser Ausdehnung der Anstalt die Uebersicht- 
lichkeit und Einheitlichkeit der Verwaltung sehr 
gelitten hat, die einheitliche Behandlung der 
Kranken gewaltig zu kurz kommt zum Nachtheil der 
Kranken. Dieser Ansicht habe [ich bereits in dem 
zweiten Verwaltungsbericht mit den Worten Ausdruck 
gegeben: „Die Anstalt hat die Aufgabe, die heil¬ 


baren Kranken möglichst rasch gesund zu machen, 
die besse rungsfähigen soweit zu fördern, dass sie 
denkbar wenig unter ihrer Krankheit leiden und den 
Angehörigen wie ihren Mitbürgern möglichst wenig 
zur Last fallen, den unheilbaren und nicht der 
Besserung fähigen für die Zeit ihres Lebens und 
Leidens gute Pflege zu gewähren und ihnen das Leben 
erträglich zu gestalten. 

Der Berichterstatter trägt kein Bedenken zu be¬ 
kennen, dass die Anstalt, in der sich leider auch eine 
grosse Anzahl nicht hineingehöriger (verbrecherischer 
pp.) Kranker befinden, bisher wegen des rapiden 
Anwachsens, der unfertigen und darum vielfach un¬ 
behaglichen Verhältnisse und der qualitativen Unzu¬ 
länglichkeit des Personals diese Aufgabe noch nicht 
vollkommen gelöst und, weil sie zu gross ist, über¬ 
haupt niemals in vollkommenster Weise lösen wird. 
Die erstgenannten Mängel werden von Jahr zu Jahr 
schwinden bezw. weniger fühlbar werden, der letzt¬ 
genannte lässt sich im Laufe der Zeit durch radkale 
Vereinfachung des Geschäftsbetriebes «d weitgehendste 
Decentralisation bis za einem gewissen Grade aus- 
gleichen. Die hier gemachten Erfahrungen zwingen 
zu der Ansicht, dass als zweckmässigste obere Beleg¬ 
grenze einer gemischten Anstalt die Zahl von höchstens 
600 Krankenbetten angesehen werden muss “ 

Ich kann diese Worte jetzt nach 5 Jahren nur 
in allen Stücken vollauf aufrecht erhalten. Der Ge¬ 
schäftsbetrieb ist, dank dem bereitwilligsten Entgegen¬ 
kommen meiner Behörde, ganz wesentlich vereinfacht, 
eine weitgehende Decentralisation dadurch angestrebt 
worden, dass seit Jahren nicht nur zwei — wie Herr 
Schäfer fordert — sondern drei Oberärzte ange¬ 
stellt und mit weitgehender Selbständigkeit betraut 
wurden, gleichwohl übersteigen die Directionsgeschäfte 
bei weitem die Arbeitsfähigkeit des Dircctors, der der 
Krankenbehandlung, der Anleitung der jüngeren Col- 
legen und der Ausbildung des Personals nicht an¬ 
nähernd die wünschenswerthe Zeit und Hingebung 
widmen kann. Solange unsere Anstalt die Zahl 600 
noch nicht überschritten hatte, kannte ich jeden Kranken 
und Angestellten, heute ist das keineswegs der Fall, 
und ich muss zugestehen, dass ich den mir über¬ 
tragenen Pflichten nicht gerecht werden kann. 

Es sei gerne zugestanden, dass die Leistungs¬ 
fähigkeit der verschiedenen Directoren verschieden ist, 
ich glaube für mich eine mittlere Befähigung und Ar¬ 
beitsfreudigkeit in Anspruch nehmen zu können. 

Bios auf Uebermenschen die Verhältnisse zu¬ 
zuschneiden, halte ich für unerlaubt Mit der Ver- 
grösserung der Anstalten wird auch die Schwierigkeit, 
zur Leitung geeignete Aerzte zu finden, immer grösser. 


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Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 



I 002.] 


Nach meiner Ueberzeugung wird das Wohl der 
Kranken erheblich geschädigt, wenn die Persönlich¬ 
keit des Directors ihnen zu sehr entrückt wird, und 
das geschieht bei einer Anstalt mit 1000 Köpfen ganz 
entschieden. Deshalb dürfen Anstalten nicht so gross 
erbaut w r erden. 

Ist es denn thatsächlich erwiesen, dass eine An¬ 
stalt von 1000 Kranken und darüber wirtschaftlich 
in Anlage und Betrieb sich billiger stellt, als eine solche 
von 500—600 Kranken? Es liegt für mich nahe 
auf die hiesige Erfahrung zurückzugreifen, nach welcher 
pro Tag und Kopf bei der jetzigen Ausdehnung der 
Anstalt grössere Verwaltungskosten entstehen als zu 
der Zeit der halben Grösse. Diese fürs erste etwas 
frappirende Thatsache erklärt sich daraus, dass in 
Folge der nicht mehr durchführbaren Einheitlichkeit 
und Uebersichtlichkeit vieles ungenügend ausgenutzt 
wird, manches umkommt, was in einer kleineren An- 
staltswirthschaft mit schärferer Controlle nicht ver¬ 
schwendet worden wäre. Sowie die wirtschaftliche 
Verantwortlichkeit auf mehrere Schultern verteilt wird, 
kann die sorgfältigste und gewissenhafteste Leitung 
und Controlle nicht mehr im einzelnen verfolgen, wo 
hätte gespart und vorteilhafter gewirthschaftet werden 
können. 

Mit dem .Anwachsen des Beamtenheers, das bei 
uns proportional der zunehmenden Anstaltsgrösse ver¬ 
mehrt werden musste, nahm die Unübersichtlichkeit 
und Schwerfälligkeit des ganzes Betriebes zusehends 
zu. 

Nach den hiesigen Erfahrungen ist die Annahme 
durchaus unrichtig, dass eine für 1000 Kranke und 
darüber eingerichtete Anstalt sich im Betrieb pro Tag 
und Kopf billiger stellt, als eine solche von etwa 600. 

Bleibt die Behauptung: die erstmalige Anlage ge¬ 
stalte sich mit zunehmender Grösse pro Bett billiger. 
Es sei daran erinnert, dass lange Zeit hindurch die 
Lehre aufgestellt und aufrecht erhalten wurde, das 
Pavillonsystem sei wesentlich theurer als das Corridor- 
system, weil die sehr grossen Gebäude für hunderte 
von Kranken entschieden billiger pro Bett seien als 
die Pavillons zu etwa 40 —50 Kranken. Dieser Satz 
dürfte heute' längst als erschüttert gelten. Ich habe 
im Laufe der Jahre mit Dutzenden von Commissionen 
aus dem In- und Ausland gerade über diesen Punkt 
mündlich und schriftlich verhandelt, die wider¬ 
sprechendsten Ansichten und Urtheile gehört, und 
schliesslich kamen Alle zu der Ueberzeugung, dass 
es beim einzelnen Pavillon, wie eine untere, so auch eine 
obere Grenze giebt, jenseits welcher das Bett sich 
theurer stellt. Und diese Grenze liegt um 40—50 
herum. Was für das einzelne Krankengebäude gilt, 


47 


trifft auch auf die Gesammtgrösse einer Anstalt zu; 
auch hier giebt es nach meiner Ansicht, die im lang¬ 
jährigen regsten Gedankenaustausch mit anstaltserfah¬ 
renen Bautechnikern und auf Grund eingehender Be¬ 
rechnungen gebildet ist, eine Grösse, deren Ueber- 
schreitung keine Verbilligung sondern Vertheuerung 
bedeutet. Und diese Grenze liegt ebenfalls bei 
etwa 600. 

Wenn eine Verwaltung in die Nothw r endigkeit 
versetzt ist 1400 Plätze zu schaffen, so erreicht sie 
das nach meinem Dafürhalten am billigsten und 
zweckmässigsten, wenn sie 2 Anstalten mit je 600 
Anstaltsbetten erbaut, ausserdem bei jeder Anstalt 
genügend Wohnungen für Pfleger und niedere Ange¬ 
stellte, denen zusammen gegen 50 Kranke in Pflege 
gegeben werden. Ausser diesen 50 Familienpfleg¬ 
lingen bei den eigenen Angestellten werden sich gar 
bald noch 50 andere Pfleglinge bei fremden Familien 
der Nachbarschaft gut unterbringen lassen*). 

In der Provinz Westfalen mit ihrer durchschnitt¬ 
lich sprichwörtlich biederen Bevölkerung muss das 
ein leichtes sein, zumal im Sauerland und Münster¬ 
land. 

Die hier in Kürze entwickelte, erst beim Durch¬ 
lesen der Correctur des Schäfer’schen Aufsatzes in 
Nr. 4 der Wochenschrift schnell niedergeschriebene 
Ansicht über die zweckmässigste und erlaubte An¬ 
staltsgrösse entspringt keineswegs blos meiner eigenen 
Erfahrung und Ueberlegung. 

Wie bekannt sein dürfte, habe ich im Herbst i8q6 
an die Directoren der öffentlichen Anstalten Deutsch¬ 
lands eine Anfrage über das heute beregte Thema 
gerichtet. Die in Betracht kommenden Fragen lau¬ 
teten : 

1. Welches ist die zweckmässigste und welches 
die — unbeschadet der Einheitlichkeit der Verwaltung 
und der ärztlichen Oberleitung — höchste zulässige 
Belegzahl einer neu zu erbauenden gemischten Irren¬ 
anstalt, a) wenn nur Communalkranke, b) wenn gleich¬ 
zeitig Pensionäre aufgenoramen werden? 

2. Bei welcher Grösse der Anstalt ist nach Ihrem 

Ermessen der einzelne Platz am relativ billigsten zu 
schaffen ? ♦ . 

3. Bei welcher Belegzahl gestaltet sich der Betrieb 
am vortheilhaftesten und billigsten? 

Die weitaus überwiegende Mehrzahl der nahezu 
50 Auskünfte bezeichnete 500 — 600 als die „unbe¬ 
schadet der Einheitlichkeit der Verwaltung und der 
ärztlichen Oberleitung höchste zulässige Belcg- 

*) Ich habe beispielsweise allein in der benachbarten Kreis¬ 
stadt Gardelegen zur Zeit 44 weibliche Kranke bei fremden 
Familien untergebracht. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Original fram 

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4« PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 


zahl“ einer neu zu erbauenden Heil- und Pflege¬ 
anstalt. 

Es würde zu weit führen, alle Antworten hier 
wieder zu geben, ich führe nur diejenige des vor 2 
Jahren verstorbenen Geh.-R. Professor Dr. Meyer- 
Göttingen, einer allseitig anerkannten Autorität für 
Anstaltsbauten und Verwaltung an: 

„Nach meinen Erfahrungen kann ein Director die 
Behandlung der Kranken in einer gemischten Anstalt 
bei etwa io°/ 0 frischer Fälle leiten und die Verwal¬ 
tung dirigiren, wenn die Zahl der Kranken 500 nicht 
übersteigt, bei 8% Pensionären. Fallen letztere weg. 
so halte ich bis 600 für zulässig, steigen sie, so wird 
eine Reduction der Gesammtzahl erwünscht. Bau 
und Unterhaltung sind bei diesem Umfang 
ebenso vortheilhaft zu stellen, wie bei 
einer weit grösseren Anstalt“. 

Herr Director Schäfer-Lengerich antwortete: 

Lengerich, 15. Septbr. 1896. 

„Das alte Ideal, dass der ärztliche Director einer 
Irrenanstalt jedes Einzelne in Behandlung der Kranken 
und in der Verwaltung selbst treibe, ist durch die 
Verhältnisse überholt. Der Director muss schon heute 
in den meisten Anstalten seinen Aerzten und Beamten 
mehr Spielraum und eine gewisse Selbständigkeit 
lassen. Andererseits wird bei den ganz grossen 
Anstalten das „Dirigiren“ für den Director 
illusorisch, er verliert den Ueberblick, 
die Beamten werden entscheidend, die 
erstrebte Einheit geht verloren. 

Daher ad 1 a bis höchstens 650, 

» * ^ » >> 55 °> 

„ 2 1000 bis 1500. 

„ 3 von 500 an.“ 

Der von Herrn Geheimrath Prof. Meyer und mir 
vertretenen Meinung, dass Bau und Unterhaltung der 
Kranken sich bei einem Umfang von 500—600 Betten 
ebenso vortheilhaft stelle, wie bei einer weit grösseren 
Anstalt steht allerdings die vergleichende Kostenüber¬ 
sicht des Hem Landesbaurath Zimmermann schroff 
entgegen. Indes dürfte einer derartigen Kostenüber¬ 
sicht doch nur ein sehr begrenzter Wert beizumessen 
sein. Es würde zu weit führen, erschöpfend diesen 


Kostenvergleich hier zu analysiren. Nur einige 
Punkte möchte ich herausgreifen. 

Zunächst ist hervorzuheben, dass die Ausführungs¬ 
kosten von Aplerbeck auf Grund stattgehabter 
Abrechnung festgesetzt sind, während bpi der zu 
erbauenden Anstalt zu 1000 Köpfen nur erst Kosten- 
Voranschläge vorliegen. Es sind Ueberschreitungen 
bei dem und jenem Posten gar nicht ausgeschlossen, 
die erfahrungsgemäss gerade bei solchen Riesenanlagen 
nicht auszubleiben pflegen. Zum mindesten hätten 
bei Aplerbeck auch die ursprünglich projectirten 
Summen eingesetzt werden müssen. 

Wenn bei Aplerpeck mit 500 Kranken das Bett 
5680 Mark gekostet hat, so bleibt dann doch die 
Frage zu beantworten: „Ist hier nicht viel zu theuer 
gebaut werden.“ Ich für meinen Theil finde es 
beispielsweise enorm, dass in einer Anstalt für 
600 Kranke das Wirtschaftsgebäude ohne Koch- 
und Waschkücheneinrichtung 200000 Mark kostet, 
während für das Wirtschaftsgebäude in Uchtspringe 
für 1000 Kranke mitsammt der ganzen Einrichtung 
nur 175000 Mark verausgabt sind. 

Soll denn ferner wirklich das gleiche Beamtenhaus 
für 40000 Mark sowohl für eine Anstalt mit 1000 
Kranken wie für eine solche mit 500 Kranken aus¬ 
reichen? Muss eine Anstalt für 1400 Kranke mit 
300 Angestellten und deren Angehörigen, also insge- 
sammt für 2000 Menschen nicht eine eigene Kirche 
haben? Ich will mich hierauf beschränken. 

Mit der Summe von 4786 Mark, ja mit 4000 bis 
höchstens 4500 Mark pro Bett lässt sich eine Anstalt 
für 700 Kranke einer Klasse, von denen 600 in 
der Anstalt, 50 in Familienpflege bei Anstaltsange¬ 
stellten und Pflegern in anstaltsseitig gebauten Häusern, 
50 andere Familienpfleglinge in fremden Familien 
w r ohnen, sehr gut und schön bauen. Wozu also 
solche Riesenanstalten,. in denen — wie Herr Direk¬ 
tor Schäfer früher sehr zutreffend bemerkte — das 
Dirigieren für den Direktor illusorisch wird, 
die erstrebte Einheit verloren geht? 

Uchtspringe, den 23. April 1902. 

Konrad Alt. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 49 


M 1 t t h e 1 

— Jahresversammlung des Vereins der 
Deutschen Irrenärzte in München, 14. und 

15. IV. 1902. Fortsetzung. Vorträge. 

Degenkolb (Neustadt i. H.): Beiträge zur 
Pathologie derRindengefässe. 

a) Redner definirt den Begriff des kleinzelligen 
intraadventitiellen Infiltrats nach Art und Menge der 
es zusammensetzenden Zellen. Die Wucherungen von 
als solche noch erkennbaren Adventitialzellen müssen 
und können davon ausgeschaltet werden. Intraad- 
ventitielle Infiltrate im Sinne des Redners finden sich 
in diffusen Rindenkrankheiten nur bei Infektionen und 
Intoxikationen. 

b) Bespricht Redner die Kernlöcher und Kem- 
dellen der Intimakerne der Rindengcfässendothelien. 
Solche lassen sich als Ausdruck der sogenannten 
„fettigen Degeneration“ der Intima ei weisen. Ander¬ 
weitige Veränderungen können an den befallenen 
Kernen oft ganz fehlen, oft auch auftreten. Viele 
Einzelheiten der Erscheinung werden besprochen. 

Fürstner: Giebt es eine Pseudoparalyse? 

F. hatte schon vor 2 Jahren, als er über die spi¬ 
nalen Veränderungen bei der Paralyse im Verein re- 
ferirte, die Befürchtung ausgesprochen, es möchte 
durch die Gleichstellung der Syphilis als ätiologischer 
Factor für die Tabes und die Paralyse die Aufmerk¬ 
samkeit der Autoren in einseitiger Weise auf die 
Hinterstrangerkrankung gelenkt werden, dass dem¬ 
gegenüber die Degeneration in den Seitensträngen und 
anderen Abschnitten des Rückenmarks geringere Be¬ 
achtung finden würde, von der kaum in Angriff ge¬ 
nommenen Erforschung der Veränderungen im peri¬ 
pheren Nervensystem ganz zu schweigen. Inzwischen 
sind in einzelnen Arbeiten Befunde in den Seiten¬ 
strängen beschrieben, es ist auch der Versuch ge¬ 
macht worden, dieselben klinisch zu verwerthen, so 
in der interessanten Dissertation von Just, die in 
Riegers Klinik angefertigt wurde. Dagegen hat ein 
anderes Moment erneut die Ueberschätzung der 
Hinterstrangdegeneration, was Frequenz des Vor¬ 
kommens, was Antheil an der Gestaltung des Krank¬ 
heitsbildes angeht, begünstigt. Mendel hat sich be¬ 
kanntlich dahin ausgesprochen, dass der Verlauf der 
Paralyse gewisse Veränderungen erlitten habe, dass er 
milder geworden sei, vor Allem wies Mendel auf die 
Erfahrung hin, dass der klassische Verlaufstypus, der 
durch C’ombination des eigenartigen progredienten 
Blödsinns mit schweren hypochondrischen oder mania- 
kalischen, vor allem auch abstruse Grössenideen be¬ 
tenden Symptomen gekennzeichnet war, immer mehr 
verdrängt werde durch die demente Form. Da letz¬ 
tere aber gerade als eigenthümlich für die Fälle an¬ 
gesehen wurde, bei denen zu kurzer oder langer 
Dauer der Tabes cerebrale Symptome sich gesellten, 
so konnte der Ausspruch Mendels k 1 i n i s c h die 
Tabesparalyse, anatomisch die Hinterstrangdegene¬ 
ration als wesentlichstes Forschungsobject erscheinen 
lassen. Da nun F. der Meinung ist, dass wenn diese 
Auffassung sich immer mehr einbürgern sollte, das 
Studium der Paralyse eher geschädigt werden dürfte, 
prüft er noch einmal die Momente, die etwa für eine 

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1 u n g e n. 

Aenderung oder Milderung des Verlaufs geltend ge¬ 
macht werden können. Die Frage, ob die Frequenz 
einen Anstieg aufweist, glaubt F. auf Grund der in 
den letzten 9 Jahren in die Strassburger Klinik auf¬ 
genommenen Paralytischen, 280 Männer, 72 Frauen, 
und anderweitiger grösserer statistischer Erhebungen 
bejahen zu dürfen, dagegen kann er auf Grund eigener 
Wahrnehmungen nicht das Auftreten der Paralyse 
schon im jugendlichen Alter bestätigen, würde sich 
dieses Resultat ergeben, so müsste die Widerstands¬ 
fähigkeit des Nervensystems jugendlicher Personen 
geringer oder der der Paralyse zu Grunde liegende 
Krankheitsprocess intensiver geworden sein. In letz¬ 
terem Sinne spreche die Verkürzung der Krankheits¬ 
dauer, die F. in Uebereinstimmung mit Bohr auf 

2 Jahre und noch weniger bemisst; ein Resultat, das 
den früheren nicht entspricht, das sich nicht deckt 
mit der früher allgemein angenommenen Meinung, 
dass der dementen Form ein besonders langsamer 
Verlauf eigen sei. Weiter glaubt F. im letzten Jahr¬ 
zehnt den Eindruck gewonnen zu haben, dass der 
makroskopisch-anatomische Befund Aenderungen in¬ 
sofern aufweise, als viel seltener als früher zu con- 
statiren seien: hämorrhagische Pachymeningitis in 
Hämatomform, hochgradige diffuse oder circumscripte 
Atrophie, intensiver Hydrocephalus mit Ependvmitis, 
nur vereinzelt treffe man eine früher häufigere Com- 
bination von Atrophie mit Hämatombildung, letztere 
konnte F. bei 97 Obductionen von Paralytikern nur 
6 Mal verzeichnen. Zu gleichen Resultaten ist vor 
Kurzem Näcke gekommen, während Schüle in einem 
Bericht über 52 Obductionen sich dahin ausspricht, 
dass dem dementen Verlauftstypus ein characteristischer 
anatomischer Befund nicht gegenüberstände. F. re- 
sumirt sich dahin, dass gewisse Momente eher für 
eine gesteigerte Intensität des Krankheitsprocesses bei 
der Paralyse sprechen und erwähnt die Frage, ob 
und inwieweit sich hiermit der Ausspruch Mendels 
vereinen lasse. F. erkennt an, dass heute hohe Grade 
von intellectueller Schwäche auffallend schnell sich 
entwickelten , dass die sonstigen psychischen Begleit¬ 
erscheinungen meist nur schwach und transitorisch 
seien, ganz fehlte auch heute der klassische Typus 
nicht; er ist der Meinung, dass — wie uueh bei an¬ 
deren Formen — die Demenz mindernd wirke auf 
die Entstehung der anderweitigen psychischen Symp¬ 
tome. Dagegen hält F. nicht für erwiesen ein Ueber- 
wiegen der Taboparalyse. Früher habe man zu ihr 
nur gerechnet Fälle, wo eine Reihe subjectiver und 
objectivcr Symptomen die Diagnose Tabes absolut 
sicher erscheinen liessen. Heute werden oft Pupillcn- 
starre und Fehlen der Patellarreflcxe für genügend 
erachtet, es sei ferner keine Rede davon, dass der 
ausschliessliche Hinterstrangbefund häufiger geworden 
sei, es dominirten nach wie vor die combinirten Er¬ 
krankungen der Seiten- und Hinterstränge. F. resumirt 
sich dahin, dass das Verhältniss der Demenz zu den 
psychischen Begleiterscheinungen eine Aenderung er¬ 
fahren habe, dass aber von einem Prävaliren der Tabo¬ 
paralyse keine Rede sei. Das characteristische Ge¬ 
präge erhalte das Schulbild der progressiven Paralyse 

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50 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 

durch den eigenartigen, progredienten Blödsinn in Ver- zustande anamnestisch zu verzeichnen , geistige und 

Bindung mit körperlichen Symptomen. Die letzteren körperliche Ueberanstrengung, sexuelle Excesse sind 

seien zum grössten Theil spinalen Ursprungs, ob auch weiter ätiologisch wirksam, Syphilis nur in einein 

Pupillenstarre regelmässig, ob auch Anfälle, wie Just Bruchtheil der Fälle, Pupillenstarre kann wieder ver- 

wolle, sei noch fraglich. Es sei zu prüfen, ob es eine schwinden , die fehlenden Patellarreflexe können 

paralytische Degeneration gebe (Alzheimer), welche w r iederkehren, aber auch hier häufiger gesteigerte Re- 

corticalen oder subcorticalen Bezirke ersterer anheim- flexe nachweisbar. F. weist zum Schlüsse auf die 

fallen, in welcher Reihenfolge, bei welcher Localisation. practische Wichtigkeit derartiger Fälle hin; Entmündi- 

Bezüglich letzterer zieht F. die neueste Publikation gung, Rentenbemessung. (Autoreferat). 

Schaffers heran, w'ären die Resultate derselben richtig, Raecke: Zur Lehre von der Hypochondrie 

würden andere Wirkungen den Hauptsitz der Krank- In neueren Lehrbüchern der Psychiatrie existirt 

heit enthüllen, als man früher annahm. die Hypochondrie kaum noch als selbständiges Krank- 

Noch mehr als die Abgrenzung des Schulbildes heilsbild. Es gewinnt vielmehr die Anschauung an 

stossc das Studium der atypischen und Pseudopara- Boden, dass ein hypochondrischer Symptomen komplex 

lysen auf Schwierigkeiten. Nach Lissaucr, Alzheimer gelegentlich bei allen Psychosen auftreten kann, dass 

würden vor Allem Heerdsymptome eine Rolle spielen; ^ sich dagegen in den übrigen Fällen sogenannter 

F. räth in Uebereinstimmung mit Alzheimer die Be- reiner Hypochondrie lediglich um schwere Neu¬ 
zeichnung atypische fallen zu lassen und direkt zu rasthenieformen handelt. Gegen diese Lehre haben 

sprechen von Lissauerscher Paralyse oder von Para- sich bis in die neueste Zeit hinein gewichtige Stimmen 

Iyse mit Heerdsvmptomen (Aphasie, Hemianopsie). erhoben (Jolly, Hitzig, Kraft-Ebing u. a.). Zuletzt 

Besondere Beachtung verdienten Fälle, wo die tiefen i st vor 2 Jahren Böttiger in einer grösseren Arbeit 

Rindenschichten lädirt, die oberen intact waren, weiter ^ ür die Selbständigkeit des hypochondrischen Krank- 

die Fälle, w-o sich in den grossen Ganglien degene- heitsbildes eingetreten. 

rative Veränderungen fanden; es sei eine Trennung Unter 2800 Aufnahmen der psychiatrischen Klinik 

dieser atypischen Paralysen von den Fällen^jgu^^ni Tübingen fanden sich nur 15 einwandsfreie Fälle 
streben, wo nach Alzheimer vor Allem daj^Ä^BJeWjteftswHypochondrie, die eine lange Reihe von Jahren 
Veränderungen aufw'eise, oder von gewMfn Fällen unvÄlBfelert bestanden hatten. Davon waren b erb¬ 
seniler Demenz, wo keilförmige DegenerationAf*in lieh sclCffic belastet. 7 w-aren Neuropathen, und in 

in der Rinde heständen. Die PseudopatJ|psen seMn-Z ren äussere erschöpfende Momente vorauf- 

immer zahlreicher geworden, F. zieht zunächst nur gegartgenr I 

die alkoholistische und luetische Pseudop 5 ™fcrfÄui Die ÄC/inkheit begann in der Regel mit Schwäche- 

Betracht, und plädirt dafür, die Bezeichnung r^H^j^ÄSfih^^Mrhlaflosigkeit, Verdauungsbeschwerden und 
paralyse fallen zu lassen, die ersteren den alkoholisti- zahlreichen Parästhesien im ganzen Körper. Dann 

sehen Geistesstörungen, die zweiten den luetischen bildete sich die feste Überzeugung aus, ein ganz be- 

Erkrankungen zuzurechnen. Die alkoholistische Pseudo- stimmtes, unheilbares Leiden zu haben, und damit 

paralyse trete meist in späterem Alter auf als die trat sekundär eine gewisse traurige Verstimmung ein. 

Paralyse, die körperlichen Symptome seien zum Theil Im Übrigen lagen allen einzelnen, mannigfachen 

nicht spinalen, sondern neuritischen Ursprungs, die Krankheitsäusserungen stets zw>ei Momente zu Grunde: 

Pupillenstarre fehle fast stets, die intellektuelle Schwäche 1) eine veränderte Selbstempfindung, mochte die- 

sei nicht conform dem paralytischen Blödsinn. Bei selbe nun mehr den körperlichen oder geistigen Anteil 

der luetischen Pseudoparalyse finden sich Symptome, der Persönlichkeit betreffen, und 

die nicht einmal der am ersten als luetisch anzu- 2) eine eigenthümlich wohnhafte, jeder Kritik un- 

sehenden Paralyse, der Taboparalyse, entsprächen, zugängliche, aber logisch konsequente Verarbeitung 

die Patellarreflexe seien oft gesteigert, es beständen jener Sensationen. 

Heerdsymptome wie bei den luetischen Eskrankungen, Die Prognose erwies sich meist infaust trotz ge- 

die sensiblen Störungen treten auffallend stark hervor. legentlicher, weitgehender Remissionen. Doch tritt 

F. will die Bezeichnung Pseudoparalyse einer wie keine Demenz ein. 

scheint nicht grossen Gruppe von Erkrankungen vor- Von der Melancholie unterscheidet sich die Hv- 

behalten, bei denen ein bestimmter ätiologischer Fac- pochondrie durch die sekundäre Entstehung der 

tor nicht besonders hervortritt, w’o die Symptome die traurigen Verstimmung, durch eine geringere Heftig- 

Diagnose Paralyse durchaus rechtfertigen, der weitere keit und durch die Unbeständigkeit der Angst, durch 

Verlauf aber beweist, dass es sich nicht um eine Re- den Mangel einer Hemmung, das Fehlen von Selbst¬ 
mission und überhaupt nicht um eine Paralyse ge- vorwürfen und durch die Möglichkeit der Ablenkung, 

handelt hat. F. erinnert an andere Pseudoerkrank- Eher erinnert die ausgesprochene Wahnbildung an 

ungen dieser Art, multiple Sclerose, gewisse psychische Paranoia. Doch fehlt der Beziehungswahn, das Pro- 

Störungen, auch Infectionskrankheiten u. s. w., er jizieren der Sensationen in die Umgebung und die 

schildert die Schwierigkeiten, mit denen der einzelne erklärende Wahnbildung der Verfolgung oder der 

Beobachter gerade bei Erforschung dieser Form zu Grösse. 

kämpfen hat. Anamnestisch kehrt häufig wieder eigen- Die Hysteriker unterscheiden sich wieder durch 

artige hereditäre Disposition, psychische Eigenthüm- grössere Suggestibilität, stärkeren Wechsel der Symp- 

lichkeiten bei der Ascendenz, beim Kranken selbst tome, Neigung zu bewussten Täuschungen und aus¬ 
sind transitorisch leichte Depressions- oder Erregungs- gesprochene Stigmata auf somatischem Gebiete. Die 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 51 


seltenen Anfälle und Lähmungen der Hypochonder 
werden stets durch bewusste Vorstellungen verursacht. 
Die manchmal ziemlich ähnlichen psychischen Anfälle 
der Katatoniker unterscheiden sich durch ihren auto- 
matenhaften Anstrich. Auch lässt sich dann meist 
bald ein Intelligenzdefekt nachweisen. 

Schwieriger gestaltet sich die Abtrennung von der 
Neurasthenie, weil sich die Hypochondrie sehr häufig 
auf ihrem Boden entwickelt. Indessen darf man 
darum nicht beide Krankheitsformen zusammenwerfen. 
Denn einmal braucht nicht der Hypochondrie die 
Neurasthenie voraufzugehen, während die meisten 
Neurastheniker niemals Hypochonder werden, und 
dann hat überhaupt der charakteristische Zug der 
Hypochondrie, die kritiklose, wahnhafte Verarbeitung 
der Sensationen mit ihrer zwingenden Beeinflussung 
des gesammten Handelns, nichts mit dem Wesen der 
Neurasthenie gemein. Der letztere Zug rückt die 
Hypochondrie unter die Psychosen. 

Zum Schlüsse lassen sich daher folgende Sätze 
aufstellen: 

1. Die Hypochondrie ist eine selbständige, in sich 
abgeschlossene Krankheitsform, die aber mit Vorliebe 
auf dem Boden der Neurasthenie, seltener der Hysterie 
sich entwickelt. 

2. Bei scheinbarem Uebergange einer hypochon¬ 
drischen Psychose in eine andre Irrsinnsform hat es 
sich in der Regel nur um das hypochondrische Vor¬ 
stadium dieser Psychose gehandelt. Die richtige 
Deutung solcher Fälle von Pseudo-Hypochondrie 
stösst nur im Beginn des Leidens und bei.zu kurzer 
Beobachtungsdauer auf Schwierigkeiten. (Autor.efeiat.) 

Vogt (Göttingen) giebt sehr interessante* 
Mithteifungen über Gesichtsfeldeineng- 
ungbei Arter iosklerose des Central verven- 
Systems. Es handelt sich um Fälle, deren Symptom¬ 
bild besonders von Windscheid präcisirt worden ist. 
In der charakteristischen Symptomengruppe: Kopf¬ 
schmerz, Schwindel und Abnahme der geistigen Reg¬ 
samkeit kann das letztere fehlen, es kann neben den 
beiden erstgenannten Erscheinungen eine concentrische 
Verengerung des Gesichtsfeldes vorhanden sein, welche 
der Abnahme der psychischen Leistungfähigkeit vor¬ 
ausgeht. Die Hauptsache ist, dass in solchen Fällen 
ein dauernder Nachweis der Erscheinung möglich ist 
Die Einengung zeigt dann eine Constanz, welche eben 
der messbare Ausdruck für den progredienten Process 
ist. Dass es sich bei dieser Art von Einengung nicht 
um eine vorübergehende functioneile Störung oder 
eine solche der Circulation handelt, geht aus der 
Constanz der Erscheinung in ausgesprochenen Fällen 
hervor. Auf der anderen Seite pflegt bei einer Er¬ 
krankung des Centralnervensystems, welche als eine 
solche arteriosklerotischer Natur anzusprechen ist, die 
Gesichtsfeldeinengung nur nachzuweisen zu sein, wenn 
auch Erscheinungen anderer Art, besonders Kopf¬ 
druck und Schwindel bestehen. Die Gesichtsfeldein¬ 
engung nimmt also bei der arteriosklerotischen Er¬ 
krankung eine Mittelstellung zwischen Reiz- und Aus¬ 
fallserscheinungen ein. Daraus geht auch hervor, dass 
es sich thatsächlieh um eine durch die Arteriosklerose 
bedingte Erscheinung handelt, da den Vortr. auch 

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zahlreiche Untersuchungen an Gesunden mit starker 
Arteriosklerose, sowie an Geisteskranken mit starker 
Arteriosklerose gelehrt haben, dass hier eine Einengung 
constant fehlt, solange nicht auch andere für eine 
Arteriosklerose des Centralnervensystems sprechende 
Erscheinungen vorhanden sind. Bei den untersuchten 
Fällen von Geisteskrankheit nicht organischen Charakters 
hat es sich natürlich um solche Fälle gehandelt, die 
erfahrungsgemäss eine Einengung aus anderer Ursache 
ausschliessen liesen. In den untersuchten Fällen von 
Arteriosklerose des Centralnervensystems fand sich 
fast stets eine starke Sklerose der Temporalarterie, 
eine solche der Radialarterie wurde wiederholt vermisst. 
Auch die Gefässe des Augenhintergrundes waren 
keineswegs stets deutlich arteriosklerotisch. Einerseits 
handelte es sich überhaupt um Anfangsstadien des 
Processes, andererseits kann offenbar auch bei intacten 
Retina-Arterien eine Arteriosklerose des Gehirns aus¬ 
geprägt sein. Fortgeschrittene Fälle zeigten fast stets 
die Einengung, einige Hessen sie aber überhaupt völlig 
vermissen. Es soll der Wert der Gesichtsfeldunter¬ 
suchung nicht überschätzt werden, doch stellt diese 
bei vorsichtiger und kritischer Prüfung jedenfalls ein 
feines Reagens auf den nervösen Status überhaupt 
dar, und verdient daher die Thatsache der amcen¬ 
trischen Einengung bei Arteriosklerose des Central- 
nervensyste.ms als ein kleiner Beitrag zur genaueren 
Umschreibung des z. Zt. mit vielem Interesse studirten 
Symptomenbildes der Arteriosklerose des Gehirns Be¬ 
achtung. (Autoreferat.) 

; (Fortsetxung folgt.) 

.</; ' 

Referate. 

— Rivista sperimentale di Freniatria. Vol. XXVII. 
(Fase. I und II), Organ der italienischen Gesellschaft 
für Psychiatrie (Societa Freniatrica Italiana), unter 
Direction der Professoren Tamburini, Golgi, Morselli, 
Tamassia, Tanzi, redigirt von Dr. G. C. Ferrari. 

Reggio Emilia. 1901. Verlag Stefano Calderini 
& Sohn. Grossoctav 660 Seiten, 14 Tafeln. 

Ein kurzer, aber tiefempfundener Nekrolog über 
den verstorbenen Professor Giulio Bizzozero, aus 
der Feder Prof. Tamburinis bildet die Einleitung zum 
ersten Hefte (Fase. I, 339 Seiten). Aus demselben 
entnehmen wir, dass durch den frühen Tod dieses 
Gelehrten (55 Jahre alt) die italienische Wissenschaft 
einen schweren Verlust erlitten hat. Er w f ar es, der 
der Pathologie in Italien die experimentelle Richtung 
gab und der durch verschiedene, wissenschaftliche Ar¬ 
beiten von bleibendem Werthe sich und seinem Vater¬ 
lande eine ehrenvolle Stellung bei der Erforschung 
medicinischer Thatsachen erwarb. Bizzozero wurde 
im Jahre 1846 in Varese geboren, absolvirte seine 
Studien in Pavia, wo er schon im Alter von 21 Jahren 
an Stelle Mantegazzas zum Professor der Pathologie 
ernannt wurde. Fünf Jahre später kam er in gleicher 
Eigenschaft nach Turin, wo er seine experimentell¬ 
pathologische Schule begründete. Seine bekanntesten 
Entdeckungen auf medicinischem Gebiete sind „die 
blutbildende Function des Knochenmarks“ und 
„die Blutplättchen.“ Als besonders hervorragende 
Forschereigenschaften werden ihm na< hgerülunt: „die 

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52 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 


zähe Ausdauer im Forschen,“ „die strenge Vorsicht 
in der Schlussfolgerung,“ „die Unabhängigkeit von 
irgendwelcher Autorität ausserhalb der gut studierten 
und demonstrirten Thatsaehen.“ Als Lehrer zeichnete 
er sich durch Klarheit und Praeeision seiner Aus¬ 
führungen, durch seine Wahrheitsliebe und seinen 
Mangel an Vorurtheilen aus. Gegen den Schluss 
seines Lebens hatte er sic h social-hygienischen Fragen 
zugewandt, worin er ebenfalls als Autorität galt. 

Dem Andenken des Psychiaters und Politikers 
Silvio Venturi ist ein anderer Nekrolog aus der 
Feder Tomini's gewidmet. Mit einer Wärme und 
Lebhaftigkeit des Ausdrucks, wie er der italienischen 
Sprache in hohem Masse zukommt, wird der Be¬ 
gründer der Zeitschrift „Manicomio,“ der langjährige 
Director der Irrenanstalt Girifalco in Calabrien als 
etwas rauher und oft verkannter, aber unabhängiger, 
hoc hgesinnter, rastlos thätiger und unantastbarer Mann 
gepriesen und seine anfänglich sehr Wechsel vollen 
Lebcnssehicksalc beschrieben. Unter seinen Werken 
werden besonders: „Die psychosexuellen Entartungen 
im Leben der Individuen und in der Geschichte der 
Gesellschaft (Le degenerazioni psico-sessuali nella vita 
dcgli individui e nella storia della societa)“ und „die 
Psychosen des socialen Menschen (Le pazzie delb uomo 
soc iale)“ hervorgehoben. In letzterem bespricht Ven¬ 
turi im Hinblick auf die Ausbreitung des Anarchismus 
in den letzten Jahren das anarchistische Verbrechen 
als historische oder sociale Thatsache an sich. Er 
hält es für irrelevant zu constatiren, ob der 
Urheber desselben gesund oder geistes¬ 
krank sei, sobald die Entstehungsbe¬ 
dingungen für ein solches Verbrechen im 
Milieu derart seien, dass dasselbe auch 
durch die Initiative eines Gesunden zu 
S t a n d c k o m men k ü n 111 e. Die anarchistische 
Lehre ist für Venturi entweder eine krankhafte Idee 
(idea pazza), die auch Gesunde ergreifen kann, oder 
die Rechtfertigung einer verbrecherischen Neigung. 
Das Buch erschien erst nach dem Tode des Ver¬ 
fassers. 

Dem am 5. März 1901 im Alter von 50 Jahren 
verstorbenen Director der Provinzialirrenanstalt Como 
Dr. A go st i n o B ru 11 a t i, der sich speciell mit der 
„Aetiologie des Cretinismus“ beschäftigt hat, 
wird ebenfalls ein kurzer Nachruf gewidmet. 

Unter den Notizen finden wir einen Gesetz¬ 
entwurf über die Prophylaxe der Pellagra 
erwähnt, der vom Ministerium dem Consiglio Superi- 
ore di Sanita vorgelegt und von diesem auf ein Re¬ 
ferat Tamburini's hin mit einigen Abänderungen an¬ 
genommen wurde. Nac h diesem Gesetzentwurf ist es 
verboten unreifen, schimmeligen oder anderweitig ge¬ 
sundheitsschädlichen Mais oder daraus hergestelltes 
Mehl, Brot oder Gebäck zur Ernährung des Menschen 
zu verkaufen. Ferner ist die Einfuhr solchen Maises, 
ausser zu industriellen Zwecken und mit Genehmigung 
und unter Controlle des Praefcctcn verboten. In den 
infieierten Gemeinden sind die Trocknereien, Bäc ke¬ 
reien des Maises u. s. w. unter amtliche Aufsicht ge¬ 
stellt und die betreff. Gemeinden müssen einen Dörr¬ 


apparat zur öffentlichen, unentgeltlichen Benutzung 
herstcllen und betreiben. Von Seiten der Aerzte be¬ 
steht obligatorische'Anzeigepflicht für jeden Fall von 
Pellagra. Die curative Ernährung von pellagrösen 
Armen in Heilanstalten, oeconomischen Küchen oder 
in Ausnahmsfällen durch Vertheilung von Nahrungs¬ 
mittel in d Wohnungen ist obligatorisch. Zu den 
bezüglichen Kosten wird ausser durch private Wohl- 
thätigkeit und durch Zuschüsse aus öffentlichen Kassen, 
die Provinzial Verwaltung in einem jährlich durch 
königliches Dekret festgestellten Masse beitragen. Für 
die Unterhaltungskosten armer Kranker, die in Kranken¬ 
häusern behandelt werden müssen, sorgen Provinz 
und Gemeinde zu gleichen Theilen. Im Budget des 
Ministeriums des Innern wird eine jährliche Summe 
(100000 Frs.) für Beiträge gegen die Pellagra festge¬ 
setzt. Auch werden den Gutsbesitzern, welche die 
Pellagra aus ihren Besitzungen haben verschwinden 
lassen, Prämien ertheilt. Der Finanzminister wird 
autorisirt, den pellagrösen Annen und ihren Familien 
das zur Ernährung nothwendige Salz gratis vertheilen 
zu lassen. Den Präfecten wird, nach Vernehmlassung 
des Sanitätsrathes der Provinz und des „Comizio 
Agrario,“ das Recht gegeben, an mit Pellagra inficirten 
Orten die Bebauung der ersten Maisernte, des „qua- 
rantino und cinquantino“ (40—50 Tage reifwerdender 
Mais) zu untersagen oder einzuschränken , wo die 
klimatischen Bedingungen das vollständige Reifwerden 
nicht erlauben. Um die Ausführung der Gesetze zu 
sichern, werden Strafbestimmungen aufgestellt werden. 
— Die Redaction des Riv. sper. spricht den Wunsch 
aus, dass dieser wichtige Gesetzentwurf bald zur 
Ausführung komme, da durch seine Anwendung „die 
schreckliche Plage der Pellagra erfolgreich* bekämpft 
und besiegt werden kann.“ 

Uebcr das „I rr engeset z“ wurde ebenfalls im 
Ober-Sänitätsrath (Consiglio Superiorc di Sanita) ver¬ 
handelt und folgende Tagesordnung dem Ministerium 
des Innern vorzulegen beschlossen: 

„Der Ober - Sanitätsrath, in Erkenntniss der 
dringenden Nothwendigkeit gesetzgeberischer Grund¬ 
lagen für die wichtige Angelegenheit der Irrenhäuser 
und der Irren, die früher ausgesprochenen Wünsche 
betreffs Schaffung eines Irrengesetzes (Legge sui Manio- 
conii) wieder in Erinnerung rufend, spricht den Wunsch 
aus, dass seine Exeellenz der Minister des Innern den 
Gesetzentwurf über die Irrenanstalten wieder prüfe, 
um ihn beförderlichst den gesetzgeberischen Körper¬ 
schaften zur Annahme vorzulegen.“ — Daraus ersieht 
man, dass auch in Italien massgebende Kreise die Schaff¬ 
ung eines Irrengesetzes als dringend nöthig erachten. 

Notizen über den Psyehiater-Congrcss in Ancona 
(2g. Sept. bis Oct.), den internationalen Kriminal- 
Anthrop«»logencongress in Amsterdam (9. bis 14. Sept.) 
und den internationalen Physiologencongress in Turin 
(17. bis 24. Sept.) haben keine aktuelle Bedeutung mehr, 
da die betreffenden Organe zur Zeit des Druckes des 
II. Heftes noch nicht stattgefunden hatte, wohl aber 
als die Riv. sp. in die Hände des Ref. gelangte. 

(Fortsetzung folgt). 


Für den rcdactionelkn Tlicil \ er.uitwoi tlu h : Olwrarzt Dr. J . Bri-Dcr Kraschnitz, (Sch.csien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

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Nr. 5. 3. Mai 1902. 

Die ,.Ps y c h i a t r 1 sc h - Neu r ol o p i sch e Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

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Zuschriften für die Redaciion sind an Oberar/t Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten 

Inhalt. Originale: Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten. Von H. Schlöss (S. 53). —Bromipin. Von Dr. Baucke, 
Bonn a. Rh. (S. 56). — Mittheilungen (S. 61). — Referate (S. 62). 


Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten. 

Von //. Schloss. 


TT crr Hoppe (Königsberg) hat sich veranlasst gc- 
-*■ sehen, in Nr. 52 dieses Blattes (v. 22. März 
1902), einzelne Ansichten, die in meinem auf der 
Wandcrversammlung des Vereins für Psychiatrie und 
Neurologie in Wien zum Vortrag gebrachten Referat 
über „die Alkoholabstinenz in öffentlichen Irrenan¬ 
stalten“ (siehe diese Wochenschrift Nr. 34, vom 16. 
November 1901) enthalten waren, einer Berichtigung 
zu unterziehen. Diese Berichtigung veranlasst mich, 
zu dem Thema „Alkoholabstinenz in Irrenanstalten“ 
nochmals das Wort zu ergreifen. 

Ich stimme vollkommen mit Hoppe überein, wenn 
er eine Verquickung der therapeutischen Anwendung 
des Alkohols mit der Frage der Zulässigkeit desselben 
als Genussmittel verurtheilt, und ich staune, dass er 
mich einer solchen Verquickung beschuldigt. Ein 
Blick auf den Wortlaut meines Referates hätte ihn 
darüber belehren müssen, dass ich den Alkohol 
erstens als therapeutisches Mittel und zweite n s 
als Genussmittel besprochen habe, dass also nicht 


eine Verquickung, sondern eine stramme Sonderung 
der beiden Gebrauchsarten des Alkohols in meinem 
Referate stattgefunden hat. 

Sehr leid muss es mir thun, dass Herr Hoppe 
sich der Widerlegung meiner über die therapeutische 
Anwendung des Alkohols geäusserten Ansichten ent¬ 
zogen hat, denn sicherlich steht der reiche Schatz 
seines psychiatrischen Wissens doch wenigstens auf 
der Stufe seiner Lust zu kritisiren, und ich hätte eine 
Belehrung über dieses schwierige Thema mit grosser 
Dankbarkeit quittirt. 

Nur in einem Punkte tritt Hoppe aus seiner 
Verschlossenheit hervor: Er findet, was ich von den 
nährenden Eigenschaften des Alkohols sagte, so her¬ 
ausfordernd, dass er es nicht unwidersprochen lassen 
könne. Ich habe in der Discussion über mein Referat 
ganz offen und der Wahrheit entsprechend einge¬ 
standen, dass ich meine Ansicht über die nährende 
Eigenschaft des Alkohols nicht aus eigenen experi¬ 
mentellen Untersuchungen, sondern gestützt auf die 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5 - 


Arbeiten verschiedener Forscher gefasst habe, und 
ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich behaupte, 
dass sich Herr Hoppe in dieser Frage ganz in der¬ 
selben Lage befindet, wie ich. Ich bin, gestützt auf 
diese Autoren, zu der Ansicht gekommen, dass der 
Alkohol die Ernährung unterstütze, Herr Hoppe ist, 
gestützt auf andere Autoren, zu der entgegengesetzten 
Anschauung gekommen. Ob aber diese oder meine 
Gewährsmänner Recht haben, ob Herr Hoppe das 
Richtige trifft, wenn er jenen folgt, die den Nähr¬ 
werth des Alkohols leugnen, oder ob ich gut daran 
gethan habe, wenn ich ihn behaupte, das muss erst 
die Zukunft lehren. 

Wenn aber Herr Hoppe meint, Neumann und 
Rosemann würden sich gegen die Nutzanwendung, 
die ich aus ihren Arbeiten gezogen habe, entschieden 
sträuben, so glaube ich doch, dass Herr Hoppe — 
vielleicht etwas ängstlichen Gemüthes — in seinen 
Befürchtungen zu weit geht. Ich stimme ja doch, 
und wer mein Referat aufmerksam gelesen hat, 
wird dies zugeben müssen, mit Neumann völlig über¬ 
ein, wenn er die Verwendung des Alkohols mit Rück¬ 
sicht auf dessen Giftigkeit eingeschränkt wissen will. 
Sehr verwahren muss ich mich dagegen, dass Hoppe 
mir zumuthet, den Alkohol als Nahrungsmittel em¬ 
pfohlen zu haben. Ich habe nur gesagt: „Der Alko¬ 
hol unterstützt mithin in eminenter Weise die 
Ernährung, denn er spart, wenn genügend Nah¬ 
rung gegeben wird, Fett und Eiwciss“. Der 
Alkohol ist also nach meiner Meinung wohl ein Nähr- 
mitttel, das heisst eine die Ernährung unterstützende 
Substanz, aber kein Nahrungsmittel, da er allein den 
Körper nicht ernährt. Sollte dieses Missverständniss 
etwa darin seine Aufklärung finden, dass Herrn Hoppe 
im Gegensatz zu seinem sonstigen umfassenden Wissen 
der Begriff „Nahrungsmittel“ nicht geläufig ist ? 

Herr Hoppe kritisirt auch meine Behauptung, 
dass ich bei Epileptikern einen schädlichen Einfluss 
mässigen Alkoholgenusses auf deren Krankheitsver¬ 
lauf nicht bemerkt habe. Er citirt diesbezüglich 
Kraepelin, welcher behauptet, dass jeder Epileptiker 
in höherem oder geringerem Grade intolerant gegen 
Alkohol sei und schliesst daran die Bemerkung: 

„Ich glaube, dass man dies vollständig unter¬ 
schreiben kann“. (!) Ich habe in meinem auf der 
gleichen Wanderversammlung des Vereines für Psv- 
chiatrie und Neurologie in Wien gehaltenen Vortrag t 
„Ueber den Einfluss der Nahrung auf den Verlauf 
der Epilepsie“ (siehe Wiener klinische Wochenschrift 
Nr. 46, iqcu) über meine diesbezüglichen Versuche 
berichtet. Zwölf epileptische Kranke (fünf Frauen 
und sieben Männer, sämmtlich Fälle von idiopathi¬ 


scher Epilepsie), die*bisher abstinent gehalten worden 
waren, erhielten Alkohol in Form eines leichten 
Bieres, und zwar erhielten die Kranken zuerst durch 
zwei Monate hindurch abends je 1 / 2 1 Bier, dann 
durch sechs Wochen je 1 1 Bier, und zwar mittags 
und abends getheilt Wie die auf das gewissen¬ 
hafteste vor und während des Versuches geführten 
Anfallstabellen zeigten, blieb dieser Alkoholgcnuss 
ganz ohne Einfluss auf die Zahl der Anfälle, ja es 
war sogar während der Zeit des Alkoholgenusses eine 
mässige Verminderung der Zahl der Anfälle bemerk¬ 
bar gewesen. Auch das psychische Verhalten der 
Kranken hatte während der Zeit des Alkoholgenusses 
keine Aenderung erfahren. 

Herr Hoppe, der die Einseitigkeit meiner Citate 
tadelt und behauptet, ich citire nur Autoren, die 
meine vorgefasste Meinung zu bestätigen scheinen, 
citirt nur Kraepelin. Warum nicht auch Jolly und 
Bratz ? 

Jollv (siehe: Emährungstherapic bei Nervenkrank¬ 
heiten, von Dr. E. Jolly. Handbuch der Emährungs- 
therapie und Diätetik, herausgegeben von L. v. Leyden, 
Band III, erste Abtheilung, Leipzig 1898) sagt 1 . c. 
pag. 159: „— Keineswegs lässt sich aber die Forde¬ 
rung rechtfertigen, dass allen, die einmal an Epi¬ 
lepsie gelitten haben oder die habituell daran leiden, 
der Alkohol dauernd zu verbieten sei“. Und auf 
derselben Seite: „Bei einer ganzen Anzahl dieser 
(sc. epileptischen) Kranken, die vcrhältnissmässig sel¬ 
tene Anfälle haben und durch dieselben wenig in 
ihrem Befinden und in ihrer Leistungsfähigkeit gestört 
werden, zeigt die Erfahrung, dass massiger Alkohol¬ 
genuss ganz ohne Einfluss auf die Krankheit bleibt 
und ihnen daher ebenso gut wie Gesunden gestattet 
werden kann“. 

Ich citire ferner Bratz (Veröffentlichungen über 
Epilepsie und Epileptikerfürsorgc. Sammelbericht mit 
einigen Bemerkungen von Dr. Bratz, Wuhlgarten, 
Berlin. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 
Band IX, Heft 2, Februar 1901). Dieser äussert 
sich 1 . c. pag. 149 folgendermaassen: „Der Bericht¬ 
erstatter (nämlich Bratz) hat bei 200 geordnet leben¬ 
den Epileptikern der Anstalt Wuhlgarten, welche 
täglich eine Flasche Bier erhielten, die Gesammtzahl 
der Anfälle innerhalb neun Monaten zusammenge- 
rcchnet, er hat dasselbe Exempel an denselben Per¬ 
sonen dann die neun Monate nach Einführung der 
Abstinenz wiederum angestellt und durchaus keine 
Verminderung, sondern eine geringe Vennehrung 
constatirt, welch’ letztere sich wohl zwanglos durch 
die vennehrte Schulung des Wartepersonals in der 
Beobachtung der Anfälle erklärt. Bezüglich der Un- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Schädlichkeit geringer Biergaben für die meisten Epi- 
le[>tiker kann der Berichterstatter sich daher dem 
JollvVhen Urtheile nur anschliessen“. 

Herr Hoppe bemerke dass „solche“ Erfahrungen 
— er bezieht sich dabei auf Kraepelin’s Acusscrung, 
dass jeder Epileptiker in höherem oder geringerem 
Grade intolerant gegen Alkohol und dazu disponirt 
sei, durch denselben in schwerere geistige Störung 
zu verfallen, sich selbst und Anderen in höherem 
Grade gefährlich zu werden — auch in den deutschen 
ärztlich geleiteten Epileptikcranstalten (Wuhlgarten, 
Uditspringe) dazu geführt haben, den Alkohol als Gc- 
nussmittel zu verbannen und zwar mit dem besten 
Erfolge. Zunächst Wuhlgarten. Ich habe in Wuhl¬ 
garten mit Director Hebold über diese Sache ge¬ 
sprochen. Was Hebold mir damals sagte, stimmt 
genau mit dem überein, was sein Assistent Bratz in 
obigem Referat an die obcitirte Stelle anschlicsst. Ich 
führe* daher Bratz wörtlich an : „Die Einführung völli¬ 
ger Enthaltsamkeit von geistigen Getränken in grossen 
Anstalten erscheint trotzdem sehr wünschcnswerth, 
aber aus wesentlich anderen als den hier berührten 
Gründen. Das Krankenmaterial der genannten An¬ 
stalt (Wuhlgarten) umfasst zu einem grossen Theil 
Alkoholepileptiker und dem Trünke stark ergebene 
Frühepileptiker. So lange nun Bier überhaupt in der 
Anstalt und auf den Abtheilungen sich befand, waren 
Durchstechereien und damit Alkoholexcesse, patho¬ 
logische Rauschzustände, ferner der Durst nach mehr 
und Ausflüge in die benachbarten Dorfkneipen an 
der Tagesordnung. Alle diese Missstände haben eine 
wesentliche Minderung erfahren, seit durch Hebold 
die Abstinenz für Kranke und Wartcpersonal der 
Anstalt eingeführt ist“. So viel über Wuhlgarten. 
Und Uditspringe ? Wenn ich der mir unvergesslichen 
feuchtfröhlichen Stunden gedenke, die ich während 
meines Uchtspringer Aufenthaltes im Kreise der 
dortigen unvergleichlich liebenswürdigen Collcgen ver¬ 
lebt habe, so muss ich wohl zu der Ansicht kommen, 
dass diese und mit ihnen ihr rühriger Chef, Herr 
Director Alt, davon noch recht weit entfernt sind, 
überzeugungstreue Anhänger der absoluten Alkohol¬ 
abstinenz zu sein, und wenn Alt die Abstinenz für 
die Pfleglinge und Pflegepersonen seiner Anstalt obli¬ 
gatorisch gemacht hat, so haben ihn sicherlich — 
wie Hebold — Erwägungen administrativer Natur 
dazu geführt, nicht aller „solche“ Erfahrungen, wie 
sie Kraepelin gemacht haben Soll. Und wenn Hoppe 
glaubt, das was Kraepelin oben sagt, vollständig 
unterschreiben zu können, so will ich ihm nur den 
collegialischen Rath geben, mit seiner Unterschrift 
künftighin etwas vorsichtiger umzugehen. 

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Meine Ansicht, man müsse, da eine allgemeine 
Bezeichnung jener Fälle, in welchen ein geringes 
Alkoholquantum gegeben werden könne, nicht mög¬ 
lich sei, individualisiren, hat keine Gnade in den Augen 
Hoppe’s gefunden. Er meint: „Ja warum denn in 
aller Welt?“ Weil ich meinen Pfleglingen gegenüber 
an dem Princip der freien Behandlung festhalte, das 
heisst, ich schränke grundsätzlich die Freiheit der mir 
anvertrauten Kranken nicht mehr ein, als es deren 
Zustand unbedingt erfordert. Wenn nun ein Pfleg¬ 
ling der Anstalt, der von früherher an ein beschei¬ 
denes Alkoholquantum gewöhnt war, dieses in der 
Anstalt gleichfalls verlangt, tritt an mich die Frage 
heran, ob dieses bescheidene Alkoholquantum bei 
dem vorhandenen psychischen und somatischen Zu¬ 
stand des Kranken diesem schaden kann oder nicht. 
Ist ersteres der Fall, dann gebietet es mir meine 
ärztliche Pflicht, dem Kranken jeden, auch den be¬ 
scheidensten Alkoholgenuss zu versagen. 

Ist aber letzteres der Fall, dann will ich nicht 
aus blosser Principienreiterci dem Patienten, der ja 
ohnedies der Freiheit beraubt, herausgerissen aus 
seiner Familie, aus seinen gewohnten Verhältnissen, 
in dem Gefühle des Verlustes alles dessen, was ihm 
gewohnt und lieb und theuer war, sich unglücklich 
fühlt, einen so bescheidenen, im speciellen Falle un¬ 
schädlichen Genuss versagen und ich glaube, jeder 
Antsaltsarzt muss mir recht geben, dem nicht ein 
blinder Fanatismus in der Abstinenzfrage Herz und 
Hirn geschädigt hat oder dem — wie dies leider 
auch vorkommt — eine kritiklose Nachäffung der in 
einzelnen Anstalten eingeführten Abstinenz das ein¬ 
zige Motiv der gleichen Einführung in der von ihm 
geleiteten Anstalt ist. Die Naivetät zu glauben, dass 
auch schon ein mässiger Alkoholgenuss, wie Hoppe 
sagt, auf das Centralnervensystem des gesunden und 
kräftigen Mensc hen einen deutlich schädigenden Ein¬ 
fluss besitzt, der „aller Wahrscheinlichkeit nach“ bei 
einem kranken Gehirn mit seiner gesteigerten Erreg¬ 
barkeit und den vielfac h gestörten Circulationsverhält- 
nissen noc h viel stärker ist, besitze ich nicht,* und ich 
behaupte daher nach wie vor, dass ich im Laufe 
meiner vieljährigen psychiatrisc hen Praxis thatsächlich 
manchen Kranken gesehen habe und noch sehe, dem 
ein mässiger Alkoholgenuss nichts geschadet hat. 
Dafür den Beweis zu erbringen ist wirklich nicht 
schwer. 

Nun komme ich noch zu jenem Punkte meines 
Referates, den Hoppe als die Quintessenz desselben 
bezeichnet. Bei der Widerlegung dieser Quintessenz 
ist Herrn Hoppe ein kleiner Lapsus passirt. Er, der 

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5^ 


in seiner ganzen, zum grössten Theile meiner Wenig¬ 
keit gewidmeten Arbeit für die obligatorische Alkohol¬ 
abstinenz in Irrenanstalten eintritt, der so überzeugt 
davon thut, dass selbst massiger Alkokolgenuss jedem 
Menschen überhaupt, umsomehr dem Geisteskranken 
schadet, der es als eine Pflicht des Arztes bezeich¬ 
net, allen Geisteskranken den Genuss des Alkohols 
zu entziehen, findet auf einmal, dass unter den männ¬ 
lichen Geisteskranken durchschnittlich 56°/^ „unter 
allen Umständen“ der Alkohol versagt werden muss. 

Hoppe giebt also wohl selbst in einem Anfall 
von Aufrichtigkeit zu, dass er 44 °/ 0 männlicher 
Geisteskranker gezählt hat, denen der Alkohol nicht 
„unter allen Umständen“ entzogen werden muss. Er 
„glaubt“ aber — man möchte seinen Augen kaum 
trauen — dass in anderen Anstalten die Zahl jener, 
denen der Alkohol „unter allen Umständen“ ent¬ 
zogen werden muss, kaum unter 30°/ ft heruntergehen 
wird. Dort wären also sogar 70 °/ 0 , denen der Alko¬ 
hol nicht „unter allen Umständen“ entzogen werden 
muss! Aber selbst dort, wo 20° 0 oder selbst nur 
10°/ 0 jener Kranken vorhanden sind, denen der 
Alkohol „unter allen Umständen“ entzogen werden 
muss, fordert Hoppe die Alkoholabstinenz für alle 
Pfleglinge. Hoppe macht es mir leicht, die Quint¬ 
essenz meines Referates zu vertheidigen, indem er 
schreibt: „Schloss wird vielleicht sagen, dieser 10% 
kann ich doch den übrigen 90% gegenüber nicht 
so hart sein, ihnen den gewohnten Alkoholgenuss zu 


[Nr. 5. 


entziehen“. Hoppe hat mich mit grossem Scharfsinn 
durchschaut, denn dies sage ich wirklich. 

Und nun zum Schluss: Meine Ansichten über die 
Alkoholabstinenz in Irrenanstalten habe ich in meinem 
Referat niedergelegt und halte fest daran, denn sie 
entsprechen meiner Ueberzeugung. Die NothWendig¬ 
keit der Einführung der Alkoholabstinenz in einer 
Irrenanstalt hängt von localen Verhältnissen ab. Nur 
nebenbei will ich bemerken, dass mich die Besorgniss 
selbst abstiniren zu müssen in meinen Ansichten über 
die Einführung der Alkoholabstinenz nicht beeinflusst, 
denn ich war immer ein Gegner der Unmässigkeit 
und würde durch die Abstinenz nur zu geringer Ent¬ 
behrung verhalten sein. Dass ein mässiger Alkohol¬ 
genuss selbst dem gesunden und kräftigen Menschen, 
umsomehr jedem Geisteskranken schade, widerspricht 
meiner Erfahrung. Jenen Kranken, denen ein mässiger 
Alkoholgenuss — denn es kann hier nur immer von 
einem solchen die Rede sein — in psychischer oder 
somatischer Beziehung nur möglicherweise schaden 
könnte, versage ich denselben. Den anderen gestatte 
ich ihn dann, wenn sie darum bitten. Einen Nach¬ 
theil für diese habe ich nie beobachtet. Bis jetzt ist 
es mir in der seit mehr als fünf Jahren meiner Lei¬ 
tung unterstehenden Anstalt (Ybbs) noch immer ge¬ 
lungen, jene meiner Patienten, denen die Alkohol¬ 
abstinenz auferlegt wurde, auch wirklich dazu zu ver¬ 
halten. Würde mir dies nicht möglich gewesen sein, 
so hätte ich die Abstinenz allgemein eingeführt. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bromipin. 

Von Dr. Bauche , Bonn a. Rh. 


T 3 romipin ist eine chemische Verbindung des Broms 
mit dem durch seine leichte Verdaulichkeit be¬ 
kanntem Sesamöl, in der sich Brom an die Fettsäure 
des Oeles additionell angelagert hat. Die Verbindung 
ist haltbar und erinnert bezüglich ihres Geruches und 
Geschmackes in keiner Weise an Brom. Sie kommt 
in zwei Formen in den Handel, als 1 oprozentiges 
und als 33 1 / 8 prozentiges Bromipin. Ersteres stellt 
eine hellgelbe, leicht dicke, ölige Flüssigkeit dar von 
1,008 spec. Gew. bei 20° C. Das hochprozentige 
Präparat ist ein zähes, dickes Oel von hellbrauner 
Farbe, von einem spec. Gew. von 1,311 bei 20° C. 


Wegen seiner Konsistenz lässt es sich nicht gut ein¬ 
nehmen, man verordnet es daher in Kapseln a 2 gr 
oder applicirt es per Rectum. 

Nach Winternitz wird das Bromipin zum 
weitaus grösserem Theile in den Muskeln, der Leber, 
dem Knochenmark und in dem Unterhautzellgewebe 
abgelagert. Der therapeutische Effect des Bromipins 
beruht zum grossen Theil darauf, dass ein sehr er¬ 
heblicher Prozentsatz des in ihm enthaltenen Broms 
mit abgelagert und erst an der Ablagerungsstätte durch 
Oxydation sowie durch Einwirkung des alkalischen 
Blutes und der alkalischen Gew'ebssäfte nach und 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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nach abgespalten wird. Die Abspaltung geht sehr 
successiv vor sich — Brom lässt sich weit länger im 
Ham nachweisen’, als bei der Zufuhr von Brom¬ 
alkalien — es kann sich in Folge dessen ein die the¬ 
rapeutische Wirksamkeit des Broms bedingendes grösseres 
Bromdepot im Körper ansammeln. In noch höherem 
Maasse als bei den Bromsalzen wird man demnach 
hier zu erwarten haben, dass die Wirkung auf das 
Centralnervensystem erst nach einer gewissen Zeit sich 
voll entfaltet. 

Ein weiterer Vorzug, den das Bromipin vor den 
Bromsalzen hat, besteht darin, dass es den Verdauungs- 
tractus selbst bei lange fortgesetztem Gebrauch nicht 
belästigt Das Bromfett wird vom Magen nicht re- 
sorbirt, die event unter Einwirkung des Darmsaftes 
abgespaltene Bromalkalimenge ist so minimal, dass 
eine Alteration des Darms durch Salzwirkung nicht 
anzunehmen ist. 

Von allen Autoren wird übereinstimmend hervor¬ 
gehoben, dass bei Darreichung von Bromipin die hart¬ 
näckigen Erscheinungen von seiten der Haut in Ge¬ 
stalt von Akneknoten und Pusteln, wie sie in Folge 
von längerem Gebrauch der Bromide auftreten, fasst 
gänzlich fehlen. Nur in ganz vereinzelten Fällen hat 
sich eine geringe, gutartige Akne gezeigt. 

Von Fere wurde eine Erschlaffung und Lähmung 
der Darmmuskulatur — bedingt durch eine dauernde 
Zufuhr von Bromsalzen —, die eine Resorption gif¬ 
tiger Stoffe begünstigt, für die Akne verantwortlich 
gemacht. Da nun durch Bromipin kein Reiz auf den 
Darm ausgeübt wird, vermag auch bei dessen An¬ 
wendung keine Akne aufzutreten. 

Bromipin wird vorzugsweise bei der Behandlung 
der Epilepsie angewendet; die Zahl der klinischen 
Mittheilungen über die therapeutische Wirkung des¬ 
selben ist bereits eine ganz beträchtliche. Leider ist 
die diesen Veröffentlichungen zu Grunde liegende 
Casuistik häufig nicht eben zahlreich. Wulff be¬ 
richtet über einen Fall von Epilepsie, bei dem Brom¬ 
kalium und Bromnatrium in mässiger Dosis nicht ver¬ 
tragen wurde, da sie den Appetit verminderten, Ab- 
geschlagenheit, Müdigkeit und Apathie im Gefolge 
hatten und Akne in ausserordentlicher Weise zu Tage 
treten Hessen. Auch andere Verordnungen, spec. Bella¬ 
donna resp. Atropin mussten ausgesetzt werden, da 
sie nicht vertragen wurden. Erlenmeyersches Brom¬ 
salzwasser, das in kleinsten Dosen gut vertragen wird, 
hatte eine heftige, unangenehme Bromakne trotz aller 
dagegen versuchten Maassnahmen im Gefolge, die 
epileptischen Anfälle wurden nur mässig beeinflusst. 
Es wurden io°/ u Bromipin gereicht, anfangs täglich 2mal 
i Theelöffel voll, später, als dies gut vertrageit wurde, 


tägHch 3 mal i Theelöffel voll. Die Anfälle nahmen 
schnell an Häufigkeit und Intensität ab, nach Verlauf 
von 7 Wochen wurde der letzte beobachtet. Die vor¬ 
handene Bromakne verschwand, das Allgemeinbe¬ 
finden, besonders der Appetit hob sich zusehends. 
In einem 2. Fall von Epilepsie bei einem n jährigen 
Kinde, wo andere therapeutische Verordnungen bisher 
nur geringen Erfolg hatten, traten nach längerem Ge¬ 
brauche von Bromipin keine Anfälle mehr auf. F r e u s - 
d[orf theilt einen Fall von traumatischer Epilepsie mit, 
dessen häufige Anfälle mit verschiedenen Bromsalzen 
zw r ar eingeschränkt wurden, wobei aber allmählich 
eine so heftige Bromintoxikation eintrat, dass diese 
Ordination ausgesetzt werden musste. Nach Bromi- 
pinbehandlung verschwanden die Anfälle, das Allge¬ 
meinbefinden war das beste. Leubuscher con- 
statirt, dass Bromipin fast durchweg gern genommen 
wurde, dass unangenehme Nebenwirkungen gänzlich 
fehlten, und dass es selbst in solchen Fällen gut zu 
wirken im Stande ist, wo andere Brompräparate ver¬ 
sagen. Gessler empfiehlt das Bromipin auf Grund 
eines günstig verlaufenden Falles: ein hochgradiger 
Epileptiker, von häufigen Anfällen heimgesucht, seit¬ 
her vergeblich mit Adonis und Bromnatrium behandelt, 
erhielt täglich 3 Esslöffel voll von 10% Bromipin, 
die Anfälle minderten sich sehr und ber Patient blieb 
nachher für längere Zeit anfallsfrei. 

Derartige vereinzelte Fälle, wo Bromipin auf die 
Anfälle und das Allgemeinbefinden besser wirkte als 
die Bromsalze, beweisen jedoch nicht eine grössere 
antiepileptische Valenz des Bromipins. Eis ist ja be¬ 
kannt, dass gerade bei der Epilepsie fast jedes neue 
Mittel, welches gegen diese Krankheit empfohlen wurde 
— und deren giebt es eine ganze Reihe — anfangs 
mit mancherlei Erfolg gekrönt war. Es sei mir ge¬ 
stattet über einen Fall aus der Bonner Heil- und 
Pflegeanstalt zu berichten, an dem dies sehr schön 
zu Tage tritt: Ein 18jähriger Kaufmannslehrling, erb¬ 
lich nicht belastet, Entwicklung normal, bekommt mit 
dem 17. Jahre epileptische Krämpfe. Am 20. V. 

1896 in die Anstalt recipirt, hatte er täglich 1 — 2 
Anfälle. Am 23. V. wird die Flechsig’sche K ur 
eingeleitet, am 27. V. hat er noch 2 Anfälle, wird 
zunehmend benommener. Am 2. VI. keine Anfälle 
mehr. 11. VI. kommt psychisch voran. 20. VI. sehr 
viel freier und besser. Am 23. VI. erster Anfall, am 
24. VI. 4 Anfälle, am 28. VI. Bromkali. Am 5. VII. 
noch 4 epileptische Krämpfe, deren Zahl wird bald 
geringer, am 25. VII. ohne Anfälle, hält sich gut, 
freundliches, offenes Wesen. Am 26. VIII. ein An¬ 
fall, dieselben häufen sich trotz des Gebrauchs von 
Bromkali bis zu 7,0 g p. D., Patient wird zusehends 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5. 


5 * 


dementer. Am 20. I. 1897 erhält er Adon. vem., 
die Anfälle nehmen ab, es geht ihm psychisch eben¬ 
falls besser. Im Oktober wird die Medication von 
Adon. vem. ausgesetzt, Patient ist bis zum Januar 
1898 fast anfallsfrei auch ohne Medikation. Seit 
dieser Zeit werden die epileptischen Krämpfe häufiger, 
er erhält wieder Adon. vem., jedoch mit wenig Er¬ 
folg. Am 10. V. wird ihm Bromalin verabreicht, 
die Anfälle häufen sich noch mehr, Patient wird sehr 
unruhig, geht psychisch sehr zurück. Nach 4 wöchent¬ 
lichem Gebrauch wird Bromalin durch Bromkali 
ersetzt. Die Anfälle vermindern sich, sein geistiger 
Zustand wird ein besserer. Im September erhält 
Patient Broraipin; schon nach 11 tägigem Ge¬ 
brauch desselben ist er längere Zeit anfallsfrei, später 
treten die Krämpfe nur ganz vereinzelt auf, psychisch 
geht es dem Kranken sehr gut, er arbeitet fleissig, so 
dass er im Dezember beurlaubt werden kann. An¬ 
fang Januar zurückgekehrt, häufen sich wiederum die 
Anfälle mehr und mehr, auch psychisch geht er sehr 
zurück, liegt apathisch im Bett. Es wird ihm Brom¬ 
kali ordinirt, die Krämpfe werden allmählich seltener, 
er beschäftigt sich wieder. Patient bittet wiederholt 
um die Arznei, die er vor seiner Beurlaubung erhalten 
habe (gemeint ist Bromipin). Am 19. Juli erhält er 
dieselbe. Die Anfälle mehren sich nach Bromipin, 
Patient geht psychisch immer mehr zurück, liegt ganz 
stuporös im Bett, lässt sich die Fliegen in den Mund 
kriechen, ist unreinlich mit Urin. Am 22. VIII. er¬ 
hält er wiederum Bromkali. Schon am 1. IX. 
treten für längere Zeit keine Anfälle mehr auf, der 
Kranke wird etwas freier, erholt sich allmählich. 
Später treten nur noch vereinzelte Krämpfe auf, psy¬ 
chisch ist er wieder hergestellt. Dieser Zustand hält 
iV 4 Jahr an. Ausgang Januar 1901 treten gehäuft 
Krämpfe auf, am 3. II. bis zu 19 Anfällen, Patient 
erhält Amylenhydrat; am 4. II. ohne Anfall, ganz 
stuporös, reagirt nicht auf Anrede. Am 5. II. Exitus. 
Wir sehen, dass alle ordinirten Mittel — ausgenommen 
Bromalin, das in diesem Falle gar nicht wirkte —- 
anfangs mit Erfolg angewendet wurden, schliesslich 
aber versagten. Mit Bromkalium wurde das meiste 
erreicht. Nach dem ersten Gebrauch des Bromipins 
verringerten sich die Anfälle, Patient w r urde psychisch 
freier, als er es war bei der Application von Brom¬ 
kali. Zum 2. mal angew-endet, trat gerade das Gegen - 
theil ein, die Anfälle häuften sich sehr, der Kranke 
wmrde bedenklich stuporös, erst nach Gebrauch von 
Bromkali wurde er von seinen epileptischen Insulten 
fast gänzlich befreit, bis er schliesslich nach längerer 
Zeit im Status epilepticus zu Grunde ging. 

Zimmermann hat das Bromipin bei 10 Pa¬ 


tienten in Dosen von 3 Theelöffel bis 4 Esslöffel ver¬ 
ordnet. Vor allen Dingen scheint ihm der Vortheil 
des Bromipins in dem Fehlen von Eruptionen von 
Seiten der Haut zu bestehen, sowie in dem Aus¬ 
bleiben von Magen-Katarrhen und Darmaffectionen. 
Nach seinen Angaben, denen sich auch Cr am er 
und Schulze anschliessen, soll es mehr auf die An¬ 
fälle wirken als die gleichwerthige Menge Bromkaliums. 
Letztgenannter Autor berichtet in seiner Dissertation 
über 6 Epileptiker, die er mit Bromipin behandelte. 
Es waren sämmtlich alte Fälle und dabei schwerer 
und schwerster Art. Er stieg allmählich, mit geringen 
Gaben beginnend, auf 20 — 25 gr, bei einem Patienten 
bis 35 gr pro Dosi. Hierauf wurden die Tagesgaben 
wrieder auf 25, 15, 10 gr vermindert Er konnte selbst 
bei Patienten, die seither täglich unter den heftigsten 
Anfällen zn leiden hatten, anfallsfreie Pausen bis zu 
14 Tagen beobachten. Gleichzeitig soll der geistige 
Zustand der Kranken eine wesentliche Besserung er¬ 
fahren haben, die auch nach Herabsetzung der Tages¬ 
dosen von Bestand blieb. Nach Schulze ist Bromi¬ 
pin in entsprechender Menge gegeben nicht nur dem 
Bromkali gleichwerthig an sedativer Kraft, sondern 
es hat sich als wirksamer erwiesen in Fällen, wo die 
Bromsalze versagten. K o t h e hat 6 Fälle von reiner 
genuiner Epilepsie mit Bromipin behandelt. In Fällen, 
in welchen das ölige Präparat per os nicht gern ge¬ 
nommen wird, verordnet er es in Form rectaler In¬ 
ject ion. Zu Anfang injicirt er 15 gr, steigt innerhalb 
6—7 Wochen auf 30 selbst auf 40 gr, jedoch immer nur 
bis zu jener Dosis, die hinreicht, die Convulsionen 
und etwaige Aequivalente zum Verschwinden zu bringen. 
Auf dieser Höhe bleibt er mindestens 2 —3 Wochen 
stehen, um dann in den nächsten 6— 7 Wochen zur 
ursprünglichen Dosis zurückzukehren. Diese Methode 
hat der Autor mindestens ebenso wirksam gefunden, 
als die Medication per os. Darmreizung oder sonstige 
unangenehme Nebenwirkungen werden auch bei dieser 
Darreichung nicht beobachtet. Nach Kothe be¬ 
seitigt Bromipin, in täglichen Gaben von 15—40 gr, 
bei Epileptikern angew r endet, sicher und für längere 
Zeit die Krampfanfälle und w'irkt direct günstig auf 
Psyche und Intelleet ein. Nicht ganz so günstig wie 
Schulze und Kothe spricht sich über die Bromipin- 
wirkung Laudenheimer aus. Seine Erfahrungen 
beziehen sich auf einige 30 Patienten. Um einen 
Maassstab für die antiepileptische Kraft des Mittels 
zu erhalten, substituirte er bei Kranken, die erfahrungs- 
gemäss.durch ein gewisses Tagesquantum Bromnatrium 
von ihren Anfällen befreit wurden, von einem be¬ 
stimmten Zeitpunkt an die dem Bromgehalt nach 
äquivalente Menge Bromipin. Dabei traten nach dem 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


59 


Wechsel in mehreren Fällen, insbesondere wo vor¬ 
her hohe Bromsalzdosen zur Unterdrückung der An¬ 
fälle nöthig gewesen waren, von Neuem Anfälle auf, 
die selbst durch eine überwerthige Bromipindosis 
nicht unterdrückt werden konnten. Umgekehrt da¬ 
gegen kehrten niemals bei einem unter Bromipin an¬ 
fallsfrei gewordenen Patienten die Krämpfe wieder, 
wenn äquivalente Mengen Bromnatrium eingesetzt 
wurden. Sicher sprechen diese Versuchsresultate nicht 
für eine weit grössere Activität des Brommolecüls, 
welche Schulze und andere dem vermittels des Bromi- 
pins in den Körper gelangten Brom vindiciren. Lauden- 
heimer fand ferner, dass die ursprünglich von Winter¬ 
nitz vorgeschlagene Tagesdosis von höchstens 3 Thee- 
löffel voll, in Uebereinstimmung mit Binswanger 
viel zu niedrig gegriffen sei. Bei weniger als 2 Ess¬ 
löffel von io°/ 0 Bromipin pro die sah er überhaupt 
keine deutliche antiepileptische Wirkung; bei schweren 
Fällen stieg er sogar auf 4 Esslöffel. Selbst in diesen 
hohen Gaben wurde Bromipin wochenlang ohne jeg¬ 
liche Nebenwirkung vertragen. Dies bestätigen auch 
Verhoogen, Bodoni und Losio. Laudenheimer 
weist, um auch das noch zu erwähnen, darauf hin, 
dass Bromipin das einzige Brompräparat ist, das auch 
subcutan einverleibt werden kann, was unter Um¬ 
ständen, z. B. bei der Behandlung renitenter geistes¬ 
kranker Epileptiker, von Bedeutung sein kann. Er 
kommt zu dem Resultat, dass das neue Präparat, 
wenn es auch nicht ein den altbewährten Bromsalzen 
überlegenes Antiepileptikum ist, doch für eine Reihe 
leichter und mittelschwercr Epilepsiefälle therapeutisch 
ausreicht. Lorenz schliesslich berichtet über 34 
Fälle von Epilepsie, welche einer Behandlung mit 
Bromipin unterzogen wurden. Von diesen zeigten 
13 eine deutliche, mehr oder weniger beträchtliche 
Verminderung der Zahl der epileptischen Insulte 
während der ganzen Dauer der Behandlung. Eine 
vorübeigehende war bei 3 Patienten im Beginne der 
Medication aufgetreten, eine geringe Vermehrung der 
Anfälle wurde in 1 Falle beobachtet. Bei 17 Kranken 
erfuhr die Zahl der Anfälle gegenüber der früheren 
Behandlung keine Aenderung. In ähnlicher Weise 
wie die Anfälle wurde das Verhalten der Kranken 
im günstigen Sinne beeinflusst. Der Autor hat mit 
Bromipin bessere Erfolge erzielt als mit der Flechsig’- 
schen Opium- und Brombehandlung. 

Dass Bromipin sich ebenfalls wie die übrigen Brom¬ 
präparate bei denjenigen nervösen Zuständen, in denen 
das Brom überhaupt seine Heilkraft entfaltet, bewähren 
würde, war vorauszusehen. Dornblüth reichte 
Bromipin mit Erfolg gegen das nächtliche, nervöse 
Herzklopfen der Neurastheniker, das bereits nach 


mehrmaligen abendlichen Dosen von 1 Theelöffel voll 
des 10% Präparates sistirt wird. Wochenlange Bromi- 
.pingaben bewirkten in verschiedenen Fällen ein an¬ 
haltendes Ausbleiben dieser Erscheinungen. Es leistete 
ihm gute Dienste bei hysterischen Patienten, bei 
Patienten mit neurasthenischen Angst- und nervösen 
Erregungszuständen. Wolff glaubt, dass die Bedeutung 
des Bromipins hauptsächlich auf dem Gebiete der 
Bekämpfung nervöser, insbesondere hysterischer und 
neurasthenischerZustände liegt. Freusdorf ordinirte 
Bromipin mit Erfolg bei verschiedenen Fällen von ner¬ 
vöser Erregbarkeit, F reib erg bei unerträglichem Herz¬ 
klopfen und bei Schwindelanfällen, Bass bei quälenden 
nächtlichen Erectionen der Gonorrhoiker. Wulff ver- 
ordnete das Präparat erfolgreich bei nervöser Schlaflosig¬ 
keit, ferner gelegentlich einer 2 monatlichen Seereise 
auch gegen die Seekrankheit. In 2 Fällen wendete er es 
prophylaktisch an bei Passagieren, die ihm mittheilten, 
dass sie bisher noch bei jeder Seetour erkrankt seien, 
beide erkrankten nicht. Bei bereits ausgebrochener 
Seekrankheit zeigte Bromipin eine entschieden günstige 
Wirkung. Losio erzielte in einem Fall von seither 
erfolglos behandelter Trigeminusneuralgie mit diesem 
Mittel anhaltende Besserung. Man will endlich bei 
Anwendung von Bromipin Besserung gesehen haben 
bei Chorea, Paralysis agitans, Ischialgie und bei cere¬ 
bralen Formen der Neurasthenie. 

Auf Grund seiner unzweifelhaften Vortheile, die 
das Bromipin gegenüber den Bromsalzen dadurch be¬ 
sitzt, dass es keine Störungen des Verdauungstractus 
und keine Hauteruptionen hervorruft, wird man es 
anwenden bei Epilepsie in allen Fällen, in denen die 
leider so oft folgeschweren Erscheinungen des Bromis¬ 
mus weitere Bromsalzmedication verbieten, also bei 
schweren Erscheinungen von Seiten des Magendarm¬ 
kanals und bei hartnäckigen Fällen von Bromakne. 

Bromipin ist ferner zu empfehlen bei leichten, 
mittelschweren und frischen Fällen von Epilepsie, 

zu versuchen in Fällen, bei denen man mit Brom¬ 
salzen keine nennenswerthe Erfolge erzielte. 

Bei nervösen Beschwerden der verschiedensten 
Nervenkrankheiten und der Neurasthenie leistet es 
gleich den andern Brompräparaten ausgezeichnete 
Dienste. 

Von fast säramtlichen Patienten wird das 10% 
Bromipin ohne Widerwillen eingenommen, es erinnert 
bezüglich seines Geschmackes und Geruches in keiner 
Weise an Brom. Um seinen öligen Geschmack zu 
verdecken, versetze man das Präparat mit einer Spur 
01 . Menth, pip., oder reiche es in warmer Milch. 
In Fällen, in denen es aus diesem oder jenem Grunde 
per os nicht gegeben werden kann, empfiehlt sich die 


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6o 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5. 


rectale oder subcutane Injektion. Sollen hohe Dosen 
in Anwendung kommen, so verordne man das 3378 % 
Bromipin in Kapseln oder applicire dasselbe per Rectum. 


Benutzte Litteratur über Bromipin. 

1. Bass, A. Ein Beitrag zur Anwendung des Bromipins, 
Allgem. Wiener Medicinische Zeitung 1900, Nr. 41. 

2. Bodoni. Das Bromipin in der Behandlung der Epilepsie, 
Riv. di pat. nerv, e ment. Fase. IX. 1899. 

3. Cramer. Versuche mit dem Bromipin bei Epileptikern, 
Neurol. Centralblatt 1899, Nr. 11 — und Allgemeine Zeit¬ 
schrift f. Psychiatrie, Band 56. 

4. DornblUth. Ueber Bromipin Merk, Aerztliche Monats¬ 
schrift 1899, Heft 5. 

5. Freiberg. Ueber Bromipin Merk, Medico, 1901, Nr. 44. 

6. Frensdorf. Zwei neue Heilmittel, Bromipin und Jodipin, 
Der practische Arzt 1900, Nr. 5. 

7. Gessler. Zur therapeutischen Wirkung des Bromipins, 
Württemb. Medicinisches Correspondenzblatt 1898, Nr. 46. 

8. Hesse. Ueber Bromipin und seine therapeutische Be¬ 
deutung, Allgem. Medicin. Central-Zeitung 1900, Nr. 21. 

9. Hirsch ko in. Die Therapie der Nervenkrankheiten, Wien 
1900, 

10. Kothe. Zur Behandlung der Epilepsie, Neurol. Central¬ 
blatt 1900, Nr. 6. 


11. Laudenheimer. Ueber einige neuere Arzneimittel und 
Methoden zur Epilepsiebehandlung, Therapie der Gegen¬ 
wart. Juli 1900. 

12. Laudenheimer. Ueber den Chlor- und Bromsalzstoff¬ 
wechsel der Epileptiker, Monatsschrift für Psychiatrie und 
Neurologie 1901, X. 3. 

13. Leubuscher. Beiträge zur Kenntniss und Behandlung 
der Epilepsie, Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 
1899, Bd. V, Heft 5. 

14. Lorenz. Zur Behandlung der Epilepsie mit Bromipin, 
Wiener klinische Wochenschrift 1900, Nr. 44. 

15. Los io. Bromipina e Jodipina, Gazzetta medica, delle 
Marche 1899, 1 und 2. 

16. Schulze. Einige Versuche über die Wirksamkeit des 
Bromipins bei Epilepsie, Inauguraldissertation, Göttingen 
1899. 

17. Verhoogen. Sur le traitement de l’Epilepsie. Journal 
mldical de Bruxelles 1900, Nr. 45. 

18. Wolff. Einige Erfahrungen über Bromipin, Allgemeine 
Medicinische Central-Zeitung 1901, Nr. 35. 

19. Wulff. Die Wirkung des Bromipins, zugleich ein Beitrag 
in Bezug auf die Seekrankheit, Aerztliche Monatsschrift, 
1899, Heft 11. 

20. Zimmermann. Ueber die Anwendung eines neuen 
Brompräparates, Bromipin, Allgemeine Zeitschrift für Psy¬ 
chiatrie Band 56, — Neurol. Ceptralblatt 1899, Nr. 11. 


Mittheilungen. 


— Jahresversammlung des Vereins der 
Deutschen Irrenärzte in München, 14. und 

15. IV. 1902. Fortsetzung. Vorträge. 

Vorschläge zur Schaffung einer Centralstelle für 
Gewinnung statistischen Materials über die Be¬ 
ziehungen der Geisteskranken. Referent: Herr Prof. 
Dr. Ho che in Strassburg i. E. (Dieser Vortrag er¬ 
scheint demnächst in der Wochenschrift). 

)Discussion zum Vortrag Hoche. 

Herr Pelman schlägt dem Verein vor, die Anträge 
Hoche’s anzunehmen. In Bezug auf die Personen¬ 
frage möchte er in erster Linie den Vortragenden 
in Vorschlag bringen, dann ein Mitglied des Vorstandes, 
und zwar im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse 
Herrn Fürstner. Auch die Summe könnte etwas 
reichlicher bemessen und vielleicht auf 400 M. zu 
erweitern sein. 

Herr Siemens: Ich möchte auch dringend em¬ 
pfehlen, die Anträge H.’s anzunehmen. Da der Press¬ 
firma, welche das Material liefern soll, immerhin das 
eine oder das andere Vorkommniss im Reiche ent¬ 
gehen kann, möchte ich die Vorschläge dahin erweitern, 
dass auch Sie alle, m. H. Coli, im ganzen Reich, 
sich mit Eifer an der Sammlung authentischen Materials 
unaufgefordert betheiligen möchten. 

Herr Jolly schliesst aus dem Beifalle, den der 
Vortrag des Red. gefunden hat, dass auch diese Vor¬ 
schläge allgemeine Zustimmung finden werden. Auch 
der Vorstand sei der Meinung, dass ein Vorgehen 


in diesem Sinne wünschenswerth sei. Als Name für 
die betreffende Commission sei vorzuschlagen: „Statisti¬ 
sche Commission.“ Die Delegation eines Vorstands¬ 
mitglieds in die Commission müsse in dem Sinne er¬ 
folgen, dass dieses Mitglied in allen Fällen, in welchen 
activ die Presse benutzt werden solle, die Entscheidung 
zu treffen haben. 

Herr Pelman bittet, seinem Vorschläge noch 
den Zusatz zu geben, dass der zu wählende Ausschuss 
das Recht der Cooptation erhalte. 

Herr Hoche dankt den Herrn Vorrednern für 
ihre zustimmenden Worte. Die Interessirung aller 
deutschen Irrenärzte für die Sammlung würde von 
Seiten der Centralstelle durch besondere Aufforde¬ 
rungen, die event. in geringen Zwischenräumen zu 
wiederholen wären, zu erfolgen haben. Die activen 
Mitglieder der Commission wären am besten auf ver¬ 
schiedene Bezirke Deutschlands zu vertheilen. H. 
selbst ist gerne bereit, eine auf ihn fallende Wahl 
als Mitglied der geplanten „statistischen Commission“ 
anzunehmen. 

Die Versammlung beschliesst, dass eine statistische 
Commission eingesetzt werden soll. Es wird zunächst 
Herr Hoche gewählt mit dem Rechte, weitere Mit¬ 
glieder zu cooptiren. Als Vorstandsmitglied wird* 
Herr Fürstner in die Commission delegirt. 

Herr Fürstner: Ich bin bereit die Hemmschuh- 
Rolle zu übernehmen, wenn es mir gestattet ist, die 
practische Ausführung von dem Beschlüsse des Vor¬ 
standes abhängig zu machen. 


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P 5 YCH 1 ATR 1 SCH-NFAJROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. ( i 


Discussion zum Vortrag Flirstner. 

(siehe Mittheilungen in No. 4) 

Herr Schüle: Der soeben gehörte Vortrag, ist 
so reich in seinem Inhalt, dass es unmöglich erscheint, 
auf alle Punkte einzugehen. Redner müsse deshalb 
nur das eine hervorheben, für das sein Namen auf¬ 
gerufen wurde. Er kann nach seiner summarischen 
Erinnerung bestätigen, dass auch ihm die eigentlich 
schweren pathologisch-anatomischen Befunde bei Para¬ 
lyse nicht mehr so häufig zu Gesicht kommen als 
früher. Er möchte übrigens diese pathologisch-ana¬ 
tomische Seite der Paralyse-Frage nicht für sich be¬ 
trachtet und verglichen wissen, sondern auch immer 
in Beziehung zur Aetiologie. Stadt- und Landbe¬ 
völkerung haben im Grossen und Ganzen verschiedene 
Ui suchen zur paralvstischen Erkrankung; danach wird 
sich auch die Verschiedenheit in Form und Intensität 
des anatomischen Prozesses richten. Ferner kann 
Redner — allerdings abermals in summarischem Ueber- 
schlag — dem Satz des Vorredners beitreten, dass 
der tabische Rückenmarksbefund keineswegs der prae- 
valirende ist, vielmehr die combinirte Rückenmarks¬ 
erkrankung. 

Für sehr wichtig hält Redner mit dem Vor¬ 
tragenden die genauere Erforschung der klinischen 
und anatomischen Frage der sogen. Pseudoparalyse, • 
und zwar ausser nach der diagnostischen und pro- 
gostischen Seite, namentlich nach ihrer Bedeutung 
für die Therapie und spec. für die Pathogenese. Wie 
wenig genaues wir darin wissen, trotz der jahielangen in¬ 
tensiven makro- u. mikroskopischen Arbeit, erhellt schon 
daraus, dass bekanntlich alle histologischen Bestandtheile 
des Gehirns der Reihe nach für die letzte Ursache des 
Paralyse-Prozesses verantwortlich gemacht und immer 
wieder verlassen wurden. Gerade aber durch die 
genauere Kenntniss der Pseudo-Paralyse, in welcher 
die Natur gleichsam das Gegenexperiment einer heil¬ 
baren Paralyse uns vorlegt, würden wir nach dieser 
interessantesten Seite unserer Erkenntniss tiefer zu 
dringen lernen. Spec. die alkoholistische Gruppe der 
Pseudo-Paralyse habe der Vortragende nach des 
Redners Ansicht klinisch differentiell richtig und scharf 
gezeichnet. Redner empfiehlt den Aufruf des Vor¬ 
redners zu einem gemeinsamen Vorgehen in dieser 
Frage genauester Einzelforschung angelegentlich. Zum 
Schluss erwähnt er die von ihm früher schon 
veröffentlichte Beobachtung, wo eine klinisch- 
symptomatologisch in jeder Hinsicht gesicherte Para¬ 
lyse nach Auftreten von einer Otitis media mit reich¬ 
lichem Eiterausbruch zurücktrat und jetzt seit 20 
Jahren nicht wiedergekehrt ist. Der betr. Offizier 
hat sich verheirathet und ist bisher gesund geblieben. 

Herr Gau pp: Das Krankheitsbild, das Herr F. 
heute als echte Pseudo-paralyse beschrieben hat, hat 
die Heidelberger Schule bei ihren jährlichen Nach¬ 
forschungen nach dem Schicksale ihrer früheren 
Kranken ebenfalls kennen gelernt. Er weist genau 
die Züge auf, welche Herr F. geschildert hat: an¬ 
scheinend typische Symptome körperlicher und psy¬ 
chischer Art, aber keine Progression. Die Schaffer¬ 
sdien Untersuchungen, die Herr F. kurz erwähnte, 
werden in einer Kritik, die Nissl im Centralblatt für 


Nervenheilkunde über das Buch veröffentlichen wird, 
als nicht beweisend dargethan werden Ich möchte 
an den Herrn Vortragenden die Frage richten, ob er 
jetzt auch der Ansicht ist, dass der paralytischen 
Pupillenstarre spinale Veränderungen zu Grunde liegen, 
und dass die Opticus-Atrophie nur bei den tabischen 
Paralysen, nicht bei den Formen mit reinen Seiten¬ 
strangs- oder gemischten Strangerkrankungen vorkommt. 
Als ich 1898 diesen Standpunkt vertrat, fand ich bei 
den Fachgenossen wenig Beifall. Seither haben sich 
die Stimmen gemehrt, die meine Auffassung von der 
spinalen Localisation der Pupillenstarre und der 
tabischen Natur der Opticus-Atrophie theilen. 

Herr J olly erörtert zunächst die Fiage, ob eine 
Aenderung des Bildes der Paralyse im Sinne Mendels 
anzunehmen ist. Er ist der Meinung, dass die Aende¬ 
rung nur darin beruhe, dass die Fälle der dementen 
Form zugenommen hätten, dass dies aber z. T. auf 
der Erweiterung der Diagnose beruhe. Robertson’- 
sche und Westphal’sche Phänomen seien erst in der 
2. Hälfte der 70er Jahre bekannt und seitdem all- 
mählig für die Diagnose der Paralyse verwerthet w orden. 
Mit der Zunahme dieser Diagnose sei auch das Bild 
der Paralyse verschw-ommener geworden, und dadurch 
einerseits eine relative Veränderung der anatomischen 
Befunde, andererseits das Bedürfniss, Pseudoparalysen 
zu unterscheiden, zu Stande gekommen. Bezüglich 
der pathalogischen Befunde bestätigt J. das seltene 
Vorkommen des Haemotoms der Dura, dies sei aber 
auch früher selten gew esen. Es sei möglich, dass 
gelegentliche Häufung in früherer Zeit traumatisch 
zu erklären sei als Resultat der Zellenbehandlung. 
Eine absolute Abnahme des Vorkommens der Ven¬ 
trikelerweiterung und der Ependymitis kann J. nicht 
constatiren, bezüglich der Pseudoparalyse bestätigt er 
das Vorkommen von Fällen, wie sie der Referent 
zuletzt angeführt hat, er möchte aber auch die syphi¬ 
litische Pseudo-Paralyse nicht ganz beseitigen, da 
vereinzelte Fälle vorkämen, in welchen bei ganz 
typischer Form der Paralyse durch Quecksilberbe¬ 
handlung Heilung oder dauernde Besserung erzielt 
wurde. 

Herr Hitzig hält es nach seinen Erfahrungen 
für zweifelhaft, ob der Verlauf und der Symptomen - 
komplex der Paralyse gegen früher sich wesentlich 
geändert hat, will jedoch sein Material —- gleich Jolly 
— nach dieser Richtung hin prüfen lassen. 

Herr Jolly antwortet auf eine Frage des Herrn 
Schüle, dass er durchaus keine besonderen Modifika¬ 
tionen der Quecksilberbehandlung vorgermmmen, son¬ 
dern die gewöhnliche Schmierkur angewendet habe. 
Die günstigen Fälle seien selbstverständlich selten, aber 
sie prägten sich eben deshalb um so mehr dem Ge¬ 
dächtnis ein. 

Herr Fürstner (Schlusswort): Es lässt sich gewiss 
nicht leugnen, dass zunächst der subjective Eindruck 
bei dieser Frage eine grössere Rolle spielt, als das 
objective Beweismaterial. Wir werden aber zunächst 
auf Grund der ersteren gewisse Resultate abstrahieren 
und dann dieselben mit letzteren vergleichen. 

Was die Lues-Fälle angeht, so meine ich, dass 
die Fälle, wo die specifische Behandlung Heilung er- 


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62 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 5. 


zielte, nicht Paralysen waren, sondern Fülle von cir- 
cumscripten Veränderungen, die das Bild der Para¬ 
lyse vortfuischten. Bei letzteren selbst habe ich auch, 
wo Lues feststand, keinen Erfolg mit Schmierkuren 
gehabt. Die Haematome durchaus als traumatisch 
aufzufassen, erscheint mir nicht gerechtfertigt. Die 
gleichzeitige hochgradige Atrophie scheint dafür zu 
sprechen, dass auch der Krankheitsprozess eine Rolle 
spielt. 

Bezüglich der Optikus-Atrophie glaube ich , dass 
sie nur bei reinen Tabesfüllen, nicht bei kombinirten, 
vorkommt. Die Pubillcnstarre wird in manchen Füllen 
abhüngen von spinalen Veränderungen* in anderen 
aber von cerebralen. Nur die Sprachstörung würde 
in ersteren noch cerebral sein. 


Referate. 

— P. I. Möbius. Ueber den physiologischen 
Schwachsinn des Weibes. 3. Aufl. *) Halle a. S. 
Carl Marhold. Preis 1,50 Mk. 

Das für eine wissenschaftliche Brochüre seltene 
Glück, in kurzer Zeit mehrere Auflagen zu erleben, 
dürfte in diesem Fall nicht zum wenigsten in dem 
eigenartigen, ins Auge fallenden Titel zu suchen sein, 
sodann darin, dass der behandelte Gegenstand schon 
lange weitere Kreise bewegte, die fraglos geistreiche 
Art der Behandlung des Thema alter durch viele Be¬ 
hauptungen und Hypothesen zahlreiche Conterversen 
verursachte. Hinzugefügt wurden hier ein 31 Seiten 
langes Vorwort und der Abdruck verschiedener Kritiken. 
Das Vorwort führt in des Verfassers. bekannter an¬ 
regenden Weise dessen besonderen Standpunkt noch 
weiter aus und bildet so gewissermassen eine weitere 
Ergänzung der Schrift selbst; wir ersehen auch aus 
ihm, dass M/s Philippikst gegen die Frauenbewegung 
sich vorzugsweise gegen die unnatürlichen, unweiblichen 
Emanzipationsbestrebungen richtete. Den Individualis¬ 
mus des Weibes nennt M. pathologisch, auf Nervo¬ 
sität beruhend; man könnte ihn auch als Theil der 
Degeneration bezeichnen (Ref.). Merkwürdig erscheint, 
dass die Aufhebung der Frauenklöster als ein Verlust 
für die Frau bezeichnet wird; ebenso eigenartig berührt 
der Satz: „Die Lüge ist durchaus berechtigt, so lange 
es sich um Nothwehr handelt u. s. w.“ andererseits 
tadelt er aber die Lüge beim Weibe. Auch sonst 
findet sich noch Manches, was als Widerspruch auf¬ 
fällt. — Die eigentliche Schrift wird unverändert 
wiedergegeben und giebt keinen Anlass, an der 
früheren Besprechung in dieser Zeitschrift etwas zu 
ändern. Kellner- Hubertusburg. 

— Edel. U eb c r be merk en swerthe Se 1 bst- 
be schädigungsversuche. Berl. Klin. W.-Sehrift. 
11)02, IV. Verf. berichtet unter Anderem über einen 
Vergiftungsversuch mit 5 Milligramm Atrop. sulfur. 
An denselben sc hloss sic h ein hochgradiger Angstzu¬ 
stand mit ausserordentlicher Erregung, in welcher die 
Kranke um sich schlug und biss. Unter den Sinnes¬ 
täuschungen traten Gefühlsstörungcn besonders in den 
Vordergrund: sie glaubte sich gestochen und mit 

*) soeben in 4 . Aufl. erschienen. 


Messern bedroht. Beruhigung und relative Luc iditüt, 
trat schon nach der 1. Nacht und nach Injection 
von 0,01 Morphium ein, indess bestajid noch in der 
2. Nacht ein ausserordentlic h lästiges Hautjucken und 
das Gefühl, von Ungeziefer gestochen zu sein. Mattig¬ 
keit und Klagen allgemeiner Natur, besonders seitens 
des Digestionsapparates, waren noch längere Tage 
vorhanden. E. lobt die Anwendung von Morphium, 
das in diesem Fall 2111a! zu je 0,01 gr. injicirt wurde. 

Kellner (Hubertusburg). 

— Rivista sperimentale di Freniatria. Vol. XXVII. 
(Fast'. I und II), Organ der italienischen Gesellschaft 
für Psychiatrie (Socictä Freniatrica Italiana), unter 
Direction der Professoren Tamburini, Golgi, Morselli, 
Tamassia, Tanzi, redigirt von Dr. G. C. Ferrari. 

Reggio Emilia. 1901. Verlag Stefano Calderini 
Sohn. Gross 8 0 öbo S., 14 Tafeln. (Fortsetzung.) 

Unter den Mittheilungen ist eine solche von 
A. Tamburini (194—202) über Psychosen mit emo¬ 
tivem Ursprung wegen ihren wirtschaftlichen Folge¬ 
rungen von grossem Interesse. Die Basis zu den 
Ausführungen bietet ein Fall von Abneigung gegen 
die Entlassung nach Hause, einem Symptom, das schon 
1881 von Salerni Pace „Oicophobie“ genannt wurde. 
Aehnliche Fälle wurden auch von Verga (1882—83) 
und Ferrari (1897) beschrieben und kritisch beleuchtet. 
Bei Tamburinis Fall handelt es sich um eine ledige 
Bäuerin von 47 Jahren in Reconvalescenz einer Manie, 
die bei der zufälligen Bemerkung des Arztes, sic 
könne bald heimgehen, in eine intensive Angst ver¬ 
fällt, zwei Monate mit der Sonde ernährt werden 
musste und Symptome von Stupoi zeigte. Nach und 
nach kommt sie wieder zu sich, zeigt aber Tics und 
stereotypes Lächeln; Tamburini glaubt, dass es sich 
um einen Fall von Venturis „Pazzia delF uomo soc i¬ 
ale“ handelt, wie sie hervorgehen aus der Unfähigkeit 
für den Kampf ums Dasein. Es sei eines jener 
immer zahlreicher werdenden Geschöpfe, die instinctiv 
den Schutz der Irrenanstalt suchen, wo sie ein regel¬ 
mässiges Leben ohne Initiative und Verantwortung 
führen können. Schon die trübe Aussicht diesen Schutz 
nicht mehr zu haben, bringt sie aus dem Gleichgewicht. 
„Das moderne Irrenhaus“ ist also das Mittel um so 
viele dieser Unglücklichen vor grösseren Uebeln zu 
schützen, worunter der Selbstmord und schwere Re- 
actionshandlungen gegen andere zu nennen sind, wo¬ 
zu sich auch die Schwachen manchmal gedrängt 
fühlen.“ Aber das moderne Irrenhaus hat die Auf¬ 
gabe diese Kräfte durch Arbeit für sich und die 
Gesellschaft nutzbar zu machen. Tamburini hält das 
amerikanische System für das Beste, nach welchem 
jedes Irrenhaus, eben durch die Arbeit dieser social 
unbeholfenen Elemente, sich selbst erhalten sollte. Er 
glaubt auch, dass die Zunahme der Irren in den 
letzten Jahrzehnten auf dem vermehrten Zufluss solcher 
Elemente zum Irrenhaus beruhe. Man sollte daher 
die Irrenhäuser durch Dotation mit Werkstätten und 
agricolen Colonien als Arbeitsfelder ausstatten, wo 
diese Arbeitskräfte Verwendung finden könnten. Ref. 
hält dies für eine glückliche Idee die auch auf Ver¬ 
hältnisse anderer Länder Anwendung finden sollten. 


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1902*.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 63 


Von den Originalarbeiten zeichnen sich durch die 
originellen Methoden, die dabei zur Anwendung kamen, 
die interessanten Resultate und die allgemein patho¬ 
logische Bedeutung, die experimentell -patho¬ 
logischen Untersuchungen von Dr. Carlo 
Ceni in Reggio-Emilia über Reproductionskraft und 
Vererbung bei der experimentellen Pellagra aus. Re¬ 
ferent betont ihre Bedeutung besonders für ähnlich e 
Untersuchungen mit exogenen Giften (Al- 
cohol, Morphium). 

Ceni experimentirt am Huhn, weil es sich zu der¬ 
artigen Untersuchungen besonders eignet, weil seine 
Zeugungsproducte zu jeder Zeit in den verschiedensten 
Stadien der Entwicklung untersucht werden können. 
Auch kann die Zahl der Beobachtungen beliebig ge¬ 
steigert werden. Besonders wichtig ist, dass man zahl¬ 
reiche Beobachtungen in den ersten Entwicklungs¬ 
stadien machen kann. 

Die Einführung des pellagrösen Virus geschah auf 
dem natürlichen Wege der Ernährung mit verdorbenem 
Mais in Form von Körnern, Mehl und auch schim¬ 
meligen Maisbrei. In drei verschiedenen Hühnerställen 
wurden je ein Hahn und sieben Hennen, junge Thiere 
von der Landrasse, einer verschiedenen Ernährung 
unterworfen: Im Stall A lediglich mit verdorbenem 
Mais, im Stall B mit gemischter Nahrung von ver¬ 
dorbenem Mais und normalen Nahrungsmitteln, im 
Stall C mit gutem Mais und anderer normaler Nahrung 
zum Controllversuch. 

Schon eine achtmonatliche Beobachtung (Juli 189Q 
bis Februar 1900) dieser verschiedenen Emährungs- 
bedingungen unterworfenen Hühner zeigte, dass 
zwischen den Experimentthieren und Controllthieren 
deutliche Unterschiede auftraten. Die „Pellagrahühner“ 
(Stall A u. B) wurden nach und nach kachcktisch, 
Hessen Gewichtsabnahme (bis 600 gr.), rauhe runzelige 
Hautveränderungen mit stellenweisen erythematösen 
Flecken, Federausfall, Abnahme des Metallglanzes 
(Hähne) der Federn, ziegelfarbene Verfärbung und 
Anaemie der Kämme nachweisen. Bei verschiedenen 
Exemplaren der Experimentierhühner traten auch 
Diarrhoeen und Appetitlosigkeit während einiger Tage 
ein, dagegen nie wesentliche Aenderungen im psy¬ 
chischen Verhalten. 

Die Zeugungsfähigkeit betreffend war schon von 
vornherein auffallend, dass die „Pellagra-Hühner“ erst 
im April begannen Eier zu legen (im März nur ein 
Ei), während die Controllhülmer damit schon im 
Dezember begonnen hatten. Die Proliferationsperiode 
(Zeit des Eierlegens) dauerte bei den ersten bis Sep¬ 
tember, bei den andern bis October. Auch die Durch¬ 
schnittszahl der gelegten Eier für jede Henne war für 
die beiden Abtheilungen verschieden (Controllhenne 
98, Pellagrahenne 19). 

Die rein klinische Beobachtung ergab also, dass 
die Fütterung mit verdorbenem Mais, die Sexualperi¬ 
ode der Hühner verkürzte und die Sexualprodukte 
verminderte. Bevor wir zu den Resultaten der em¬ 
bryologischen Untersuchungen übergehen, möge noch 
der Verlauf und Ausgang der Erkrankung näher be¬ 
trachtet werden, die dem Ref. von kritischem Werte 
zu sein scheint. 

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Die im Februar 1900 deutlich, gewordene krank¬ 
hafte Veränderung der Hühner A u. B steigerte sich 
noch successive bis im Mai. Besonders ausgesprochen 
war sie bei hellfarbigen Hühnern, bei welchen in zwei 
Fällen ein der menschlichen Pellagra sehr ähnliches 
desquamatives Ervthem an freien Stellen sichtbar 
war. Vom Mai an klangen die Erscheinungen nach 
und nach ab und zwar trotz fortgesetzter Ernährung 
mit verdorbenem Mais. Vom Monat October weg 
nahmen die Hühner an Gewicht zu und schon im 
Dezember hatten sie trotz der schlechten Maisnahrung 
das Aussehen gesunder Hühner gewonnen und die 
Hähne zeigten sogar Metallglanz. Nur eine der hell¬ 
farbigen Hennen mit Erythem erlag Ende August der 
Krankheit und bot bei der Autopsie folgenden Be¬ 
fund: „Ausgesprochene Muskelatrophie besonders der 
Pectorales, leichte Hyperaemie der Pia und der Hirn¬ 
substanz, leichte Fettdegeneration des Myocards. S uba - 
cuter, diffuser D ün ndarmcatarrh mit allge¬ 
meiner Hyperaemie des Intestinaltractus. Niere und 
Lungen gesund. Bakteriologischer Befund negativ. 

Ceni betont noch speziell, dass die beobachteten 
Phänomene mit denjenigen, die Lombroso an Hühnern 
fand, die einem ähnlichen Regime unterworfen waren, 
übereinstimmen. Nur sah er nie weder Convul- 
sionen noch Contracturen und andere moto¬ 
rische Symptome. 

Die sowohl von Controll- als von „Pelagrahühnem“ 
gelegten Eier wurden nur zum Theil durch Gluck¬ 
hennen ausgebrütet, zum Theil eine bestimmte Zeit 
lang im Brutofen gehalten, um verschiedene Stadien der 
Entwicklung zu studiren. Die Resultate waren folgende: 

Von den Controlleiern zeigten 88,12 %, von den 
Eiern der „Pellagrahühner“ blos 29,92 °/ 0 eine nor¬ 
male Entwicklung. Die Vorgefundenen Abnormitäten 
bestanden in granulösen und evstösen Degenerationen 
der Keime, Abwesenheit jeglicher Entwicklung oder 
Verlangsamung derselben (um 12—20 Stunden ver¬ 
spätet), auch Absterben in früheren Entwicklungs¬ 
stadien (50—70 Stunden), teratogene Bildungen wie 
retroflexio capitis, Fehlen beider Hemisphärenbläschen, 
Atrophia capitis, Monophthalmus, Blutergüsse in den 
Hirnblasen, Amnionhydrops. 

Von den siebzehn von der Gluckhenne bebrüteten 
„Pellagraeiern“ blieben neun steril, die ausgeschlüpften 
acht Hühnchen waren wenig lebhaft, zwei davon starben 
in den ersten drei Tagen, die übrigen zeigten verlang¬ 
samte Entwicklung bis zum sechsten Monat. Sechs 
Controlleier ergaben dagegen fünf normale Hühner. 

Höchst interessant ist eine gewisse Progredienz 
der Degenei ation, indem von den April- und Mai- 
Eiern .56,32 °/ 0 (auch bei den „Pellagraprodukten“) 
normale Entwicklung zeigten, während August- und 
September-Eier gar keine normalen Embryonen er¬ 
gaben. Ceni meint, es handle sich mehr um eine 
Folge der physiologischen Abnahme der geschlecht¬ 
lichen Productionskraft, deren grössere Schwäche sich 
durch eine vermehrte Empfänglichkeit gegenüber patho¬ 
logischen Momenten documentirt, als um Zunahme der 
pathologischen Anlagen, w r elche durch die zu dieser 
Zeit schon eintretende Erholung wieder ausgeglichen 
w ürde. 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



64 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5 - 


Ceni zieht aus seinen Experimenten den Schluss, 
dass die Ernährung von Oviparen mit verdorbenem 
Mais sowohl auf die Reproductionsorgane als auf ihre 
Produkte Einfluss haben kann, der sich documentirt als: 

I. Erschöpfung der Keimfähigkeit (Sterilität, 
verlangsamte und partielle Entwicklung und 
Absterben.) 

II. Entwicklungshemmungen. 

III. Hereditäres Siechthum, besonders der Gefässe. 
(Hacmorrhagien). 

„Ueber den Character der teratologisch heredi¬ 
tären Thatsachen bei der experimentellen Pellagra“ 
betitelt sich der zweite Theil seiner Arbeit (pag. no), 
worin das rein embryologische abgehandelt wird. Ceni 
beschränkt sich dabei auf die drei hauptsächlichsten 
Anomalien, die er bei Pellagraembryonen entdeckt hat: 

I. Monophthalmie, die er als im wahren Sinne 
des Wortes hereditär bedingt ansieht, und nicht etwa 
als Abweichungen von der normalen Entwicklung be¬ 
dingt durch accidentelle Momente. 

II. Die punktförmigen Haemorrhagien sollen Folgen 
einer Gefässerkrankung sein und oft den frühzeitigen 
Tod des Embryos herbeiführen, indem sie acciden¬ 
telle Zerstörungen und deren Folgen nach sich führen. 
Es handle sich um einen allgemeinen krankhaften 
Zustand des primitiven Gefässsystems auf here¬ 
ditärer Basis. 

III. Die Ancncephalie mit compensiiender Ma- 
krophthalmie soll nach Ceni eine Folge der mangel¬ 
haften Entwicklung der Amnionfalte auf hereditärer 
Basis sein. Durch die Verkümmerung dieses Adnexes 
wird das vordere Ende und damit das Gehirn am 
Wachsthum nach vom verhindert und die seitlich 
stehenden Augenblasen treten stärker hervor und 
wachsen. 

Ref. bemerkt noch, dass die genialen Ideen in dieser 
Arbeit nicht an innerm Werth verlieren, wenn auch dei 
Beweis, dass die hier vorliegenden Krankheitszustände 
wirklich Pellagra sind, nicht als erbracht betrachtet werden 
kann. Es musste ausgeschlossen sein, dass eine En¬ 
teritis aus andern Ursachen nicht zu ähnlichen Be¬ 
obachtungen Anlass geben könnte. Zum mindesten 
wäre es wünschenswerth gewesen, wenn Controllhühner 
mit Enteritis ohne verdorbene Nahrung oder 
wenigstens ohne verdorbenem Mais zum 
Vergleich herangezogen worden wären. 

Dr. med. D. Bezzola. 

Ri vista speri mentale di Freniatria 
Vo 1. XXVII Fase. I. 

Verzeichniss der Originalarbeiten. 

Schupfer-Ferruccio: Ueber Kopftetanus. 

Gonzales-Piero: Ein Fall von diffuser Ichthyosis 
bei einem Imbecillen. 


Ugolotti-Ferdinando: Beitrag zum Studium der 
Pyramidenbahnen beim Menschen. 

Mingazzini-Giovanni: lieber die Symptomatologie 
der Verletzungen des Linsenkerns. 

Ceni-Carlo: Untersuchungen über die Zeugungs¬ 
kraft und die Erblichkeit bei der experimentellen 
Pellagra. 

Ceni-Carlo: Ueber den Character der teratologischcn 
Thatsachen bei der experimentellen Pellagra. 

Donaggio-Arturo: Ueber die Anwesenheit dünner 
Fibrillen zwischen den Maschen des peripheren Reti- 
culums der Nervenzelle. 

Lo Monaco-Domenico e Tomassi-Felice: Ueber 
die Physiologie der inner» Oberfläche des Gehirns. 

Sperino-Giuseppe: Das Gehirn des Anatomen 
Carlo Giacomini. 

Cavazzani-Emilio: Ueber den negativen Einfluss 
einiger Lymphagogen auf die Bildung der Cerebro¬ 
spinalflüssigkeit 

Vaschide N. e VurpasCl.: Von einigen characte- 
ristischen Stellungen somatisch-pathologischer Intro- 
spection (Innenbetrachtung). 

Rivista speri mentale di Freniatria. 

Vo 1 . XXVII Fase. II. 

Verzeichniss der Originalarbeiten. 

Ferrai-Carlo: Ueber die sensorielle Compensation 
bei Taubstummen. 

Ceni-Carlo : Ueber die Pathogenese desOthämaloms 
bei den Irren. 

Schupfer-Fcrruceio: Ueber Kopftetanus (Fortsetzung 
und Ende). 

Rossi-Cesare: Ueber die Dauer des elementaren 
und unterscheidenden psychischen Processes (einfache, 
Unterscheidungs- und Wahlreaction) bei den Taub¬ 
stummen. 

De Pastrovich-Guglielmo: Hypoglossuslähmung aus 
wahrscheinlich alcoholischer Ursache. 

Guizzetti-Pietro: Neuer Fall von tötlicher Chorea 
mit Septico-Pyämie durch Staphvlocoecus pyogenes 
aureus. 

Bellei-Giuseppe: Ueber die intellectuelle Fähigkeit 
von Knaben und Mädchen, die die fünfte Elementar¬ 
klasse besuchen. 

Ferrari-Giulio-Cesare: Einfluss der Gemütsbe¬ 
wegungen auf die Entstehung und den Verlauf der 
Delirien und einiger Psychosen. 

Mingazzini-Giovanni: Ueber die Symptomatologie 
der Verletzungen des Linsenkems (Fortsetzung). 

Lo Monaco-Domenico e Tomassi Felice: Ueber 
die Physiologie der inneren Oberfläche des Gehirns. 

Tamburini-A., Badaloni-G., Brugia-R.: Individual¬ 
psychologische Forschungen bei einem Fall von bürger¬ 
licher Unfähigkeit (Dispositionsunfähigkeit). 

Sperino-Giuseppe: Das Gehirn des Anatomen Carlo 
Giacomini. (Fortsetzung und Schluss). 


Hir den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Brcsler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 

Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herautKegeben von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt, 

UrhtApnnt» (AUmarlr. Gra*. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Barlin. 

Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel, 

Berlin Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 6. io- Mai. __ 1902. 

Die ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

H~tellnng*>n nehmen jede Buchhandlung, di« Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaitige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschi ift«-n für die Kedartion sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien). Zu richten- 

Inhalt. Originale: Die statistische Commission des Vereins deutscher Irrenärzte (S. 65). — Dionin (S. 69). — Mittheilungen 
(S. 75). — Referate (S. 76). 


Die statistische Commission des Vereins deutscher Irrenärzte. 


|^er Verein deutscher Irrenarzte hat in 
seiner diesjährigen Jahresversammlung in München 
am 15. April 1902 die Gründung einer „statistischen 
Commission“ beschlossen, deren Wesen und Ziele 
aus nachstehendem von Prof. Hoche zur Einleitung 
der Discussion gehaltenen Referate erhellen. 

„Meine Herren! 

Mein Vortrag wird weder nach Inhalt noch nach 
Ausdehnung den Anforderungen entsprechen, die Sic 
berechtigt wären, an ein „Refciat“ zu stellen; was ihm 
zu dieser zwar ehrenvollen, aber exponirten Stelle im 
Programme der heutigen Versammlung verholfcn hat, 
ist einmal die Thatsache, dass die Vorschläge, die 
ich hier zu machen gedenke, dem Vorstände unsres 
Vereines zur Begutachtung Vorgelegen haben, und 
zweitens der Umstand, dass dieselben Gegenstand der 
Beschlussfassung werden sollen. 

Die Vorschläge dienen, um es zunächst einmal 
kurz zu formuliren, dem Zwecke, systematisch 
und in grossem M aassst abe B e w e i s in a t e - 
r i a 1 herbeizuschaffen für alle die z a h 1 - 

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reichen und verschiedenartigen Miss¬ 
stände, mit denen die irrenärztlichen Be¬ 
strebungen zum Beste nderGeisteskranken 
allerorts zu kämpfen haben. In welcher Weise 
dieses Material dem gedachten Zwecke dienstbar zu 
machen sei, darüber werden wir später zu reden 
haben, wenn wir es erst einmal besitzen. — 

Es wäre ein müssiges Geschäft, in dieser Ver¬ 
sammlung ausführlich auf unsre mannigfachen irren¬ 
ärztlichen Beschwerdepunkte einzugehen; einem Jeden 
von uns drängen sie sich täglich von Neuem auf. 
Ich will deshalb nur Einiges berühren, was mit meinen 
Vorschlägen in näherer Beziehung steht. 

Einem unbefangenen Beobachter, der nicht wie 
wir durch die lange Gewohnheit abgestumpft wäre, 
müsste eines sehr auffallen: die ganz abnorme 
Stellung, welche die Irrenärzte in der öffentlichen 
Meinung einnehmen, die Stellung, für die wir bei keiner 
anderen Berufsart eine Parallele finden. Die Oeffentlich- 
keit, soweit sie durch das Publikum, einen Theil der 
Presse und die Mitglieder unserer Parlamente re- 

Original from 

HARVARD UNIVEf SITY 











66 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6. 


präsentirt wird, trifft sich den Irrenärzten und ihrem 
Thun gegenüber in einer ziemlich einheitlichen Auf¬ 
fassung, die im Einzelnen sich auf der Linie von 
völliger Verständnisslosigkeit bis zum offenen 
Misstrauen bewegt. Der Verständnisslosigkeit be¬ 
gegnen wir bis in Kreise hinein, bei denen man sie 
billigerweise nicht sollte befürchten müssen, z. B. selbst 
bei eizelnen academischen Vertretern klinischer Dis- 
ciplinen. Das Misstrauen, mit dem wir beehrt werden, 
gilt, wie uns allen bekannt, nicht allein unsrem Können 
und Wissen, sondern gar nicht so selten unserer Ge¬ 
sinnung, unsren Motiven, und es hat für den Kenner 
der Verhältnisse etwas Tragikomisches, wenn von 
diesem Standpunkte aus in gesetzgebenden Körper¬ 
schaften in aller Selbstverständlichkeit und Harmlosig¬ 
keit über Maassregeln diskutirt wird, die geeignet 
sein sollen, wie es dann heisst „das Publikum vor 
den Irrenärzten zu schützen.“ Diese Auffassung gilt 
als so natürlich, dass bei solchen parlamentarischen 
Verhandlungen vielleicht wohl vom Regierungstisch, 
nicht aber aus der Versammlung heraus auf irgend 
ein Wort der ruhigen Vernunft oder der Abwehr zu 
rechnen ist. Ihr natürliches Echo finden diese Dinge 
dann in der Presse, von der ein Theil mit grosser 
Bereitwilligkeit jeder den Psychiatern unfreundlich ge¬ 
sinnten Darstellung ihre Spalten zu öffnen pflegt. Es 
wäre falsch, darin eine böse Absicht zu vermuthen; 
die Presse theilt eben die Vorurtheile der gebildeten 
Laien und glaubt, bei solchen Veröffentlichungen eine 
Pflicht gegen das Publikum zu erfüllen. — Wir Irren¬ 
ärzte könnten alles Dieses wohl ertragen, und die 
Geschichte der Irren heilkunde ist ein 
lebendiger Beweis dafür, dass Verkennung und Uebel- 
wollen die Vertreter unserer Wissenschaft niemals 
müde oder in ihren Bestrebungen unsicher gemacht hat; 
das Schlimme ist aber, dass die allgemeine Auffassung 
an allen Ecken und Enden ein dauernder Hemmschuh 
ist bei Verwirklichung der nothwendigen täglichen 
Maassregeln zum Besten der Geisteskranken, ebenso 
wie aller weitergehenden Forderungen für Zukünftiges. 

Diejenigen, die leichten Herzens in der Presse 
und von der Tribüne des Reichstages herunter in 
systematischer Weise die Saat des Misstrauens gegen 
die Irrenanstalten und die in ihnen arbeitenden Aerzte 
ausstreuen und pflegen, haben gar keine Ahnung 
davon, welche Verantwortung sie damit auf sich 
laden. Das gedruckte Wort, namentlich wenn es oft 
genug wiederholt wird, übt seine Wirkung; alte ver¬ 
breiteten Vorurtheile, das Bedürfniss nach Sensation 
bereiten den Boden, auf dem jene Saat reichlich auf¬ 
geht, und so kommt es, dass bis weit in die soge¬ 
nannten gebildeten Kreise hinein Vorstellungen über 

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Geisteskrankheiten und Irrenärzte von einer gradezu 
finsteren Rückständigkeit die Herrschaft ausüben, und 
die Entschliessungen gegebenenfalls maassgebend be¬ 
stimmen. 

Den Schaden tragen in erster Linie die Kranken. 

Die Kosten der systematischen Aufhetzung zahlen 
die Fälle, die wegen der Scheu der Familie vor 
dem Worte Anstalt zu spät oder gar nicht zur 
Aufnahme gelangen, oder ungeheilt wieder herausge¬ 
nommen werden; es zahlen sie Staat und locale 
V er bände, Kran kenkassenu.s.w. in der vermehrten 
financiellen Belastung durch unheilbar Gewordene; es 
kommt auf dieses Conto ein grosser Theil der Fälle 
der Selbstmorde mit oder ohne Tötung von 
Angehörigen, der Fälle von schwerer Körper¬ 
verletzung durch Geisteskranke oder schwere sociale 
und financielle Schädigungen der Familie, 
kurz alle die den Irrenärzten nur zu bekannten Er¬ 
eignisse , die jeder von uns in kurzen Zwischen¬ 
räumen immer wieder erlebt, und die, wenn sie 
systematisch gesammelt würden, in ihrer Gesammtheit 
ein Bild geben würden, das dem Gefolge der be¬ 
kannten Agitatoren mit ihren paar unbewiesenen 
alljährlich wiederkehrenden Fällen von angeblicher 
widerrechtlicher Freiheitsberaubung, Entmündigung 
u. s. w. doch vielleicht zu denken geben würde. 

Die durchschnittlich grundfalsche Auffassung vom 
Wesen der Geistesstörungen, wie sie auch bei den 
gebildetsten Laien vorherrscht, übt noch an einer 
anderen Stelle ihre verderbliche Wirkung aus, ich 
meine in der Rechtspflege. Ich selbst bin, wie 
ich bei wiederholten Gelegenheiten bekundet habe, 
weit davon entfernt, alle bei der Berührung von Rechts¬ 
pflege mit Irrenheilkunde sich ergebenden Misshellig¬ 
keiten den Juristen allein zur Last zu legen; ich bin 
der Meinung, dass in der überwiegenden Mehrzahl 
der Fälle ein guter Sachverständiger vor Gericht ge¬ 
nügenden Einfluss hat und den Richter zu seiner 
Auffassung eines bestimmten Falles bekehrt. Dazu 
ist aber vor Allem noth wendig, dass überhaupt ein 
Sachverständiger zugezogen und um seine Meinung 
befragt wird. Noch jetzt zeigt die Statistik alljährlich 
eine erschreckende Zahl von Verurtheilungen 
von Geisteskranken und Schwachsinnigen, 
die zum grösseren Theile von keinem Arzte untersucht 
worden sind deswegen, weil dem Richter entweder 
an dem Betreffenden nichts Abnormes auffiel oder 
weil er sich selber genügend coinpetent erschien zur 
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit. Eine bessere 
psychologische Schulung der Juristen ist des¬ 
wegen eine Forderung, in der sich alte Wünsche 
der Irrenüizte mit stellenweise sehr lebhaft geäusserten 

Original frum 

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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


67 


neuen Wünschen einzelner einsichtiger Strafrechtslehrer 
(z. B. H. Gross) begegnen. Bei dem passiven Wider¬ 
stande, den bis jetzt die Mehrzahl der Juristen, auch 
der juristischen Fakultäten noch leistet, da sie selber bei 
ihrer Ausbildung diesen Mangel nicht empfinden, wäre 
es nothwendig, eine intensive Sammlung alles in diese 
Kategorie gehörigen Materials vorzunehmen, wie dies 
vor Kurzem auch Frank in seinem Karlsruher 
(1901) Vortrag als Forderung aufgestellt hat. Mit 
einbeziehen müsste man, soweit als möglich, dabei 
die militärischen Verhältnisse mit ihren zahlreichen 
Bestrafungen und Selbstmorden Schwachsinniger, und 
natürlich auch alle diejenigen Fälle, in denen sachlich 
wohl begründete ärztliche Gutachten, z. B. vor dem 
Schwurgerichte, ignoriert worden sind. — Die Sammlung 
würde zugleich Gelegenheit geben, einer vom Vereine 
deutscher Irrenärzte wiederholt aufgestellten aber bisher 
nie erfüllten Forderung gerecht zu werden, nämlich Fälle 
zusammenzustellen, die als Be w'eismaterial dienen 
können für die Nothwendigkeit der Einführung der 
verminderten Zurechnungsfähigkeit. — Zu 
sammeln und eingehend zu prüfen wären endlich 
diejenigen Vorkommnisse, die in kurzen Zwischen¬ 
räumen den Zeitungsleser erschrecken, ich meine die 
Fälle von -Internirung oder Entmündigung 
angeblich Geistesgesunder und ähnliche derartige 
Ereignisse. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie oft 
dem Einzelnen bei der Lektüre der Tagespresse 
Notizen aufstossen, die die bisher berührten Punkte 
betreffen, so kann man sich eine Vorstellung davon 
machen, w r as bei einer möglichst vollständigen Zusam¬ 
menstellung von allem Hierhergehörigen im Laufe eines 
Jahres Zusammenkommen würde. — AufwelcheWeise 
wäre nun das gedachte Material zu beschaffen? Es 
kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht und 
wir werden natürlich jeden Weg zu gehen haben, der 
zu dem gewünschten Ziele führen kann. Wenig 
Nutzen dürfen wir von vornherein von den Ergeb¬ 
nissen der amtlichen Statistik erwarten; sie 
werden erst spät zugänglich und sind nicht von den 
Gesichtspunkten aus gewonnen, die für uns maass¬ 
gebend sein werden; Einzelnes aus der Criminal- 
statistik wird für uns brauchbar sein; Einiges werden 
wir aus den Anstaltsberichten entnehmen können; 
ein vollständiges Bild werden diese indessen 
niemals geben können; keineswegs alle deutschen 
psychiatrischen Institute geben Berichte aus, und uns 
kommt es ja ausserdem in erster Linie auf Dinge an, 
die sich ausserhalb der Anstaltsmauem abspielen. 

Man könnte weiterhin daran denken, die frei¬ 
willige Mitwirkung aller deutschen Irrenärzte 
in der Weise in Anspruch zu nehmen, dass Jeder in 

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seinem geographischen Bezirk auf alle in Frage 
stehenden Ereignisse ein Augenmerk hat und 
darüber an eine Centralstelle berichtet; ich würde 
es für nützlich halten, wenn ein Versuch in dieser 
Richtung nicht unterlassen wird. Ausschliesslich 
darauf lässt sich aber die geplante Sammlung nicht 
stützen. Man weiss, wie es mit dergleichen Neben¬ 
anforderungen leicht geht; eine Weile würden prompt 
Berichte eingehen, dann w ? ürde es hier und dort 
langsam einschlafen, und die Vollständigkeit wäre so 
nie gewährleistet. Eine letzte Möglichkeit endlich, 
und das ist meines Erachtens diejenige, die am 
meisten Aussicht auf Erfolg bietet, ist die syste¬ 
matische und ausgedehnte Benutzung der Tagespresse. 
Kraepelin hat im Jahre 1898 im kleinen Maasstabe 
für seinen Aufnahmebezirk den Versuch gemacht, 
aus den Tageszeitungen alle Vorkommnisse bestimmter 
Richtung (Körperverletzungen im Rausch, Selbstmorde 
u. dgl.) zu sammeln; ein Vergleich mit controllierbarem 
amtlichem Material hat damals ergeben, dass ihm 
etwa nur J / 4 der Fälle entgangen war. Dieses Er- 
gebniss ist in Anbetracht der unvermeidlichen Un¬ 
vollkommenheit der Methode sehr beachtenswerth. 
Es schadet ja auch nichts, wenn man bei solchen 
quantitativen Zusammenstellungen, die etwas Be¬ 
stimmtes beweisen sollen, die Sicherheit hat, dass die 
wirkliche Zahl der betreffenden Vorkommnisse immer 
noch grösser ist, als die auf dem Papiere stehende. 

Bei der heutigen Art der Publicistik kann man 
mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, dass kein 
Fall von Selbstmord, namentlich wenn er mit Tötung 
von Angehörigen verbunden ist, kein Attentat Geistes¬ 
kranker, keine angeblich widerrechtliche Freiheitsbe¬ 
raubung oder Entmündigung, keine strafrechtliche Ge¬ 
richtsverhandlung, bei der psychiatrische Sachverständige 
mitwdrkten, namentlich wenn gegen ihr Gutachten 
entschieden wurde, dem Schicksal entgeht, in der 
Presse besprochen zu werden. Das Publikum bezieht 
aus diesem Material zum guten Theile seine An¬ 
schauungen und Vorurtheile; so möge uns dasselbe 
Material, im richtigen Sinne verwendet, dazu dienen, 
dieser Vorurtheile allmählich Herr zu werden. 

Ich denke mir also eine Sammlung aller im 
geographischen Bezirk von Deutschland in 
den Tageszeitungen erscheinenden thatsäch- 
lichen Angaben über die uns interessirenden oben 
erwähnten Fragen. Es ist das heute nicht mehr 
schwer zu erreichen; es existiren geschäftliche Unter¬ 
nehmungen, deren Thätigkeit darin besteht, gegen 
Bezahlung alles über ein beliebiges Thema Erscheinende 
zu sammeln und in Originalausschnitten an den Be¬ 
steller einzusenden. Ich bin mit verschiedenen der- 

Original fram 

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68 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6. 


artigen Unternehmungen in Verbindung getreten (auf 
die Kostenfrage komme ich noch zurück), habe mir 
auch eine Zeit lang unter Angabe eines Themas 
Probesendungen machen lassen, und ich muss sagen, 
ich bin erstaunt gewesen, wieviel an positivem Material 
in ganz kurzer Zeit zusammengekommen ist. Ich 
habe dabei gesehen, dass es die Arbeitskraft eines 
Einzelnen übersteigen würde, allein diese zunächst 
ungesichtete Masse, wie sie etwa der Lauf eines 
Jahres bringen würde, zu bewältigen. Es würde sich 
deswegen empfehlen, demjenigen, dem Sie etwa die 
geplante Unternehmung übertragen werden, das Recht 
zur Cooptation weiterer Mitglieder nach Maassgabe 
des Bedürfnisses zu geben. Die von Ihnen zu er¬ 
wählende Persönlichkeit wäre der eigentliche Träger 
des technischen Theiles der Arbeit der Commission. 
Ausserdem würde zweckmässiger Weise, im Interesse 
der financiellen und sonstigen Verantwortlichkeit, ein 
Vorstandsmitglied der statistischen Commission 
angehören. — 

Die Bearbeitung des eingehenden Materials 
würde darin zu bestehen haben, dass in jedem Falle 
versucht wird, mit Hilfe der den betreffenden Ereig¬ 
nissen local am nächsten wohnenden Irrenärzte über 
die Thatsachen Authentisches zu erfahren, was in 
der Mehrzahl der Fälle möglich sein dürfte; die Be¬ 
arbeitung würde weiter darin zu bestehen haben, dass 
über gewisse Zeitabschnitte, etwa von einem halben 
oder ganzen Jahre, in Be rieht form Rechenschaft 
abgelegt würde, wozu z. B. diese Frühjahrs Versamm¬ 
lung jedesmal die geeignete Gelegenheit wäre. 

Gegenstand späterer Beschlussfassung, wenn der 
ganze Versuch sich als practisch durchführbar und 
zweckmässig erwiesen haben wird, muss es sein, in 
welcher Weise die Ergebnissse für die Oeffentlich- 
keit nutzbar gemacht werden sollen; in Betracht 
kämen dabei, um auch hierin mit vorläufigen Vor¬ 
schlägen zu kommen, die Bearbeitung in Brochüren- 
form, geeignet zur Uebermittlung an Regierungen 
und Parlamente und die Interessirung wiederum der 
Tagespresse. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, 
dass die ehrliche und intelligente Presse die beste 
Bundesgenossin der irrenärztlichen Bestrebungen 
werden wird, sobald die Dringlichkeit des vorliegenden 
Nothstandes überzeugend nachgewiesen sein wird; von 
der Tagespresse aus wird allmählich die Aufklärung des 
Publikums ausgehen. — Was die jährlichen Kosten 
anbetrifft, so glaube ich Zusagen zu können, dass ein 
von der Versammlung bewilligter Credit in der Höhe 
bis zu 300 M. die Ausführung des Planes in dem 
eben kurz umrissenen Umfange ermöglichen wird; 


ich würde dies für eine voraussichtlich nutzbringende 
Kapitalsanlage halten. — 

Ich bin weder im Allgemeinen so optimistisch 
veranlagt, noch in dieses specielle Project so blind 
verliebt, dass ich nicht eine ganze Reihe von Ein¬ 
wänden sähe, die sich dagegen erheben Hessen, auf 
die ich aber, um der Discussion nicht vorzugreifen, 
jetzt noch nicht eingehen will. Nur eines möchte 
ich vorweg betonen; man sagt wohl hier und da, es 
sei würdiger und vornehmer, zu schweigen. Nun, 
wir haben lange genug vornehm geschwiegen und wir 
sehen, w r as dabei herausgekommen ist; der Versuch, 
mit energischem Zugreifen weiter zu kommen, ist so¬ 
mit wohl der Mühe werth. 

Erwähnen will ich nur, dass natürlich auch für 
benachbarte Themata, für die in der Versammlung 
Interesse vorhanden wäre, bei dieser Gelegenheit 
Material gesammelt werden könnte, und ich würde 
mich über dahingehende erweiternde Vorschläge nur 
freuen; nur möchte ich bitten, das noch nicht einmal 
vom Stapel gelaufene Fahrzeug nicht gleich von 
vornherein bis zum Untersinken zu belasten. 

Wenn Sie mich nun fragen, warum ich grade jetzt 
mit diesem Projecte komme, so könnte ich im Allgemeinen 
antworten, dass es damit immer zu spät, niemals aber 
zu früh sein kann. Es existirt aber auch ein direct 
drängendes Moment: die über kurz oder lang 
doch zu erwartende reichsgesetzliche Reglung 
aller mit dem Irrenwesen zusammenhängenden Dinge, 
speciell die einheitliche Gestaltung des Auf¬ 
nah me verfahre ns. W T ir haben die Erfahrung ge¬ 
macht, dass die Wünsche der eigentlich Sachverstän¬ 
digen, der Irrenärzte, bei solchen gesetzlichen Fest¬ 
legungen keinesw'egs immer auf das nothwendige 
Maass von Berücksichtigung rechnen können; häufig 
sind wir auch zu uneinig gewesen oder überhaupt zu 
spät aufgestanden, um die sachlichen Nothwendigkeiten 
mit dem erforderlichen Nachdruck vertreten zu 
können. Kommt cs in nächster Zeit, so lange die 
jetzigen Auffassungen im Publikum und bei den 
Parlamentarien noch bestehen, zu einem Reichsgesetz, 
so können wir mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, 
dass nichts Besseres kommt, als wir es jetzt haben, 
dass im Gegentheil sehr bedenkliche und gefährliche 
Zustände für lange Zeit gesetzlich fixirt werden 
können. Da erscheint es mir nun nicht nur nützlich, 
sondern eine nothwendige That der Sclbsterhaltung, 
dass von dieser Versammlung aus, der Vertretung 
der gesammten deutschen Irrenärzte, etwas Einheitliches 
geschieht, nicht Lamentationen innerhalb der vier 
Wände oder Proteste in der Fachpresse, sondern eine 
positive Leistung, Beschaffung eines erdrückenden 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


69 


Beweismateriales über Art und Ausdehnung der Miss¬ 
stände, die wir zu beklagen haben. Mit dieser 
Sammlung erst dann zu beginnen, wenn die Vor¬ 
bereitungen zu einem Irrengesetz merkbar werden, 
das wäre nun freilich wieder viel zu spät. 

Ueberhaupt sind jetzt die Aussichten, die Ge- 
sammtheit der deutschen Irrenärzte zu grösserer Ein¬ 
heit zusammenzuknüpfen, besser, als jemals; die Voll¬ 
endung der Einheitlichkeit des Rechtes nöthigt uns 
wenigstens auf gewissen Gebieten zu einer gemein¬ 
samen Sprache und die Einführung des Staatsexamens 
wird allmählich die erwünschte Nebenwirkung haben, 
dass die jetzige babylonische Verwirrung in der psy¬ 
chiatrischen Nomenclatur durch weise Beschränkung 
jedes Einzelnen einer besseren Verständigungsmöglich¬ 
keit Platz macht. — 

So bitte ich Sie, diesem von mir kurz skizzierten 
Projecte, dessen technische Einzelheiten erst die Er¬ 
fahrung entwickeln muss, einem Projecte, in dem 


nichts Trennendes, sondern nur Gemeinsames ent¬ 
halten ist, zum Leben zu helfen. Ieh hätte sie erstens 
tim ihre principielle Zustimmung, zweitens um die 
Wahl der Persönlichkeiten für die statistische Com¬ 
mission und drittens um Geld.“ 

Die Versammlung erklärte nach einer Discussion, 
über deren Einzelheiten der officielle Sitzungsbericht 
Auskunft giebt*), einstimmig ihre Zustimmung, und be¬ 
willigte den beantragten Credit. Zum technischen 
Leiter der geplanten Sammlung wurde Prof. Hoche 
ernannt, mit dem Rechte weitere Mitglieder zu coop- 
tieren; ausserdem wurde aus der Reihe der Vorstands¬ 
mitglieder Prof. Fürstner in die Commission gewählt. 

— Weitere Mitteilungen an die Collegen in ganz 
Deutschland mit der Bitte um ihre tatkräftige Unter¬ 
stützung des Unternehmens werden demnächst erfolgen. 

*) s. den Bericht in voriger Nr. 


Dionin. 


| \as Dionin, ein salzsaures Aethylmorphin, ist 
ein weisses, geruchloses, bitter schmeckendes, 
kr)’stallinisches Pulver. Es löst sich unter neutraler 
Reaction leicht im Wasser (14:100). 

Nach v. Me ring verhält sich Dionin bei Kalt- 
und Warmblütlem im Wesentlichen wie Codein, seine 
Wirkung erscheint aber etwas stärker und von längerer 
Dauer. Das Dionin dürfte seine Stellung als thera¬ 
peutisches Agens zwischen Codein und Morphin ein¬ 
nehmen. 

Nach übereinstimmendem Urteile aller Autoren 
äussert Dionin, selbst in grösseren Mengen gegeben, 
kaum unangenehme Nebenerscheinungen. Infolge 
dessen eignet es sich besser als das Heroin als Ersatz¬ 
mittel des Morphins. Es hat sich das Heroin im 
Allgemeinen als weit toxischer erwiesen als das Morphin, 
es sind wiederholt üble Zustände selbst nach Gaben 
von 0,005 gr Heroin, mur. beobachtet werden. 

Hoff constatirte beim Kätzchen, dem er 0,01 
Dionin intravenös injicirte, eine Verlangsamung der 
Atmung mit verlängerter Ex- und Inspirationsdauer. 
Es konnte somit die atmosphärische Luft längere Zeit 
mit den Lungencapillaren in Berührung bleiben, der 
Effect der Lungen Ventilation wurde also erhöht In 
einer von Winternitz an Menschen angestellten 
Versuchsreihe, in welcher er die Wirkung des Dionins, 
Codeins und Heroins mittels des Zuntz-Geppert’schen 
Respirationsapparates auf die Atmung feststem, kommt 


genannter Autor zu folgenden Resultaten: Dionin 
und Codein setzen wieder die Athemgrösse noch die 
Athemfrequenz herab, sie beeinträchtigen in keiner 
Weise die Erregbarkeit des Athömcentrums. Heroin 
dagegen zeigt eine schon bei sehr kleinen Gaben 
ausgeprüfte Morphinwirkung, das Atemvolumen sank 
bei einer Versuchsperson, deren Respiration durch 
0,06 gr Dionin unbeeinflusst blieb, nach 0,007 n r 
Heroin, hydroch. in kurzer Zeit um mehr als 1 Ltr., 
dabei verminderte sich die Athemfrequenz, während 
die Tiefe des einzelnen Atemzuges nur unerheblich 
zunahm; die Erregbarkeit des Athemcentrums da¬ 
gegen erfuhr eine beträchtliche Herabsetzung. In 2 
Versuchsreihen von Winternitz und Damisch 
wurde 1—2 Std. nach Application des Dionin eine 
Steigerung des Athemvolumens um 1 — 1 l j 2 Ltr. p. 
Min. beobachtet. 

Nach diesen durch das Experiment gewonnenen 
Thatsachen sind dem Dionin als Heilmittel von vorn¬ 
herein 2 Wirkungskreise eröffnet; man w’ird es erstens 
anw'enden als bestes und unschädliches analgetisches 
und narkotisches Ersatzmittel des Morphin überall 
da, wo man glaubt von der Ordination des Morphin 
absehen zu müssen; man wird es zweitens verabreichen 
bei verschiedenen Erkrankungen der Athemwerkzeuge. 

Die klinischen Mitteilungen, welche das Dionin 
in dieser Anw endung als ein vorzügliches Mittel loben, 
sind sehr zahlreich. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


o 


Nach Bloch kommt dem Dionin eine exquisit 
schmerzlindernde Wirkung zu und überragt es in dieser 
das Morphin und Codein an und für sich, haupt¬ 
sächlich aber aus dem Grunde, weil es infolge des 
Fehlens der mit den andern Morphinpräparaten 
verbundenen Nebenwirkungen und der geringen 
Giftigkeit einerseits bis zu einem gewissen Grade die 
Steigerung des antalgischen Effectes durch Erhöhung 
der Gaben gestattet, anderseits, was wohl für 
die Indication der Schmerzstillung von grosser Be¬ 
deutung ist, mit Rücksicht auf seine leichte Löslich¬ 
keit und die dadurch bedingte rasche Diffusion in 
die Blutbahn in kürzerer Zeit als die früheren der¬ 
artigen Präparate seinen Heilzweck erfüllt. Nach den 
Mittheilungen von Zirkelbach aus der II. internen 
Klinik der Budapester Universität wurde die schmerz¬ 
stillende Wirkung des Dionins erprobt unter anderen 
bei 2 Fällen von Angina pectoris; hier linderte Dionin 
zwar die Schmerzen, aber es konnte die Häufigkeit 
der Anfälle nicht beeinträchtigen. Das Dionin be¬ 
währte sich als gutes Analgeticum bei Carcinom des 
Magens 3 mal, bei Ulcus ventriculi 2 mal, ebenso bei 
Cardialgie 2mal; in 3 Fällen von Leukaemie (ein 
Fall mit Tabes complicirt) linderte es die in den 
platten Knochen sitzenden und die durch die Milz¬ 
anschwellung entstehenden Schmerzen für mehrere 
Stunden. In 5 Fällen von Tabes dorsalis verminderte es 
für 2—5 Std. die laücinirenden Schmerzen wesentlich; 
von 2 orises gastriques hörten Uebelkeit, Erbrechen 
und Magenkrärapfe nach Dionin bei einem Fall 
gänzlich auf, beim anderen, wurden sie massiger. 
Sehr gut reagirten auf Dionin die Schmerzen bei 
Syringomyelie (2 Fälle), Ischias (3), bei verschiedenen 
Neuralgien (5) und je in 1 Falle von Polyneuritis 
acuta rheum. und Carcinoma mammae. Zu ähnlichen 
Ergebnissen kam B o r n i k o e 1 , der die Beobachtungen 
aus der III. medic. Klinik in Berlin mittheilt: Es 
wurde Dionin bei den verschiedensten Erkrankungen 
mit gutem Erfolge angewendet, insbesondere bei einer 
grossen Zahl von schmerzhaften Affectionen des weibl. 
Genitalapparates (Parametritis, Carcinoma uteri u. a.) 
— Walter und Isenburg wendeten mit demselben 
guten Erfolg Dionin bei diesen Krankheiten an. — 
Bei Pleuritis, Ulcus und Carcinoma ventriculi Hess 
Dionin nie im Stich. Salzmann rühmt ebenfalls 
die in hohem Grade analgetischen Eigenschaften 
dieses Mittels und wendete es unter anderem bei 
Cholelithiasis und Nephrolithiasis an. Heim ge¬ 
brauchte Dionin als schmerzstillendes Mittel bei 
Cholelithiasis, Ulcus und Carcinoma ventriculi, Neural¬ 
gie, Appendicitis, Gastralgie und Pleuritis; die Wirkung 
sei eine eclatante gewesen. Melzer wendet Dionin 


[Nr. 6. 


als schmerzlinderndes Mittel an bei 20 Fällen und 
constatirt 2 mal Misserfolg, in den 18 anderen rasche 
Beseitigung oder Linderung der Beschwerden ähnlich 
wie beim Morphin. Auch er betont wie fast alle 
Autoren, dass Dionin in seiner analgetischen Wirkung 
etwas milder wirke als Morphium, dagegen die üblen 
und unangenehmen Nebenerscheinungen desselben 
nicht zeigt Während Hönigschmied das Dionin 
bei pleuritischen Schmerzen mit ausgezeichnetem Er¬ 
folge anwendet, konnte er ihn bei Schmerzen im 
Magen, bei Kolik und Peritonitis für sich allein weniger 
wahmehmen. Er verabreichte bei Magenschmerzen 
und Erbrechen Dionin mit Cocain, bei Kolik in Ver¬ 
bindung mit Laudanum, bei Gelenkrheumatismus mit 
Natr. salicyl., bei Ischias mit Agathin und con- 
statirte, dass die Schmerzen früher nachliessen, als 
wenn die genannten Mittel ohne Dionin für sich 
allein gegeben wurden. 

Dionin wurde verordnet, um Schlaf zu erzielen, 
sowohl in Fällen, wo die Insomnie durch grosse 
Schmerzen verursacht war, als auch in den Fällen, in 
welchem der Schlaf dem Kranken in Folge allgemeiner 
Unruhe fehlte. Die Dosis von 0,015—0,028 gr ge¬ 
nügte meistens. Ein tiefer, betäubungsartiger Schlaf 
wurde auch nach grösseren Gaben nicht beobachtet. 
Uebcr Kopfschmerzen, Eingenommensein des Kopfes 
klagten nur wenige Patienten; der Schlaf ist als ein 
erquickender zu bezeichnen. 

Als Ersatzmittel des Morphium fand Dionin auch 
Aufnahme bei den Psychiatern und Neurologen. Nach 
den von Freimuth und Sturmhöfel gemachten 
Erfahrungen hatte Dionin bei Psychosen fast keinen 
Einfluss auf Erregung und Schlaf, von Krömer ist es 
auch bei Angstzuständen der Melancholiker ohne Erfolg 
versucht worden. Hoppe verspricht sich bei Er¬ 
regungszuständen der Melancholiker ähnlichen Erfolg, 
wie ihn das Morphium hat, weil dies ja indirect durch 
Linderung der. physischen und psychischen Schmerzen 
Schlaf und Beruhigung bringe. Ransohoff bestätigt 
diese Erwägung durch seine Versuche. Bei 3 Pat. 
mit vorwiegend melancholischer Verstimmung, von 
denen das Morphium nicht vertragen wurde, erzielte 
er sehr befriedigende Resultate mit Dionin, in weiteren 
6 Fällen war der Erfolg gut, dem des Morphiums 
gleichwerthig; bei weiteren 2 Kranken wirkte Dionin 
nicht, wohl aber Morphin; endlich in 2 Fällen starker 
Erregung versagten beide Mittel. Melzer hat 
Dionin fast stets mit bestem Erfolge bei Erregungs¬ 
und Angstzuständen leichteren und mittleren Grades 
angewendet. Nach Z i r k e 1 b a c h ist die narkotische 
und sedative Eigenart des Dionins wohl geringer als 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


7i 


die des Morphin, aber entschieden intensiver als die 
des Heroins oder Codeins. 

Da Dionin ebensowenig wie Codein Euphorie 
oder ähnliche Zustände hervorruft, wohl aber ein Ab¬ 
klingen der Abstinenzerscheinungen bewirkt, da es 
ferner vor dem Codein den Vorzug hat, dass seine 
Lösungen neutral sind und daher bei der Injection 
keine Schmerzen verursachen, so eignet es sich als 
vorzügliches Mittel bei Morphiumentziehungskuren und 
ist als solches mit bestem Erfolge von Fromme und 
Heinrich verwendet worden. Nach den Erfahrungen 
des letztgenannten Autors eignet sich kein anderes 
Opiumalkaloid, auch das Codein. phosphor. nicht in 
so hohem Maasse zur Linderung des Morphiumhungers 
als das Dionin. Eine Angewöhnung an das Dionin, 
ein Dioninhunger, ist nie beobachtet worden. 

Zahlreich sind die klinischen Mittheilungen, welche 
die Heilwirkung des Dionins bei Erkrankung der 
AthemWerkzeuge bestätigen. Körte lobt es als 
allgem. schmerzlinderndes und schlafbringendes Mittel 
bei Phthisis pulm., bei chronischer Bronchitis, Lungen¬ 
emphysem und Bronchialasthma. Er erklärt es für 
zuverlässig zur Bekämpfung des Reizhustens bei be¬ 
ginnender Lungen phthise; auch beeinflusse es die 
Nachtschweisse günstig und erleichtere in hohem 
Maasse die Expectoration. Dieselben günstigen Erfolge 
erzielte Janisch beim Gebrauch des Dionins bei 
chronischer Bronchitis, bei Emphysem, Asthma, bei 
Phthisis der Lungen und des Kehlkopfes. Schröder 
sagt: Bei einer Krankheit, deren Verlauf sich über 
Monate hinzieht, ist der Wuns'ch]nach einem Wechsel 
therapeutisch wirksamer Mittel von Seiten der Aerzte 
und der Patienten gleichberechtigt. Je mehr gleich 
oder ähnlich wirkende Mittel man daher an der 
Hand hat, desto besser wird man den Anforderungen 
der Praxis entsprechen können. Bei seinen Versuchen, 
die er an einer grösseren Reihe von Phthisikern mit 
Dionin, Codein, Peronin und Morphin anstellte, 
kommt er zu folgenden Resultaten: Dionin beseitigte 
oder linderte den Reizhusten und verschaffte besseren 
oft anhaltenden Schlaf, die Kranken fühlten sich be¬ 
haglicher und ruhiger. In manchen Fällen war die 
Wirkung des Dionins entschieden günstiger und aus¬ 
geprägter, als die kleinen Dosen Codein; es leistete 
vielfach dasselbe, was wir von den entsprechenden 
Dosen Morphin zu sehen gewohnt sind, ohne indessen 
im allg. dessen unangenehme Nebenwirkung zu theilen. 
Erschwerte Expectoration, Uebelkeit, Neigung zu Ob¬ 
stipation wurden nur ganz vereinzelt beobachtet, ein¬ 
mal trat vermehrte Schweisssecretion auf. 

Gleichfalls bei acuten und chronischen Leiden 
-der Athmungsorgane haben Kramolin, Higier, 


Melzer, Isenburg und Bornickoel mit bestem 
Erfolge das Dionin verabreicht; sie fanden, dass nach 
dem Gebrauche dieses Mittels der Husten fortbleibt, 
die Dyspnoe abnimrat und der Auswurf erleichtert 
wird. Schmidt, der Dionin in sehr zahlreichen 
Fällen bei chronischen und acuten Krankheiten der 
Lungen gegeben hat, rühmt die günstigen Eigen¬ 
schaften und die gute und prompte Wirkung desselben. 
Von Zirkelbach ist Dionin als hustenstillendes 
Mittel bei 74 Kranken angewendet, bei einem Theil 
der Fälle hörte der Husten vollständig auf, bei anderen 
verringerte er sich erheblich; bei Lungen- und Rippen¬ 
fellentzündungen mässigte es das lästige Seitenstechen 
und erleichterte den Auswurf. Bei Asthma in 5 Fällen 
gegeben, vermindert es sowohl die Intensität, wie 
auch die Zahl der Anfälle. 12 mal bei Dyspnoe, 
dargereicht, deren Ursachen in 7 Fällen ein Herz¬ 
fehler, in 5 Fällen Emphysem war, sicherte Dionin, 
ausgenommen 1 Fall, den Patienten einige ruhige 
Stunden durch Mässigung der Athemnoth. 

Auch in der Kinderpraxis, besonders bei Keuch¬ 
husten, ist Dionin mit einigem Nutzen angewendet 
worden. Hoff berichtet: Ich habe noch von keinem 
Mittel eine solch’ günstige Beeinflussung des Keuch¬ 
hustens, wie von der Combination Dionin mit Anti- 
pyrin, gesehen. Bei schweren Fällen von Glottis¬ 
krampf ist der Effect immer gut lind sicher. Schmidt 
rühmt die Wirkung des Dionins bei Keuchhusten 
mit folgenden Worten: Ich machte die Beobachtung, 
dass Dionin die häufigen spasmatischen Anfälle sofort 
mildert und auch vermindert, und dass die Krank¬ 
heit ohne Nachfolgen in viel kürzerer Zeit verläuft 
als ehedem. Gottschalk behandelte 32 Kinder 
meist tägl. 4—6 Wochen lang und zwar auf dem 
Höhepunkt der Krankheit mit Dionin. Bei 13 Kindern 
war die Wirkung ohne jeden Einfluss auf den Verlauf 
der Krankheit, d. h. weder die Anzahl der Anfälle 
noch ihre Stärke wurden günstig beeinflusst, darunter 
waren 5, bei denen als Complication eine Pneumonie 
auftrat, 2, bei denen das vorher angewandte Bromo- 
form und Belladonna auch keine Besserung verschafft 
hatten. In 9 Fällen wurden Stärke und Anzahl der 
Anfälle deutlich gebessert. Bei 10 Kindern nahmen 
mindestens die Anzahl der Anfälle deutlich ab. Bei 
der Hälfte der Kinder gaben die Mütter an, der 
Husten sei viel loser geworden. Eine Beeinflussung 
der Dauer des Keuchhustens durch Dionin sah der 
Autor nicht. Das Mittel wurde gern und im allgem. 
selbst wochenlang ohne ungünstige Nebenerscheinungen 
genommen. Ohne ein Specificum zu sein, ist es jeden¬ 
falls ein angenehmes Narcoticum, und es ist seine Ver¬ 
wendung bei Keuchhusten unbedenklich zu empfehlen. 


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72 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Resumiren wir kurz, so kann man die allgemeine 
Verwendung des Dionins als Ersatzmittel des Morphin 
nur empfehlen; es leistet als Analgeticum — weniger 
als Narcotieum — in der Mehrzahl der Fälle Alles, 
was man erwarten darf. Wo Dionin versagt, wird 
man nach wie vor zu dem stärker wirkenden Morphium 
greifen müssen. Da Dionin die Reizbarkeit der Luft¬ 
wege herabzusetzen vermag, ohne die Athemthätigkeit 
zu beschränken, und da es die Expectoration be¬ 
günstigt, ist es bei allen mit Reiz einhergehenden 
Erkrankungen der Respirationsorgane anzuwenden. 
Dionin wird ordinirt in der Regel in Dosen von 
0,01—0,04 gr. 

Eine eigentümliche Wirkung des Dionins und 
auch des Peronins auf das menschliche Auge beschrieb 
als Erster Wollfberg; er fand, dass Dionin dem 
Conjunctivalsack applicirt folgende Symptome verur¬ 
sacht: Bei schwacher Lösung tritt nach wenigen 
Augenblicken, bei starker Lösung und bei Dionin¬ 
pulver sofort das Gefühl von heftigem Brennen und 
Prickeln auf, das etwa 2 —3 Min. anhält. Hierauf 
stellt sich bis zu einem gewissen Grade Anacstliesie 
ein, der durch eine Augenkrankheit etwa bedingte 
Schmerz schwindet. Schon einige Secunden nach der 
Application tritt Injection der Conjunct. bulbi auf und 
stärkeres Thränen, die Injection pflanzt sich fort auf 
die Conjunct. palpebrae, die Lider schwellen mächtig 
an, die Lidhautvenen sind erweitert. Die Schwellung 
reicht oft bis auf Stirn und Wange. Die Conjunct. 
bulbi ist geröthet, chemotisch geschwellt, die Chemosis 
ist am deutlichsten um die Cornea herum. Letztere 
ist glatt, stark glänzend, etwas anaesthetisch. Nach 
ca. 3—5 Std. sind alle diese Erscheinungen schmerz¬ 
los geschwunden. Darier hat ausser mit Dionin 
Versuche mit Morphin, Heroin und Codein angestellt; 
nach ihm ruft Morphin als Pulver in den Bindehaut- 
sack gebracht zwar ebenfalls wie Dionin eine be¬ 
trächtliche Chemosis hervor und entfaltet eine kräftige 
analgetische Wirkung, ist aber wegen der eminenten 
Vergiftungsgefahr nicht empfehlenswerth; dasselbe gilt 
vom Heroin. Codein scheint keine analgesirende 
Wirkung zu haben. Vermes hat diese Mittel einer 
Prüfung unterzogen und nichts anderes als die Füllung 
der Gefässe gefunden, doch eine Ophthalmie wie die 
durch Dionin bewirkte, konnte er nicht constatiren. 

Es ist anzunehmen, dass die bedeutende Durch¬ 
feuchtung und Auflockerung der der Dioninwirkung 
ausgesetzten Gewebe die Resorption pathologischer 
Entzündungsproducte zu fördern und zu beschleunigen 
im Stande ist. Luniewski konnte durch einen 
Thierversuch diese Voraussetzung bestätigen. Er inji- 
cirte einem Hunde in das Corpus vitreum beider 


[Nr. 6. 


Augen japanische Tusche, liierauf wurde in das eine 
Auge Dioninpulver eingestäubt 40 Minuten darauf 
wurden beide Bulbi enucleirt Schon makroskopisch 
zeigen Schnitte durch das dioninisirte Auge stärkere 
Färbung in der Gegend des Corpus ciliare, des 
Ligamt. pectin. und der Iris, als die durch das andere 
Auge geführten Schnitte. Die Resultate der mikro¬ 
skopischen Untersuchung fasst der Autor in folgende 
Sätze zusammen: „Der Strom, der die Tusche¬ 
partikelchen fortschwemmt, ist im dioninisirten Auge 
stärker, es kommt hier zur venösen Stauung, die 
Lymphstomata sind hier erweitert Das Dionin ruft 
eine stärkere und lebhaftere Lymphcirculation in der 
vorderen und hinteren Lymphbahn hervor.“ 

Da die durch Lymphe überschwemmten Gewebe 
einer besseren Ernährung ausgesetzt sind, wird man 
annehmen dürfen, dass sie eine erhöhte Vitalität ent¬ 
wickeln können. 

Als erster betont Darier die eigenartige tiefe 
und lange anhaltende analgesirende Wirkung des 
Dionin — local angewendet — bei schmerzhaft er¬ 
kranktem Auge, während es anaesthesirend nur 
ganz gering wirke. Es bestehe ein directer Gegen¬ 
satz zwischen der Wirkung des Dionins und des 
Cocains; un oeil calme de ses douleurs profondes 
par la Dionine sentira tres bien le contact, la picqüre, 
le pincement 011 les cauterisations. C’est exactement 
le contraire de ce qu’on observe pour la cocaine qui, 
en meine temps quelle eteint la sensibilite periphe- 
rique, excite et stimule les centres psychomoteurs. 
Auch Soulier, gestützt auf experimentelle Unter¬ 
suchungen und klinische Beobachtungen, rühmt es 
als analgetisches Mittel: on doit reconnaitre a la 
Dionine dans la plupart des affections douloureuses 
de l’oeil la propriete analgesiante profonde et de lon- 
gue duree.“ Man hat verschiedentlich nach einer 
Erklärung dieser auch von vielen andern Autoren 
constatirten Thatsachen gesucht. Luniewski sagt: 
„Die überfüllten Lymphstomata üben einen Druck auf 
die Nervenendigungen aus, führen vielleicht sogar dadurch 
zur temporären Parese derselben — daher die anal¬ 
getische Wirkung und die leichter erfolgende Mydri- 
asis. Nach Wicherkiewicz ist die analgetische 
Wirkung vielmehr der Effect einer durch Dionin ge¬ 
besserten Lymphcirculation, als der der Einwirkung 
auf Nervenendigungen. Auch Darier erkennt in der 
gebesserten Lymphcirculation nach Anwendung dieses 
Mittels einen Grund für seine schmerzlindernde 
Wirkung: Nest-ce pas lä moyen bien simple d’ex- 
pliquer la duree de l’analgesie: sublata causa, la 
douleur ne reparait pas. Einen andern Grund sieht 
er in der dem Morphin und seinen Derivaten — also 


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1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


auch dem Dionin -— zukommenden beruhigenden 
Wirkung auf die psychomotorischen Centren. 

Endlich sei noch erwähnt, dass dem Dion in von 
Darier eine antiseptische Wirkung zugeschrieben wird. 
Vermes trat dieser Frage experimentell näher. Er 
bereitet sich 10% Dion in-Nährboden aus Agar, 
Gelatine und Bouillon, impfte diesem sowohl als auch 
einfachem Nährboden Sccret der Blenorrhoea sacci 
lacrymalis auf. Schon am folgenden Tage zeigte sich 
auf dem einfachen Nährboden eine Kultur mit be¬ 
deutender Vitalität, auf dioninem Nährboden dagegen 
liess sich Aehnliches nicht beobachten, oder doch 
viel später und auch da nicht mit der Tendenz rascher 
Fortentwicklung. Der Autor sagt: meine Eifahrungen 
Vonkludiren dahin, dass das Dionin auch einen 
gewissen Grad antiseptischer Wirkung besitzt. 

Diese 3 dem Dionin zugeschriebenen resp. zuzu¬ 
schreibenden Eigenschaften und Vorzüge lassen es 
als ein wichtiges Heilmittel erscheinen bei den ver¬ 
schiedenen Augenaffectionen. Nach seinen an überaus 
zahlreichen klinischen Beobachtungen gemachten Er¬ 
fahrungen kommt Wullfberg zu folgenden Resul¬ 
taten : I. Die Lymphüberschvvemmungdes Auges macht 
Dionin zu einem wichtigen Hilfsmittel in der Be¬ 
handlung aller Hornhautleiden, speciell solcher, welche 
nicht von Bindehautleiden abhängig sind. 2. Dion in 
ist für die Wundbehandlung nach allen Bulbusope¬ 
rationen und bei allen Verletzungen des Augapfels 
sowie des Bindehauttraxus zu empfehlen. 3. Dionin 
ist ein Unterstützungsmittel für die Behandlung des 
grünen Stars. Man muss jedoch stets sich vergegen¬ 
wärtigen, was erreicht werden soll: bei frischen Horn¬ 
hautwunden der Schutz einer bereits vorhandenen oder 
künstlich herbeigeführten prima intentio gegen In- 
jection — bei inficirten Hornhautwunden eine Kräfti¬ 
gung der Vitalität des normalen Gewebes gegenüber 
den Infectionskeimen, — bei Homhautleiden Ver¬ 
minderung des Schmerzes und beschleunigte Heilung, 
— beim Glaukom Verminderung des Schmerzes, 
Klärung der Hornhaut und Herabsetzung der Tension. 
Graefe spricht sich gegen eine Anwendung des 
Dionins nach Eröffnung des Bulbus aus. Er versuchte 
Dionin in 4 Fällen von Staroperationen, 2 Fälle 

heilten normal, in dem einen der 2 andern Fälle riss 
bei Anwendung des Dionins durch heftiges Niesen 
die Wunde, im 4. war das Atrium 5 Min. nach der 
Einträuflung mit Blut gefüllt. Während dieser Autor 
in 200 Fällen 40 mal heftiges bis 30 mal hinterein¬ 
ander erfolgendes Niesen fand, beobachtete Wol lfberg 
unter 600 mit Dionin behandelten noch nicht einen, 
der nieste. Luniewsky, welcher Beobachtungen an 
über 100 Fälle anstellte, konnte ebenfalls entgegen 

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den Beobachtungen von Graefe keinen Niesreiz con- 
statiren. Wicherkiewicz hingegen bemerkte bei 
einigen Personen nach Conjunctivaleinträuflungen 
Niesen. Wol lfberg glaubt, die Art der Anwendung 
sei schuld daran, dass in den Gräfe’schen Fällen das 
Niesen eine so häufige Erscheinung war, er werde 
selbstverständlich die eigenthümliche Beobachtung 
Graefes ferner im Auge behalten, trete aber nach wie 
vor für die Anwendung des Dionins bei der ersten 
Wundbehandlung Staroperirter und auch sonst in 
dem von ihm veröffentlichten Sinne ein. Darier 
schliesst sich den von Wol lfberg aufgestellten 
Indicationen in seiner letzten Arbeit an: Je puis 
affirmer que l’action lymphagogue de la Dionine, jointe 
ä son action antisepte tres manifeste, fait de cet agent 
un moyen plus precieux pour häter la cicatrisation des 
plaies et prevenir les infections. Je suis heureux aussi 
de reconnaitre avec Wollfberg que la Dionine rend les 
plus grands Services dans le traitement des operes de 
cataracte. Ausserdem empfiehlt er die Anwendung 
dieses Mittels bei quellenden Linsenmassen nach 
Discision, bei Exsudaten und Haemorrhagien zur 
rascheren Resorption, bei Iridochorioiditis mit Syne¬ 
chien, als schmerzstillendes Mittel ausser bei Kerati¬ 
tiden und Glaukom auch bei Iritiden und Cyklitiden. 
Graefe wendet Dionin an bei Conjunktivitis, Iritis, 
Iridocyklitis, Chorioretinitis, üpacitas corporis vitrei. 
Luniewski fand bei Application des Dionins wenig 
oder keinen Erfolg bei Conjunctivitis acuta und phlyc- 
tenulosa, bei Trachom, Blepharitiden, bei Corneo- 
skleral - Wunden, bei alten Maculae corneae, bei 
acuten und chronischem Glaukom, hin wiederum günstige 
Wirkung bei frischen Maculae corneae und Keratitis 
parcnchymatosa, bei traumatischer Keratitis, bei Opa- 
citates corp. vitr. und bei Ablatio retinae. Geradezu 
segensreich ist der Erfolg der Dionintherapie bei 
Iritis; es mildert den Schmerz, unterstützt und be¬ 
schleunigt die Atropinwirkung. In Fällen, in denen 
trotz Cocain und Atropin die Pupille eng blieb, trat 
sofort nach io°/o^o er Dioninlösung Erweiterung ein, 
ja noch mehr, bereits vorhandene Synechien wurden 
zerrissen. Diese letztgenannte Eigenschaft des Dionins 
wurde ebenfalls von Darier und Soulicr hervorge¬ 
hoben. Nicolaier und ähnlich Wicherkiewicz 
beobachtete, dass nach Anwendung von Dionin eine 
Pupillen Verengerung eintritt, die dann nach Atropin 
einer um so prompteren und ergiebigeren Erweiterung 
Platz macht. Terson berichtet über einen Fall 
von Glaukom nach Bright’scher Retinitis und über 
3 andere von typisch haemorrhagischen Glaukom, 
bei denen nach Application von Dionin die heftigsten 
unstillbaren Schmerzen nachliessen und verschwenden. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 6. 


„Im Kampfe gegen diese pemiciöse Form des Glaukoms, 
hei der eine Iridectomie wirkungslos und geradezu 
gefährlich ist, bei der auch Punctionen im Stiche 
lassen und das Auge fast sicher der Enucleation ver¬ 
fallen ist, sofern man sich nicht zu der eingreifenden 
Operation einer Resection dcsSympathicus entschliesscn 
kann, ist Dionin ein werthvolles therapeutisches Mittel“. 
Nach den Erfahrungen von Vernes steht der Nutzen 
des Dionins über allem Zweifel bei Leiden der Hornhaut 
aller Art, — ausgenommen diejenigen, welche durch 
Erkrankungen der Bindehaut bedingt sind —, ferner 
bei Krankheiten der Regenbogenhaut und des 
Strahlenkörpers, wo es in Verbindung mit Mydriaticis 
angewendet werde. 

Bei Erkrankungen des Auges empfiehlt sich die 
Anwendung des Dionins: 

1. In allen Fällen, in denen man die heftigen 
Schmerzen lindern will, auf welche die bekannten 
localen anaesthesirenden Mittel ohne Wirkung sind, 
so bei Keratitis, Iritis, Iridocyclitis, Glaukom u. a. 

2. In allen Fällen, in denen die Ernährung der 
Gewebe unterstützt, die Resorption von Exsudaten 
und Entzündungsproducten befördert werden soll, und 

3. in denen man eine sichere Atropinwirkung er¬ 
zielen will. 

Ob man Dionin bei der Wundbehandlung, besonders 
bei Staroperationen anwenden soll, ferner ob dem 
Präparat antiseptische Wirkung zukommt, um diese 
Fragen entscheiden zu können, werden noch mehr 
Beobachtungen nöthig sein. 

Dionin wird ordinirt als Augentropfen in 2 °/ 0 bis 
5 °/ 0 wässriger Lösung; als Pulver angewendet, bringt 
man etwa eine kleine Messerspitze voll ins Auge. 
Wollfberg empfiehlt folgende Medication: 

Rp. Dion. 0,25 
Ol. cacao 1,0 

Fiat massa, e qua form, baeilli Nr. 10. 

S. tägl. 1 bis mehrere Stäbchen ins Auge zu bringen. 

Benutzte Litteratur über Dionin. 

1. Bloch, Therap. Monatsh. 1899, VIII. 

2. Bloch. Aerztlicher Centralanzeiger, Wien 1900, Nr. 21 u. 22. 

3. Bol teil stern. Allgcm. Med. Cential-Zeitung 1901, Nr. 

15 u. 16. 


4. Bornikoel. Therap. d. Gegenw. 1900. 

5. Bresler. Psychiatr. Wochenschr. 1899, Nr. 39. 

6. Darier. La Clinique ophtalm. 1899. Nr. 23. 

7. Darier. La Clinique ophtalm. 1900, Nr. 6. 

8. Darier. La Clinique ophtalm. 1902, Nr. 1. 

9. Danenberger. Wochenschrift f. Therapie und Hygiene 
des Auges 19C0, III. Nr. 32. 

10. Fromme. Berl. klin. Wochenschr. 1899, Nr. 14. 

11. Fromme. Allgem. med. Central-Zeitung 1900, Nr. 34 
u- 35 - 

12. Gottschalk. Aerztl. Rundschau 1901, Nr. 31. 

13. Graefe. Deutsche med. Wochenschrift. 1900, Nr. 12. 

14. Gunzburg. Journal medical de Bruxelles 1900, Nr. 11 

15. Heim. Klin. therap. Wochenschrift 1899, Nr. 46. 

16. Heinrich. Wiener med. Blätter 1899, Nr. 11. 

17. Hesse. Pharmaceut. Centralhalle 1899, Nr 1. 

18. Higier. Deutsche Medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 441 

19. Hönigschmied. Aerztliche Central-Zeitung, Wien 1900 
Nr. 51. 

20. Hoff. Aerztl. Central-Anzeiger, Wien 1899 IX, Nr. 31. 

21. Isenburg. Medico 1900, Nr. 20. 

22. Janisch. Münchener medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 51. 

23. Körte. Therap. Monatshefte 1899, I. 

24. Kramolin. Therap. Monatshefte 1900, XI. 2. 

25. Luniewski. Verhandlg. der IX. poln. Aerzte- und 
Naturiorscherversammlung, Krakau 1900, Heilkunde 1902, 
Heft 2. 

26. Meitzer. Münch. Medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 51. 

27. Nicolaier. Wochenschrift f. Therapie u. Hygiene des 
Auges 1899, III. Nr. 13. 

28. PI es sner. Therap. Monatsh. 1900, Februar. 

29. Ransohoff. Psychiatr. Wochenschrift 1899, Nr. 20. 

30. Rosenfeld. Aerztl. Central-Zeitung 1900, Nr. 17. 

31. Salzmann. Wiener med. Presse 1900, Nr. 24. 

32. Schmidt. Aerztliche Central-Zeitung 1901, Nr. 34. 

33. Schröder. Therap. d. Gegenw. 1899, III. 

34. Simi. Bolletino d'Oculistica 1900, Nr. 11. 

35. So ul ier. Th&se de Lyon 1900. 

36. Terson. Ophtalm. Klinik 1901, Nr. 17. 

37. Umber. Therapie der Gegenwart 1900, Februar. 

38. Vermes. Orvosi Hetilap 1900. 

39. Walther. Zeitschr. f. pract. Aerzte. 

40. Winternitz. Therapeut. Monatsh. 1899, IX. 

41. Winternitz. Monatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie 

1900, Bd. VII. 

42. Wollfberg. Wochenschrift f. Therapie und Hygiene des 
Auges 1899, BL Nr. 4 und 1900 III. Nr. 16. 

43. Wollfberg. Therap. Monatsh. 1900, Heft 5. 

44. Zirkelbach. Orvosi Hetilap 1901, Nr. 37. 

E. Baucke-Bonn. 



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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 


1902.] 


75 


Mittheilunge n.*) 


— Die Jahresversammlung der Irrenärzte 
und Neurologen französischer Zunge. (11. 
Sitzung zu Limoges. Ann. Med.-psych. Sept. — Oct. 
1901.) 

Der vom 1. bis 7. August stattgehabte Congress darf 
den gelungensten beigezählt werden. Die Vorberei¬ 
tungen waren rechtzeitig getroffen worden, Stadt und 
Aerzte von Limoges bereiteten den Gästen einen 
vortrefflichen Empfang, und unter den Theilnehmem 
herrschte, schon durch das nahe Zusammenwohnen 
begünstigt, ein cordiales Einvernehmen. 

In der Eröffnungssitzung bewillkommte zuerst der 
Maire (Bürgermeister) die Versammlung, indem er 
dem Wunsche Ausdruck gab, es möchten immer mehr 
Mittel gefunden werden, die Geisteskrankheiten zu ver¬ 
hüten, und nach ihm der Director der medicin. Facultät. 
Ihm antwortete Ballet, der Präsident der Versammlung, 
selbst aus der Schule von Limoges hervorgegangen; 
er wies auf die ruhmvolle, artistische und litte- 
rarische Vergangenheit der festgebenden Stadt hin, 
besonders aber auf die berühmten Aerzte und Ge¬ 
lehrten des vorigen Jahrhunderts, Dupuytren, Gay- 
Lussac und Cruveilhier, und besprach dann Methoden 
und Hilfsmittel der jetzigen Psychiatrie und deren 
Mitarbeit an der Umformung des Strafrechtes. — 

Nachdem in der Nachmittagssitzung desselben 
Tages das Büreau conslituirt war, hielt Carrier sein 
Referat über das Delirium acutum. — 

Er characterisirt dasselbe als einen Symptomen- 
complex, der sich ebensosehr durch seine überaus 
rasche Entwicklung, als durch seine Gefährlichkeit 
kennzeichnet, auf Infection beruht, nach einem Pro¬ 
dromalstadium von schreckhaften Hallucinationen, Angst 
und allgemeinem Unbehagen, ein Stadium der Auf¬ 
regung und dann ein solches des Collapses aufweist. 
Psychisch stehen im erstem allgemeines Delir mit 
völliger Incohärenz, somatisch völlige Anorexie, Fieber, 
Dyspnoe und sehr frequenter Puls im Vordergründe, 
im letztem, das am 8. Tage zu beginnen pflegt, Stupor, 
Lähmungserscheinungen und Coma. Dasselbe bleibt 
aber aus, wenn der Fall sich bessert, um entweder 
ganz abzuheilen oder in Verrücktheit überzugehen. 
Ist aber das D. a. nicht ein primäres, sondern ein 
secundäres, so endet es meist tödtlich. — Verf. be¬ 
spricht an der Hand von 2 eigenen Beobachtungen 
1) die patholög-anatomischen Befunde, bes. der Nerven¬ 
zellen des Gehirns, 2) die Aetiologie, welche er in 
der nervösen Veranlagung des Individuums, in er¬ 
worbener Erschöpfung und in der Toxi-Infection findet, 
deren Natur allerdings erst zu finden ist. 

In der Discussion wird bald mehr die Intoxication, 
bald mehr die Infection betont. Und als practische 
Folgerung verlangt Regis, dass die betreffenden Kran¬ 
ken nicht in die Irrenanstalten, sondern in besondere 
Isolirabtheilungen der Spitäler geschickt werden, was 
die Versammlung als Desiderat adoptirt. 

Am 2. Tage fuhr die ganze Gesellschaft, wozu 
diesmal auch Damen gehörten, nach einem benach¬ 
barten Dorfe, hielt im Schulhause eine Vor- und eine 


Nachmittagssitzung ab, nahm zwischen beiden das 
Frühstück und nach beendeter Arbeit das Festessen 
in ländlich schöner Gegend unter Bäumen ein, um 
beim Mondscheine nach Limoges zurückzukehren. 

Folgende Vorträge wurden gehalten: 
Bourneville: Ueber Hämorrhagien der Haut als 
Folge epileptischer Anfälle. 

Meige: Ueber symmetrische Bewegungen der Glieder 
und Spiegelschrift. 

Dicay: Ueber Psychosen post operationem. 
Hartenberg: Ueber die nutritive Wirkung des hypo- 
dermatisch applicierten Lecithins. 
Roubinowitsch und Philippet: Ueber Hcdonal, 
das sie als inoffensiv bezeichnen. 

Dontrebente: Unterstützt die Petition von 150 An¬ 
staltsangestellten, dahingehend, dass künftighin 
Oekonomen und Rendanten aus ihrer Mitte und 
nicht aus Leuten gewählt würden, die dem An¬ 
staltsdienste bisher gänzlich femgestanden — was 
von der Versammlung adoptirt wird. 

A. Man haud: Ueber einen Fall von Spindelzellen¬ 
sarkom des Flocculus bei einem Epileptiker. 
Martin: Ueber hysterischen Torticollis und dessen 
Behandlung durch Gymnastik. 

Pailhas: Ueber Degenerirung (der Bevölkerung) in 
alten (abgelegenen) Ortschaften. 

Devay: Ueber juvenile Paralyse. 

Der 3. Sitzungstag wurde zum grösseren Theil 
durch das von Crocq, Professor in Brüssel, erstattete 
Referat über Tonus, Reflex und Contractur und durch 
die daran sich schliessende Discussion in Anspruch 
genommen. Crocq resümiert: In der grossen Mehr¬ 
heit der Fälle gehen Tonus und Sehnenreflexe pa¬ 
rallel, doch nicht immer, und gerade dadurch erweist 
sich auch ihre anatomische Unabhängigkeit. 

Dann wurde Grenoble als Sitz des Congresses 
für 1902 gewählt, und wurden folgende Themata und 
Referenten bestimmt. 

1. Ueber Angstzustände bei Geisteskrankheiten. La- 
lanne. 

2. Ueber den Tic. Nogues. 

3. Die Selbständiger in forensischer Beziehung. 
Dupre. — 

Endlich wurden noch Mittheilungen gemacht von: 
Justin Lemeitre über Pseudotumoren des Bauches, bei 
Hysterie und Neurasthenie durch Gasentwicklung 
vorgetäuscht. 

Joffroy über Temperatursinkungen bei 2 Para¬ 
lytikern (bis 29 resp 25,5°), 

von Bourneville: über Syphilis, Alkoholismus und 
ungesunde Berufsarten als Ursache des Idiotismus, 
und endlich von Raymondaud über Zig oder 
Phantogenie, d. h. phantastische Gesichtsillusioncn. — 
Der folgende Tag, ein Sonntag, war der Gesellig¬ 
keit gewidmet; der Präsident hatte die Versammlung, 
Herren und Damen, zu einem Frühstück in Saint- 
Goussaud eingeladen, das sehr belebt verlaufen zu 
sein scheint. — 

Der folgende Tag brachte das Referat von Taguet 


*) Wegen längeren Aufenthalts des Red. im Auslande machte sich leider eine Unterbrechung des Berichts der Münchener 
Versammlung nöthig; die Fortsetzung wird aber demnächst erfolgen. Red. 


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76. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6. 


über das Personal der Angestellten in den Irrenan¬ 
stalten, also hauptsächlich die Wärter frage. Das Seine¬ 
departement (Paris) habe die Besoldungen der Wärter 
beinahe verdoppelt, mit Pensionsberechtigung nach 
20 oder im Krankheitsfälle schon nach io Dienst¬ 
jahren. Nur sollte der Directoi und nicht der Präfect die 
Wärter ernennen. Als Postulatc wurden aufgestellt: 
Fachunterricht des Wartpersonales; Theilung des 
Personales in solches für den Tag und solches für 
die Nacht; i Wärter auf io Kranke als Maximum. 
Besoldung von frs. 360 an, mit Berücksichtigung der 
Familien Verhältnisse. 

Die Frage eines ständigen Secretärs wurde einer 
bes. Commission zur Begutachtung überwiesen. — 

In der Nachinittagssitzung folgten r5 Mittheilungen 
thcils casuistischen, theils anatomisch-physiologischen 
Inhaltes; z. Th. mit Projectioncn von Radiographien. 
Am Abend officielles Banket im Stadthause. — 

Damit war der eigentliche Congress geschlossen. 
Am folgenden Tage wurde von einer Anzahl Theil- 
nehmern die Irrenanstalt Naugeat besichtigt, zu 
welchem Bchufe vom Anstaltsgeistlichen eine die 
Entwicklung und den gegenwärtigen Bestand der 
Anstalt beschreibende Brochiirc verfasst worden war. — 

G. Burchhardt. 

Referate. 

— Bruns, die träum. Neurosen, Unfalls- 
n cu rosen. Wien 1901. Alfr. Holder. 13 1 Seiten, 
Lexicon-Octav. 3,20 M. 

B. hat bei der Definition des Krankheitsbegriffes 
auch die einfachen Psychosen und die Mischformen 
zwischen Neurosen und Psychosen berücksichtigt, da¬ 
gegen die organischen Erkrankungen ausgeschlossen, 
sodann auch den Begriff des Unfalls unserer Unfalls¬ 
gesetzgebung entsprechend präcisirt, nac h einer guten 
historischen und Litteraturübcrsicht kommt er zur Be¬ 
sprechung der Actiologie, Symptomatologie, Simulation 
einzelner Symptome und ihrer Erkennung, des Schlafes, 
Schwindel, der Krampfanfälle, Gefühls- und Sinnes¬ 
störungen, Lähmungen, Contracturen, Gchstörungen, 
des Verhaltens der Sehnenreflexe, des Zitterns, der 
Herzerscheinungen und des allgemeinen Verlaufs. 
An der Hand einer kleinen, aber sehr beweiskräf¬ 
tigen Zahl von Fällen gelingt es B. ein ziemlich 
scharf characterisirtcs Krankheitsbild zu entwerfen, 
nur bei dem Punkt: Simulation, sc heint mir bedenk¬ 
lich, dass Verf. nachweisbare Vortäuschung, nicht nur 
Uebertreibung eines Systems noch nicht für ausrei¬ 
chend hält, um den Patienten der Simulation ver¬ 
dächtig erscheinen zu lassen. 

Sehr werthvolle Angaben enthält das nächste Ka¬ 
pitel über Diagnose, forensische Fragen, Bestimmung 
des Grades der Erwerbsfähigkeit und Abfassung der 
Gutachten, insbesondere stellt er sich zu Strümpell in 
Gegensatz, indem er bei der Exploration die Ein¬ 
ziehung von Leumundszeugnissen zur Bcurtheilung der 
Zuverlässigkeit der Angaben für irrelevant hält, da 
ein sehr weuig achtenswerther Mensch doch krank 
sein kann. 

Bei der Bemessung der Rente partiell Arbeitsun¬ 


fähiger weist B. auf den therapeutischen Wert der 
Arbeit als häufig einziges Heilmittel hin und steht 
somit auf dem Boden Strümpells. 

Zum Sc hluss nach kurzer Würdigung von Prognose 
und Therapie streift B. noch einmal die Frage der 
Simulation, insbesondere auch vom strafrechtlichen 
Standpunkt und zeic hnet sic h auc h hier durch grosse 
Milde der Auffassung aus. 

Die Ansc haffung des Buches kann allen, die über 
Unfallsneurotikcr zu urtheilen in die Lage kommen, 
seiner sehr eingehenden Behandlung dieses theilweisc 
noch recht schweren Gegenstandes wegen empfohlen 
werden. Weist. 

— Dr. Hell ms u. A. Möller, Irrenhaus oder 
Pri vatpf 1 ege? Hamburg. Grabow. 40 S. Indem 
sie das Verständniss und Interesse für die Geistes¬ 
kranken in allgemein fasslicher Weise zu erwecken 
suchen, wenden sie sich gegen die verbreiteten Vor- 
urtheile und Anklagen gegen die Irrenheilanstalten. 
Ob einer naturgemäss nur auf einen engen Kreis 
verbreiteten Brochüre ein besonderer Erfolg blüht, 
wird bezweifelt. Mehr noch als es bisher geschieht, 
sollten cs sich die vielerorts entstandenen Irrenhilfs¬ 
vereine angelegen sein lassen, durch Vorträge und 
Verbreitung ähnlicher Broc hüren aufklärend und der¬ 
gestalt helfend zu wirken. Kellner (Hubertusburg). 

— Treitel. Uebc r Ago raph ob i e und ver¬ 
wandte Zustände bei Erkrankungen des Ohres 
Sainml. zwangl. Ablidl. a. d. Gebiet d. Nasen-, Ohren- 
etc. Krankheiten. |c)oi, Nr. 8. Halle a. S., C. Marhold. 
Verf. weist auf jene Fälle von A. hin, welche an durch 
Schwindel vcranlasstc wirkliche Unfälle anknüpfen. Be¬ 
sonders von Frankreich aus hat man einen directen 
Zusammenhang von A. mit dem Ohrcnschwindel con- 
statirt. Tr. betont aber unter Heranziehung mehrerer 
kasuistischer Fälle, dass der Ohrenschwindel resp. das 
Ohrcnleidcn allein nicht genügt, dass vielmehr stets 
eine gewisse nervöse Disposition vorhanden sein müsse, 
wenn im Anschluss an jenen A. auftreten solle. Da¬ 
nach muss die Therapie auch von der Behandlung 
des Allgemeinzustands ausgehen. 

Kellner (Hubertusburg). 

— „Mädchenopfer“ nennt sich eine Schrift von 
H. J. Brandes (H. Walther, Berlin 1902), welche „die 
Schwesternpflege an Männern“ behandelt, wie sic 
mehr und mehr besonders in den ärztlichen „Gross¬ 
betrieben“ aufflammt und sich leider auf die Pflege 
auch der Geschlechtskranken ausdehnt, eine Thatsachc, 
welche aus Rücksicht auf Pflegerin wie auf den Kran¬ 
ken kaum nothwenclig ist. Insofern birgt die „An¬ 
klageschrift“ einen wahren Kern, besonders wenn die 
dort geschilderten Begebenheiten auf Thatsachen be¬ 
ruhen. Wo der für den Pflegeberuf hohe sittliche 
Ernst fehlt, birgt der erstere überhaupt und besonders 
in der Ausübung an Männern zahlreiche Gefahren. 
Und entbehren möchten wir die weibliche Pflege doch 
nicht.— Was auf 77 Seiten gesagt wird, dafür hätten 
10 Seiten genügt. Die breite und pikante Wieder¬ 
gabe des gesammelten „Materials“ dürfte auf einen 
buchhändlerischen Erfolg abzielen. Kellner. 


l'ür den rcdactiouelU-u Tlu-il \ ci antum tiu li : Oberarzt l)r. J. Jirisler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahnie 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 


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Heyneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herau*KA|?e bon von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt, 

IN-hi.prmur*» i Altmarki Gras. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin. 

Prof. Dr. E Mendel. Dr. P. J. Möbiufl, Director Dr. Morel, 

Berlin Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-AdresM: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 7. 17 - Mai. 1902. 

Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 
ß**«trlliinieen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ertnaiaigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten 

Inhalt. Originale: Eine interessante Nachricht aus der Schweiz. Von A. Grohmann, Ingenieur in Zürich (S. 77). — „Schutz 
des Publikums vor den Psychiatern.“ Von Dr. Pfausler, Director, Valduna (S. 80). — Mittheilungen (S. 83). — Referate 
(S. 87). — Personalnachricht (S. 88). 


Eine interessante Nachricht aus der Schweiz. 

Von A. Grohmann , Ingenieur in Zürich*). 


A Veranlasst durch Möbius hat sich eine Gesellschaft 
* von Männern zusammengefunden ? die daran¬ 
gehen will, in einer schönen Gegend der Schweiz ein 
grosses alkoholfreies Landgut — sie wollen ihm den 
Namen „Colonie Friedau“ geben — zu errichten, um 
Nervenkranken und Alkoholkranken zu einem gesunden 
und nützlichen Leben zu verhelfen. 

Die Patienten sollen sich also aus zwei allerdings 
sehr grossen Gruppen von Kranken recrutiren, für 
die. es bis heute, abgesehen von sehr kleinen Ver¬ 
suchen, an ausreichenden Heil- und Linderungsmitteln 
gefehlt hat, obwohl es doch an Krankenhäusern der 
verschiedensten Art wahrlich nicht fehlt. 

Die „Colonie Friedau“ soll den lantlwi ithschaf t- 

*) Herr Gr., der von Hause aus eine ungewöhnliche An¬ 
lage für psychologische Beobachtung besitzt, hat sich als Leiter 
einer Beschäftigungsanstalt für Nervenkranke und im Verkehr 
mit sachverständigen Aerzten ganz eigenartige, werthvolle Er¬ 
fahrungen erworben. Er ist jetzt Secretär des Gründungs- 
comitfcs für „Colonie Friedau“. Die Redaction. 


liehen Betrieb, besonders Gartenarbeit, sowie den Be¬ 
trieb der eigenen Hauswirthschaftseinrichtungen so 
führen, dass sie ihre Bedürfnisse soviel wie möglich 
selbst befriedigt. Auch das Personal soll alkoholfrei 
und die Kranken sollen als Hilfskräfte verwendet 
werden, soweit und soviel es geht. 

An ihrer Spitze soll ein sachverständiger Arzt stehen, 
neben ihm ein Verwalter für die öconomischcn An¬ 
gelegenheiten, beide dem Vorstand des Vereins ver¬ 
antwortlich. 

Alkohol wird in der Colonie nicht geduldet werden, 
und von Jedem wird nach Kräften und Vermögen 
Theilnahme an den Arbeiten in Feld, Garten und 
Haus erwartet. Die Colonie will aber keine Trinker¬ 
heilanstalt sein, sondern nur Alkoholkranke aufnehmen, 
die einer Trinkerheilstätte noch nicht oder nicht mehr 
bedürfen, für die aber der Verbleib in ihrer gewohnten 
Umgebung Gefahr bringt. 

Durch die Schaffung einfacher, natürlicher Lebens- 


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78 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


und Arbeitsverhältnisse soll die Hilfe gleichzeitig besser 
und billiger werden. 

Dabei soll die Colonie weder auf den reinen Er¬ 
werb zugeschnitten noch eine reine Wohlthätigkeits- 
anstalt sein in dem Sinne, dass sie ihre Errichtung 
und ihren Betrieb nur Schenkungen verdankt — wenn 
auch letztere natürlich nicht ausgeschlossen sind, — 
sondern sie soll nach beiden Richtungen auf eigenen 
Füssen stehen, da die Gründer zu beweisen wünschen, 
dass dies möglich sei. Und durch diesen Beweis 
möchten sie veranlassen, dass auch an anderen Orten 
ähnliche Anstalten entstehen, um das Los mancher 
Nervenkranken und solcher, die längere Zeit in al¬ 
koholfreier Umgebung leben sollten, zu verbessern. 

Wenn es mir, einem Laien, gestattet ist, mit einigen 
skizzenhaften Ausführungen die Krankheitsgruppen 
zu schildern, denen die Colonie wird dienen können, 
so möchte ich dies wie folgt thun, indem ich mich 
an die Bedürfnisse halte, von deren Vorhandensein 
ich mich im Verkehr mit geistesdefecten Menschen 
überzeugt habe. 

Da nenne ich vor allem die nicht gewohnheits- 
mässigen „psychopathischen Trinker“ mit nur seltenen, 
aber schweren Excessen, und dann die grosse Zahl 
derer, bei denen sich, besonders in jugendlichen Jahren, 
noch kein Alkoholismus ausgebildet hat, die aber ihre 
Willensschwäche nach dieser Richtung gezeigt haben. 
Ihnen soll durch lange Gewöhnung gezeigt werden, 
dass der Mensch am besten ohne Alkohol lebt. 

Diese beiden Gruppen sind sow'ohl rein, wie auch 
in allen denkbaren Schattierungen in Verbindung 
mit allen anderen Erscheinungen nervöser und geistes¬ 
kranker Natur vorhanden. Sie gehören in eine al¬ 
koholfreie Umgebung und sie gehören unter sach- 
ständige Leitung. 

Die Ueberfüllung der Irrenanstalten, die Scheu 
vor ihnen und die Unvollkommenheit unserer Irren¬ 
gesetze gestatten nur in den Fällen die Ueberführung in 
Irrenanstalten, die fast geradezu als Nothfälle bezeichnet 
werden müssen. Sind es gerichtliche Fälle, so ist ihr 
Schicksal schon durch die Sachlage mehr oder weniger 
festgelegt. Für viele andere dieser Patienten aber ist 
es ein Bedürfniss, ausser den Irrenanstalten Anstalten 
zu haben, die alkoholfrei betrieben werden, den In¬ 
sassen Arbeitsgelegenheit geben und dabei genügend 
billig sind, um auch bei bescheidenen Verhältnissen 
einen längeren, ja auch dauernden Verbleib in der 
schützenden Umgebung zu ermöglichen. 

Dann denke ich an die vielen Menschen, die ohne 
eigentlich krank zu sein, doch in irgend einer psy- 
• -bischen Richtung schutzbedürftig sind: characterolo- 
gisch Abnorme mit leichten und für Andere nur w enig 


[Nr. 7 . 


gefährlichen Trieben, Gelüsten, Stimmungen und 
Schwachen, für die alle jene leichte Correctur des 
Schicksals erwünscht wäre, wie sie nur innerhalb einer 
specifisch eingerichteten frei lebenden Gemeinschaft 
möglich ist Weder das gewöhnliche Leben noch 
das in der Irrenanstalt ist für sie das richtige, das 
eine bietet ihnen zuviel, das andere zu wenig von 
jenem Zw'ang zu Pflicht und Arbeit und gesellschaft¬ 
licher Anpassung, den jeder Mensch haben muss. 
Weder die Aussenw r elt noch die Irrenanstalt kann 
ihnen, den Mittehverthigen, das richtige Maas geben. 

Eine sehr grosse Gruppe, von der ich aufrichtig 
wünsche, dass sich die Aufmerksamkeit der Sachverstän¬ 
digen ihr eingehend w r idme, und für die die Colonie 
Friedau gerade das Rechte werden dürfte, sind die in ge¬ 
ringem Grade Schw achsinnigen. Ich habe in einer kleinen 
Schrift (Ernstes und Heiteres aus meinen Erinnerungen 
im Verkehr mit Schwachsinnigen, Verlag Melusine, 
Zürich 1902) eine Reihe von solchen Fällen für 
Eltern und Lehrer beschrieben. Es ist meine feste 
Ueberzeugung, dass aus den meisten Leichtschwach- 
sinnigen bei guter Behandlung sehr viel mehr nützliche 
Arbeit herauszugewinnen ist, als es geschieht. Der 
Schwerpunkt liegt hierbei meist in dem Nichterkenncn 
des Schwachsinnes als solchen. Auch haben die 
Irrenärzte bis jetzt zu wenig von diesen Kranken 
bekommen als dass sie viel Aufklärung über dieses 
Gebiet hätten verbreiten können. Am meisten Elend 
erzeugt hier der Reichthum. Reiche lassen, als 
ob es selbstverständlich wäre, ihre Söhne studieren, 
ob sie unfähig sind oder nicht; es wird ihnen nicht 
ein genügend primitiver Beruf und es werden nicht 
genügend einfache allgemeine Lebensverhältnisse ge¬ 
boten. Die Patienten geben Veranlassung zu den 
aufreibensten Aergemissen mit psychologisch unbe¬ 
gabten Eltern. Bei andern geht es nach einem gründ¬ 
lichen Verpfuschtsein zwar nicht so tragisch zu, aber 
selbst wenn sie eben wegen dieses Verpfuschtseins 
etwa Irrenärzten in der Consultationsstunde vorgeführt 
werden, die Schwerberathbarkeit der Eltern giebt da 
nicht mehr lösbare Aufgaben auf. Da möchte ich nun 
das grösste Gewicht darauf legen, dass die praktischen 
Aerzte über die Absichten des „Colonie Friedau“-Ver¬ 
eins informirt werden, damit sie — fast die Einzigen, 
die solche Fälle in den Familien kennen lernen — daran 
denken mögen, recht frühzeitig daran zu gehen, vor 
zu hochgegriffenen Berufen zu warnen und im Falle von 
Unfrieden zwischen Eltern und Kindern — eines der 
bequemsten Zeichen für die Wahrscheinlichkeit von 
Schwachsinn bei letzteren, wenn nicht bei beiden — 
zunächst wenigstens ein „zeitweiliges Ausspannen“ und 
eine mehrmonatige Beobachtung bei praktischer Arbeit 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


79 


IQ02.] 


wie sie die Colonie bieten wird, vorschlagen. Wer 
heutzutage in diesen „leichten“ Fällen die Beobachtung 
durch einen Irrenarzt vorschlägt, kann mit Sicherheit 
auf Misserfolg rechnen. Untersuchung und Be¬ 
obachtung dieser jungen Leute ausserhalb der ge¬ 
wohnten Umgebung des Elternhauses wird, darauf 
rechne ich nach meiner Erfahrung mit Sicherheit, 
zeigen, mit wie einfachen Mitteln besonders manche 
dieser jungen Männer von 16 bis 20 Jahren auf den 
rechten Weg zu bringen sind. Denn während der 
geistig begabte, gebildete, ältere, aber geistig abge- 
ai beitete Nervöse oft nur schwer von seinen geistigen 
Interessen abzulenken ist, kann dies — aber immer 
nur in richtiger Umgebung — oft spielend leicht 
beim jugendlichen Unbegabten geschehen. 

Kommen nun noch die Neurosen im engern Sinne, 
Hysterie und Neurasthenie, über die ich trotz ihrer 
Bedeutung hier nichts sagen will, hinzu, so mag mit 
dieser Reihe ein ungefähres Bild des zu erwartenden 
Patientenstandes angedeutet sein. 

Aus verschiedenen Gründen ist zu erwarten, dass 
die Irrenärzte sich für das Unternehmen „Colonie 
Friedau“ interessiren werden, und aus ihren^ Reihen 
dürfte auch der ausführende Oberarzt der Colonie 
hervorgehen: Nur unter den Irrenärzten sind Männer, 
die eine langjährige Schulung durchgemacht haben in 
der Organisation, in der Verpflegung und in der Be¬ 
schäftigung geistesdefecter Menschen in grosser Zahl. 
In der Entwicklung des praktischen Irrenwesens zeigen 
sich zwei Tendenzen, die stetig anwachsen und 
nur scheinbar im Gegensätze stehend: Das Eine ist 
die zunehmende Zahl der Menschen, die in Irren¬ 
anstalten versorgt werden — das Schreckgespenst so 
Vieler, — das Zweite das stetig zunehmende Verlangen, 
dem Patienten innerhalb der Anstalt immer mehr und 
mehr Freiheit zu geben: das Verlangen und Ziel der 
Irrenärzte. Der Kranke verliert im Einen die Freiheit, 
um sie im Andern nur anders wieder zu erhalten. 
Die Bevormundung Hülfloser und Schädlicher verliert 
an Intensität, nimmt zu an Extensität. Wurden früher 
nur Kranke versorgt, deren Gefährlichkeit Jedem im 
Volke einleuchtete, so kommen jetzt Leute ins Irren¬ 
haus, von denen oft die „Gebildetsten“ nicht einsehen 
wollen, das dies nöthig sei. Dass diese zwei Tendenzen 
nicht von den Irrenärzten gemacht, sondern aus den 
gesellschaftlichen Zuständen erwuchsen sind, das geht 
auch aus der Thatsache hervor, dass beide dem Irren¬ 
ärzte vermehrte Last und Verantwortung aufbürden: 
Auf der einen Seite Zunahme von Arbeitslast durch 
Vollstopfen der Anstalten weit über ihr richtiges 
Fassungsvermögen hinaus und starker Patientenwechsel, 
auf der andern Seite Lockerung der Aufsicht, Er- 

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schwerung der Uebersicht, vermehrte Berührung der 
Kranken mit der Aussenwelt, vermehrte Gelegenheit 
zu gefährlichen Handlungen durch Werkzeuge, offene 
Fenster und Thüren, Möbel und Hauseinrichtungen 
aller Art nach den Gepflogenheiten der Aussenwelt. 

Denkt man weiter an die mo.lernen gänzlich 
„freien Abtheilungen“, die vollständig freien „Irren¬ 
kolonien“ und Irrendörfer, so zeigen sich am Ende 
dieser langen Reihe von Aenderungen und Ent¬ 
wicklungen, zu der es mehrerer Menschenalter bedurfte, 
zwei Arten von Anstalten: 

1. Die Anstalt mit geschlossener Centrale, um¬ 
geben von lauter mehr oder weniger offenen Ab¬ 
theilungen, alle mit sehr verschiedenen Einrichtungen 
— für die Geisteskranken im engem Sinne, zum theil 
vorgeschlagen, zum theil schon bestehend, für Menschen 
mit zeitweiliger oder steter Gefährlichkeit. 

2. Die völlig offene Anstalt, ebenfalls auf dem 
freien Lande, ebenfalls mit landwirtschaftlichem Be¬ 
triebe, aber mit vermehrten, und reicher entwickelten 
Beschäftigungsgelegenheiten, — die noch nicht be¬ 
steht, — die für Nervenkranke bestimmt sein mag, 
und die jetzt das Ziel der Gesellschaft „Colonie 
Friedau“ sein wird. 

Aber ausser den zwei schon genannten Tendenzen 
könnte man noch eine dritte Tendenz annehmen, die 
allerdings nicht allein die Irrenärzte angeht, sondern an 
der auch Andere theilnehmen, aber die von Irren¬ 
ärzten verhältnissmässig viel mehr unterstützt wird, als 
von den Vertretern irgend eines andern Berufes oder 
irgend einer anderen Gesellschaftsgruppe: die Alkohol- 
abstinenzbew'egung. Wer die Literatur der Ab- 
stinenzbew'egung ansieht, stösst immer wieder auf 
Irrenärzte als Führer der Massen sowohl als auf 
Autoren der besten Werke, obwohl die Irrenärzte 
nur etwa den 100000. Theil der Bevölkerung aus¬ 
machen. Die beste experimentelle Arbeit über die 
Wirkung des Alkohols auf die psychischen Leistungen 
ist von einem Irrenarzt, und der Mann, dem w r ir die 
werkthätigste Abstinenz-Propaganda verdanken, ist 
auch wieder ein Irrenarzt. Und noch eine Brücke 
besteht zwischen dem Irrenarzte und der geplanten 
Anstalt: Zahlreich sind die Fälle in Irrenanstalten, 
wo ein Patient in der Hauptsache zwar als geheilt 
oder gebessert, oder als ungebessert, aber ungefährlich 
gew’orden zu entlassen ist, ohne dass man ihm die 
Kraft zumuthen kann, dass er sich in der nächsten 
Zeit w’erde halten können. Er bedarf eines leichten 
Schutzes, der sehr verschiedener Art ist — beim Einen 
die Abstinenz, beim Andern anderes, — den ihm die 
Irrenanstalt entweder nicht bieten kann, oder insofern 
nicht bieten darf, weil sie ihn nicht zurückbehalten 

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8 o 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 7- 


darf. Uebcrgangsstationen zwischen Irren¬ 
anstalt und Freiheit haben wir bis jetzt noch nicht 
gehabt Manche Patienten sollten aus der Hut des 
einen Psychiaters in die Hut eines andern Psychiaters 
kommen; auch hier: vermehrte Freiheit, — aber auch 
Erhaltung des nützlichen Restes von Erwerbsfähigkeit. 
Das Leiden oder die Gefahr des Rückfalles ist ge¬ 
blieben und die Erkenntniss dieser Gefahr ist psy¬ 
chiatrischer Natur. 

In Summa ist also zu sagen: die Colonie Friedau 
erstrebt in erster Linie Arbeit und Abstinenz für 


Nervenkranke, in zweiter Linie: Es soll doch 
endlich einmal, Und zwar mitten in einem an 
Trinkern reichen Lande eine Insel erstehen, 
wo nicht getrunken wird, und auf der die Ab¬ 
stinenz nicht gepredigt, sondern geübt wird. 

In gewissem Sinne ist die Schweiz ein Sanatorium 
für ganz Europa und die Augen der Welt sind auf 
dies schöne Land gerichtet: Die Colonie Friedau 
wird daher gerade in der Schweiz am rechten Platze 
sein. 


„Schutz des Publikums vor den Psychiatern.“ 

Von Dr. PfausUr, Director, Valduna. 


TT in k. k. Justiz-Min.-Erlass (vom Februar 1 . J.), nach 
welchem bei Begutachtungen von in den An¬ 
stalten befindlichen Geisteskranken die Beiziehung der 
ordinirenden Anstaltsärzte zu vermeiden sei, hat unter 
einem Theile der österreichischen Irrenanstalts-Aerzte 
eine begreifliche Erregung hervorgerufen. Da es auf 
den ersten Blick den Anschein hatte, dass dieser Er¬ 
lass einem irgendwie veranlassten Misstrauen gegen¬ 
über den betroffenen Anstalten entsprungen sein 
könnte, so wurde eine Umfrage an alle cisleithani- 
schen Anstalts-Direktionen gerichtet. 

Das Ergebniss war ein verschiedenes. Einzelnen 
Anstalten wurde ein gleicher Erlass schon vor Jahren 
zugemittelt, anderen war ein solcher bekannt, aber 
nicht intimirt worden, wieder anderen war er bisher 
fremd geblieben. 

Zweck dieses kurzen Aufsatzes soll sein, die Irren¬ 
anstalts-Aerzte zu einer gemeinsamen Auffassung und 
Stellungnahme in dieser wichtigen und folgenschweren 
Angelegenheit zu veranlassen. 

Zur Orientirung muss vorausgeschickt werden, 
dass bisher mit Ausnahme der Orte, in denen den 
Behörden eigene Gerichts-Psychiater zur Verfügung 
stehen, wie in Wien und Prag, bei den civilgericht- 
lichen Begutachtungen von in den Anstalten befind¬ 
lichen Geisteskranken bis zum Zeitpunkte genannten 
Erlasses meist ein — und dann in Gemeinschaft mit 
dem Gerichtsarzte — seltener 2 Anstaltsärzte als be¬ 
eidigte Sachverständige herangezogen wurden, und 
dass dieser Vorgang zu keinen erwiesenen oder sonst 
wie bekannt gewordenen Unzukömmlichkeiten, viel 
weniger Ungesetzlichkeiten geführt hat. Abgesehen 
davon, dass in der berufenen Oeffentlichkeit niemals 
eine Klage hierüber laut geworden, wurde den als 
gerichtliche Sachverständige selbst durch Jahrzehnte 


fungirenden Anstaltsärzten wiederholt für ihre gewissen¬ 
hafte und sachgemässe Durchführung der Begutach¬ 
tungen sowohl mündlich wie schriftlich die Aner¬ 
kennung der zuständigen Gerichtsbehörden bekannt 
gegeben. 

Da uns vorerst die Beweggründe für diesen 
Ministerialerlass nicht bekannt waren, stellten wir 
uns zunächst die Frage, schafft der Erlass Besseres? 

Als Maassstab zur Beurtheilung muss der § 273 
a. b. G. B. nebst der Ministerial-Verordnung vom 
14. Mai 1874 herangezogen werden. Der genannte 
Paragraph bestimmt: „Für wahn- oder blödsinnig 
kann nur derjenige gehalten werden, welcher nach 
genauer Erforschung seines Betragens und nach Ein¬ 
vernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu 
verordneten Aerzte gerichtlich dafür erklärt wird“, 
und in der zur Erläuterung herausgegebenen Mini¬ 
sterial-Verordnung vom 14. Mai 1874 wird ausge¬ 
führt: „den zur Amtshandlung wegen Constatirung 
der Geistesstörung der in eine Irrenanstalt gebrachten 
Personen berufenen Gerichten wird im Sinne des 
Gesetzes obliegen, dieser Amtshandlung ihre vollste 
Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich befähigter 
Commissionsleiter und erprobter, vollkommen befähig¬ 
ter und gewissenhafter Experten zu bedienen, jede 
Verschleppung der diesfälligen Erhebungen hintanzu¬ 
halten und sofort nach erfolgter Constatirung der 
Geistesstörung das weitere Erforderliche einzuleiten, 
im entgegengesetzten Falle aber dafür zu sorgen, dass 
der Curande ohne Verzug wieder in den vollen Ge¬ 
brauch seiner bürgerlichen Freiheit versetzt werde. 
Da es häufig vorkommt, dass Experte wiederholte 
Beobachtungen und somit Aufschub ihres Gutachtens 
verlangen, besonders wenn sie die Geistesstörung für 
heilbar erachten, so ist von den Gerichten mit aller 


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Energie zunächst auf den Ausspruch, ob die angeb¬ 
liche Geistesstörung wirklich vorhanden sei, zu dringen 
und jeder nicht unvermeidlich sich darstellende Auf¬ 
schub in dieser Beziehung hintanzuhalten. Für wei¬ 
tere und wiederholte Beobachtungserstreckungen zum 
Zwecke des Ausspruches über die Heilungsmöglich¬ 
keit lässt sich zwar im vomhinein ein Termin nicht 
bestimmen, es wird jedoch Aufgabe des Gerichtes 
sein, auch hier auf thunlichste Beschleunigung zu 
dringen, grundlosen Verschleppungen entgegen zu 
treten, und endlich zum Zwecke des Gebrauches für 
das Pfleggericht und den Curator darauf zu sehen, 
dass das Gutachten der Experten über die Heilungs¬ 
möglichkeit in möglichst bestimmter und klar ver¬ 
ständlicher Weise abgegeben werde“. 

Nach dem neuen Erlasse treten wenigstens in der 
Provinz, ausserhalb der Universitätsstädte, an die 
Stelle der ordinirenden Anstaltsärzte der k. k. Be¬ 
zirksarzt mit einem praktischen Arzte als gerichtliche 
Sachverständige. Wenn wir nun ersterem das nöthige 
Maass psychiatrischer Kenntnisse zusprechen wollen, 
so können wir das beim practischen Arzte wohl in 
den seltensten Fällen voraussetzen und dies nmsomehr, 
als überhaupt erst die jüngeren Aerzte ein Colleg über 
Psychiatrie gehört haben und auf Grund dessen wohl 
selbst kaum den Anspruch erheben werden, ein im 
Sinne der schon erwähnten Ministerial-Verordnung 
vom Jahre 1874 „erprobter und vollkommen befähig¬ 
ter Experte“ zu sein. Die Frage nach der Gewissen¬ 
haftigkeit im Sinne obiger Verordnung kann wohl 
auch nicht aufgeworfen werden, will man nicht etwa 
die lächerliche Annahme machen, der Eid des Fach¬ 
mannes sei minderwerthiger anzuschlagen, als der eines 
k. k. Amtsarztes oder eines mit der Psychiatrie wenig oder 
nicht vertrauten praktischen Arztes, dem überdies die 
bevorzugte Eigenschaft ein „erprobter und vollkom¬ 
men befähigter Experte zu sein“, nicht oder nicht in 
dem Maasse wie dem Anstaltsarzte zugesprochen 
werden kann. 

Da nach dem Erlasse keine durchwegs besser 
qualificirte Sachverständige an die Stelle treten, so 
ist wohl auch kaum zu erwarten, dass deren gutacht¬ 
liche Leistungen über jene der ordinirenden Anstalts¬ 
ärzte zu stellen seien. 

Nach der oben angeführten Ministerial-Verordnung 
zum § 273 a. b. G. B. haben sich die Sachverstän¬ 
digen im gegebenen Falle vorzüglich darüber zu 
äussern, ob und welche Geistesstörung vorliegt, ob 
der Kranke trotz seiner Geistesstörung noch geschäfts¬ 
fähig, ob seine Erkrankung eine heilbare und in wel¬ 
cher Zeit sie dieses sei. 

Diese für die Curatels-Bestellung, wie für den Schutz 


der persönlichen Freiheit gl eich wichtigen Fragen wer¬ 
den wohl nur die Anstaltsärzte, denen neben ihrer 
psychiatrischen Ausbildung die tägliche Beobach¬ 
tung des Kranken den sichersten Ueberblick über 
jene gewährt, zur vollen Zufriedenheit der Gerichts¬ 
behörden zu beantworten in der Lage sein, nicht 
aber Aerzte, denen sowohl die fachmännische Aus¬ 
bildung, sowie die tägliche Beobachtung fehlt und 
die dem Kranken nur flüchtig bei Gelegenheit ihrer 
Gutachtenabgabe gegenübertreten. 

In der Consequenz des neuen Erlasses ist doch 
auch die Benutzung des Krankengeschichten-Materials, 
welches von den ordinirenden Anstaltsärzten stammt ^ 
ausgeschlossen; denn sind die in den Krankengeschich¬ 
ten niedergelegten Befunde und Beobachtungen der 
Anstaltsärzte für die Begutachtung von Belang, warum 
soll dann nicht auch fernerhin deren fachmännisches 
und objectiv unparteiisches Gutachten für die Behör¬ 
den maassgebend sein? 

Sind aber die nach den Krankengeschichten ver¬ 
fassten Gutachten nicht hinreichend vertrauenswürdig, 
so sind die Krankengeschichten für die begutachten¬ 
den Aerzte irrelevant. Hierbei muss noch darauf 
hingewiesen werden, dass die begutachtenden Aerzte 
in einer Stunde 3 — 6 Fälle „abthun“ und in jenen 
Fällen, wo ihnen inconsequenter Weise die Kranken¬ 
geschichten zur Verfügung gestellt werden, in ihren 
Gutachten meist einfach diese abschreiben und dann 
noch das Gutachten, das sie sich von den Anstalts¬ 
ärzten geben lassen, anfügen. 

Dass ein solcher Vorgang für die begutachtenden 
Aerzte wenig ehrenvoll ist, wie er für den fachmän¬ 
nischen Anstaltsarzt im hohen Grade kränkend und 
sein Ansehen schädigend wirkt, liegt auf der Hand. 

Dass aber auch Fälle falscher Beurtheilung von 
grösserer Tragweite noch häufiger Vorkommen wer¬ 
den, mag nur durch einen Fall unserer Erfahrung 
kurz beleuchtet werden. 

Am 8. Januar 1901 wurde der 46jährige F. aus 
D., ein wohlhabender und früher intelligenter Ge¬ 
schäftsmann, mit den Zeichen einer vorgeschrittenen 
progressiven Paralyse in unsere Anstaltsbehandlung 
aufgenommen. Nach den verlässlichen anamnestischen 
Erhebungen durch einen Bruder des F. Hess sich der 
Krankheitsbeginn auf 2 Jahre sicher zurückführen. 

F. hatte, nachdem ihm im Juni^iqoo seine erste 
Frau gestorben war, sich schon im September 1900 
mit der zweiten verheirathet. Kurz vor der Auf¬ 
nahme hatte F. seine Frau durch Erbvertrag zur Uni- 
versalerbin eingesetzt. F. wurde in der Anstalt als 


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82 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7 . 


mit progressiver Paralyse behaftet begutachtet und 
unter Curatel gestellt. 

Nun wollten die Anverwandten des F., nachdem 
dessen Frau auch keiner Nachkommenschaft entgegen¬ 
sah, die Rechtsgiltigkeit seines Erbvertrages auf Grund 
unseres Gutachtens anfechten. F. wurde indessen, 
trotzdem sein Leiden auch seiner Frau unverkennbar 
war (zeigte er doch bei all’ den characteristischen 
Symptomen des Leidens auch die für den Laien auf¬ 
fälligen Erscheinungen verschiedener Grössen-Ideen 
und schwerster Intelligenz-Defecte), von dieser am 
11. III. 1901 gegen Revers aus der Anstalt nach Hause 
übernommen, dort von pract. Aerzten, denen unser 
ausführliches Gutachten Vorgelegen hatte, für gesund 
erklärt und aus der Curatel entlassen. Daraufhin 
wurde die Rechtsgiltigkeit des Erbvertrages von den 
Anverwandten des F. nicht weiter bestritten. 

Am 19. III. 02 wurde nun F. zum zweiten Male 
der Anstaltsbehandlung übergeben. Die Frau des F. 
liess uns berichten, wir möchten den Mann nun be¬ 
halten, er wäre schon ganz blöd. F. zeigt das Bild 
der progressiven Paralyse in einem entsprechend weiter 
vorgeschrittenen Maasse, als bei der ersten Aufnahme. 
Die Frau des F. ist inzwischen im April 1902 nieder¬ 
gekommen; es dürfte aber in diesem Falle doch auch 
die Vaterschaft des F. in Zweifel gezogen werden, 
nachdem die Frau schon bei der ersten Aufnahme 
von der Impotenz ihres Mannes berichtete. — 

Wir wollen hiermit etwa keineswegs den pract. 
Collegen den Mangel psychiatrischer Kenntnisse zum 
Vor würfe machen, erwarten aber, dass sie sich unter 
diesem Hinweise als psychiatrische Experte nicht für 
berufen erachten. Von noch schwerwiegenderen Folgen 
ist der Erlass bei Begutachtungen in strafgerichtlichen 
Fällen, und sind bei der neuen Art der Expertise 
die schwersten Schädigungen des persönlichen Wohles 
der Geisteskranken keineswegs auszuschliessen, wie 
sie auch für die durch die moderne humane Psy¬ 
chiatrie schon theilweise errungene Auffassung in erster 
Linie den Verbrecher und nicht das Verbrechen zu 
be- bezw. verurtheilen, wohl unzweifelhaft einen Rück¬ 


schritt bedeuten muss. Nachdem nun nachgewiesener- 
maassen durch den neuen Ministerial - Erlass nichts 
Besseres geschaffen wird, kann derselbe auch nicht 
als gerecht bezeichnet werden, da er ja gerade für 
den Fachmann eine Zurücksetzung, eine kränkende 
Ausnahmestellung gegenüber jedem anderen Arzte 
bedeutet, wie eine solche sich am allerwenigsten aus 
dem Wortlaute oder Sinne des $ 273 a. b. G. B. ab¬ 
leiten lässt. 

Da dieser Erlass offensichtlich nichts Besseres 
schafft, fragt es sich nun, ist derselbe vielleicht durch 
äussere Umstände hervorgerufen und begründet? 
Sind vielleicht Fälle bekannt geworden, in denen An¬ 
staltsärzte gegen ihr Wissen und Gewissen zu Gunsten 
einer Person oder Sache die Interessen der ihnen 
anvertrauten Kranken, in erster Linie auch den 
Schutz der persönlichen Freiheit ausser Acht gelassen ? 
Darauf haben wir nur eine Antwort: Niemand wird 
dem Stande der Psychiater selbst beim Fehlen einzelner 
Bew'eisfälle die Schmach der Käuflichkeit anwerfen 
wollen. 

Wenn aber das Justiz-Ministerium auf eine Gegen¬ 
vorstellung seinen Erlass durch nichts anderes zu 
begründen wusste als, man müsse auch den „Schein 
der Befangenheit der Sachverständigen“ vermeiden, 
so stellen wir dem die Frage entgegen, haftet den 
Krankengeschichten, nach denen auch von den An- 
staltsärztcn die Gutachten verfasst worden sind, der 
„Schein der Befangenheit“ nicht mehr an, wenn sie 
der k. k. Amtsarzt und ein mit der Psychiatrie wenig 
oder nicht vertrauter pract. Arzt in ihren Gutachten 
abschreiben ? Die österreichischen Anstaltsärzte werden 
darum neben dem Eintreten für die grösstmög- 
lichste Wahrung aller Interessen der ihnen an ver¬ 
trauten Kranken zur Wahrung ihres Ansehens ge¬ 
zwungen sein, gegen einen Erlass gemeinsam Stellung 
zu nehmen, welcher auf jene Linie eines unberech¬ 
tigten und unbegründeten Misstrauens zu stellen ist, 
dessen Endziel „Schutz des Publikums vor den Psy¬ 
chiatern-* mit obigem Erlass wohl schon erreicht ist. 


M i t t h e i 

— Die XXVII. Wander-Versammlung der 
südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte 

wird am 24. und 25. Mai in Baden-Baden im Blumen¬ 
saale des Conversationshauses abgehalten werden. 

Die erste Sitzung findet Samstag, den 24. Mai, 
vormittags von 11 bis 1 Uhr statt. Etwaige Demon¬ 
strationen von Kranken sollen in dieser Sitzung statt¬ 
finden. 

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1 u n g e n. 

In der zweiten Sitzung am gleichen Tage nach¬ 
mittags 2 bis 5 1 ; 2 Uhr wird das Referat erstatten: 

Herr Prof. H oche-Strassburg: Differentialdiagnose 
zwischen Epilepsie und Hysterie. 

Daran sollen sich anschliessen die dazu gehörigen 
Vorträge sowie die zur Discussion zu machenden Be¬ 
merkungen. 

Die dritte Sitzung findet Sonntag, den 25. Mai, 

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i«io2.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 83 


vormittags von o —12 Uhr statt mit Einschaltung 
oder Anschluss von Demonstrationen mikroskopischer 
oder sonstiger Präparate. 

Auf die zweite Sitzung folgt nachmittags 6 Uhr 
ein gemeinsames Essen im Restaurant des ConVer¬ 
sal ionshauses. 

Die Unterzeichneten Geschäftsführer laden hiermit 
zum Besuche der Versammlung ergebenst ein und 
bitten diejenigen Herren, welche an dem gemeinsamen 
Essen thcilzunehmen beabsichtigen, um eine betreffende 
baldgefällige Mittheilung. 

Bis jetzt sind folgende Vorträge angemeldet: 

1. Prof. Dr. Erb (Heidelberg): Bemerkungen zur 
pathologischen Anatomie der Syphilis des centralen 
Nervensystems. 

2. Prof. Dr. v. Strümpell (Erlangen): Neurologische 
Mittheilungen. 

3. Prof. Dr. Dinkler (Aachen): Ueber acute Myelitis 
(Verdacht auf Abscess; Versuch operativer Be¬ 
handlung). 

4. Prof. Dr. Schwalbe (Strassburg): Ueber Windungs¬ 
protuberanzen des Schädels. 

5. Prof. Dr. Fürstner (Strassburg): Zur Kenntniss der 
vasomotorischen Neurosen. 

6. Prof. Dr. Edinger (Frankfurt a. M.): Zur ver¬ 
gleichenden Anatomie des Gehirns: Das Vogel- 
gehim. 

7. Dr. Bayerthal (Worms): Zur Diagnose der Thala¬ 
mus- und Stimhirntumoren. 

8. Prof. Dr. Schultze (Bonn): a) Weitere Mittheilungen 
über operativ behandelte Geschwülste der Rücken¬ 
markshäute. b) Das Verhalten der Zunge bei 
Tetanie. 

9. Prof. Dr. Hoffmann (Heidelberg): Ueber tonischen 
Facialiskrampf. 

10. Dr. Ebers (Baden-Baden): Demonstration eines 
durch Operation geheilten Falles von chronischem 
Krampf der Nacken- und Halsmuskulatur. 

11. Dr. Blum (Frankfurt a. M.): Ueber experimentelle 
Erzeugung von Geisteskrankheiten. 

12. Prof. Dr. Gerhardt (Strassburg): Zur Anatomie 
der Kehlkopflähmungen. 

13. Dr. Link (Freiburg): Demonstration von Muskcl- 
präparaten bei Myasthenia gravis. 

14. Dr. Vulpius (Heidelberg): Muskelüberpflanzung 
bei spinaler Kinderlähmung. 

13. Prof. Dr. Nissl (Heidelberg): Ueber einige Be¬ 
ziehungen zwischen der Glia und dem Gefüss- 
apparat. 

[6. Dr. Schröder (Heidelberg): Die Katatonie im 
höheren Lebensalter. 

17. Prof. Dr. Kraepelin (Heidelberg): Die Arbeits¬ 
kurve. 

Um gefällige Verbreitung dieser Einladung und 
um Anmeldung weiterer Vorträge wird gebeten. 

Eine Zeitdauer für die einzelnen Vorträge ist in 
den Statuten nicht festgesetzt. Doch erscheint es 
auf Grund, der bisherigen Erfahrungen und mit Rück¬ 
sicht auf den Zweck der Versammlung gerechtfertigt, 
wenn wir an die Herren Vortragenden die Bitte richten, 
die Dauer des Vortrages über ein Thema, soweit 

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thunlich, auf 15, höchstens 20 Minuten, bemessen 
zu wollen. 

Die Geschäftsführer: 

Prof. Dr. Kraepelin, Dr. Fr. Fischer, 

Heidelberg, Pforzheim, 

Mai 1902. 

— In geisteskrankem Zustande verurtheilt 
und nach 6 l / % Jahren freigesprochen. Vor fast 
sieben Jahren, am 23. August 1895, wurde vom 
Dresdener Landgericht der Versicherungsinspector 
Johannes Otto Ludwig Philippsohn, ein Sohn des 
damaligen Bankiers Ph. zu Dresden, wegen Ur¬ 
kundenfälschung, falscher Anschuldigung und Nöthi- 
gung zu zwei Jahren Gefängniss und fünfjährigem 
Ehrenrechtsverlust verurtheilt. Auf Grund von That- 
sachen, die schon damals auf einen mangelhaften 
Geisteszustand des Ph. hindeuteten, erfolgte die Ver¬ 
urteilung zu der genannten Strafe. Das Urtheil 
wurde rechtskräftig, die Straf verbi'issung konnte in¬ 
dessen nicht eintreten, weil der Verurteilte wegen 
Geisteskrankheit entmündigt wurde. Sein damaliger 
Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Thieme, der zu seinem 
Vormund bestellt wurde, hatte schon damals den 
Zustand seines Pfleglings erkannt, konnte jedoch die 
Verurteilung nicht von ihm abwenden, da ein dies-* 
bezügliches medicinisches Gutachten derzeit nicht zu 
erlangen war. Trotzdem ist er fortgesetzt bemüht 
gewesen, ein Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen. 
Diese seit sieben Jahren fortgesetzten Bemühungen 
waren schliesslich von Erfolg. In der am 29. April 
Abend anberaumten neuen, unter Ausschluss der 
Ocffentlichkeit geführten Verhandlung erfolgte kosten¬ 
lose Freisprechung von der gegen Ph. am 23. August 
1805 erhobenen Anklage, und zwar auf Grund eines 
vom Hofrath Dr. med. Buch erstatteten Gutachtens,nach 
dem der Geisteszustand Philippsohns bei Begehung 
der Strafthat im Jahre 1895 keim normaler gewesen 
ist und es ihm (Ph.) damals an der nöthigen Einsicht 
und Erkenntniss gefehlt hat. Für den Angeklagten 
ist die nachträgliche Rehabilitirung von um so grösserer 
Wichtigkeit, weil seine Entmündigung seit Kurzem 
aufgehoben und er in Berlin als Commissionär thätig 
ist. Die im Jahre 1895 von Ph. bezahlten Gerichts¬ 
kosten u. s. w\ werden ihm jetzt aus der Staatskasse 
in vollem Umfange zurückvergütet. 

— Ueber Geisteskrankheiten bei Eisenbahn¬ 
beamten wird der „Kölnischen Volksztg.“ (16. 4.02) 
von fachmännischer Seite folgende beachtenswerthe 
Mittheilung gemacht: ,.Das Eisenbahnunglück bei 
Altenbeken kam vor einigen Tagen in den Verhand¬ 
lungen des Abgeordnetenhauses nochmals zur Sprache, 
und es wurde dabei von verschiedenen Mitgliedern 
des Hauses der Minister um eine möglichst milde 
Beurthcilung der dabei Angestellten gebeten. Gewiss 
mit Recht, denn wie die Gerichtsverhandlungen er¬ 
gaben, ist der schreckliche Unglücksfall zum grössten 
Theil die Folge einer verhängnissvollen Kette un¬ 
glücklicher Umstände gewiesen, und die Sc hwele der 
Bestrafung kann daher zu einer Verminderung der 
Eisenbahnunglücksfülle gewiss nicht viel beitragen. 
Das letztere ist neben einer steten Verbesserung der 
technischen Einrichtungen w'ohl nur möglich durch 

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«4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7 . 


die Sorge für Heranbildung eines möglichst tüchtigen 
und wachsamen Personals. Auch in dieser Hinsicht 
ist ja in den letzten Jahren manches zweckmässige 
geschehen. Es ist die Arbeitszeit gekürzt worden, es 
finden seitens der Bahnärzte körperliche Unter¬ 
suchungen, speciell der Augen auf Farbenblindheit statt, 
cs sind neuerdings Abstinenz vereine gegründet 
worden u. s. w. Auf einen Punkt, welcher der Be¬ 
rücksichtigung gewiss werth ist, dürfte ärztlicherseits 
wohl die Aufmerksamkeit gerichtet werden: das ist die 
Gefahr, die bei beginnender Geisteskrankheit von 
Bahnangestellten dem reisenden Publikum erwachsen 
kann, wie mich vielfache Beobachtungen aus letzter 
Zeit gelehrt haben. Wiederholt fanden sich in der 
poliklinischen Sprechstunde für Nervenkranke Bahn¬ 
angestellte (meist Weichensteller) ein, welche, theils 
aus freien Stücken, theils auf Anrathen des Bahn¬ 
arztes, der zu einer Diagnose nicht gekommen war, 
sich wegen allgemein nervöser Beschwerden in Be¬ 
handlung begaben, und es zeigte sich bei der Unter¬ 
suchung — dem Sachverständigen zuweilen auf den 
ersten Blick — dass man es mit einer beginnenden 
Geisteskrankheit, meist einer Gehirnerweichung, zu 
thun hatte. Die Prüfung der Intelligenz ergab dann 
eine erhebliche Gedächtnisschwäche u. s. w. Die 
Rranken klagten vielfach selbst, dass sie die Zeiten 
der fälligen Züge nicht mehr behalten könnten, viel¬ 
fach auch über Schlafsucht, deren sie sich selbst am 
Tage nicht recht erwehren könnten. Welch unabsehbare 
Folgen aus derartigen Momenten resultieren können, 
leuchtet wohl ein, und es dürfte namentlich in An¬ 
betracht der zweifellos zunehmenden Erkrankungen 
an Gehirnerweichungen — auch epileptische Dämmer¬ 
zustände wurden wiederholt beobachtet — wohl an¬ 
gezeigt sein, auch nach dieser Richtung der Gefahr vor¬ 
zubeugen. Wie dies zu geschehen hat, ist Sache der 
massgebenden Stellen. In erster Linie kämen ja die 
Bahnärzte in Betracht, welche von Zeit zu Zeit die 
in ihren Revieren Angestellten auch in dieser Hin¬ 
sicht zu untersuchen hätten; aber einem vielbeschäf¬ 
tigten Bahnarzt fehlt es w’ohl meist an der zu einer 
solchen Prüfung nothwendigen Zeit, einzelnen vielleicht 
auch an den erforderlichen specialistischen Kennt¬ 
nissen. Es müssten deshalb mit solchen Unter¬ 
suchungen fachmännisch ausgebildete Neurologen oder 
Psychiater betraut werden. Wie beim Militär neuer¬ 
dings die beginnenden geistigen Störungen gebührend 
gewürdigt werden als Ursache mancher Soldaten¬ 
misshandlungen u. s. w. und wie man dort mit der 
Beobachtung solcher Kranken demnächst psychiatrisch 
erfahrene Aerzte zu betrauen gedenkt, so wäre das 
in gewiss gleichem Maasse bei den Angestellten der 
Bahn erforderlich. Es könnte manches Unheil da¬ 
durch verhütet werden.“ 

— Am 14. April ist in Berlin, im Garten der 
Königl. Charite vor der neuen Ncrvenklinik, die Büste 
Wilhelm Griesingers feierlich enthüllt worden. 
Die von Lührssen geschaffene Büste, die sich auf 
einem Sockel von rothem Granit erhebt, war von 
einer Hülle in den württembergischen Farben um¬ 
geben. In Vertretung des Kultusministeriums waren 
der Geh. Ober-Regierungsrath Naumann und Sani- 

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tätsrath Dr. Aschenborn erschienen. Das Heimaths- 
land des Gefeierten, Württemberg, wurde durch den 
Bimdesrathsbevollmächtigten, Präsidenten Schricker ver¬ 
treten. Die Universität Tübingen, an der Griesinger 
einst gewirkt, hatte den Dekan der medicinischen Fakul¬ 
tät, Prof. Döderlein, mit einem Kranze entsand. Nach¬ 
dem die Kapelle der Eisenbahnbrigade das nieder¬ 
ländische Dankgebet gespielt hatte, liess Stabsarzt 
Dr. Buttersack, der die Anregung zur Errichtung des 
Denkmals gegeben, nach kurzer Ansprache die Hülle 
fallen und übergab die Büste der Charite, während 
Generalarzt Schaper das Denkmal übernahm. Als 
Amtsnachfolger Griesingers und derzeitiger Vertreter 
der Nervenheilkunde an der Charite feierte Geh. Rath 
Jolly Griesinger als den Mann, der zuerst eine Ver¬ 
einigung der Psychiatrie mit der Nervenheilkunde ge¬ 
schaffen. Aus Anlass der Feier waren auch mehrere 
Drahtungen eingegangen. Der württembergische Kultus¬ 
minister Weizsäcker drahtete: „Zur heutigen Feier be¬ 
glückwünsche ich Sie und die übrigen Herren des Denk- 
malskomites zu der pietätvollen Ehrung des Andenkens 
an den genialen Arzt und Forscher und den berühmten 
Sohn des schwäbischen Landes.“ — Der Wiener Verein 
für Psychiatrie und Neurologie benutzte diese feierliche 
Gelegenheit, um seiner tief empfundenen Verehrung 
für den Begründer der modernen Nervenheilkunde 
Ausdruck zu geben. 

— Der IX. Internationale Congress gegen 
den Alkoholismus wird im Jahre 1903 nach dem 
Beschlüsse des voijährigen Wiener Congresses in 
Deutschland stattfinden und zwar in den Tagen vom 
14.— iq. April 1903 in Bremen. Dort ist bereits der 
vorbereitende Ortsausschuss seit mehreren Monaten in 
Thätigkeit, um zunächst den Verlauf des Congresses im 
äusseren Rahmen feststellen zu können. Der Vorsitzende 
dieses Ausschusses ist Dir. Dr. med. A. Delbrück, 
Bremen, Humboldtstr. 127, an den auch alle 
Anfragen zu richten sind. Die Internationalen Con- 
gresse gegen den Alkoholismus fordern zur Theilnahme 
alle auf, die in der Bekämpfung des Alkoholismus 
und der Trinksitten eine wichtige Aufgabe erkennen. 
Sie richten ihre Einladungen an alle socialen Schichten, 
an die Hand- und Kopfarbeiter, an Männer und 
Frauen, an Alt und Jung. Es handelt sich nicht um 
ein Unternehmen besonderer Tendenz, sei es der 
Massigkeit, sei es der Totalenthaltsamkeit; vielmehr 
sollen die Anhänger aller verschiedener Richtungen 
zu gegenseitigem Meinungsaustausch, zu gemeinsamer 
Arbeit zusammengerufen werden. Nach dem vor¬ 
jährigen Wiener Beschlüsse werden die von ersten 
wissenschaftlichen Autoritäten zu haltenden Vorträge 
vom Organisationskomitee festgesetzt; wir werden 
bereits in den nächsten Wochen in der Lage sein, 
darüber nähere Mittheilungen machen zu können. 

— Vom 1.—7. September 1902 findet in Ant¬ 
werpen ein Internationaler Congress für Irren¬ 
fürsorge und speciell für Familienpflege Geistes¬ 
kranker statt unter dem Ehrenvorsitz des belgischen 
Justizministers und dem Vizeehrenvorsitz von dessen 
Vorgänger (Lejeune) sowie unter Betheiligiing zahl¬ 
reicher anderer höherer belgischer Staatsbeamter. 
Anmeldungen sind zu richten an Herrn Dr. F. Sano, 

Original fram 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 85 


Antwerpen, me Montebello 2. Theilnehmerbeitrag 
20 Frcs.*) Aus dem Einladungsschreiben geben wir 
Folgendes wieder: 

„Au demier Congres International de l’Assistance 
familiale, tenu ä Paris en octobre 1901, la section 
psychiätrique dut constater que le travail considerable 
qu’elle venait d’entamer ne pouvait etre mene ä bonne 
fin que par la Constitution independante d’une nouvelle 
session, ou les problemes pourraient etre soumis a un 
examen plus approfondi. 

Cette nouvelle session aura lieu du premier au 
sept septembre prochain, ä Anvers. Elle sera consacree 
ä l’etude de l’assistance des alienes et specialement 
de leur assistance familiale. 

L’asile ferme est actuellement le principal mode 
d’assistance des alienes. Le nombre de ceux-ci est 
trop eleve pour qu’on puisse songer ä les placer tous 
autrement. Du reste beaucoup d’entre eux ont besoin 
d’un traitement regulier et d’une surveillance suivie, 
que l’asile ferme est seul capable de leur foumir. 
Aussi ces refuges ne se comptent-ils plus: on en 
construit de nouveaux tous les jours. L’on agrandit 
ceux qui existent; on les modifie dans leur forme 
exterieure: on constmit des quartiers independants, 
des cottages, des fermes-asiles, des colonies de travail. 
Le regime interieur a ete adouci: on donne aux 
malades des occupations, des distraction, des fetes, 
un plus grand degre de liberte, des sorties k titre 
d’essai; pour quelques-uns memes les portes restent 
ouvertes. Ce sont la les signes d’une louable tendance 
ä se rapprocher de la vie sociale. 

Gheel, oü des centaines de malades jouissent 
depuis des siecles de la liberte et de la vie de 
famille, Gheel fut considere longtemps comme 
une simple curiosite. un singulier village. 

L’exemple de l’Ecosse, qui applique depuis de 
longues annees l’assistance familiale ä de nombreux 
malades, ne trouva pas d’imitateurs. Une croisade 
passionnee, dont le docteur Baron Mundy fut le 
Pierre 1 ’Ermite, ne reussit pas ä fixer d’une maniere 
durable l’attention des medecin et des administrateurs, 
et 1’internement des alienes resta la regle generale. 

Le flot de la folie montant toujours, on se trouva 
en face de l’encombrement general, avec tous ses 
inconvenients. II fallut s’imposer de nouveaux efforts. 
Les depenses augmentaient, mena<;ant l’equilibre des 
budgets. 

On finit, par se dire qu’il y a des malades qui 
ne sont pas dangereux, qui n’ont besoin ni d’un 
traitement, ni de soins speciaux, et qui ne demandent 
qu’ä vivre dans la societe. Depuis vingt ans des 
essais d’application du patronage familial se font un 
peu partout. La Belgique a reproduit ä Lierneux le 
modele de la colonie de Gheel; la Russie est depuis 
longtemps ralliee au Systeme; la France a fonde les 
colonies de Dun-sur-Auron et d’Ainay-le-Chäteau; la 
Prusse constmit des asiles speciaux auxquels eile 
annexe des colonies; des pays limitrophes se preparent 

*) Die Herren Collegen aus Deutschland, welche dem Con- 
gresse anwohnen wollen, sind gebeten, dem Mitherausgeber 
dieser Wochenschrift, Director Alt-Uchtspringe, Mittheilung zu 
machen, der auch bereitwilligst Auskunft ertheilt. D. R. 

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ä l’imiter; l’Autriche a mis pratiquement ce Systeme 
a l’etude; la Hollande entre, timidement encore, dans 
la voie, et l’Amerique du Nord continuedes experiences 
qui se font dans les conditions les plus desavanta- 
geuses . . 

II est impossible d’examiner le regime des colonies 
sans toucher directement au regime des asiles fermes. 
C’est pour cette raison que la commission organi- 
satrice s’est cm autorisee k etendre le programme du 
congres. Tout en portant specialement son attention 
sur i’assistance familiale, eile n’a voulu exclure aucune 
des questions qui peuvent interesser l’assistance des 
alienes en general . . . “ 

— Programm der 69. ordentlichen General- 
Versammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am Samstag den 7. Juni 1902, Nach¬ 
mittags 1 Uhr in der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt 
Galkhausen bei Langenfeld.*) Vor der Sitzung Imbiss 
in der Anstalt. 1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Auf¬ 
nahme neuer Mitglieder. Zur Aufnahme in den Verein 
haben sich gemeldet: Dr. Baucke-Bonn, Dr. Hummels- 
heim-Bonn, Dr. Huth-Ahrweiler, Dr. Jannes-Eschweiler, 
Dr. Löwenstein-Bendorf, Dr. Pfahl-Bonn, Dr. Rusak, 
Medicinalrath, Cöln, Dr. Weichelt-Andernach. 

3. Vorträge. 

a) Hoflmann-Elberfeld (Gast): Ein Fall von indu- 
cirtem Irresein. 

b) Schultze-Andernach: Bemerkungen zur Sach- 
verständigen-Thätigkeit. 

c) Foerster und Baucke-Bonn: Sectionsbefund bei 
zwei Geisteskranken: Syringomyelie und disse- 
minirte Encephalomyelitis. 

d) Lückerath-Galkhausen: Diebeiden ersten Jahre 
in Galkhausen. 

4. Rundgang durch die Anstalt. 

Gemeinschaftliches Mittagessen 4 1 / 2 Uhr im Festsaal 

der Anstalt. 

Die Bewirthung der Theilnehmer hat Herr Landes¬ 
hauptmann der Rheinprovinz in liebenswürdiger Weise 
übernommen. Die Mitglieder sind gebeten, ihre 
Theilnahme bis spätestens den 30. Mai er. bei dem 
Direktor Herting, Prov.-Heil-Anstalt Galkhausen, 
Langenfeld (Rhld.), anzumelden. 

Pelman. Oebeke. Umpfenbach. 

— Die Soci6t6 m6dico -psychologique de 
Paris feiert am 26. Mai d. Js., 4 Uhr, in ihren 
Sitzungsräumen, 12 me de Seine, ihr 50jähriges 
Bestehen. Dr. Ritti, medecin de la Maison nationale 
de Charenton, Saint-Maurice (Seine) und Dr. Motet, 
161 rue de Charonne, laden, zur Theilnahme ein 
(Theilnehmerbeitrag 20 Fr.). Banquet um 7 Uhr, 
Restaurant Marguery, boulevard Bonne-Nouvelle. 

— Jahresversammlung des Vereins der 
Deutschen Irrenärzte in München, 14. April 
1902. Fortsetzung. 

Alzheimer (Frankfurt a. M.). Die auf arte¬ 
riosklerotischer Grundlage entstehenden 

*) Eisenbabnstrecke Cöln-Düsseldorf: 

Zug von Cöln 11 88 Vormittags, 

„ „ Düsseldorf io 60 Vormittags, 

„ nach Cöln ; t7 Nachmittags, 

., „ Düsseldorf 7 13 Nachmittags. 


Original frnm 

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86 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7. 


Geistesstörungen. V( >n der progressiven Paralyse 
sind mit den Fortschritten der anatomischen lind 
klinischen Forschung verschiedene Krankheitsbilder 
abgetrennt worden, die man Pseudoparalysen genannt 
hat. Lieber verschiedene davon ist das Urtheil heute 
noch nicht abgeschlossen. iSqi beschrieb Klippel 
eine arthrit isclie Pseudopara 1 yse. Diese arthri- 
tische Pseudopanilyse ist identisch mit dem, was 
Binswanger u. A. später als a r t e r i o s k 1 e r o t i s c h e G e- 
hirndegeneration beschrieben. Die im Zusammen¬ 
hang mit Arteriosklerose auftretenden psychischen 
Störungen lassen sich in verschiedene Gruppen ein- 
theilen. 1. Eine einfache, wenig progrediente 
Form, bei der es nur zu nervösen Erscheinungen, 
Kopfweh, Schwindelanfällen, leichter Ermüdbarkeit, 
Gedächtnisssrhwäche oder wenigstens Erschwerung 
der Reproduktionsfähigkeit kommt. Im Gehirn finden 
sich keine schwereren Veränderungen, aber Zeichen chro¬ 
nischer Stauung. 2. Eine schwere progrediente 
Form. Hier verursacht die verschiedene Localisation 
des arteriosklcr» »tischen Degenerationsproccsses verschie¬ 
dene klinische Bilder. Der arteriosklerotische Degene¬ 
ration sprozess kann sich in zerstreuten Herden über 
das ganze Gehirn ausbreiten (gewöhnliche Form), oder 
vorzugsweise auf das Hemisphäremnark beschränkt 
bleiben (Encephalitis subcorticalis chronica diffusa 
Binswangcrs), sich nur auf die Rinde ausdehnen 
(senile Rindenverödung), oder allein das Gefässge- 
biet irgend einer grösseren Hirnarterie betreffen. 3. 
Audi manche im späteren Alter auftretenden Fälle 
v< m Epilepsie müssen als durch Arteriosklerose ver¬ 
ursacht angesehen werden. Es giebt zwei solcher 
Formen. Die eine, cardiovasale, ist fast regelmässig 
mit Herzkrankheiten kompliziert, die zweite mit ar¬ 
teriosklerotischen Herden in Zusammenhang zu bringen. 
Der Vortrag wird durch Zeichnungen erläutert. 

Discussion zum Vortrag Alzheimer. 

Herr Fürstner weist zunächst darauf hin, dass 
die Arteriosclcrosc oft schon in jungen Jahren zu 
constatiren sei, dass dabei regionäre und familiäre Ver¬ 
hältnisse eine grosse Rolle spielen. Man trifft in 
denselben Familien nicht nur besondere Grade der 
Arteriosclcrosc sondern auch Auftreten bei mehreren 
Mitgliedern in jungen Jahren. Unter diesen Umständen 
können natürlich auch schwere Erkrankungen des 
Centralncrvcnsystems schon in jungenjahren beobachtet 
werden. Sodann macht Herr A. mit Recht einen 
Untersc hied zwischen der Erkrankung des Marklagers, 
wie sie bei der Arteriosclcrosc in rechter Linie in 
Betracht kommen und Erkrankungen, wo die Rinde 
in erster Linie betroffen, wie bei der Senilen-Verödung 
A.’s F. fragt, ob A., wie es nach den Zeichnungen 
scheint, Verbindung der Spinnenzellen direct mit den 
Gefässen annimmt, was Weigert früher nicht that. 
Endlich unterscheidet auch F. bei der alkoholischen 
Epilepsie Fälle, wo arteriosclerotische Herde die Ur¬ 
sache, von den häufigeren Fällen, in denen die Him- 
veränderungen Folgen der Toxen sind. 

Herr Degen kolb: Ich habe nur Rindengefässi 
untersucht, und weiss nicht, wie die Beantwortung 
der Frage sich bei einem umfassenden Ueberblirk 
über den ganzen Gefässapparat stellen würde. Mit 

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diesem Vorbehalte glaube ich, dass sich an den 
Rindengefässen die hyaline Gefässdegeneration von 
der Rindengefäss-Arteriosclcrose doch trennen lässt, 
wie dies ja Robertsons Ansicht entspricht, dessen 
Schema freilich für die Mehrzahl der Fälle nicht aus¬ 
reicht (vergl. die Gefässerkiankung bei Dem. sen.). 
Bezüglich der Artcriosclerose der Paralytiker möchte 
ich Herrn A. beistimmen. 

Herr Hänel fragt an, ob ein Befund von peri- 
vasculärer Injection mit Rundzellen an den kleinsten 
Gefässen bei Arteriosclerose der mittleren und grossen 
auf den arteriosclcrotischen Prozess zurückgeführt 
werden kann, oder ob man in solchen Fällen noc h 
einen parallel gehenden, entzündlichen, encephalitischen 
Prozess annehmen muss. 

Herr D e g e n k o 1 b: Rundzelleninfiltrate kommen 
bei, (sc. reiner) Arteriosclerose kleiner Himgefässe nicht 
vor ausser (secundär) im Bereiche sehr schwerer 
localer Veränderungen z. B. alter Knoten. Trennt 
man scharf die Adventitialzellenwucherungen von den 
Rundzelleninfiltraten, so haben mir Litteraturstudien 
ergeben, dass solche nur bei Intoxikationen und In- 
fectionen Vorkommen, vermuthlich nur bei Infection. 

Herr A 1 z h e i m e r (Sc hlusswort): Ich glaube, dass 
man nicht sagen sollte, das und das kommt nicht vor. 
Thatsächlich findet man garnicht so selten, z. B. bei 
der Paralyse, offenbar arteriosclerotische Gefässver- 
änderungen, bei welchen eine starke kleinzellige In¬ 
filtration zu sehen ist. Im Allgemeinen findet man 
bei der Arteriosclerose in der Regel keine Infiltration, 
zuweilen aber starke Wucherung der Adventitia. 

Dr. Brosius, Savn: Der Mangel an Irren- 
Patronaten in Deutschland. 

Redner erinnert daran, dass vor nahezu 27 Jahren, 
im Herbst 1875, als der Verein der Deutschen Irren¬ 
ärzte auch in München tagte, auf seiner Tagesord¬ 
nung dasselbe Thema stand, das er heute in aller 
Kürze zur Spiache bringe. Der damalige Referent, 
Dr. August Zinn, Eberswalde, war verhindert in 
München zu erscheinen, und der Vorsitzende verlas 
den von ihm schriftlich übersandten Antrag: Die Irren- 
hülfsvereine, wie sie in der Schweiz und in Deutsch¬ 
land bestehen, sind wirksame Mittel zur Förderung 
der Irrenpflegc, und der Verein empfiehlt seinen Mit¬ 
gliedern, die Bildung solcher Vereine überall da an¬ 
zustreben, wo sie noch fehlen. Diese Resolution 
wurde ohne Debatte einstimmig angenommen. Nun 
ist es unverständlich und befremdend, dass, während 
von 1872 ab bis 1875 5 Patronate in Deutschland 
gegründet wurden, mit 1875 nach der Münchener 
Resolution eine 5 Jahre lang dauernde Stagnation 
eintrat, und erst in 1880 die Gründung zweier Irren- 
hülfsvercinc zeigte, dass der patronale Gedanke nicht 
erloschen war. Auch die nachfolgende Zeit beweise, 
dass das „Ucberall“ in Zimvs Anträge nur zu einem 
seltenen „Hier und da“ geworden sei. Man möge 
ihm daher nicht verargen, dass er heute an die Mün¬ 
chener Resolution erinnere, mit dem Wunsche, dass 
die Frage der Patronate auf der Tagesordnung des 
Vereins der Deutschen Irrenärzte bleibe. 

Discussion zum Vorträge Brosius: 

Herr Siemens: Der warme Apell des Collegen 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 87 


1902.] 

Brosius legt wohl jedem von uns die Veipflichtung 
auf sich zu fragen, ob und in wiefern wir dieser 
Verpflichtung nachgekommen sind. Die Frage der 
Patronisirung und Unterstützung der Geisteskranken 
ausserhalb der Anstalten liegt* in den verschiedenen 
Ländern verschieden. In Provinzen, welche, wie 
z. B. der Reg.-Bez. Cassel und die Provinz Pommern, die 
ganzen Kosten für Verpflegung der Heilbaren oder ge¬ 
meingefährlichen Geisteskranken übernehmen ( Pommern 
bezahlt sogar die Reisekosten dieser Kranken und 
ihrer Begleiter zur Anstalt), ist die Noth nicht so 
dringend, zumal der Landeshauptmann bei uns 
auch noch einen Fonds zur Unterstützung entlassener 
Pfleglinge hat. Einen Theil der Pflichten hat bei 
uns auch der Verein für innere Mission übernommen. 

Herr Beckh fragt an, welche Vereine B. meint, 
und was er mit den Patronaten meint. Er theilt mit, 
dass in Nürnberg und in Fürth und auch sonst noch 
in Franken grosse Vereine zur Bezahlung der Pflege 
der Kranken in den Irren-Anstalten bestehen. 

Herr Kreuser: Den Mittheilungen von Siemens 
gegenüber ist der Brosius’sche Apell zu unterstützen 
da es doch einen wesentlichen Unterschied bildet, 
ob eine weitere Fürsoige für der Anstaltspflege nicht 
mehr Bedürftige anderen Behörden überlassen wird 
oder in den Händen der Irren - Acrztc verbleibt. 
Durch letzteren Modus werden die Beziehungen 
zu den früheren Pfleglingen sehr viel lebendiger 
erhalten, und gewinnen wir den Vortheil über das 
spätere Schicksal der Anstaltspfleglinge weit mehr und 
zuverlässigere Nachrichten zu erhalten. 

Herr Peretti unterstützt den Brosiusschen Apell, 
da die Hilfsvereine nicht nur den Zweck der Geld¬ 
unterstützung, sondern der Hebung des gesammten 
Irrenwesens haben. 

Herr Siemens: Auf die Verschiedenheiten in 
den einzelnen Provinzen und Ländern habe ich ja 
aufmerksam gemacht und zur Erklärung dessen, dass 
bei uns ein solcher Verein noch nicht besteht, die 
günstigen Verhältnisse angeführt, welche die Gründung 
nicht so dringlich erscheinen Hessen. 

Herr Pelm an spricht sich ebenfalls zustimmend 
zu dem Brosius’schen Apell aus. 

H. Gudden, München: Beiträge zur topo¬ 
graphischen Anatomie des Hirnstammes. 

Vortr. demonstrirt mit dem Projektionsapparat 
Schnittpräparate durch die normale medulla oblongata 
und den Hirnstamm, die durch eigenartige Schnitt¬ 
führung, Verbindung von horizontaler mit sagittalcr, 
frontaler mit horizontaler u. s. w. Richtung verschie¬ 
dene Bündel in sehr übersichtlicher Weise zur Dar¬ 
stellung bringen. Die Methode erscheint geeignet, 
nicht nur über den Verlauf bekannter Bahnen genauere 
Aufklärung zu schaffen, sondern auch bisher wenig 
gekannte und noch unbekannte Fasersysteme aufzu¬ 
decken. 

Wolff (Basel). D ie ph ys io logische Grund¬ 
lage der Lehre von den Dege n er ationszcichen. 

Da die Lehre von den Degenerationszeichen einen 


Zusammenhang zwischen geistiger beziehungsweise 
nervöser Anomalie und körperlichen Missbildungen 
annimmt, so führt die Frage nach der physiologischen 
Grundlage dieser Lehre in letzter Linie auf die ent- 
wieklurigsphysiol«»gische Frage: hat das Nervensystem 
einen Einfluss auf körperliche Entwicklungsvorgänge ? 
Diese Frage ist in der ersten Plälfte des vorigen 
Jahrhunderts intensiv diseutirt worden; später scheint 
das Problem völlig liegen geblieben zu sein, bis es 
gegen Paule des vorigen Jahrhunderts wieder aufge- 
nommen und auf experimentellem Wege zu lösen 
versucht wurde. Der Erste, welcher, wenigstens für 
wirbellose Thiere, den positiven Nachweis lieferte, 
dass das Nervensystem einen Einfluss auf Entwicke¬ 
lungsvorgänge haben könne, ist K. Herbst, welcher 
zeigte, dass bei Krebsen das abgeschnittene Auge 
nur regenerirt wird unter dem Einflüsse eines vom 
Ganglion opticum ausgehenden nervösen Reizes. An 
Wirbelthieren hat der Vortragende in den letzten 
Jahren die P'rage experimentell studirt und feststellen 
können, dass bei Tritonen die Regeneration einer 
abgeschnittenen Extremität nur erfolgt unter dem Ein¬ 
fluss eines durch das Rückenmark vermittelten ner¬ 
vösen Reizes, dass bei Unterbrechung der nervösen 
Verbindung mit dem Rückenmark eine Regeneration 
nicht erfolgt bezw. ein bereits eingcleitcter Regene¬ 
rationsprozess unterbrochen wird, und dass bei mangel¬ 
hafter nervöser Verbindung das Regenerationsproduct 
Missbildungen zeigt, die sich in der Reduction der 
Zehenzahl kundgeben. 

(Schluss folgt.) 


Referate. 

— The Journal of mental Science. April iqoi. 
Duckworth giebt eine Ucbersieht über die Rolle, die 
die Toxämie in der Hervorbringung geistiger Störungen 
spielt. Die Toxine können im Körper selbst entstehen, 
oder sie werden von den von aussen eingedrungenen 
Mikroorganismen erzeugt, oder sie kommen durch or¬ 
ganische Gifte zustande, oder sie sind das PLrgebniss 
des gewohnheitsmässigen Gebrauchs von Alkohol, 
Morphium, Cocain, Chloral. Wirken diese Gifte auf 
ein hereditär belastetes und geschwächtes Gehirn, so 
entstehen verschiedene Arten des Irreseins. Diese Prä- 
disposition ist aber nicht in allen Fällen nothwendig. 
Verf. führt nun verschiedene Krankheiten an, in denen 
die Wirkung der Blutvergiftung auf das Gehirn und 
die sich daraus ergebenden psychischen Störungen 
bekannt sind, wie Urämie, Diabetes, Bleivergiftung 
etc. und schliesslich das grosse Gebiet der Infektions¬ 
krankheiten. 

Lewis Jones meint, dass in manchen Fällen von 
Irresein die Elektrizität ein nützliches Heilmittel sei. 
Ihre gute Wirkung auf die Atmung, die Wärmepro¬ 
duktion und die Ausscheidung von Harnstoff ist be¬ 
kannt. Sie wird also besonders da angewendet werden 
müssen, wo wir den Allgemeinzustand bessern wollen, 
in Füllen, von Schwäche, Anämien, Appetitlosigkeit, 


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88 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 7- 


Schlaflosigkeit. Hier bessert sich dann oft zugleich 
mit dem physischen der psychische Zustand des 
Kranken. Verf. empfiehlt das elektrische Bad mit 
Stromunterbrechung. 

Richard Brayn giebt eine kurze geschichtliche 
Uebersicht über die Fürsorge für verbrecherische Geistes¬ 
kranke in England im verflossenen Jahrhundert. Vor 
1800 war das Verfahren sehr schwankend und un¬ 
sicher. Bald wurden sie wie gewöhnliche Geisteskranke 
behandelt, bald ins Gefängniss oder Zuchthaus gesteckt, 
bald einfach laufen gelassen. Die erste gesetzliche Be¬ 
stimmung über die Unterbringung geisteskranker Ver¬ 
brecher in Irrenanstalten rührt vom 28. Juli 1800 
her und war die direkte Folge eines Attentats auf 
Georg III. Darnach hatte der König das Verfügungs¬ 
recht über die Unterbringung geisteskranker Verbrecher. 
Da es aber unbestimmt gelassen worden war, wer die 
Kosten zu bestreiten hatte, so scheint es, als seien die 
geisteskranken Verbrecher nach wie vor dem Gefäng¬ 
niss überwiesen worden. 1807 wurde eine Commission 
ernannt, die sich mit der Frage der verbrecherischen 
und armen Geisteskranken zu beschäftigen hatte. Sie 
empfahl die Errichtung einer besondem Anstalt für 
die, die wegen eines Verbrechens, begangen im Zu¬ 
stand der Geisteskrankheit, verurtheilt worden waren. 
1814 wurden im Anschluss an das Bethlem Hospital 
Abtheilungen für 60 verbrecherische Geisteskanke ge¬ 
schaffen und der ärztlichen und sonstigen Leitung des 
Hospitals unterstellt. Die Kosten trug die Regierung. 
Bald reichten die Plätze in Bethlem trotz der dop¬ 
pelten Vergrösserung nicht mehr aus, und so schloss 
die Regierung 1849 einen Vertrag mit den Eigen- 
thümem des Fisherton House, die überzähligen ver¬ 
brecherischen Geisteskranken aufzunehmen. Aehnliche 
Verträge wurden mit verschiedenen Irrenanstalten, wie 
denen zu Camberwell und Dumfries, abgeschlossen. 
Derweilen war 1835 aus dem House of Lords eine 
Kommission gewählt worden, um sich über den Stand 
des Gefängniss- und Zuchthauswesens zu unterrichten. 
Das Gutachten lautete: „Personen, bei denen das 
Verfahren vorläufig eingestellt worden ist, oder die 
zwar verurtheilt, wegen Geisteskrankheit aber nicht 
bestraft werden können, sollen nicht im Gefängniss 
oder Zuchthaus untergebracht w'erden.“ Nach einer 
Bestimmung von 1838 ist jemand, der ein Verbrechen 
im geisteskranken Zustand begeht, oder im Begriff 
ist zu begehen, nach dem Urtheil zweier Richter und 
auf Grund eines ärztlichen’ Gutachtens einer Irren¬ 
anstalt zu überweisen. Eine Bestimmung von 1840 
dehnte die Bestimmung von 1800, wonach des Hoch- 
verraths, des Mordes, kurz der schweren Verbrechen für 
schuldig befundene Geisteskranke in einer Irrenanstalt 
unterzubringen sind, auch auf die aus, die nur ein 
Vergehen begangen hatten. Bei der Ueberfüllung der 
Abtheilungen zu Bethlem und Fisherton kam man auf das 
Gutachten der Comission von 1807 zurück und beschloss 
den Bau einer besonderen Anstalt für geisteskranke Ver¬ 
brecher. So w-urde 1856 der Plan für die Anstalt zu 
Broadinoor entworfen. Noch während des Baues (1860) 


äusserte sich eine vom Unterhaus erwählte Commission 
dahin: „Solche Personen mit andern Kranken zu¬ 
sammenzubringen, ist von Uebel. Es ist für sie selbst 
und die andern Kranken schädlich. Sie aber im Ge¬ 
nesungsstadium als selbstverständlich frei zu lassen, ist 
ein noch grösseres Uebel und kann wegen der 
grossen Gefahr für die Gesellschaft nicht gebilligt wer¬ 
den “ 1863 wurde Broadmoor eröffnet. Die Anstalt 

bestand ursprünglich aus 6 Pavillons für Männer mit 
400 Plätzen und einem Pavillon für Frauen mit 100 
Plätzen. Jetzt sinds 480 Plätze für Männer und 187 
für Frauen. 1884 w'urden eingehendere Bestimmungen 
erlassen über die Begutachtung, Unterbringung, Ueber- 
führung, Behandlung und Entlassung der geisteskranken 
Verbrecher. Die Behandlung dieser Individuen unter¬ 
scheidet sich nur insofern von der der übrigen Geistes¬ 
kranken, als besondere Sicherheitsmaassregeln und 
eine grössere Zahl Wartpersonal nötliig sind. Es sind 
auch des Nachts eine grössere Zahl Zellen erforder¬ 
lich als in einer gewöhnlichen Irrenanstalt. Die Zellen 
sind beliebt, da viele Kranke es vorziehen, allein zu 
schlafen.*) Der schwierigste Punkt ist die Frage nach 
der Entlassung der geisteskranken Verbrecher, nament¬ 
lich der Mörder. Selbst wenn in der Anstalt die äusseren 
Symptome der Geisteskrankheit geschwunden sind, ist 
die Gefahr des Rückfalls in dem freien, ungebundenen 
Leben ausserordentlich gross. In Broadmoor werden 
die geeigneten Kranken gewöhnlich bedingungsweise 
und gegen Bürgschaft eines Verwandten oder Freun¬ 
des entlassen. Diese übernehmen alsdann die Obhut 
und verpflichten sich, regelmässig Berichte über den 
physischen und psychischen Zustand ihres Schützlings 
an den Staatssekretär einzusenden, damit der Kranke 
rechtzeitig beim Eintreten verdächtiger Symptome 
wieder eingeliefert werden kann. Auch die verhei- 
rathete Frau, die während ihres puerperalen oder 
sonstigen Irreseins ihre Kinder umbrachte, rechnet 
Verf. zu den gefährlich bleibenden Geisteskranken. 
Er macht eine zarte Andeutung, ob man sie in dem 
Falle nicht „sterilisieren“ sollte. 

Zum Schluss verweist Verf. auf den häufigen Zu¬ 
sammenhang zwischen Sinnestäuschungen und Mord. 
Eine Statistik über die vom 31. 12. 1899 in Broadmoor 
anwesenden Insassen ergab, dass es sich in 83,3 ü / 0 
um Mord und Mordversuche handelte, wovon auf die 
Männer 8 i ,2°/ 0 und auf die Frauen 9,7°/ f) entfielen. 


*) Sind das auch „Tobzellen“ ? 

(Fortsetzung folgt.) 


Personalnachricht 

(Um Mitteilung von Personalnachrichten etc- an die Redaktion 
wird gebeten.) 

— Dr. Bartels, Besitzer der Heilanstalt für 
Nervenkranke „Kurhaus Villa Frieda“ in Ballenstedt 
a. Harz ist zum Sanitätsrath ernannt. 


Für den redactionel len Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Üresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heyneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wnlff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herau*«*Keb«n von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Quttatadt, 

Urhuprin^ (Altmarlri Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath. Barlin. 

Prof Dr. E. Mendel. Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel, 

R«*rlin Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhotd Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 3572. 

Nr. 8. _ 24 . Mai. _ 1902. 

Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

B»-**te1!nn*en nehmen jede Buchhandlung, die Pn«t (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3»paltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Errnässigung ein. 

ZuM-hriHen für die Kedaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Die Irrenfürsorge in Baden. Von Oberarzt Dr. Max Fischer -1 Henau (S. 89). — Mittheilungen (S. 92). — 
Referate (S. 95). 


Die Irrenfürsorge in Baden. *) 

Von Oberarzt Dr. Max Fischer- Illenau. 


T^ie gegenwärtige Irren Versorgung im Grossherzog- 
thum Baden zeigt folgende Verhältnisse: 

Das Grossherzogthum besitzt bei einem Flächen - 
raum von 15081 qkm und einer Einwohnerzahl von 
1 867944 (Volkszählung vom 1. Dezember 1900) zu 
Zwecken der Irren Versorgung an staatlichen öffent¬ 
lichen Irrenanstalten: die Heil- und Pflcgcanstalten 
in Illenau mit 500, Emmendingen mit 1025 und 
Pforzheim mit 650, sowie die beiden Irren kl iniken in 
Heidelberg und Freiburg mit je 110 Plätzen ; zusammen 
Ende des Jahres 1900 als nominelle Höchstziffer 
2395 Plätze für Geisteskranke in öffentlichen Anstalten. 
Es kommt danach in den Heil- und Pllcgeansialten 

*) Vorliegende Arbeit ist der gekürzte erste Theil der 
von der badischen Sachverständigencommission ausgearbeiteten 
„Denkschrift über den gegenwärtigen Stand der 
Irrenfürsorge in Baden und deren künftige Ge¬ 
staltung“, mit einer neuen Einschaltung, weiche, weil zu 
sehr ins Detail gehend, in der Denkschrift nicht zum Abdruck 
gekommen ist 


des Landes ein Platz auf 780 Einwohner, resp. auf 
1000 Einwohner 1,28 Plätze. 

Der thatsächliche Krankenbestand betrug Ende 
1900 in diesen fünf Anstalten zusammen 2407 Pfleg¬ 
linge. 

Diese Zahl geht also über die obige nominelle 
höchste Belegziffer von 231)5 um 12 hinaus.*) 

Mit der angegebenen Belegziffer von 2395 sind 
aber sämrntliche Anstalten bereits als bedeutend 
überfüllt zu betrachten, wenn man die Räume nach 
den heutigen Grundsätzen der Hygiene und des 
technisch-ärztlichen Betriebs ausmisst. Wir werden 
auf diesen Punkt später noch zuiückkommen. 

Als den staatlichen Anstalten zugehörig ist ferner 
die A b t h e i 1 u n g für geisteskranke Ver¬ 
brecher des H a up tk ran kenha uses des 
L a n d e sg e f ä ngnisses in B r 11 c h s a 1 mit 2 8 

*) Seit dieser Aufstellung haben sich die Belegungsverhäll- 
nisse noch ei lieblich verschlechtert. 


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90 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT*. 


[Nr. 8. 


Plätzen zu rechnen; der Krankenbestand beträgt dort 
durchschnittlich 20 Kranke. 

Da jedoch nur akut geistig erkrankte Sträflinge, 
während ihrer Strafzeit, Aufnahme finden und der 
Krankenbestand sich nur aus der Zahl der Sträflinge 
ergänzt, also der Wechsel allein intern sich vollzieht, 
so kommt diese Plätzezahl für unsere Aufstellung der 
für die Landesirrenfürsorge verfügbaren Plätze nicht 
in Betracht. 

Zu den staatlichen Institutionen der öffentlichen 
Landesirrenanstalten kommen hinzu die soge¬ 
nannten Pr i vatirr en anstalt en. Als solche sind 
zu zählen : 

I. Die Ko r porati on s an s tal t en, die der 
privaten Wohlthätigkeit ihre Entstehung ver¬ 
danken und zum Theil Staatszuschüsse zum Bau und 
Betrieb erhalten. 

Diese Wohlthätigkeitsanstaltcn sind: 

a) das St. Josefs haus in' Herthen, Amt 
Lörrach, in welchem Schwach- und Blödsinnige, Idio¬ 
ten und Kretinen Aufnahme finden; am 31. Dezember 
1900 befanden sich daselbst im Ganzen 394 Kranke 
(davon 9 unter 6 Jahren, 121 von 6—14 Jahren, 101 
von 14—21 Jahren und 163 über 21 Jahren). 

Die nominelle Belegziflfer beträgt 450 Betten. 

b) . Die Anstalt für schwachsinnige Kinder in 
Mosbach, welche für schwachsinnige Kinder und 
jugendliche Personen im Alter von 6 —18 Jahren be¬ 
stimmt ist; am 31. Dezember 1900 befanden sich 
darin 138 Pfleglinge (und zwar 5 unter ö Jahren, 
57 von 6—14 Jahren, 59 von 14—21 Jahren und 
17 über 21 Jahren). 

Die nominelle Belcgziffer beträgt 140 Betten. 

c) Die Heil- und Pflegeanstalt für epi- 
lepti sehe Kinder in Kork, welche Epileptiker, 
und zwar in erster Linie jugendliche, aufnimmt, die 
älteren nöthigenfalls beibehält und in zweiter Linie 
auch Erwachsenen Aufnahme gewährt. Der Kranken¬ 
bestand betrug am 31. Dezember 1900 73 Pfleglinge; 
davon ist 1 unter 6 Jahren, 22 im Alter von 6—14 
Jahren, 40 im Alter von 14—21 Jahren und 10 über 
2 1 Jahre alt. 

Die nominelle Belegziffer beträgt 75 Betten. 

In diesen drei Anstalten zusammen wurden am 
31. Dezember 1900 605 Kranke und zwar in der 
überwiegenden Mehrzahl jugendliche Geisteskranke 
(Schwachsinnige, Idioten, Kretinen und Epileptiker) und 
zwar 215 unter 14 Jahren und 200 vom 14.—21. 
Lebensjahre, aber daneben auch 190 erwachsene 
Geisteskranke über 21 Jahren derselben Art verpflegt. 

Die Belegziffer dieser unter 1 genannten Anstalten 
zusammeiigercclmet ist öh 5 Plätze. 

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2. Die Pri vatirr enanst alt für v ermög¬ 
liche Kranke von Dr. Richard Fischer in 
Neckargemünd mit 42 Plätzen. Der Krankenbestand 
Ende 1900 war 33. 

Die zur Verfügung stehenden Plätze in allen Privat¬ 
irrenanstalten (1 und 2 zusammen) betragen 707. 

Wenn wir den in den staatlichen Irrenanstalten 
verfügbaren Plätzen (2395) noch diese in den Privat¬ 
irrenanstalten vorhandenen (707) hinzurechnen, so er- 
giebt das eine Gesammtzahl von 3102 Plätzen für 
Zwecke der Irren Versorgung, d. h. 1 Platz auf 602 
Einw'ohner oder auf 1000 Einwohner 1,66 Anstalts¬ 
plätze. 

Von diesen insgesammt 3102 Plätzen treffen so¬ 
mit 2395 oder 77,2 °/ 0 auf die staatliche Irren Ver¬ 
sorgung und 707 oder 22,8 % auf die Privatirren¬ 
anstalten. 

Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass, abge¬ 
sehen von der Privatanstalt für Vermögliche in Neckar¬ 
gemünd, die Mehrzahl der in den Privatirrenanstalten 
verpflegten Kranken, also insbesondere derjenigen der 
genannten drei Wohlthätigkeitsanstalten jugendliche 
Pfleglinge und nach Krankheitskategorien Schwach¬ 
sinnige, Idioten, Kretinen und Epileptiker 
sind, so dass also den Privatanstalten vorwiegend 
dieFürsorge fü r die Jugendlichen, den öffent¬ 
lichen Irrenanstalten aber die Fürsorge für 
Erwachsene zufällt. 

Wir haben des Weiteren noch zu erwähnen die 
Kreispflegeanstalten — unter der Selbstver¬ 
waltung der Kreise stehende Krankenanstalten — 
einestheils für körperlich Sieche (auch Taubstumme), 
andemtheils für Kretinen, Epileptiker, Idioten, Imbezille 
und andere chronische Geisteskranke. In diesen neun 
Kreispflegeanstalten des Landes wurden nämlich am 
31. Dezember 1900 ausser 1154 körperlich Siechen 
und Taubstummen 1146 chronische Geisteskranke (mit 
angeborener Geistesschwäche, auch Kretinen, oder er¬ 
worbener Geistesstörung) und 97 Epileptiker, zusam¬ 
men 1243, verpflegt. Es sind danach 52 °/ 0 der In¬ 
sassen der Kreispflegeanstalten, also über die Hälfte, 
Geisteskranke, Kretinen und Epileptiker, wobei die Ge¬ 
lähmten (an Gehirn- oder Rückenmarkslähmung Lei¬ 
denden) und die Alkoholiker, unter welchen Kate¬ 
gorien wohl auch eine Anzahl den Geisteskranken 
zuzurechnen sein dürfte, nicht mitgezählt sind. 

Diese Anstalten dienen hauptsächlich für der 
Armen Versorgung anheimgefallene Kreisangehörige, 
ausnahmsweise auch für zahlungsfähige Kranke. 

Nach den Statuten sind nun in diesen Anstalten 
von Geisteskrankheiten und verwandten Zuständen 
nur aufnahmeberechtigt: 

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t 902.] _ PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


i. UnheJiibare Geisteskranke, sofern sie ruhig sind, 
keiner besonderen Wartung bedürfen und der Local¬ 
versorg\mg überwiesen wurden. 

Idioten, Kretinen, Blödsinnige höheren Grades, 
w eiche auf so niederer geistiger Stufe stehen, dass 
sie sich nicht selbst überlassen werden können. 

3. Personen, welche bis zur Arbeitsunfähigkeit mit 
Epilepsie oder anderen schweren Nervenleiden (wie 
Veitstanz, Hysterie und Katalepsie) behaftet sind. 

Nach den Aufnahmebestimmungen, wonach die 
Kreispflegeanstalten ausdrücklich nur solche Kranke, 
welche sich ebensogut auch für die Loca Versorgung 
♦eignen, aufnehmen, der irrenärztlichen Behandlung 
-aber noch irgendwie bedürftige Irre nicht beherbergen 
-sollen, gehören diese Krankenanstalten aber nicht in 
die Reihe der eigentlichen Irrenanstalten und dienen 
nicht den Zwecken der Irren Versorgung und Irrenbe¬ 
handlung in dem Sinne, wie die vorhergenannten 
öffentlichen und privaten Institutionen. Die in den 
Kreispflegeanstalten von Kranken dieser Art einge¬ 
nommenen Plätze können bei dieser Sachlage auch 
bei einer Aufstellung der für die geordnete Irrenver¬ 
sorgung verfügbaren Plätze nicht mitgezählt werden. *) 

Den öffentlichen Irrenanstalten fällt nun in der 
Landesirrenversorgung folgende Aufgabe zu: 

Zunächst gliedern sich diese: 

1. in vorwiegend Aufnahme- oder Heilan¬ 
stalten (Illenau und die beiden Irrenkliniken), und 

2. vorwiegend Pflegeanstalten (Emmendingen 
und Pforzheim). 

Die ersteren allein nehmen prinzipiell Kranke aus 
dem offenen Lande auf, während die letzteren zur 
Entlastung der Aufnahmeanstalten dienen, d. h. nur 
aus diesen Kranke aufnehmen sollen, mit Ausnahme 
der Wiederaufnahmen und eventuell der Epileptiker. 

Das ganze Land ist nun in Aufnahmebezirke 
für diese drei Aufnahmeanstalten (Illenau, die Irren¬ 
kliniken in Freiburg und in Heidelberg) eingetheilt, 
so dass jeder dieser Anstalten alle der Anstaltsbe¬ 
handlung bedürftigen Kranken zunächst aus diesem 
Bezirke Zufällen; ausnahmslos gilt dies für die auf 
öffentliche Kosten (Gemeinde-, Kreis- oder Staats¬ 
kosten) Verpflegten. Vermögliehe können sich die 
Heilanstalt wählen. 

Der Aufnahmebezirk der Anstalt 111 e n a u umfasst 
die Mitte des Landes und die südöstliche abliegende 
Bodenseegegend, d. h. die Kreise Baden, Offenburg, 
Villingen und Konstanz, letzteren mit Ausschluss des 

*) Zur Frage der Kreispflegeaiistalten nimmt der Verf. 
im übrigen, wie er bereits an andern Orten betonte, von jeher 
die gleiche Stellung ein wie früher Roller und neuerdings Krä- 
pelin, Ludwig und mit ihnen wohl die meisten Psychiater. 

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Amtsgerichtsbezirkes Radolfzell, ferner vom Kreise 
Karlsruhe die Amtsbezirke Karlsruhe, Durlach und 
Ettlingen, zusammen mit einer Einwohnerzahl von 
7 1 5 3 7 ° (Volkszählung vom 1. Dezember 1900). 

Illenau hat bei etwa 500 Plätzen eine jährliche 
Aufnahmeziffer von 385 (Durchschnitt der letzten 5 
Jahre); im Jahre 1900 hatte es 434 Aufnahmen. 

Die Irrenklinik in Heidelberg hat zum Auf¬ 
nahmebezirk den vom Illenauer Bezirke nördlich ge¬ 
legenen Landestheil, nämlich die Kreise Mosbach, 
Heidelberg und Mannheim, und vom Kreise Karls¬ 
ruhe die Amtsbezirke Pforzheim, Bretten und Bruch¬ 
sal, zusammen mit einer Einwohnerzahl von 712488. 

Sie vollzieht bei einer Plätzezahl von 110 Betten 
pro Jahr 314 Aufnahmen (Durchschnitt der letzten 
5 Jahre); im Jahre 1900 hatte sie 383 Aufnahmen. 

Die Irrenklinik in Freiburg hat zum Aufnahme¬ 
bezirk den übrig bleibenden südlichen Theil des 
Landes, d. h. die Kreise Freiburg, Lörrach und Walds¬ 
hut, und vom Kreise Konstanz den Amtsgerichtsbe¬ 
zirk Radolfzell mit zusammen 440086 Einwohnern. 

Sie vollzieht bei einer Plätzezahl von 110 im Jahre 
ca. 180 Aufnahmen (Durchschnitt der letzten 5 Jahre); 
im Jahre 1900 hatte sie 220 Aufnahmen. 

Kranke, welche die Kliniken aus Platzmangel etwa 
nicht aufnehmen, fallen der Anstalt Illenau zu. Epi¬ 
leptiker können von den Kliniken und von Illenau 
direct nach Emmendingen überwiesen werden. 

Man ersieht daraus, dass die Irrenkliniken ausser 
ihrer vornehmsten Aufgabe, der Lehraufgabe, noch 
einen erheblichen Theil der Landesirrenfürsorge über¬ 
nehmen, da sie, trotz ihrer der Belegungsfähigkeit der 
Anstalt Illenau (500) gegenüber verhältnissmüssig ge¬ 
ringeren Bettenzahl (je 110), für eine Einwohnerzahl 
von 1 152594, d. h. 61,7 °/ 0 des Landes, als Auf¬ 
nahmeanstalten dienen, und mit 494 Aufnahmen pro 
Jahr 56,2 °/ 0 aller Aufnahmen in Heilanstalten voll¬ 
ziehen. 

Die Anstalten Emmen dingen und Pforzheim 
sollen, entsprechend ihrem vorwiegenden Character 
als Pflegeanstalten, frische Fälle aus dem offenen 
Lande nicht aufnehmen, haben also auch keinen Auf¬ 
nahmebezirk, sondern nehmen den Heilanstalten Illenau, 
Heidelberg und Freiburg die chronisch gewordenen 
Fälle ab, und zwar Emmendingen, das als koloniale 
Anstalt im Pavillonstyl mit Ackerbaubetrieb erbaut ist, 
die noch geistig und körperlich rüstigeren und zugleich 
arbeitsfähigeren Kranken, und Pforzheim die Blöd¬ 
sinnigen hohen Grades, die Idioten und Kretinen. 

Beide Anstalten nehmen ihre Pfleglinge nur nach 
diesen Krankenkategorien und aus dem ganzen Lande 

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9 2 


auf, nicht unterschieden nach dem Heimaths- oder 
Wohnort. 

Von der beabsichtigten Vereinheitlichung der Auf- 
nahmequalification gleichmässig für alle Pflegeanstalten 
ist in der Denkschrift später die Rede. 

Emmendingen vollzieht auf diese Weise bei 
einer Plätzezahl von 1025 im Jahr 168 Aufnahmen 
(Durchschnitt der letzten 5 Jahre); im Jahre 1900 
waren es 170 Aufnahmen. 

Pforzheim, bei einer Plätzezahl von jetzt (>50, im 
Jahr 86,6 Aufnahmen (Durchschnittder letzten 5 Jahre); 
im Jahre 1900 waren es 75 Aufnahmen. 

Der ganze Gang der Irrenversorgung setzt aber 
nun, wenn er in Wirklichkeit umgesetzt und regel¬ 
mässig eingehalten werden soll, voraus, dass 

1. die Pflegeanstalten immer in der Lage sind, 
die angemeldeten Kranken aus den Heilanstalten in 
nicht zu langer Frist aufzunehmen, und dass 


[Nr. 8. 


2. die Aufnahme- oder Heilanstalten 
immer über genügend freie Plätze verfügen, um jeweils 
dem Andrange der Aufnahmen von aussen stattgeben, 
d. h. die anstaltsbedürftigen Kranken aus dem offenen 
Lande unverweilt und ohne Zeitverlust, der ihre Aus¬ 
sichten auf Heilung nur beeinträchtigen und schwere 
Unzuträglichkeiten in der Aussenwelt schaffen würde, 
aufnehmen und einer sachgemässen Behandlung zu¬ 
führen zu können, so dass dadurch — in Verbindung 
mit einem beschleunigten Aufnahmeverfahren, wie wir 
es in Baden besitzen, — die ungenügende, auch nur 
vorübergehende Unterbringung der Geisteskranken in 
Spitälern und städtischen Krankenhäusern und ebenso 
andere Inconvenienzen in der Verwahrung und Be¬ 
handlung der Geisteskranken v o r ihrer Anstaltsver¬ 
bringung vermieden werden. 

(Fortsetzung folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— 37. Versammlung des Vereins der Irren- 
Aerzte Niedersachsens und Westfalens. 

Die Versammlung fand statt am 3. Mai ds. Jahres 
in Hannover, im Conferenz-Saale des dem Aerztever- 
cin gehörigen Hauses. Dieselbe w*ar sehr zahlreich 
besucht. Nachmittags 3 Uhr eröffnete der Vorsitzende 
Herr San.-R. Dr. Gerstenberg -Hildesheim die 
Versammlung. Nach Erledigung einiger geschäft¬ 
licher Angelegenheiten trat die Versammlung in die 
wissenschaftlichen Verhandlungen ein, dieselben füllten 
den ganzen Nachmittag bis 7 Uhr aus, worauf sich 
die Theilnehmer bei einem gemeinschaftlic hen Diner 
im Hotel Kasten vereinigten. 

Vor Eintritt in die Tagesordnung theilte Herr 
Cramer-Göttingen mit, dass sich in Göttingen 
eine forensisch-psychologische Vereinigung con- 
stituirt habe. Interessenten wird der Beitritt zu der¬ 
selben nahe gelegt. 

Die wissenschaftliche Tagesordnung bot folgende 
Punkte: 

1. Herr Bruns-Hannover: Neuro patho¬ 
logische Demonstrationen. 

Vortr. besprach an der Hand zweier Fälle, von 
deren einem das makroskopische Präparat demonstrirt 
wurde, die Diagnosenstellung des Kleinhirnabscesses. 
Die Symptome decken sich vielfach mit denen bei 
Erkrankungen des inneren Ohres, namentlich des hin¬ 
teren Theils. Doch lässt sich heute die Diagnose 
sicherer stellen als dies Oppenheim angiebt. Diffe¬ 
rentiell wichtig sind die Erscheinungen, welche auf 
die Medulla obl. himveisen, sowie ein Ausschluss 
einer Aflfection des Schläfcnlappens. 

Weiterhin demonstrirte Vortr. das Präparat eines 
subduralen Tumors, der die 2. und 3. Stirn- und die 
1. Central-Windung comprimirt hatte. Der Tumor, 

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wahrscheinlich sarcomatöser Natur, war fast hühner¬ 
eigross. 

Pat. hatte 1803 ein Trauma erlitten, ein Jahr 
später traten allgemeine epileptische Anfälle ein, deren 
Frequenz zunahm. Später (1895) zeigten die An¬ 
fälle partiellen Charakter. Objectiv war nichts nach¬ 
weisbar, nur bestand eine geringe Glycosurie. Seit 
1899 nahmen die nunmehr beständig partiellen An¬ 
fälle sehr zu. Dem Rath, sich operiren zu lassen, war 
P. nic ht gefolgt, Tod 1900. Der Fall ist merkwürdig 
einmal durch die lange Dauer, ferner dadurch, dass 
der Tumor an der Stimwindung allgemeine epilep¬ 
tische Anfälle zuerst hervorrief, und dadurch, dass 
erst Dysarthrie, Paraphasie erst ganz zuletzt bestand. 
Der Mann konnte bis in die allerletzte Zeit schrei¬ 
ben. Zuletzt bestand auch atactischer Gang. Die 
Allgemeinerscheinungen waren auffallend gering. 

Es folgte die Besprechung eines Falls von Klein¬ 
hirntumor, der im Leben durch merkwürdige Gefäss- 
geräusche und ausgesprochenes Hervortreten von 
Halbseitenerscheinungen ein Aneurysma einer art. basi- 
laris vorgetäuscht hatte, und weiterhin eines Falls von 
Tumor der rechten Frontal windung mit typischem 
Svmptomcomplex. Der Fall ist mit Erfolg operirt 
worden. 

Den Schluss bildete die Demonstration eines Prä¬ 
parats eines freien Cysticercus im 4. Ventrikel, der 
intra vitam diagnostizirt worden war. Die Symptome 
waren: heftige Schmerzen 2 —3 Wochen lang, Schwin¬ 
del bei Bewegungen des Kopfes, P. konnte sich nur 
langsam umdrehen, cs bestand Doppelsehen. Kein 
Zucker im Urin. Wenn der P. den Kopf rasch 
drehte, so fiel er um und erbrach. Tod sehr plötz¬ 
lich, vielleicht grade in Folge der freien Beweglich¬ 
keit des Cysticercus. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Discussion: Herr Löwenthal-Braunschweig 
erwähnt zum letzten Fall einen von ihm beobachte¬ 
ten ganz analogen Fall. Besonders eharacteristisch 
waren 2 Symptome: I. Bild einer Erkrankung der hin¬ 
teren Schädelgrube, aber passagerer Natur, wie sonst 
nur bei Hirnlues. 2. Die Erscheinungen bei Lage¬ 
veränderung in ihrer Combination mit den ersteren 
Symptomen. 

Herr Alt-Uchtspringe hat gleichfalls eine 
einschlägige Beobachtung zu verzeichnen, welche durch 
intennittirendes Auftreten von Zucker im Harn auf 
die Diagnosenstellung hinlenkte. 

Herr Bruns (Schlusswort). Da Schwindel auch 
bei Kleinhimtumoren, deshalb hier kein ganz sicheres 
Moment für die Diagnose. Auch muss man an hy- 
drocephalische Erscheinungen — hier fehlt freilich 
die starke Remission — denken, sowie an schwere 
Meniere'sche Symptome intermittirenden Charakters. 

2. Herr Alt-Uchtspringe: Ueberden Ein¬ 
fluss der Kost auf die Anfälle der Epilep- 
ti sehen. 

Toulouse und Richet, welche bei einfacher, salz¬ 
armer Kost eine Abnahme der Anfälle erreichten, er¬ 
klärten dies damit, dass der im Körper entstehende 
Salzhunger eine begierige Aufnahme und Ausnutzung 
des nun in geringeren Mengen darzubietenden Broms 
verursache. Alt hat bei 24 Kindern in 3 Gruppen 
systematische Versuche angestellt, bei welchen unter 
Beobachtung eines genügend langen Zeitraums die 
Summe der Anfälle für vegetabilische Kost, für Milch¬ 
kost und für gemischte Kost (mit Fleischdarreichung) 
notiert und mit dem Ergebniss bei gewöhnlicher, 
nicht abdosirter Kost verglichen wurde. Es zeigte 
sich dabei, dass die Anfälle bei gewöhnlicher Kost 
am zahlreichsten waren, sie verminderten sich schon 
während der genauen Kostdosirung, noch mehr in 
der vegetabilischen Periode, und am meisten und 
zwar sehr erheblich während der Milchperiode. Kin¬ 
der, die sich bei vegetabilischer oder Milchkost nicht 
gut befanden, zeigten, wenn statt gewöhnlicher Milch 
sterilisirte gereicht wurde, gleichfalls ein den übrigen 
entsprechendes Resultat. Die Zufuhr von N. bei der 
Fleischkost kann nicht das wesentliche sein, da nach 
genauester Berechnung die Kinder bei Milchkost mehr 
N. erhielten. Auch hat Alt durch Darreichung von 
nucleinfreiem Eiweiss gezeigt, dass die Harnsäure 
keine Rolle dabei spielt: es fehlte hier eine Zunahme 
der Anfälle. Vortr. weist darauf hin, dass schon in 
früherer Zeit die Bedeutung einfacher Kost für die 
Epileptischen bekannt war. Eine genaue detaillirte 
Erklärung dieser Thatsache ist z. Z. noch nicht mög¬ 
lich, jedenfalls aber spielt nicht die Salzentziehung, 
sondern die Kostvereinfachung auch in den Versuchen 
der Franzosen die entscheidende Rolle. 

Discussion: Herr Hesse-Ilten: fragt, ob man 
dabei Brom fortgeben könne, und ob die beschrie¬ 
benen Verhältnisse auch für Erwachsene Geltung 
hätten. 

Herr Alt: Die Kinder blieben bei ihrer Medi¬ 
kation. Ein Kind (seit 2 Jahren) ist geheilt. Exakte 
Versuche habe Vortr. bisher nur von Kindern, gleich 
gute Resultate aber auch bei Erwachsenen. 

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Herr Löwcnthal-Braunschweig: hält die 
Angaben der Franzosen zunächst noch nicht für wider¬ 
legt: er habe bei Salzentziehung gute Erfolge ge¬ 
sehen unter Berücksichtigung individualisirender Be¬ 
handlung. 

Herr A 1 1 (Schlusswort) betont, dass den Kindern 
in seinen Versuchen abgewogene Mengen Salz fort- 
gegeben und doch die mitgetheilten Resultate, welche 
demnach nur auf die Vereinfachung der Kost be¬ 
zogen werden können, erzielt sind. 

3. Herr Sn eil - Hildesheim: Irren hilfs¬ 
vereine. (Erscheint auch als Originalartikel in dieser 
Zeitschrift). 

Anknüpfend an die Thatsache des Vorurtheils, 
welches gegen aus Anstalten Entlassene ungerechter 
Weise besteht, betont Vortr. die Nothwendigkeit sol¬ 
chen Menschen Unterkunft, Unterstützung und Weiter¬ 
hülfe zu gewähren. Vor allem ist die rasche Flüssig¬ 
machung von Geldmitteln nothwendig. Die Geschichte 
der Irrenhilfsvereine, welche Vortr. bespricht, zeigt die 
Nothwendigkeit dieser Institute. Die bestehenden 
Vereine in Deutschland, obwohl verschieden organisirt, 
haben alle den gemeinsamen Zweck, den Irren das 
Wiedereinleben in das praktische Dasein zu erleich¬ 
tern oder überhaupt zu ermöglichen. Die Vereine 
haben z. Th. namhafte Summen aufgebracht. Eine 
weitere wichtige Aufgabe der Vereine besteht in der 
Aufklärung des Publikums über die Irrenpflege über¬ 
haupt. Es wird die Wichtigkeit der Einsetzung von 
Vertrauensmännern betont, welche einen gewissen 
Einblick in die Irrenpflege besitzen müssen. Die 
Müheverwaltung der Aerzte vermehrt sich dadurch, 
aber es wird ihre Institution sich in vielfacher Weise 
lohnen: 

1. Wird die Ueberführung der Kranken in die 
Anstalt zur rechten Zeit erfolgen können. 

2. Es wird die Gewinnung brauchbaren Warte¬ 
personals eine Unterstützung erfahren. 

Vortr. betont zum Schlüsse, dass die Leitung der 
Vereine in der Hand der Anstaltsärzte liegen müsse. 

Discussion. Herr Cramer-Göttingen betont 
die Nothwendigkeit der Gründung neuer Vereine und 
beleuchtet die Schwierigkeiten, welche besonders die 
Leitung derselben bieten werde, deren Trennung 
von den Anstalts-Direktionen er für nothwendig hält. 

Herr Alt-Uchtspringe berichtet, dass in Sach¬ 
sen die Gründung eines Vereins seit längerem geplant 
sei. Er bezeichnet die Fürsorge als eine Art erwei¬ 
terter Familienpflege, welche, wenn die Behörden die 
nöthigen Geldmittel bereitstellen, es gestatte, eine 
Reihe von Kranken zu entlassen, welche jetzt als 
Ballast der Anstalten mit fortgeschleppt werden 
müssen. 

Herr Gerstenberg-Hildesheim erinnert 
daran, dass früher ein Etat-Posten für entlassene 
Kranke vorhanden war. Die Behörden würden kaum 
sich bereit finden für entlassene Kranke die Für¬ 
sorge zu übernehmen, es werde daher die Inanspruch¬ 
nahme der öffentlichen Wohlthätigkeit geboten sein. 

Herr Sn eil (Schlusswort) schlägt die Inanspruch¬ 
nahme beider Theile vor. 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY , 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 8. 


4. Herr Cramer-Göttingen: Ueber krank- 
kafte Eigenbeziehung und Beachtungs- 
w a h n. 

Vortr. geht aus von der Beobachtung, dass eine 
Ueberschätzung der Bedeutung, welche die Vorgänge 
der Aussenwelt in Bezug auf die eigene Person haben, 
zu einer Trübung des Urtheils und einer Störung des 
Bewusstseins der Persönlichkeit führt Die krank¬ 
hafte Eigenbeziehung manifestirt sich in doppelter 
Art. In der ersten Gruppe von Krankheitsfällen be¬ 
sitzen die Kranken keine Einsicht in ihren Zustand 
(paranoischer Typus). In einer zweiten Gruppe sind 
die Kranken sich des Krankhaften ihres Zustandes 
bewusst (Typus vom Charakter der Zwangsvorstell¬ 
ungen). Es spielen derartige Zustände bei den ver¬ 
schiedensten Psychosen, so der Melancholie, dann 
der Paranoia (als Einleitung zur chronischen Form 
z. B.) eine Rolle, dann aber bei allen mit einer Stö¬ 
rung des Bewusstseins einhergehenden Erkrankungen, 
also bei Epilepsie, Hysterie, im traumatischen Irre¬ 
sein, bei der Paralyse. Dazu kommen Zusände ner¬ 
vöser Natur: Neurasthenie, degenerative Psychosen, 
Nervosität, Schwindelerscheinungen und Schwerhörig¬ 
keit. 

Für die Genese der krankhaften Eigenbeziehung 
zieht Vortr. die bei Gesunden zu beobachtende 
falsche Eigenbeziehung in veranschaulichender Weise 
heran und erläutert sie durch zahlreiche Beispiele. 
Den krankhaften Boden, auf dem die Erscheinung 
entsteht, können falsche Berichte über die Organge¬ 
fühle, viscerale Veränderungen, Störungen des Be¬ 
wusstseins, die Angst oder schweres Krankheitsgefühl 
abgeben. Es wird ein Gefühl von eigener Insufficienz 
die Folge sein, das in Folge der Projection der ver¬ 
änderten Empfindungen nach aussen, zu einer schar¬ 
fen Beobachtung der Umgebung führt. 

Vortr. erläutert die Prognose der krankhaften Ei¬ 
genbeziehung, welche natürlich in unmittelbarer Be¬ 
ziehung zu der Psychose steht, bei der sie auftritt, 
sodass also die Genese einen Anhaltspunkt abgiebt für 
die Prognose. 

Discussion. Herr Alt erwähnt im Anschluss an 
den vertigo ab aure laeso, die Platzangst etc., dass 
man in allen solchen Fällen, in denen es sich nicht 
um schwer degenerirte Personen handelt, also allen 
Grund zu genauer körperlicher Untersuchung habe. 
Man hat dann ev. neben der psychischen Beein¬ 
flussung noch den Vorth eil der körperlichen The¬ 
rapie. 

Herr Bruns erwähnt die Zustände der Alkoho¬ 
liker mit Eigenbeziehung und Zwangsvorstellungen. 

Herr Berkhan-Braunschweig: Das sich 
Immer-wieder-Aufdrängen der BeziehungsVorstellung 
führt schliesslich zur Zwangsvorstellung. 

Herr Cramer (Schlusswort) betont, dass eine 
analoge Erscheinung für die berührten Zustände der 
Höhenschwindel bei Leuten, welche erst im späteren 
Lebensalter zum ersten Mal auf hohe Berge kommen, 
abgebe. Hier ist die Unfähigkeit Höhendifferenzen 
abzuschätzen, w r elche aber nur als Angst zum Bewusst¬ 
sein kommt, Ursache davon, dass sofort eine Be¬ 
ziehungsvorstellung zu dem Ort, an dem der Höhen¬ 


schwindel empfunden ward, eintritt Am gleichen 
Orte stellt sich daher später auch stets die Angst 
wieder ein. 

5. Herr Web er-Götti ngen: Ueber einige 
Neubauten der Göttinger Irrenanstalt. 
(Der Vortrag soll im Original in dieser Wochenschrift 
erscheinen). 

Zur Unterbringung siecher, Dekubitus-vei dächtiger 
Kranker wurde ein leichter Barackenbau als Lazarcth- 
abtheilung eingerichtet und dort alle derartigen Kran¬ 
ken, namentlich Paralytiker, Epileptiker pp. unterge¬ 
bracht. Die Station wird zur Hälfte als 2. Wach¬ 
station mit Nachtwache betrieben und dadurch das 
Vorkommen von Dekubitus, Verunreinigung pp. besser 
als durch künstliche Mittel vermieden. 

Auf der bisher nur aus Einzelzimmern bestehen¬ 
den Zellstation wurde durch Entfernung von 4 sog. 
Tobzellen Raum für einen Schlafsaal von 10 Betten 
gewonnen, in dem eine Anzahl bisher isolirter Kran¬ 
ker untergebracht werden konnte. 

Vortr. betont, dass allenthalben das Bestreben 
nach Verminderung der Isolirung besteht, hält jedoch, 
wenigstens für die grösseren Anstalten mit chroni¬ 
schem Krankenmaterial, die völlige Abschaffung der 
Zellen für nicht zweckmässig. Nicht die grosse Zahl 
der wenn auch erregten Neuaufnahmen, wie vielfach 
behauptet w'ird, sondern gewisse chronische Kranke 
mit Neigung zu Erregungszuständen und Gewaltthätig- 
keiten machen die Beibehaltung einiger Zellen für 
Anstalten mit derartigen Kranken nothwendig. 

(Autoreferat). 

6. Herr Vogt-Göttingen: Ueber die Be¬ 
ziehungen zwischen Aphasie und Demenz. 

Vortr. bespricht den Einfluss, welchen Ausfalls¬ 
erscheinungen im Gebiete der Sprache ausüben auf 
den normalen Ablauf des Denkprocesses. Es kom¬ 
men hierbei natürlich nur Störungen im Sprachge¬ 
biet in Betracht, sofern dieselben nicht subcortical, 
sondern durch Läsionen höherer Gegenden bedingt 
sind. Einer allgemeinen Erörterung der Frage stellt 
sich die gerade hier so erhebliche Breite der indivi¬ 
duellen Verschiedenheit hindernd in den Weg. Es liegt 
dies bekanntlich daran, das§ das Verhältniss zwischen 
rein begrifflichem und sprachlichem Denken sich im 
einzelnen Falle ganz verschieden gestaltet Es kommt 
hierbei ganz besonders in Betracht, dass demjenigen, 
der sprachlich denkt, sich die Gedanken schon in 
einer bestimmten Formulirung zu präsentiren pflegen 
und dass diese Formulirung der Worte zu geordneten 
Sätzen, der Lautcomplexe zu Worten im Sprachfelde 
vor sich geht. Es ist daran zu denken, dass der 
Wortbegriff selbst schon eine Associationsgruppe dar¬ 
stellt, sowie dass der psychische Werth des ganzen 
Sprachfeldes nur in seinen associativen Verbindungen 
liegt. Dies zeigen gerade die sog. unreinen Fälle 
von Aphasie am deutlichsten. Es lässt sich dies zu¬ 
weilen sogar für den Unterschied feststellen, den der 
sprachliche Associationscomplex für concrete und ab¬ 
strakte Begriffe hat, analog wie Sachs dies für das 
normale Denken auseinander gesetzt hat. Eine wei¬ 
tere Beziehung ergiebt sich bei Herderkrankungen, 
welche in dem Gebiete der Sprache einen Ausfall er-. 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 95 


zeugen, durch die Femwirkungen. Diese können 
natürlich nach irgendwo gelegenen Herden auftreten 
und äussem sich in einem Ausfall von Functionen 
benachbarter oder entfernt gelegener Rindenpartien 
•oder aber in einer allgemeinen Functionsherabsetzung 
der Hirnrinde überhaupt, welche letztere bei dem 
gleichzeitigen Functionsausfall der sprachlichen, für das 
Denken und die Begriffsbildung nöthigen Componen- 
ten besonders leicht zu einer dauernden Schädigung 
führen und besonders deutlich in Erscheinung treten 
wird. (Schluss folgt.) 

— Jahresversammlung des Vereins der deut¬ 
schen Irrenärzte in München. Nachzutragen ist 
dem Bericht noch, dass Prof. Westphal unter Vor¬ 
führung zahlreicher Projectionsbilder über Syringomyelie, 
Prof. Hitzig über Störungen des Gesichtsfeldes bei 
Hunden sprach, denen das Hinterhirn entfernt worden 
ist. — 

— Zur „reichsgesetzlichen Regelung des 
Irrenwesens“ wird der „Kölnischen Ztg.“ von 
sachverständiger Seite geschrieben: „Die bevorstehende 
oder wenigstens vom Reichstag lebhaft gewünschte 
reichsgesetzliche Ordnung des Irrenwesens scheint, 
nach dem, was bisher darüber geschrieben und ge¬ 
sprochen worden ist, auf die Festlegung der Auf¬ 
nahme- und Entlassungsvorschriften für Geisteskranke, 
Epileptische und Idioten in und aus Anstalten und auf 
die Aufenthaltsverhältnisse solcher Personen in Anstal¬ 
ten sich beschränken zu wollen. Es wäre eine arge Ver- 
säumniss, wenn nicht gleichzeitig andere Unsicherheiten 
(z. B. die Krank encorrespondenz), insbesondere aber 
ein Missstand beseitigt würde, der in aller Stille immer 
weiter Platz greift Das ist die Gepflogenheit von 
Provinzen und Communen, Pfleglinge der genannten 
Art, die der öffentlichen Fürsorge anheimgefallen 
sind, nicht in eigenen, sondern in privaten An¬ 
stalten unterzubringen. Das Gesetz vom 11. Juli 1891, 
welches die Unterbringung der Pfleglinge „in geeigneten 
Anstalten“, nicht in eigenen, den Armenverbänden 
zur Pflicht macht, hat damit eine Lücke gelassen, 
durch die sich Missbräuche in die Handhabung des 
Gesetzes einschleichen konnten. Wenn man schon 
nicht so weit gehen will, wie im Anfang vorigen 
Jahrhunderts Professor Dr. Reil in Halle a. S., ein 
Bahnbrecher auf diesem Gebiete, der für Unter¬ 
bringung der Geisteskranken u. s. w., auch der wohl- 
situirten, überhaupt ausschliesslich Staatsinstitute als 
zulässig betrachtete — diese Forderung ist neuerdings, 
auf dem Programm der Socialdemokratie wieder zutage 
getreten —, so muss man dieser Ansicht, soweit sie 
sich auf die der öffentlichen Armenpflege anheimge¬ 
gebenen Personen eistreckt, voll und ganz beipflichten. 
Der Gründe sind es zu viele, als dass darüber ge¬ 
stritten werden könnte. Die Verbände vergeben die 
Lieferungen für ihre eigenen Anstalten auf dem Sub¬ 
missionswege, so dass sich jeder interessirte Steuer¬ 
zahler um die Lieferungen bewerben kann; nicht so 
bei den von den Verbänden benützten und subven- 
tionirten Privatanstalten, welche die Lieferungen nach 
eigenem Belieben und nach Willkür ohne Ausschreibung 
übertragen. Da von manchen Verbänden bis tausend 
Pfleglinge in Privatanstalten untergebracht sind, so 

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ist das keine geringfügige Sache (bei tausend Köpfen 
mindestens etwa 430000 M. Verpflegungsgelder pro 
Jahr!, dazu kommen die Subventionen für Neubauten 
und dergl.). Wenn ferner die Wartpersonalfrage, wie 
sattsam bekannt, einen schwierigen Punkt in der 
Irren-, Epileptiker- und Idiotenpflege bildet und 
immer bilden wird, so wird sie dadurch geradezu als 
nicht vorhanden ignorirt, dass die Verwaltungen ihre 
Schutzbefohlenen in Privatanstalten Pflegepe reonen 
überantworten, die gar nicht in der Discipünargew'ait 
der öffentlichen Verwaltungen stehen; am schlimmsten 
macht sich das bei den kirchlichen Anstalten geltend, 
wo das Wartpersonal nicht einmal dem leitenden 
Arzte unterstellt ist, sondern kirchlichen Personen, die 
neben und über der Krankenpflege noch ganz andere 
Interessen bethätigen. Während in den Privatanstalten 
die Kranken besserer Stände nicht viel oder keine für 
den ökonomischen Betrieb der Anstalt nützliche Ar¬ 
beit leisten, ist dies bei den mitverpflegten Provinzial¬ 
oder Communalkranken in hohem Maasse der Fall — 
ein Grund, bei der Frage der Entlassungsfähigkeit der 
letztem unbewusst eigennützige Motive mitspielen zu 
lassen. Bei all diesen Punkten — es könnten noch 
mehr angeführt werden — haben weltliche und 
kirchliche Privatanstalten voreinander nicht den ge¬ 
ringsten Vorzug, ja die letztem stehen insofern zurück, 
als unvermeidlich der eigentliche Zweck der Anstalt 
leiden muss, wenn noch Sonderinteressen kirchlicher 
bezw. religiöser Natur vorgespannt oder auch nur 
an gehängt werden. Dass der Betrieb einer kirchlichen 
Anstalt nicht auf Erwerb ausgeht, wird kaum jemand 
die Naivetät besitzen zu glauben, nämlich auf den 
Erwerb von Geldern, um die ganze Anlage ad raajo- 
rem dei gloriam zu vergrössern, eine Neigung, unter 
der, wie verschiedene Beispiele gelehrt haben, der 
Betrieb der Krankenpflege ebenso leiden kann wie 
unter der Gewinnsucht eines einzigen weltlichen Be¬ 
sitzers einer Privatanstalt, der überdies fast ausnahms¬ 
los selbst Arzt ist und durch seine ärztliche Bildung 
und sein ärztliches Gewissen in allzu eigennützigen Be¬ 
strebungen corrigirt wird. — Zurückziehung der Pro¬ 
vinzial- und Communalpfleglinge aus den weltlichen, 
Säcularisirung der kirchlichen Anstalten für Geistes¬ 
kranke, Epileptische und Idioten ist die Aufgabe, vor 
welche sich die Reichsirrengesetzgebung wird gestellt 
sehen, will sie nicht nur halbe Reformen schaffen.“ 

Referate. 

— The Journal of mental Science. April 
1901. (Fortsetzung.) 

John Baker schreibt über Epilepsie und Verbrechen. 
Nachdem er sich gegen das Bestreben von Lombroso 
und seinem Anhang, den Begriff der Epilepsie möglichst 
weit auszudehnen, gewendet hat, stellt er eine Statistik 
zusammen über die epileptischen Insassen von Broad- 
moor. Seit seiner Eröffnung 1863 bis Oktober 1900 
werden 2435 Kranke aufgenommen, 1860 M. und 
575 Fr., darunter 139 = 7,5 °/ 0 männliche und 26 == 
4,5 °/ ft weibliche Epileptiker. Was die Art der von 
den Epileptikern verübten Verbrechen anbelangt, so 
handelte es sich in 117 Fällen um Verbrechen gegen 
die Person, w r oran 96 M. und 21 Fr. betheiligt waren, 
und in 48 Fällen um Verbrechen gegen das Eigenthum, 

Original fram 

HARVARD UNIVERSUM 



96 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8. 


und zwar bei 43 M. und 5 Frauen. Das Verhältnis 
der Männer zu den Frauen bei den epileptischen In¬ 
sassen beträgt 85 ° 0 M. und 15% Frauen. Es ist 
also das Vcrbältniss der epileptischen Verbrecher zu 
den Epileptikern überhaupt bei weitem grösser als das 
der epileptischen Verbrecherinnen zu den Epilep- 
tikerinnen. Feiner übersteigt das Verhällniss der 
Männer, die ein Verbrechen im geisteskranken Zu¬ 
stand begehen, um vieles das der Frauen. *) 

Nach der Art des Verbrechens überwiegen im Ver¬ 
gleich zu den Verbrechen gegen das Eigenthum die 
gegen die Person, wie folgende Notiz zeigt: 

M. Fr. 

Verbrechen gegen die Person . . 69% 81 “/ 0 

„ _ „ das Eigenthum 31 °/ 0 19% 

Bei den Verbrechen gegen die Person handelt es 
sich meist um Mord und Mordversuche, bei den Ver¬ 
brechen gegen das Eigenthum um Diebstahl und Brand¬ 
stiftung. 

Die Erregung und psychische Störung kann beim 
Epileptiker eintreten: 1) vor dem Anfall, 2) nach dem 
Anfall, 3) zwischen den Anfällen und 4) als Ersatz 
für den Anfall. In allen 4 Stadien kann der Epilep¬ 
tiker gefährlich werden. Verf. bringt zum Beweise 
hierfür einige Krankengeschichten und bespricht im An¬ 
schluss daran verschiedene klinisch wichtige Erschei¬ 
nungen. Die psychische Störung, die dem Anfall vor¬ 
ausgeht, äussert sich oft in einer unerklärlichen Furcht, in 
schreckhaftigen Illusionen und Halluzinationen, in Eifer¬ 
suchtswahnideen, oder Verfolgungswahnideen. I11 an¬ 
deren Fällen wiederum folgt auf den Anfall ein Zu¬ 
stand der Reizbarkeit und des sinnlosen Betragens, 
mit Neigung zu falscher Beschuldigung. Oft steigert 
sich der Zustand zur Manie oder zum furor epilepticus, 
mit dem Trieb zu Mord und Selbstmord. Oft endigt 
ein blosser Verdacht, der sich vor dem Anfall im Gehirn 
festsetzte, nach dem Anfall im furor mit einem Ver¬ 
brechen. In einem solchen Fall besteht manchmal 
nicht einmal Verlust des Bewusstseins oder Gedächt¬ 
nisses. Eigenthümlich sind Fälle wie der, wo die Mutter 
ein Stück Brot schneiden will, plötzlich einen Anfall 
bekommt und gleich darauf den Arm ihres Kindes 
abschneidet. Verf. macht noch auf die Schwierigkeit 
aufmerksam, Amnesie festzustellen, namentlich dann, 
wenn der Kranke bereits durch Freunde bearbeitet, 
oder durch das Gericht verhört worden ist. 

Dass der Alkohol den an sich schon gefährlichen 
Epileptiker noch gefährlicher macht, ist bekannt. 

Eine Abhandlung von Alexander Robertson be¬ 
schäftigt sich mit den einseitigen Halluzinationen, ihrer 
relativen Häufigkeit, ihren Beziehungen und ihrer Pa¬ 
thologie. Während einseitige Halluzinationen schon lange 
die Aufmerksamkeit der Forscher auf dem Continente 
erregt hatten, konnte Verf. 1874, als er bei einem 
Kranken linksseitige Gehörshalluzinationen nachwies, 
nirgends in der englischen Litteratur eine Erwähnung 

*) Vom 1. IV. 99 — 31. III. 1900 wurden in den eng¬ 
lischen Gefängnissen 86 M. uud 30 Fr. als geisteskrank begut¬ 
achtet. Bei 6 Männern und nur bei einer Frau bestand Epilepsie. 


dieser Erscheinungen finden. Darauf untersuchte Verf. 
250 Kranke und fand bei 34 deutlich nachweisbare 
Illusionen oder Halluzinationen eines oder mehrerer 
Sinne. Von den 34 hörten 31 Stimmen. 29 hatten 
ausserdem Gesichtshalluzinationcn. 2 litten an Ge¬ 
schmackstäuschungen, 1 Kranker an Geruchstäuschung. 
Diese 3 hatten keine Gesichs- und Gehörstäuschung. 
Ein Kranker hatte nur Geschmackstäuschungen, Ge¬ 
ruch, Gesicht und Gehör waren intact. 14 klagten noch 
über Empfindungsstörungen. Von den 31 Fällen, in 
denen Gehörstäuschungen vorhanden waren, hörten 5 
die Stimmen nur auf dem linken Ohr, 5 auf dem 
linken Ohr mehr als auf dem rechten, einer hörte sie 
nur rechts und zwei rechts deutlicher als links. Die 
andern Sinnestäuschungen waren beiderseitig. Nur 
einer sah die Gegenstände mit dem rechten Auge deut¬ 
licher als mit dem linken. Bei den 0 Fällen mit ein¬ 
seitigen Gehörshalluzinationen war in 5 Fällen der 
Alkohol die Ursache der Krankheit. 

Seit 1874 hatte Verf. noch 15 Fälle von einseitigen 
Halluzinationen gesammelt. Immer war der Gehör¬ 
sinn daran betheiligt, und zwar irf 12 Fällen links. 
Verf. konnte keinen reinen Fall von einseitiger Ge¬ 
sichts-, Geschmacks- und Geruchstäuschung finden. 
2 Kranke sahen die imaginären Gegenstände mehr 
mit dem einen als mit dem andern Auge. 

Um sich das Entstehen einseitiger Sinnestäuschungen 
verständlicher zu machen, erinnert Verf. an einseitige 
Krankheitssymptome des Nervensystems überhaupt, 
wie sie in konvulsiven, choreatischen und paralytischen 
Zuständen Vorkommen, z. B. I»ei der Hysterie. 

Was die Pathologie anlangt, so sind bei den doppel¬ 
seitigen Halluzinationen anatomisch bereits Verände¬ 
rungen der Nerven oder Centren gefunden worden. 
Also, schliesst Verf., werden solche sich auch bei den 
einseitigen finden, wenn sie auch noch nicht nachge¬ 
wiesen worden sind. Um sich das einseitige Entstehen 
der Sinnestäuschung zu erklären, nimmt Verf., an, dass 
das eine Centrum schwächer organisiert sei als das andere, 
seis von Geburt ab, oder durch Krankheit bedingt. 
Toxische Stoffe, wie der Alkohol, werden dann vor allem 
dies schwächer organisierte Ceiitrum angreifen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Druckfehlerberichtigung. 

In Nr. 5 dieser Wochenschrift sind in dem Aufsatz von 
H. Schlöss: Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten 
durch ein Versehen der Druckerei einige störende Fehler ent¬ 
halten. Auf pag. 55 soll es heissen statt „collegialischen 
Rath 4 * „collegialen Rath 44 , auf pag 56 statt „dieser io ü / 0 kann 
ich 44 „dieser io°/ 0 wegen kann ich“ . . . 

Der Herr Minister für Handel und Gewerbe hat 
die von König Friedrich Wilhelm IV gestiftete Staats- 
medaille in Bronce mit der Inschrift „Für gewerb¬ 
liche Leistungen“ der (auch für viele Anstalten liefern¬ 
den) Firma 

Rosenzweig A: Bau mann in Kassel, 
Kasseler Farben-, Glasuren- und Lackfabrik 
verliehen. 


Für den redactionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. liresler Kraschnitz, (Sch esien). 

Krscheint jeden Sonnabend <— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Mar hold in Halle a. S 

Hevtiemann'sche Pi < .ielidriicker#i (Cehr. \V\iiflf) in Halle a. S 


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Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 





Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direetor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt 

Uchtspringe ( Altmarkt. Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin. 

Prof. Dr. E. Mendel Dr. P. J. Möbius, Direetor Dr. Morel, 

B« r| in. Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 9. 31 . Mai. 1902. 

Die ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaitige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Frage der grossen Irrenanstalten. Von Dr. Starlinger, Wien (S. 97). — Die Irrenfürsorge in Baden. 
Von Oberarzt Dr. Max Fischer -1 Henau (S. 102). — Ein Wort zur Recension des Herrn Gaupp über die „Denkschrift über 
die badische Irrenfürsorge" (S. 104). — Mitteilungen (S. 106). — Referate (S. 108). 


Zur Frage der grossen Irrenanstalten. 


I ."'s ist sicher kein bloss akademischer Trieb gewesen, 
' der vorstehendes Thema kürzlich in diesem 
Blatte wieder aufleben liess.*) Das Thema ist actuell 
und seine Besprechung drängt sich mancherorts 
wieder von selbst hervor, um so mehr als durch die 
Erfahrungen der letzten Jahre an den schon bestehen¬ 
den grossen Irrenanstalten auch neue Gesichtspunkte 
sich zu ergeben scheinen. 

Bisher wurde nur immer die Frage ventilirt, wie 
gross soll # eine Irrenanstalt sein und zwar mit Rück¬ 
sicht auf die einheitliche Leitung deutscher Art, wo 
in die Hand des Direktors die gesammte ärztliche 
und administrative Verantwortlichkeit in der Anstalt 
gelegt ist. Nun ergiebt sich das Interessante: Wäh¬ 
rend über die Grösse der Irren-Anstalten hin und 
her disputirt wurde und wird, wurde die ganze Frage 
durch die Thatsachen überholt. Man fragt meist in 
praxi gar nicht mehr, wie gross darf die Anstalt 
sein, sondern wie gross muss sie sein, um den 
zahlenmässigen Anforderungen zu genügen. So ent¬ 
steht eine tausender Anstalt um die andere, oder 
*) ver gl. Nr. 4 dieses Jahrganges. 

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wird zum mindesten so angelegt, dass ihre Vergrösse- 
rung auf diese Zahl in Bälde zu gewärtigen ist. Eine 
Anstalt für 1000 zählt aber nach den bisherigen Be¬ 
griffen gewiss schon zu den grossen, wenigstens soweit 
man damit die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit der 
einheitlichen Leitung sich damit bereits verbunden 
denkt. 

Die stattliche Reihe dieser grossen Irrenanstalten, 
die in den letzten Jahren so unter der Hand ent¬ 
standen ist, und man kann noch beifügen, sehr häufig 
noch dazu gegen die herrschende Anschauung der 
dabei thätigen ärztlichen Experten entstanden ist, ist 
es vor allem, die das Thema der grossen Irren-An¬ 
stalten neuerdings als aktuelle Frage an’s Licht rückt. 

Die organisatorischen Folgen der Anhäu¬ 
fung von Kranken an einer Stelle drängen sich vor 
und werden in Hinkunft vielleicht die ganze Frage 
dominiren. Damit ist meines Erachtens die ganze 
Angelegenheit in ein neues Stadium getreten, das 
noc h mancher Besprechung warten wird, ehe die Lö¬ 
sung befriedigen dürfte. Die grosse Irren-Anstalt 
wird kaum mehr verschwinden, ich fürchte nur, dass 


Original from 

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98 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 9. 


sie eher noch grösser werden wird, und erlaube mir, 
da ein illustrirendes Beispiel anzuführen. 

Es dürfte wenig Länder geben, die ihr Anstalts¬ 
wesen in den letzten Jahren mehr gehoben haben, 
als Nieder-Oesterreich, und der Opfersinn des Landes 
steht in bewundemswerther Parallele mit der hoch¬ 
liberalen Einsicht seiner Vertreter. Just zu derselben 
Zeit, als sie die neue Anstalt in Maueröhling eröff¬ 
net, legt sie den Grundstein zu einer neuen 
grossen Anstalt in Wien. 

Die gegenwärtige Wiener Irren - Anstalt nimmt 
nur einen Theil der hauptstädtischen Kranken 
auf, und hat bei einem Krankenstand mit stets über 
1000 schon jetzt eine jährliche Aufnahme von circa 
13 — 1400 Zuwächsen zu bewältigen. In Hinkunft 
aber sollen alle von Wien kommenden Geisteskranken 
sammt den Geistessiechen in den Aufnahms-Bereich 
der Wiener Anstalt fallen, es ist also sicherlich nicht 
übertrieben, wenn zur Aufnahme aller dieser Geistes¬ 
kranken ein Belegraum von 2000 Plätzen angefordert 
wurde. 

Nun konnte für die neu zu errichtende Anstalt 
nur ein einziges Terrain von ca. 100 ha Grösse 
in Betracht gezogen werden, ja es musste schon als 
ganz besonderes Glück angeschlagen werden, dass im 
Gemeindegebiete von Wien ein so grosser Complex 
parcellenweise arrondiert werden konnte. 

Ueber die Gemeindegrenze hinauszugehen war 
wegen der Erschwerung der Besuche und insbeson¬ 
dere wegen der ausreichenden Wasserbeschaffung un¬ 
möglich. 

An den gesetzten Bedingungen, auf einem Platze 
Raum für 2000 Plätze zu schaffen, war schlechter¬ 
dings nichts mehr zu ändern und die Experten für 
den Entwurf eines entsprechenden Bauprogrammes 
mussten sich damit abfinden. 

Die erste Frage war natürlich auch hier, ob die 
genannte Zahl von Plätzen auf eine oder zwei An¬ 
stalten zu vertheilen sind. Vom ärztlichen Stand¬ 
punkte wurden vorerst zwei Anstalten ins Auge ge¬ 
fasst und zwar eine Heil- und eine Pflege- 
Anstalt. 

Aber die ärztlichen Forderungen wurden, wie es 
ja anderwärts auch geschieht, schliesslich aus admi¬ 
nistrativen und finanziellen Bedenken*), in zweite 
Linie gestellt und die Errichtung einer grossen Irren- 
Anstalt für 1700 Geisteskranke beschlossen, in wel¬ 
chem Sinne dann auch die betreffenden Entwürfe 
zum Bauprogramm formulirt wurden. 

Das Hauptbedenken, das sich gegen die Erricli- 

*) Von den Verwaltung!»- und Bauexperten wurde eine 
grosse als absolut empfehlenswerther hingesiellt. 



tung einer Anstalt erhob, war natürlich die Unmög¬ 
lichkeit in einer Person eine solche Anstalt ärztlich, 
wie bisher, zu übersehen und zu leiten. 

Ein Ausgleich, ohne principielle wichtige Punkte 
aufgeben zu müssen, schien schwierig, aber bei 
der Uebertragung der Organisation für allgemeine 
Krankenhäuser auf die Irrenanstalt nach den bis¬ 
herigen Erfahrungen in grossen Anstalten nicht un¬ 
möglich. 

Unter diesem Gesichtspunkte bleibt auch für eine 
grosse Irrenanstalt eine einheitliche Leitung gewahrt, 
obgleich sich dieselbe fast ausschliesslich auf die ad¬ 
ministrativen Agenden wird beschränken müssen. 

Die Irrenanstalt der allgemeinen Krankenanstalt 
immer mehr zu nähern, bildet das sichtliche Bestre¬ 
ben der Gegenwart und eines ihrer schönsten Früchte 
bildet wohl das Kranken-Zimmer mit der Bettbehand¬ 
lung, um von anderen dahinzielenden Neuerungen 
abzusehen. Wie weitgehend diesem Zuge zu huldi¬ 
gen gesucht wird, beweist das Gefallen an gitterlosen 
Anstalten und die Opferwilligkeit mit der dieser 
„Gipfelpunkt“ freier Behandlung zu erreichen gesucht 
wird. Obwohl noch kein Mensch von den Gittern 
einen Schaden erlebt hat, wohl aber dem Mangel 
derselben ein solcher von der Fama schon Öfters in 
die Schuhe geschoben wurde. Was immer daran 
sein mag, wenn man schon solchen Details sogenann¬ 
ter krankenhausmässiger Vorzüge eine so hohe Wich¬ 
tigkeit beimisst, so muss es meines Erachtens als ein 
um so bedeutenderer Fortschritt im Irrenanstaltswesen 
erachtet werden, wenn ein Hauptfactor der Kranken - 
Anstalt, ihre Organisation, für die Irren-Anstalten 
copirt wird. 

Die Bedeutung eines solchen Novums in den her¬ 
kömmlichen Anstaltsregeln und ihre Möglichkeit und 
Durchführung für die grossen Irrenanstalten, sollen 
die folgenden Zeilen darzulegen versuchen. 

Da durch das Anwachsen der Anstalten in erster 
Linie die Leitung tangirt wird, so ist es nahe liegend, 
zuerst ihre Stellung näher zu untersuchen. 

Nach der allgemeinen Stellung ihrer Leiter, thei- 
len sich gegenwärtig die Anstalten in 3 Gruppen und 
zwar: 

1. solche mit nur ärztlicher, 

2. solche mit beamteter und endlich 

3. mit gemischter Oberleitung d. h. paritätische 
Trennung der Verwaltung von der Direktion. 

Wenn man den Werth einer Institution nach 
ihren Erfolgen misst und das ist speciell auf unserem 
Gebiete eine beliebte Methode, dann bietet gerade 
die Nebeneinanderstellung dieser Leitungen recht an¬ 
schauliche Gegensätze. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


99 


1902.] 


Es ist gewiss kein Zufall, dass dort, wo die grösste 
ärztliche Freiheit in der Leitung zu Tage tritt, wie in 
Deutschland, auch das Anstaltswesen auf der höchsten 
Stufe steht, ja allmählich anfängt für die ganze Welt 
mustergiltig zu werden und dass dort, wo der Arzt 
den geringsten Einfluss hat auf die Administration, 
wie in Frankreich, auch das Anstaltswesen die gröss¬ 
ten Rückstände aufweist. Gerade letzteres Land ist 
ein schlagender Beweis für das eben Gesagte. Denn 
dasselbe Land, das heute trotz der Höhe seiner son¬ 
stigen culturellen Einrichtungen auf dem Gebiete des 
Anstaltswesens vielleicht um l l 2 Jahrhundert zurück¬ 
geblieben ist, war einst der Lehrmeister auf demsel¬ 
ben Gebiete. Freilich standen damals noch die 
Aerzte an der Spitze. Eine Ausnahme bildet die 
Familien pflege. Die Familienpflege der Stadt Paris 
steht auf voller Höhe und ist musteigiltig. Sie ist 
aber eine Schöpfung der Aerzte und von Haus aus 
ihrer ausschliesslichen Leitung übergeben worden. 

Genau dasselbe lehrt die Geschichte Gheels und 
der Gheeler Irrenpflege. Mit dem Momente, als die 
Aerzte Leitung und Einfluss gewannen, mit dem Mo¬ 
mente wurde das Gheeler System mustergiltig und 
nachahmungswürdig. 

Diese Dinge muss man von Zeit zu Zeit wieder 
an’s Licht rücken, sonst wird gegen dieselben gesün¬ 
digt, und wen treffen die Sünden ? Die Allerunschul¬ 
digsten und Allerärmsten. Die Kranken werden da¬ 
von betroffen. Eines darf man nie vergessen. Für 
die Anstalten und das Anstaltswesen überhaupt bleibt 
nur der Kranke und seine Bedürfnisse maassgebend 
und dort, wo diese Bedürfnisse nicht gewürdigt oder 
gewerthet werden können, geschieht es zum Schaden 
der Kranken und des Landes. Die Bedürfnisse der 
Kranken brechen sich ja schliesslich doch Bahn und 
dann setzt es neue Auslagen, Auslagen, die durch die 
nöthigen Modificationen geschaffen werden. 

Wo immer die rein administrativen Bedenken all¬ 
zu viel auf den ärztlichen Intentionen lasten, so viel 
ist sicher, es geschieht mehr zum Nachtheil als zum 
Nutzen des berechtigten und gesunden Fortschrittes. 

Wie zwingend die Erfahrungen dieser Anschau¬ 
ung Recht geben, sieht man schön illustrirt an den 
österreichischen Militärspitälern. Bekanntlich haben 
in denselben die ärztlichen Leiter nicht die Com- 
mandogewalt gehabt und man hat stets eine Reihe 
von Gründen hierfür in’s Feld geführt. Aber selbst 
der starre Militarismus hat sich zur besseren Einsicht 
bekehrt und neuestens den Aerzten die volle Leitung 
anvertraut. 

Dieselbe Wandlung vollzieht sich ja auch in den 
Irren-Anstalten von Tag zu Tag mehr, und sicher 

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wird auch da eines Tages der natürliche Zustand sich 
einstellen, wie er der Natur nach sich einstellen muss. 
Man kann ruhig der Entwicklung Zusehen, was kom¬ 
men muss, wird kommen, der Natur vermag sich nie¬ 
mand auf die Dauer zu widersetzen. 

Es ist somit kein Zweifel, dass auch die Ober¬ 
leitung der grossen Irren-Anstalten in der Hand 
einer Person sein und dass diese Person ein Arzt 
sein und bleiben soll. 

Die Thatsache, dass das moderne Anstaltswesen 
von Deutschland ausgegangen ist, spricht nicht wenig 
auch zu Gunsten seiner organisatorischen Verhält¬ 
nisse, anderseits aber müssen und können unbescha¬ 
det des allgemeinen Wirkens der Direktion eine Reihe 
von Detail - Agenden derselben abgenommen und 
einzelnen Personen zur vollen Verantwortung über¬ 
lassen werden. Dahin gehören beispielsweise die 
Kassengebahrung, Verpflegskostenbetreibungen und 
ähnliches auf der rein administrativen, und ärztliche 
Behandlung der Kranken und dergleichen auf die 
ärztliche Seite. Wird die Direktion solcher Art er¬ 
heblich entlastet, wird sie freier für die allgemeinen 
Fragen der Irrenpflege, der Hygiene des Anstalts¬ 
wesens, der fortschrittlichen Reformen der Irrenfür¬ 
sorge in und ausser der Anstalt etc. 

Dass eine solche Wandlung in der Stellung der 
leitenden Personen einmal zu erwarten war, lehrt, 
wie schon Schäfer hervorgehoben, auch die ganze 
Geschichte des Anstaltswesens, unaufhaltbare Zu¬ 
nahme des Anstaltswesens an In- und Extensität 
seiner Agenden. 

Alle Irrenanstalten gingen anfänglich aus kleinen 
Verhältnissen hervor. Vorher musste oft bloss eine 
Abtheilung des allgemeinen Krankenhauses zur Auf¬ 
nahme der Geisteskranken genügen. Die ehemaligen 
Abtheilungsvorstände wurden nicht selten die nach¬ 
maligen Anstaltsdirektoren. Was Wunder, wenn sieh 
die Abth eil ungs-Organisation mit der noth- 
wendigen einheitlichen Leitung auch auf die 
Irren-Anstalten übertrug und sich dieser Modus trotz 
des Weiterwachsens der Anstalten sich bis heute er¬ 
hielt, aber endlich musste sich eine Grenze von selbst 
ergeben. In Praxi ist es ohnehin häufig nicht mehr 
der Fall, dass der Direktor auch zugleich der Chef¬ 
arzt seiner Schützlinge sein kann, wenigstens nicht 
mehr an den Anstalten der Grossstädte, wo die An¬ 
stalten bereits längst über die Belegzahl 1000 hin¬ 
ausgewachsen sind. Uebrigens ist es nicht der Be¬ 
legraum allein, der für Leitung und Uebersicht maass¬ 
gebend ist, es kommt vielmehr noch der Wechsel 
und die Aufnahmezahl in Betracht 

Die hiesige Frauen-Abtheilung, deren Vorstand 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. o 


Schreiber ist, hat einen durchschnittlichen Belegraum 
von 350 Kranken und einen jährlichen Zuwachs von 
ebensolcher Höhe (1901). Ich kann nur das Eine 
sagen, ich habe Mühe mich im Laufenden zu erhalten, 
so zwar, dass ich alle meine Kranken im Gedächt- 
niss habe und ich jederzeit in der Lage bin über jede 
meiner Kranken Auskunft zu geben, ohne erst die 
Krankengeschichte zur Hülfe nehmen zu müssen, 
dass ich aber während der Urlaubszeit des Direktors, 
den ich als II. Arzt zu vertreten habe, jedesmal eine 
Lockerung meiner Uebersicht bemerke, trotzdem ich 
fast jeden Tag Visite auf meiner Abtheiiung mache. 

Meines Erachtens ist es schon unmöglich vollen 
Einblick in die Kranken zu gewinnen, wenn man nicht 
mehr in der Lage ist, die Kranken auch selbst auf¬ 
zunehmen oder doch eingehender zu untersuchen. 
Aus der geschriebenen Kranken-Geschichte allein ver¬ 
mag man das niemals. — 

Ich kann mir dennoch nicht vorstellen, wie es 
denn möglich wäre das 3 fache in dem Detail zu 
umfassen, wie es das bisherige Statut verlangt, wo¬ 
nach die Leitung der Anstalt in allen ärzt¬ 
lichen Angelegenheiten dem Direktor 
übertragen ist. 

Die Zeit, wo dieser Anforderung entsprochen 
werden konnte und musste, ist längst entschwunden 
und sie scheint um so weiter zurückzuliegen, als seit¬ 
her so vieles im Anstaltswesen anders geworden ist. 

Einstens war der leitende Arzt nicht selten der 
einzig psychiatrisch gebildete Arzt und zudem meist 
Autodidact — so lange es keine Kliniken gab. Heute 
hat jede grössere Anstalt einen ganzen Stab vorge¬ 
bildeter Psychiater und ältere Anstaltsärzte, die auch 
mit dem Anstaltswesen wohl vertraut sind. Damals 
erschwerten die Direktion auch noch keineswegs 
andersartige Thätigkeiten. Heute ist dies anders. 

Die umfangreichen Anstalten, die vermehrte Ad¬ 
ministration, die vielen schriftlichen Arbeiten etc. 
nehmen nach und nach die ganze Person des Direk¬ 
tors, besonders in Grossstädten, völlig und derart in 
Anspruch, dass ihm überhaupt für eine ärztliche 
Thätigkeit keine Zeit mehr übrig bleibt. 

Andrerseits war auch die ärztliche Thätigkeit 
in der Zeit des Restraint und der ersten Zeit des 
no-Restraint nicht so vielseitig und die Behandlung 
einfacher als heute. Wie hat sich dagegen Behand¬ 
lung, Pflege im modernen Sinne mit dem gesammten 
Rüstzeug der heutigen Medicin und dem freien in- 
dividualisirenden Vorgehen bei jedem Einzelnen ge¬ 
hoben und verbreitet. Sie erfordert den grössten 
Fleiss und ungeheure Belesenheit, um sich im Lau¬ 
fenden zu erhalten. Wenn grössere administrative 


Agenden die Hingabe einschränken, ist es unmöglich, 
dieser Pflicht im ganzen Umfange gerecht zu werden. 
So drängt sich von allen Seiten bei grossen Anstalten 
die Unhaltbarkeit der herkömmlichen Anstaltsordnung 
hervor und verlangt eine entsprechende Reform und 
Arbeitstheilung. 

Man könnte einwenden, dass gerade in Irrenan¬ 
stalten die ärztliche und administrative Seite sich 
schwer trennen lässt, dass beide auf’s innigste zusammen 
hängen. Gewiss, wenigstens mehr als in einem ge¬ 
wöhnlichen Krankenhause. Aber damit ist nicht ge¬ 
sagt, dass sie sich nicht soweit trennen lassen, dass 
sie unter allen Umständen auch von einer und der¬ 
selben Person besorgt werden müssen. Nach meiner 
eigenen Erfahrung geht dies ganz wohl. Diejenigen 
Agenden und Anordnungen administrativer Art, die 
direct mit der Behandlung Zusammenhängen, lässt 
man auch ruhig vereint in der Hand des behandelnden 
Arztes, wie z. B. die Bewilligung des Ausganges, die 
Kostverschreibung, Versetzung des Kranken und des 
Pflegepersonals innerhalb seiner Abtheilung und der¬ 
gleichen. Während hingegen alle Veränderungen, die 
Auslagen setzen, wie Neuanschaffungen, Adaptirungen, 
Aenderungen in der Hausordnung und ähnliches selbst¬ 
verständlich in das Ressort des Diijectors fallen. 

Ich bin überzeugt, dass der Direction eine Reihe 
von Agenden werden abgenommen werden können, 
ohne deren Autorität zu gefährden, und ich bin weiters 
überzeugt, dass sich diese besser den Abtheilungsvor¬ 
ständen zutheilen lassen, und dort die Berufs- und 
Schaffensfreude erhöhen werden, abgesehen davon, 
dass damit zugleich eine Menge anderer störender 
Quellen verstopft werden, die Friede und Eintracht 
nicht gerade fördern. 

Die Direction bleibt damit vor allem die Ueber¬ 
sicht über die ganze Anstalt gewahrt, die so bei der 
Ueberlastung mit Detailarbeit manchmal verloren geht. 

Dagegen braucht die Direction die Uebersicht 
über den Kranken allein nicht, die es in grösse¬ 
ren Anstalten mit grossem Wechsel so wie so nicht 
mehr hat und naturgemäss nicht haben kann. 

Die Irrenanstalten gehen, ob man will oder nicht, 
den Weg des Krankenhauses. Und was immer in 
dem Sinne an der Irren-Anstalt gemodelt wird, wird 
durchdringen und Bestand haben, das zeigt klar und 
deutlich ihre Geschichte. Auch in unserer Frage ist 
dies nicht zu verkennen. 

Auch in den grösseren Krankenhäusern waren in 
früheren Jahren, und in den kleineren sind noch heute 
die Leiter auch die behandelnden Aerzte. Während 
in den grösseren Krankenhäusern die Directoren ein¬ 
fach Administratoren geworden sind. Die Wendung 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


IOI 


hat sich sang- und klanglos vollzogen, als natürliches 
Gebot und wenig anders wird es in den Irren-An¬ 
stalten der Grossstädte werden. 

Wie die Irren-Anstalten der Grossstädte immer 
durch ihre Grösse von den andern sich unterscheiden, 
und nicht durch eigenen Trieb, sondern durch den 
Zwang der Verhältnisse dazu genöthigt wurden, so 
wird das auch in Hinkunft kaum anders werden. 

Niemals werden die Kranken der Stadt einfach 
aufs Land verlegt werden können, sie müssen und 
werden zum Grossthcil in deren Stadt, oder deren 
unmittelbarer Nähe wenigstens untergebracht werden, 
und die Anzahl der Kranken wird sich zunehmend 
vergrössem. 

Man hat vor gar nicht zu vielen Jahren noch 600 
als die Maximalzahl des Belegraumes einer Irren-An¬ 
stalt hingesiellt, aber in Anbetracht der einheitlichen 
administrativen und ärztlichen Leitung. Ich halte 
selbst diese Zahl schon für zu gross, aber eine noch 
grössere Anzahl, selbst ohne grossen Wechsel, lässt 
sich von einer Person unmöglich mehr im detail so 
überblicken, dass sie überall spontan bald da bald 
dort helfend oder corrigirend eingreifen könnte. Diese 
Anschauung wurde auch, soweit ich zurückblicke, 
nirgends bekämpft, und trotzdem sind die Anstalten 
gewachsen trotz aller ärztlichen Bedenken, ja sogar auf 
dem Boden selbst, wo die litterarischen Vorfechter 
solcher Prinzipien gesehen sind. Wie kommt dies? 
Einfach deshalb, weil die Wucht der Verhält¬ 
nisse es erzwungen hat und unabwendbare 
Thatsachen über Theorie und Praxis ein¬ 
fach hinweggeschritten sind. 

So sind die Anstalten bis 1000 und 1500 ent¬ 
standen und so wird in Wien eine solche noch da¬ 
rüber hinaus entstehen und in Zukunft ? wird es nicht 
weniger der Fall sein und vielleicht entstehen einmal 
dort, wodie örtlichen Verhältnisse nur nach 
einer Seite hindrängen, eben solche Irrenan¬ 
staltsviertel, wie heute schon Krankenhausviertel da¬ 
runter entstanden sind. 

Wie immer man die Frage der grossen Irren- 
Anstalt dreht und wendet und von welcher Seite 
immer man die modernen Anstaltsverhältnisse mit 
den alten starren centralistischen Irrenhausorganisationen 
in Einklang zu bringen sucht, immer kommt man zu 
dem Resultat: Es geht nicht mehr, die Irrenanstalten 
wachsen und werden wachsen und ihre Agenden 
lassen sich immer weniger nach dem Style der frühe¬ 
ren, kleinen Anstalten bewältigen. Gerade das be¬ 
zeugen auch die Geständnisse Schäfer’s und machen 

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seine Veröffentlichungen hierüber doppelt werthvoll. 
Schäfer hat nicht blos als erster den Muth gehabt, 
die Unzulänglichkeiten der alten Irrenanstaltsordnung 
aus eigener Erfahrung zu erhärten, sondern hat ande¬ 
rerseits auch in der verantwortungsvollen Uebertrag- 
ung der ärztlichen Behandlung auf die Abtheilungs¬ 
leiter practisch bereits den Weg gewiesen, wie wenigstens 
nach der rein ärztlichen Seite eine Abhilfe angebahnt 
werden kann. 

Eine Anschauung für die, wie schon früher er¬ 
wähnt, auch anderen Orts dieselben günstigen Erfah¬ 
rungen zu sprechen scheinen. 

Bis vor etwa 2 Dezenien konnte auch in der 
Wiener Irren-Anstalt die Direction gemäss dem An¬ 
stalts-Statute noch eine gewisse ärztliche Thätigkeit 
entfalten. Ja selbst der 1895 verstorbene Director 
Gauster hat noch öfters eine ärztliche Visite geleitet 
und hin und wieder einen Patienten genauer unter¬ 
sucht und ärztlich aufgenommen, klagte aber wieder¬ 
holt, dass ihm eine ärztliche Thätigkeit immer mehr 
unmöglich wird infolge des Anwachsens der admini¬ 
strativen Agenden, zuletzt musste er sich völlig auf 
die Administration beschränken. 

Seither ist die administrative Arbeitslast wiederum 
erheblich gestiegen, und musste demgemäss die ärzt¬ 
liche Selbständigkeit der Abtheilung sich ausgestalten. 

Während in früheren Jahren wiederholt ärztliche 
Anträge, wie Entlassung, Ausgänge, Beurlaubung von 
Patienten der einzelnen Abtheilungsleiter persönlich 
von der Direction überprüft, modifizirt und auch 
zurückgestellt wurden, geschieht dies in den letzten 
5—7 Jahren höchst selten und es geht eben so gut 
wie früher, wenigstens ist niemals hieraus irgend ein 
Schaden entstanden. 

Ich glaube solche practischen Ergebnisse sprechen 
mehr als noch so vorzügliche Abhandlungen und 
Gegenstände wider die ärztliche Selbständigmachung 
der einzelnen Abtheilung. 

Aus demselben Grunde braucht wohl auch die 
Furcht vor den grossen Anstalten ärztlich keinen so 
hohen Grad anzunehmen, dass man unter allen Um¬ 
ständen nur kleinere Anstalten befürworten könnte, 
ohne jede Rücksicht auf die Vortheile und Einrich¬ 
tungen in anderen Gebieten des Anstaltsw'esens. 

Fasse ich meine Anschauungen zusammen, so 
glaube ich, dass sich das Anwachsen der Irren-An¬ 
stalten nicht mehr aufhalten lässt, namentlich nicht in 
den Grossstädten und dass jedes Andrängen dagegen 
nutzlos ist, zumal der herrschende Pavillonstyl durch 
das bequeme Dazubauen von einem Pavillon nach 
dem andern eine directe Verführung dazu abgiebt. 

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102 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wir sollen daher, um eine einheitliche administrative 
Oberleitung weiter zu ermöglichen, eine zweckent¬ 
sprechende Reorganisation nach dem Muster der 
allgemeinen Krankenhäuser anstreben, bei der die 


[Nr. 9. 


administrative Oberleitung der Direction gewahrt 
bleibt und dafür unter anderem die Abtheilung ein¬ 
heitlicher und selbständiger werden soll. 

Dr. Starlinger-Wien. 


Die Irrenfürsorge in Baden. 

Von Oberarzt Dr. Max Fischcr-\\\enaM. 
(Fortsetzung). 


Nur bei einer solchen Regelung des ganzen Ver¬ 
fahrens wird allen Ansprüchen an die staatliche Irren¬ 
versorgung sowohl hinsichtlich des Wohls und der 
Heilung der Kranken selbst, als auch hinsichtlich 
des nöthigen Schutzes der Gesellschaft vor den 
Krankheitsäusserungen der Irren Rechnung getragen. 

Leider sind wir von diesem Ziele zur Zeit weit 
entfernt. Und der einzige Grund dieser Erscheinung 
ist die relative und absolute Ueberfüllung 
aller bestehenden staatlichen Irrenan¬ 
stalten, sowohl der Heil- und Aufnahmeanstalten 
als der Pflegeanstalten. 

Die Anstalt bei Emmendingen, auf die man 
seiner Zeit alle,Hoffnung auf Aufhebung jeder Noth 
in der Irrenversorgung des Landes setzte, ist ausge¬ 
baut auf 1000 Plätze und ist über diese Zahl hinaus 
voll besetzt. Die Anstalt Pforzheim, deren Schliessung 
mit der Erbauung von Emmendingen bezweckt war, 
besteht mit ihren veralteten und ungenügenden Ein¬ 
richtungen weiter und ist sogar, um der allgemeinen 
Nothlage zu begegnen, durch neue Plätze vermehrt 
worden. Beide sind ständig überfüllt, können von 
ihrem Krankenmaterial wenig entlassen und daher 
ihrem ersten Zweck, die Heilanstalten zu entlasten 
und aufnahmefähig zu erhalten, kaum oder wenig 
genug nachkommen. 

Die Aufnahme- und Heilanstalten selbst 
aber sind ebenfalls dauernd überfüllt, können nur unge¬ 
nügend evacuiren d. h. von ihren chronischen Kranken 
an die Pflegeanstalten abgeben und siud dadurch in 
ihrer Hauptaufgabe, die frischen Kranken aus dem 
Lande aufzunehmen, dauernd und in erheblichem 
Maasse behindert. 

So bestehen in allen Anstalten alle die Miss¬ 
stände, die eine anhaltende Ueberfüllung mit sich 
bringt, unvermindert fort. 

Um die Verhältnisse des Einzelnen darzulegen, 
so sind die Kliniken, welche über nominell 100 bis 
110 Plätze verfügen, zur Zeit absolut und relativ 
überfüllt und vermögen ihren Frischaufnahmen kaum 
zu genügen. Manche Kranke müssen wohl rascher 

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wieder entlassen werden, als es der Kurplan wünschens- 
werth machte, nur um Raum zu schaffen. Und doch 
sollte jede der Kliniken, um ständig für frische Fälle 
gerüstet zu sein, vornehmlich auch des Lehrzwecks 
wegen, stets einige Plätze frei haben und daher nicht 
über einen Bestand von 100 Kranken an wachsen. 

Nicht besser steht es mit 111 en a u. Bei ihren nominell 
500 Plätzen ist die Anstalt oft nicht gerade absolut, 
immer aber relativ überfüllt, insofern ganze Abtheil¬ 
ungen andauernd einen zu hohen Stand aufweisen, 
besonders auf der Frauenseite, und namentlich in den 
für den Betrieb wichtigsten Stationen: in den Be- 
obachtungs- und unruhigen Abtheilungen. Der Er¬ 
satz durch die Neubauten in Illenau wird hierin nur 
vorübergehend Erleichterung schaffen. 

Wollten wir aber erst für Blenau Verhältnisse 
herrichten, wie sie nach hygienischen und anstaltstech¬ 
nischen Grundsätzen gefordert werden, so würden 
wir nach einer jüngst hierüber ausgeführten Ausmess¬ 
ung und Berechnung nur noch über 420 Plätze ver¬ 
fügen dürfen; die Anstalt wäre also mit ihrem gegen¬ 
wärtigen Bestände von nominell 500 Plätzen schon 
um 80 Kranke übersetzt und auch nach Er¬ 
öffnung der Neubauten mit zusammen etwa 60 Plätzen 
w'ürde das Mehr über das zulässige Mass immer noch 
20 betragen. Wir hätten also in Wirklichkeit trotz 
der baulichen Erweiterung noch nicht einen neuen 
Platz gewonnen, sondern nur bis jetzt Fehlendes zum 
Bestand ergänzt. Dabei ist noch gar nicht mitge¬ 
rechnet, dass einzelne Abtheilungen Illenaus veraltet 
sind und eigentlich schon lange geräumt und aus dem 
Belegplan hätten ausgeschieden werden sollen. Rechnet 
man aber noch etwa 20 Plätze ab, die in der ganzen 
Anstalt im Interesse eines ungehinderten Betriebs zu 
ständiger Verfügung für Neuaufnahmen und für mo¬ 
mentane Verlegungen frei stehen müssten, so kommen 
wir für Illenau bei normalen Verhältnissen zu einer 
Belegziffer von höchstens 460 Plätzen, worin die Plätze 
der Neu- und Umbauten mitgerechnet sind. Die 
jetzige Belegziffer wäre somit immer noch um 40 zu 
hoch gegriffen. 

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iqo 2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 103 


Auch Emmendingen ist absolut und relativ 
mit 1028 Kranken als für normale Verhältnisse zu 
reichlich belegt zu bezeichnen, da die sog. koloniale 
Behandlung der Kranken eine besonders freie Be¬ 
wegung und leichte Verschiebbarkeit in den einzelnen 
Pavillons erfordert. Wenn wir unter der heutigen 
Raumbedrängniss sämmtlicher Anstalten einstweilen 
an der Fortdauer der z. Zt bedeutend erhöhten (und 
vielleicht noch zu erhöhenden) Aufnahmekraft von 
Emmendingen festhalten müssen, so wird dafür eine 
künftige Normirung an Emmendingen nicht über 
920 — 950 Insassen zutheilen dürfen, also dessen 
jetzigen nominellen Bestand (von 1025) für später 
um ca. 100 Köpfe entlasten müssen. 

Auf die Pforzheimer Verhältnisse einzugehen, 
halten wir für zwecklos, da unzweifelhaft feststeht, 
dass diese Anstalt durch eine neue ersetzt werden 
muss. Auf den schwierigsten und entsagungsvollsten 
Posten gestellt, wird Pforzheim bis zur Eröffnung 
seines Ersatzbaues w’ie bisher seine Schuldigkeit thun. 

Aus diesen Angaben geht hervor, dass die in 
Betracht kommenden Anstalten bei ihrer gegenwärtig 
angenommenen Belegziffer (ganz zu schweigen von 
dem noch höheren Krankenstände) über die nach 
richtiger* hygienischen Grundsätzen angestettte Be¬ 
rechnung hinaus (die Kliniken zusammen um 20, 
Illenau um 40, Emmendingen um 100) insgesammt 
um 160 Plätze übersetzt sind. 

Der geschilderten, ungünstigen Entwicklung der 
Irrenfürsorge und des Anstaltswesens unseres Landes 
hat sich die Grossh. Regierung zu keiner Zeit ver¬ 
schlossen. Noch während des Ausbaus von Emmen¬ 
dingen ist sie mit neuen Erwägungen und Vorschlägen 
über die Vervollkommnung und Erweiterung der staat¬ 
lichen Anstaltsfürsorge für die Geisteskranken hervor¬ 
getreten. 

Zunächst war nur ein Neubau für die veraltete 
Pforzheimer Anstalt in Gestalt einer grossen Landes¬ 
anstalt in Aussicht genommen. Die Verhandlungen 
der Landtagssession 1899/1900 haben aber allerseits 
rasch die Ueberzeugung gefestigt, dass damit allein 
keine, auch nur für die nächste Zeit ausreichende 
Abhilfe der drängenden Nothlage geschaffen wäre. 
Es wurde daher damals im Landtage die Resolution 
gefasst: „Die Anstalt in Pforzheim sei aufzuheben 
und zum Ersätze sollen zwei Anstalten errichtet werden, 
die eine in Pforzheim oder sonst irgendwo im Unter¬ 
lande, die andere im Landeskommissariatsbezirke Kon¬ 
stanz". 

Für die Belegung der geplanten Neuerstellungen 
ergiebt sich nun aber aus den vorstehenden Aus- 

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führungen das Resultat, dass neben dem Ersätze für 
die 650 Plätze der Anstalt Pforzheim, wenn man zu¬ 
nächst nur die bestehende Ueberfüllung der vor¬ 
handenen Anstalten um 160 Plätze beseitigen will, 
auf eine Schaffung von neuen 160 + 650 = 
in Summai 810 Plätzen zu dringen wäre. 

Diese 810 Plätze, die in ihrer Zahl für 
sich allein ohne alles weitere eine voll 
ausgebaute und besetzte Anstalt darstellen, 
sind also in den neuen Anstalten als von vornherein 
besetzt anzunehmen. 

Es ist aber sofort klar, dass mit der Beseitigung 
der Anstaltsüberfüllung und mit der Neugründung 
des Ersatzes für die Pforzheimer Anstalt d. h. mit 
der Beschaffung von 810 neuen Anstaltsplätzen nur 
dem Allernöthigsten abgeholfen wäre. Unzweifelhaft 
würde eine solche Raumbeschaffung, . die zwar eines¬ 
teils veraltete Einrichtungen hinwegräumt und ersetzt, 
anderntheils einen vorhandenen Nothstand aufhebt, 
nicht aber zugleich auch ausserdem weitere, neue 
Werthe in die Irren Versorgung ein führt, noch nicht 
einmal allen gegenwärtigen, geschweige denn 
den zukünftigen Anforderungen an die Irrenver- 
soigung gerecht werden. 

Wie aus Vielen Anzeichen hervorgeht, sind seither 
in unserem Lande manche Bedürfnisse in der Anstalts- 
versoigung der Irren nicht befriedigt worden — aus 
Platzmangel in den bestehenden Anstalten; sie können 
also auch künftighin, bevor nicht Anstaltsplätze in 
grösserer Anzahl neu beschafft werden, nicht befriedigt 
werden, so dass wir auf so lange mit einer zunehmenden 
Stagnation in der Irrenversorgung zu rechnen haben 
werden. 

Diese latente, ungetilgte Zahl von Geistes¬ 
kranken, welche der Anstaltspflege bedürfen, dieselbe 
aus Platzmangel aber entbehren müssen, 
kann aus verschiedenen Ueberlegungen hergeleitet 
und genauer abgeschätzt werden: 

1. Wir ziehen zunächst vergleichsweise Erfahrungen 
aus dem Irrenwesen der Rheinprovinz, als einem Lande, 
dessen allgemeine Erwerbs- und Lebensverhältnisse 
im Wesentlichen mit unseren badischen übereinstimmen 
werden, zur Betrachtung heran. 

Nach einer dortigen sehr interessanten und ein¬ 
gehenden statistischen Untersuchung, zum Theil in 
der „Denkschrift betreffend die Fürsorge 
für die Geisteskranken und Epileptiker 
der Rheinprovinz" enthalten, zum Theil neueren 
Mittheilungen verdankt, sind dort die Anforderungen 
an die Anstaltsversorgung der Irren in den letzten 
8— 10 Jahren bedeutend grösser geworden. Die 

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104 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 9. 


jährliche Zunahme in den Anstalten an Kranken, und 
zwar bloss der Ortsarmen und Landarmen unter ihnen, 
betrug dort nämlich durchschnittlich mehr als 6% 
der Durchschnittsbelegung des Vorjahres und zwar 
173—359 oder im Mittel aus den 7 Jahren 1893 
bis 1900 = 242 Kranke im Jahr bei einer Bevöl¬ 
kerungsziffer von jetzt 5759798. 

Da diese Tendenz auch bis in die letzten Jahre 
anhielt, so wird sie auch für die nächst kommende 
Zeit als wirksam angenommen werden dürfen. 

Wenn wir diese Berechnung nun auf unsere Anstalts¬ 
versorgung und unsem Bevölkerungsstand von 1 867 944 
(Volkszählung vom 1. Dezember 1900) übertragen, 
so ergäbe sich damach ein jährlicher Zuwachs von 
78 Kranken in unsem Anstalten. 

Da diese Ziffer nur die Zunahme der auf offen t- 
liche Kosten Verpflegten in sich begreift, in 
der fraglichen Zeitperiode offenkundig aber auch die 
Zahl der in den Anstalten verpflegten vermöglichen 
Kranken erheblich zugenommen hat, so wird dieselbe 
bei uns als Mindestausdruck des jährlichen Mehr¬ 
bedarfs an Anstaltsplätzen für die nächste Zukunft 
in Rechnung gezogen werden dürfen. 

2. Von dieser vergleichenden Darstellung gehen 
wir nun auf die realen Verhältnisse der Entwicklung 
in unserer badischen Irrenfürsorge Über. 

Bei dem Ausbau der Anstalt Emmendingen 
hat sich gezeigt, dass jede fertiggestellte und neu er- 
öffnete Abtheilung (Pavillon), auch wenn es sich um 
grössere Bauten von 2 x 50 = 100 Plätzen handelte, 
in V 4 bis l / 9 Jahr voll belegt war, wie denn 
auch in s / 4 bis 1 Jahr die durch die Eröffnung dieser 
Bauten erhaltene Erhöhung der Belegziffer der ganzen 
Anstalt jeweils wieder durch den Andrang der Auf¬ 
nahmen überholt wurde, ohne dass die Landesirren¬ 


versorgung dadurch jeweils und bis jetzt dauernd ent¬ 
lastet worden wäre.*) Zugleich ist statistisch be- 
merkenswerth, dass in dieser Anstalt, die damals 
durch ihre fortschreitende Erweiterungsfähigkeit gleich¬ 
sam als Maassstab für unsere Irrenversorgung dienen 
konnte, der jährliche Zuwachs im Krankenstände 
nach den ersten Jahren ihres Bestehens, also in den 
Zeiten der ruhigeren Entwicklung (1892—1897) zwi¬ 
schen 59 und 119 schwankte. Das Mittel daraus 
ergiebt, wie unter 1. aus einer procentualen Ueber- 
tragung aus fremden Verhältnissen, so hier auf rein 
empirischem Wege innerhalb unserer eigenen Irren¬ 
versorgung die Zahl 78. 

So darf sowohl nach allgemeiner Erwägung als 
nach specieller Erfahrung diese Zahl als Index für 
das jährliche M ehr bedürfniss von Anstalts¬ 
plätzen in der Landesirrenfürsorge gelten. 

Dieselbe Tendenz ist übrigens auch seit 1897 trotz 
erschwerter Aufnahme Verhältnisse wiiksam geblieben. 
Da seither Neubauten nur mehr in massigem Umfange 
zur Ausführung kamen, musste der Mangel an Raum 
nach Möglichkeit durch Mehraufstellung von Betten 
ausgeglichen werden, was natürlich nur unter Steigerung 
der schon vorhandenen Ueberfüllung geschehen konnte. 
Gerade auf Grund dieser letztem Thatsache dürfen 
wir aber das in der Zahl 78 gefundene Mehrbe- 
dürfniss an Anstaltsplätzen im Jahr auch für die Zu¬ 
kunft geltend machen und haben, da die vorhan¬ 
denen Anstalten nicht mehr erweiterungsfähig sind, 
die danach erforderlichen Plätze in den Neuerstellungen 
vorzusehen. (Fortsetzung folgt.) 

•) Vergleiche hierüber Dr. Max Fischer, „Das An¬ 
wachsen derHeil- und Pflegeanstalt bei Emmen¬ 
dingen**. (Aerztliche Mittheilungen für Baden 1897. Nr. 24.) 


Ein Wort zur Recension des Herrn Gaupp über die „Denkschrift 
über die badische Irrenfürsorge“. 


TVT ur, weil die obige Recension zu einigen sachlichen 
Bemerkungen und Richtigstellungen Anlass giebt, 
treten wir derselben etwas näher, unter der Erklärung 
zum vornherein, dass wir nur auf das Nöthigste ein- 
gehen und begreiflicherweise uns versagen, auf die 
einzelnen mehr persönlichen kritischen Ausfälle irgend¬ 
wie zu antworten. 

1. Zunächst müssen wir die Vorstellung zerstören, 
als ob das ganze Programm „ohne jede Mitwirkung 
der Kliniker“ behandelt worden sei. Bei den grund¬ 
legenden Sitzungen über die Abgrenzung der Auf- 

Di gitized by Google 


nahmebezirke und die ganze Organisation der Landes¬ 
irrenfürsorge waren dieselben vertreten und haben 
ihren Standpunkt gewahrt, wie auch ihre späteren 
schriftlichen Kundgebungen gewürdigt wurden. 

Mit dem regierungsseitig gemachten Vorschlag über 
die Vertheilung der practischeji Aufgaben unserer 
psychiatrischen Asyle haben sich die klinischen Collegen 
übrigens früher durchaus einverstanden erklärt. 

Warum dieselben nach den entscheidendem Vor¬ 
berathungen bei der Abfassung der Denkschrift nicht 
beigezogen wurden, entzieht sich unserer Kenntniss. 

Original fr&m 

HARVARD UNIVERSITY 



IQ02.J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 105 


Vielleicht hielt das Ministerium, dem die Landesirren¬ 
fürsorge obliegt — die Kliniken ressortiren in ein 
anderes Ministerium — die Sachlage für genügend 
geklärt und, zum Unterschied von Herrn Gaupp, 
die ernannte Commission zur Lösung der ihr ge¬ 
stellten Aufgabe zureichend. 

2. Es wird jetzt so hingestellt, als ob erst der 
Heidelberger Nothruf vom Jahre 1897 nöthig gewesen 
wäre, um die Lage der badischen Irrenfürsorge und 
die Nothwendigkeit neuer Anstalten klar zu legen. 
Niemandem konnten aber die Verhältnisse und Be¬ 
dürfnisse der Landesirrenfürsorge bekannter und ver¬ 
trauter sein, als den mit ihr durch die tägliche Er¬ 
fahrung aufs engste verbundenen Leitern der öffentlichen 
Anstalten. Sie konnten der Belehrung darüber ent¬ 
behren. Schon das Weiterbestehen von Pforzheim 
war die beständige und selbstverständliche Mahnung 
zu neuen Projecten. 

Auf ein öffentliches Hervortreten aber konnten 
sie im Vertrauen auf die ihrer Aufgabe bewusste, 
immer thatkräftige Regierung verzichten. 

Zu der Zeit des Heidelberger Vorstosses aber war 
noch eine dringlichere Aufgabe als ein Neubau 
zu erfüllen. Wenn Herr Gaupp aus eigenem Erleben 
mit unseren Verhältnissen bekannter gewesen wäre, 
hätte ihm dieser Zusammenhang nicht entgehen können. 
Es war zuerst Emmendingen auszubauen und ge¬ 
rade noch mit den für den Gesammtbetrieb wichtigsten 
Errungenschhaften zu vervollkommnen. Vor allem 
aber musste, was über dem Neubau Eramendingen’s 
bisher hintangestellt worden war, nachgeholt werden, 
d. h. es mussten den vorhandenen Anstalten die 
für ihre weitere gedeihliche Wirksamkeit unent¬ 
behrlichen und unaufschieblichen Existenz¬ 
bedingungen in Gestalt der allernöthigsten Re¬ 
formen geschaffen werden. Dieser sich vordrängenden 
Aufgabe ist denn auch die Regierung in zielbewussten 
Projecten und erfolgreichen Thaten gerecht geworden. 
Zur Zeit des Kraepelin’sehen Vortrags lagen 
alle diese Reformen bereits in zur Ausführung fertigen 
Plänen vor. Schon allein die bewilligten Mittel — nahe¬ 
zu 1 i/ 2 Million in den letzten drei Budgetperioden — 
führen eine dem Kundigen hinreichend beredte Sprache. 

Der Zweck dieser Projecte war in voller Absicht 
nicht in erster Reihe die Platzgewinnung, und konnte 
es nach dem Obigen nicht sein. Immerhin ist aber 
der Erhalt von 200 neuen Plätzen in allen Anstalten 
zusammen keine quantite negligeable gewesen. Da¬ 
von haben den Hauptgewinn die Kliniken davonge¬ 
tragen, deren Evacuationsbedürfniss einer besonderen 
Rücksichtpahme jederzeit sich erfreut. 

Stünden wir heute von Neuem vor den gleichen 

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Verhältnissen : wir würden, unserer Ueberzeugung und 
unserem Pflichtgefühl für das Ganze und das Wohl 
des Landes folgend, wieder ebenso handeln müssen. 

Noch während diese „Schuld“ — wenn man von 
einer solchen sprechen will — gegen die vorhan¬ 
denen Anstalten und die bereits dort weilenden 
Kranken abgetragen wurde, ging man seitens der Re¬ 
gierung ungesäumt zu neuen Projecten über, ohne 
dass es auch an dieser Stelle der Heidelberger Ini¬ 
tiative bedurft hätte. Der beschlossene Neubau gleich 
zw f eier neuer Landesanstalten beweist genügend den 
Ernst, mit dem man der längst erkannten Nothlage 
entgegentrat. 

3. Auf die Gegenvorschläge Gaupp’s bezüglich 
der künftigen Vertheilung der Aufgaben in der 
Landesirrenfürsorge an die einzelnen Institute einzu¬ 
gehen, ist hier nicht der Ort. In den unserigen haben 
wir uns an die seitherige erprobte Organisation, welche 
natürlich die Interessen des ganzen Landes in 
Betracht nimmt, angelehnt und können in unserer 
Repartition keinerlei Schmälerung der klinischen In¬ 
teressen finden. Zugleich gingen wir davon aus, dass 
auch den Kranken der berechtigte Anspruch auf eine 
nicht in erster Linie dem Unterrichtszw'ecke dienende 
Heilanstalt verbleiben müsse. 

4. Unsere Vorschläge bezüglich des Nerven¬ 
heims erhalten bei Herrn Gaupp eine ausgespart 
ungnädige Censur und w'ir selbst, als so zu sagen 
„ländliche“ Neuropathologen, die Zubilligung mildernder 
Umstände. Wir lächeln — und gehen sofort auch 
hier auf das Sachliche über, das der Neuheit wegen 
einige eingehendere Bemerkungen rechtfertigen möge. 
Die Kritik wendet sich namentlich gegen die von uns 
vorgeschlagenen Krankenkategorien und gegen die 
Erstellung in der Nähe einer Anstalt, zumal Illenau’s. 
Alle diese Einwürfe betreffen noch z. Zt. schwebende 
Fragen und sind, wie jeder neue Beitrag, an sich 
willkommen; nur können auch sie nur als eine Meinungs¬ 
äusserung gelten, nicht als Abschluss, wie es den An¬ 
schein erweckt. Naturgemäss wird einen solchen erst 
die weitere Erfahrung bringen, nach längerer Zeit und 
aus vielen Orten mit unter sich vergleichbaren Ver¬ 
hältnissen gesammelt. Und selbst dann noch wird 
wahrscheinlich in jeder Lösung ein unbeglichener Rest 
enthalten bleiben, der sich hierauf die Eigenart der 
localen Bedürfnisse, dort auf die Art der Bevölkerung, 
die socialen Verhältnisse und die sonstige Art der 
Fürsorge (durch Spitäler, Kliniken etc.) gründet, terri¬ 
torial mit diesen Factoren wechselt. Unsere Auf¬ 
fassung und Vorschläge beziehen sich zunächst nur 
auf die einheimischen Verhältnisse, wobei w ? ir bestrebt 
waren, einerseits dem erkannten Bedürfniss Rechnung 

Original from 

HARVARD UNIVER^ITY 



io6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 9. 


zu tragen, andrerseits etwaige Competenz-Conflicte 
mit anderen medicinischen Instituten thunlichst zu 
umgehen. Auch nach der uns vorliegenden klinischen 
Epikrise sind wir nicht in der Lage, ein Wesentliches 
in unserer Darlegung zurückzunehmen oder abzuän¬ 
dern. Namentlich halten wir fortan fest, dass speciell 
die von Herrn Gau pp perhorrescirten Krankheits¬ 
formen einen ersten berechtigten Anspruch auf Für¬ 
sorge haben, deren sie bis jetzt entbehren. Wir sind 
nach wie vor der Ueberzeugung — und jeder er¬ 
fahrene Irrenarzt wird uns beistimmen —, dass gerade 
die „psychisch“-Nervösen unserer Auswahl nur von 
dem practischen Fachmann richtig verstanden werden; 
dass sie z. Zt. von den eigentlichen Anstalten nicht 
aufgenommen werden können, und doch einer me¬ 
thodischen fachmännischen Behandlung und Aufsicht 
dringend und ernstlich bedürfen. Geheimrath Ludwig 
characterisirt diese Gruppe von Kranken (Bericht der 
Verwaltung' der hessischen Unterstützungskassen p. 
1894/95) als „Solche, die durch häusliche Sorgen, die 
Anstrengungen des Berufs, oder sonstwie unzweck¬ 
mässige Lebensweise heruntergekommen, aber nicht 
eigentlich geisteskranke Hilfsbedürftige sind. Ihre 
beschränkten Mittel schliessen den Besuch einer 
Nervenheilanstalt aus, e$ muss ihnen aber geholfen 
werden, weil sie in höchstem Grade unglücklich sind 
und weil sie sonst der Gefahr des Uebergangs des 
nervösen Leidens in wirkliche Geisteskrankheit und 
namenloses Elend erliegen.“ 

Wir erkennen in dieser Schilderung genau den 
einen Theil der auch von uns empfohlenen Kranken. 
Den andern — die Zustände mit Zwangsgedanken, 
Phobieen etc. — weist in derselben Uebereinstimmung 
der neueste Autor Dr. Weygandt (Psychiatrie p. 
219, 226, 229) ausdrücklich den „offenen Nerven- 
anstaltenmit Beschäftigungstherapie“ nach dem Muster 
von Haus Schönow zu. Wir befinden uns also in 
guter Gesellschaft. Dass übrigens auch die funktionellen 
Neurosen, die Herr Gau pp speciell im Auge hat, 
keineswegs von unserm Nervenheim ausgeschlossen 


M i t t h e i 

— 37. Versammlung des Vereins der Irren- 
Aerzte Niedersachsens und Westfalens. 

7. Herr Quaet-Faslem-Göttingen: Mit¬ 
theilungen aus der Universitätspoliklinik 
für psychische und Nervenkranke zuGöt- 
t i n g e n. 

Im October vorigen Jahres gegründet, hat die 
Poliklinik, wie die Besuchszahlen beweisen, ihre Exi¬ 
stenzberechtigung bewiesen, ja mehr als das, sie war 

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sind, ist in der Denkschrift (p. 53) bestimmt ausge¬ 
sprochen. 

Uebrigens so oder so: neben und vor diesen 
mehr academischen Fragen sollte, wie wir meinen, 
die Aufgabe gehen: unser ländliches Nervenheim 
wirklich zu machen. Dann werden sich gewiss 
auch die geeigneten Kranken finden, ungesucht, ohne 
Discussion, unmittelbar aus dem actuellen Bedürfniss, 
aus den Forderungen des Tags. 

Nun aber — wohin? Durch Gründe der Zweck¬ 
mässigkeit und des practischen Betriebs haben wir 
der relativen Verbindung der Nerven-Volksheilstätte 
mit einer Anstalt, jedoch bei Wahrung aller Selbst¬ 
ständigkeit, das Wort geredet. Die Nähe von Illenau 
ergab sich aus dem Vorhandensein eines geeigneten 
Platzes; in gleicher Weise wie auch für die Trinker¬ 
anstalt, für welche sich in letzter Stunde ein sehr 
passender Geländecomplex mit einem ausgedehnten, 
gut organisirten und mannigfaltigen ökonomischen 
Betrieb gefunden hatte, neben dem weitem Vorzug 
der centralen Lage in unserm Lande. Dass die 
Stadt Frankfurt eben daran geht, ihr Nervensana- 
torium im Köppemer Thal wesentlich nach denselben 
Grundsätzen, wie wir, zu erstellen, dürfte doch auch 
der Erwägung werth sein. Mittlerweile hat der in 
unserer Frage z. Zt. practisch erfahrenste College unsem 
Vorschlag als „eine in glücklicher Weise den Verhält¬ 
nissen entsprechende Lösung“ bezeichnet 

Dass das Nervenheim durch die Nähe der Irren¬ 
anstalt discreditirt werde, davor sind wir nicht bange; 
wie es scheint, haben wir etwas grösseres Vertrauen 
zu uns selbst und zu dem Urteilsvermögen des Publi- 
cums. 

Uebrigens sind auch öffentliche Institutionen nicht 
dazu da, dem Vorurteile der Menge zu schmeicheln, 
sondern sie sollen ihm entgegentreten. 

Es wäre zu erwarten gewesen, dass wir in diesem 
Kampfe für die Aufklärung die klinischen Collegen 
eher auf unserer Seite hätten, als gegen uns. 

Die Verfasser der Denkschrift. 


Jungen. 

entschieden ein Bedürfniss. Als glücklich muss die 
Verbindung der Poliklinik mit der psychiatrischen 
Klinik resp. der Heil- und Pflegeanstalt angesehen 
werden. Es werden akute Psychosen weit eher er¬ 
kannt und sachgemässer Behandlung zugänglich, die 
unter dem Deckmantel eines nervösen Leidens in der 
Poliklinik erscheinen. Oft wird es daher möglich sein 
die Anstaltsbehandlung ganz zu vermeiden. 

Von den in der Poliklinik unter einer bisherigen 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


107 


1902.] 


Frequenz von 316 Fällen erscheinenden Psychosen 
brauchten nur 2 in der Anstalt aufgenommen zu 
werden. Die einzelnen zur Behandlung gelangenden 


Fälle vertheilten sich auf: 

Krankheiten des Rückenmarks . . 9 

„ der peripheren Nerven 24 

„ des Gehirns .... 16 

Angioneurosen und Trophoneurosen 8 

Intoxikationen unter Betheiligung des 

Nervensystems.. 2 

Psychosen. 38 

Neurosen.219. 


Die Poliklinik trägt ferner dazu bei, das beim 
grossen Publikum noch immer bestehende Misstrauen 
gegen die Irrenanstalten und ihre Aerzte beseitigen* 
zu helfen. 

Ref. bringt dann aus dem Material der Poliklinik 
einen Fall seltener Localisation von Graphospasmus. 

Der Krampf befällt lediglich den Pectoralis major 
und Deltoideus. 

Der Patient war 17 Jahre Trompeter und spannte 
in seinem Beruf beim Halten seines Instrumentes die 
beiden erwähnten Muskeln. Er ist jetzt Kassenbote 
und muss viel schreiben. Es scheint ihm nun nicht 
zu gelingen, das alte Coordinationssystem, das er im 
Dienste des ersten Berufes verwenden musste, im 
neuen Beruf ganz auszuschalten. 

Es Hegt eine reine Störung der Coordination vor, 
die die Bezeichnung des Schreibkrampfes als coordi- 
natorische Beschäftigungsneurose (Benedikt) vollkom¬ 
men rechtfertigen muss. 

Ref. erwähnt dann kurz den seiner Ansicht nach 
sehr grossen Einfluss der Psyche auf die Krankheit. 

Zum Schluss bringt Ref. einige Angaben über das 
Nährpräparat „Hygiama“, dessen Verwendung sich in 
der Poliklinik in jeder Hinsicht als auffallend günstig 
erwiesen hat und in ihr jetzt in vielen Fällen zur 
Anwendung kommt. 

Bei allen Arten von Schwächezuständen (Chlorose 
etc.), bei neurasthenischen und hysterischen Verdau¬ 
ungsstörungen und vor allem auch bei Nahrungsver¬ 
weigerungen in der Anstalt hat es sich sehr gut be¬ 
währt In der Poliklinik wurde es bisher in 35 Fällen 
verwandt 

Ref. hält das Mittel namentlich auch im Betriebe 
grosser Anstalten für sehr empfehlenswerth. Die Be¬ 
obachtungen werden fortgesetzt. (Autoreferat). 

8. Herr Behr-Lüneburg: Ueber die Fami¬ 
lienpflege in Göttingen. 

Vortr. bespricht auf Grund der von ihm als Arzt 
der Familienpflege in Göttingen gesammelten Erfah¬ 
rungen die Gesichtspunkte, welche sich bei Einrich¬ 
tung und Handhabung derselben als beachtenswerth 
erwiesen und bewährt haben, so die Auswahl des 
Krankenmaterials und der Pflegestellen, die Frage 
nach Frequenz und Ausübung der ärztlichen Con- 
trolle, nach der Instruktion der Pfleger etc. 

Die durchweg guten Resultate drängen zu weite¬ 
rer Ausdehnung. Es wird weiter die wirtschaftliche 
Frage vom Standpunkte der Anstalt erörtert und die 
subjectiven Verhältnisse der Kranken, sowie ihre psy¬ 
chische Beeinflussung durch die Unterbringung in 


Familienpflege. Die Berücksichtigung der socialen 
Lage der Landbevölkerung in den zur Einrichtung 
gewählten Orten ist weiterhin sehr von Wichtigkeit. 
(Wird ausführlich publicirt). V o g t - Göttingen. 

— Ein crasses Beispiel der Verdächtigung 
von Irrenanstalten und Irrenärzten liefert der 
folgende Artikel der „Münchener Post“ vom 26. IV. 
1902: 

Zum Kapitel des Irrenrechts. 

In unseren Händen befindet sich ein umfang¬ 
reiches Material zum Kapitel der Irrenrechtspflege 
in Bayern, das im Interesse der Allgemeinheit und 
der Betroffenen zur geeigneten Zeit verwendet werden 
soll. 

Für heute möchten wir auf einen dringlichen Fall 
hinweisen, vorläufig ohne Namensnennung. In Neu- 
Friedenheim befindet sich seit mehreren Monaten eine 
sehr vermögende Dame der sogenannten guten Ge¬ 
sellschaft. Die Dame ist 84 Jahre alt und wurde 
auf hinterlistige Weise ohne vorherige Untersuchung 
durch den zuständigen Polizeiarzt in die Anstalt ge¬ 
bracht, wo sie gegen ihren Willen festgehalten wird. 
Die alte Dame steht in verwandtschaftlichen Be¬ 
ziehungen zu einer ersten Münchener Kunstgrösse 
und ist auf deren Betreiben entmündigt worden. 
Diese Entmündigung erfolgte aus Gründen, auf die 
wir vielleicht noch näher eingehen müssen, aber 
keineswegs wegen irgend einer geistigen Störung der 
Betroffenen. 

Wir wollen auch vorläufig nicht näher untersuchen, 
ob der Hunger nach Gold und die Angst des Herrn 
Professors und seiner Gattin, die Entmündigung könne 
wieder aufgehoben werden, die hinterlistige Ueber- 
führung der Dame nach Neu-Friedenheim angeregt 
hat. Eines erscheint uns aber jedenfalls sicher: die 
Ueberführung ist widerrechtlich und in ungesetzlicher 
Weise erfolgt, und das Verhalten der Anstaltsleitung 
in Neu-Friedenheim erscheint in sehr zweifelhaftem 
Lichte. Auch das Verhalten der übrigen betheiligten 
Personen, des „begutachtenden“ Arztes, der Rechtsver¬ 
treter u. s. w., erscheint nicht einwandfrei. Der ganze 
Fall ist ein Beweis für die Rechtlosigkeit der Person in 
Bayern, wenn einflussreiche Leute die Hand im Spiele 
haben und für die ausserordentliche Gefahr der auf 
Erwerb bedachten „Privat“irrenpflege. 

So viel für heute. Wir erwarten, dass diese An¬ 
deutungen genügen, der alten Dame die Freiheit 
wieder zu geben. Im anderen Falle müssen wir sehr 
deutlich werden. % 

Die „Münchener Post“ vom 7. V. 1902 brachte 
folgende Richtigstellung: 

Zum Kapitel des Irrenrechts. 

Vom dirigirenden Arzte der Heilanstalt Neu- 
Friedenheim, Herrn Dr. Rehm, erhalten wir folgende 
Berichtigung: Die in Nr. 96 Seite 6 der Münchener 
Post unter der Ueberschrift „Zum Kapitel des Irren¬ 
rechts“ enthaltene Mittheilung wird hiermit berichtigt, 
wie folgt: 

1. Die in dem berichtigten Artikel erwähnte, durch 
rechtskräftigen Beschluss des kgl. Amtsgerichtes 
München I, Abtheilung A für Civilsachen, vom 
21. Octobcr 1901 entmündigte 84 jährige Patientin 


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Original from 

HARVARD UNiVERSITY 







108 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 9. 


ist nicht auf Betreiben einer ersten Münchener Kunst¬ 
grösse, sondern auf Betreiben des rechtskundigen Vor¬ 
mundes der Enkel der Entmündigten entmündigt worden. 

2. In dem Entmündigungsbeschlüsse ist festgestellt, 
dass die Entmündigte nach dem übereinstimmenden 
Gutachten der vernommenen drei Sachverständigen, 
unter denen ich mich jedoch nicht befunden habe, 
an dementia senilis (Altersschwachsinn) leidet, und 
dass der Altersschwachsinn der Entmündigten nach 
der richterlichen Ueberzeugung einen derartigen Grad 
erreicht hat, dass die Kranke jeder freien Willensbe¬ 
stimmung beraubt ist. 

3. Der kgl. Bezirksarzt und zuständige Polizeiarzt 
Dr. Müller in München hat am 30. Dezember 1901 
die Entmündigte untersucht und sich gutachtlich dahin 
geäussert, dass die senile Demenz der Entmündigten 
eine Anstaltsbehandlung dringend nöthig mache; 
daraufhin hat die kgl. Polizeidirection München am 
31. Dezember 1901 die Aufnahme der Entmündigten 
in die Anstalt Neu-Friedenheira genehmigt. 

4. Die Ueberführung der Patientin in die Anstalts¬ 
behandlung ist auf Grund ärztlichen Gutachtens im 
Interesse der Erhaltung des Lebens der Patientin und 
Herbeiführung sachgemässer ärztlicher Behandlung 
erfolgt; es ist unwahr, dass diese Ueberführung wider¬ 
rechtlich oder in ungesetzlicher Weise erfolgte. 

Referate. 

— The Journal of Mental Science. April 
1901. (Fortsetzung.) 

Bernard Holländer giebt eine kurze Zusammen¬ 
stellung unserer Kenntnisse über das Gehirn als Or¬ 
gan der Psyche. Wir thun am einfachsten, wenn wir 
uns an die Schlusssätze des Verf. halten: 1) Die 
Grösse des Gehirns ist nicht nur ein Maass für die 
Höhe der Intelligenz, sondern auch für die Kraft der 
Gefühle und Neigungen. 2) Die Zonen der Empfin¬ 
dung sind nicht die Centren der Wahrnehmung und 
Reflexion, und die Hinterhauptslappen haben nichts 
mit den höheren intellectuellen Prozessen zu thun. 
3) Mit der Annahme von reinen motorischen und 
sensorischen Centren allein könnte man nicht die 
Verschiedenheit der menschlichen Charaktere und der 
geistigen Störungen erklären. Sie sind auch die Sub- 
strata der psychischen Centren, also phychomotorische 
und psychosensorische Ccntra. 4) Nur die Grösse 
der Frontallappen ist von Wichtigkeit für die Beur- 
theilung der Intelligenz. Die Frontallappen können mit 
den Maassen, wie sie auch für den Körper im Gebrauch 
sind, gemessen werden. Der Kopf mag bei einem ge- 
scheidten Individuum klein sein, wenn nur die Fron¬ 
tallappen verhältnissmässig gross sind. 5) Gedächtniss 
ist keine einheitliche Fähigkeit, sondern es giebt Ge- 
dächtnissarten und dementsprechende Centren, so ein 
Gedächtniss für Zahlen, Orte, Zeit, Worte, Töne etc. 
Das Wortgedäehtnisseentrum ist bereits lokalisiert. 6) 
Es muss neben den Centren für rein intellektuelle 
Prozesse in der Rinde noch solche geben für Ge- 
müthsbewegungen und Strebungen. 7) Die intellektuellen 
Prn< esse überwachen die Gefühle und Neigungen, so¬ 
mit enthalten die Stirnlappen die Hemmungscentren für 
die im übrigen Gehirn sich abspielcndcn Processe. 

George Rorie hat die nach Influenza aufgetretenen 
Fälle von Irresein, die im Cumberland und Westmore¬ 


land Asyl aufgenommen worden waren, statistisch und 
klinisch bearbeitet. Es war schon aufgefallen, dass 
während der Influenzaperiode die Aufnahme me¬ 
lancholischer Kranken in verschiedenen Anstalten be¬ 
trächtlich stieg. Das war auch in jenen beiden An¬ 
stalten der Fall. Verf. fand von 1890—99 im ganzen 
68 Fälle verzeichnet, in denen die Geisteskrank¬ 
heit direkt oder indirekt mit der Influenza in Zusam¬ 
menhang gebracht werden konnte. Unter den 68 
Fällen befanden sich 34 M. und 34 Fr. Die Mehr¬ 
zahl der Männer wurde aufgenommen in den Jahren 
1892, 1893, 1894, 1895 und 1896, ihr Prozentsatz 
betrug jeweils 5.7, 5.9, 5.4, 6.5 und 5.1. Bei den 
Frauen kamen die meisten 1892 mit 12.3%, 1894 
mit 5.0% und 1897 mit 6.6 ° 0 zur Aufnahme. Bei 
den 34 Männern betrug das Durchschnittsalter beider 
Aufnahmen 43.8, der jüngste zählte 19, der älteste 71 
Jahre. Die Frauen hatten ein Durchschnittsalter von 
48.5, darunter ein Mädchen von 19 und eine Greisin 
von 89 Jahren. 

Bei der Aufnahme zeigten von den 68 Fällen nur 
22 einen annehmbaren körperlichen Gesundheitszustand. 

Die Zeit zwischen dem Influenzaanfall und dem 
Ausbruch des Irreseins ist sehr schwankend und schwer 
bestimmbar. Die Freunde des Kranken geben meist nur 
an, er sei seit der Influenza nicht mehr wie früher ge¬ 
wesen. Die Zeit von dem Influenzaanfall bis zur Auf¬ 
nahme ist manchmal so gering, dass diese direkt dem 
Anfall folgt, oder es vergehen mehrere Tage, Wochen, 
Monate, ja ein Jahr. Verf. glaubt, dass bei seinen 
Fällen meist 1 — 3 Monate dazwischenlagen. 

Was die Prädisposition zum Irresein betrifft, so 
handelte es sich bei 28 Fr. um den ersten Influenza¬ 
anfall, bei 3 Frauen um den dritten, bei zweien um 
den zweiten, und bei einer war es „nicht der erste“. 
Bei den Männern war es in 29 Fällen der erste An¬ 
fall, in 2 Fällen der zweite, in einem der vierte und 
in einem „nicht der erste.“ 10 M. und 12 Fr. waren 
erblich belastet. Dazu kamen noch 5 Alkoholiker 
und 3 Schwachsinnige, und bei den Frauen eine Al- 
koholistin und 5 Nervöse. Meist also handelte es sich 
neben der Influenza noch um eine andre prädisponie¬ 
rende Ursache. 

26 Männer litten an Melancholie, 3 an akuter Manie, 
4 an Manie und einer an prog. Paralyse. 16 Melan¬ 
choliker und ein Maniakus waren suicidverdächtig. Von 
den Frauen litten 20 an Melancholie, 8 an Manie, 4 
an akuter Manie, eine an seniler Manie und eine an 
seniler Demenz. 14 Melancholische und 5 Mania- 
kalische waren Selbstmord verdächtig. 

Die Prognose, besonders in den Fällen von Melan¬ 
cholie, ist im ganzen günstig. Von den 26 melancho¬ 
lischen Männern wurden 16 geheilt, 6 gebessert, einer 
wurde blödsinnig und 3 starben. Die 3 Fälle von aku¬ 
ter Manie wurden nach etwa 3 Monaten geheilt. Von 
den 4 Fällen von Manie wurde einer geheilt, einer 
gebessert und 2 starben. Von den 20 melancholischen 
Frauen wurden 16 geheilt und 3 starben. Von den 
4 Fällen von akuter Manie genasen 3, von den 
8 Fällen von Manie wurden 2 geheilt und 2 starben. 
Die Ursache des Todes war meist Phthisis und senile 
Erschöpfung. Der Anstaltsaufenthalt der Genesenen 
schwankte zwisc hen 1 und 12 Monaten. (Schluss folgt.) 


Digiti; 


Erscheint 


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ciactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Hresler 
Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — 

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Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

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Nr. 10 . i.Tuni. 1902 

Die ,,Psych 1 atr 1 sch-Neur olo g ische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro (Quartal 4 Mk. 

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Zuschriften Tür die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Frage der Grösse und Benennung der Irrenheilanstalten. Von Dr. Gustav Olhh-Budapest (S. 109). — 
Die Irrenfürsorge in Baden. Von Oberarzt Dr. Max Fischer-Illenau {S. in). — Mittheilungen (S. 117). — Referate (S. 119). 


Zur Frage der Grösse und Benennung der Irrenheilanstalten. 


^^ 11 der, in den letzten Nummern der Wochenschrift 
aufgeworfenen Frage bezüglich der zwcckmässigsten 
Grösse einer Irrenheilanstalt sei cs auch mir gestattet, 
meine Ansicht auszusprechen. 

Ich bekenne mich gleic h in vorhinein als eifrigen 
Verfechter möglichst grosser Anstalten und cs nimmt 
mich Wunder von den deutschen Collegcn, wenn sie 
die Grosse einer Anstalt mit der Uebcrsichtliehkcit 
des Krankenmaterials seitens des Direotors verknüpfen 
und fragen: wie soll ein ärztlicher Leiter, mit ad¬ 
ministrativen Agenden überhäuft, 1000—1400 Kranke 
auch nur dem Aussehen nach kennen, geschweige 
deren ärztliche Behandlung leiten. Ja das wäre 
allerdings eine Hcrcules-Aufgabe, besonders im Zeichen 
der individualisirenden Behandlungsweise und bei dem 
beständigen Wechsel des Materiales. Aber ich wüsste 
wirklich nicht, wie tief man die untere Grenze des 
Krankenstandes ziehen sollte, damit ein Director mit 
ruhigem Gewissen von sich sagen könne, dass er dieser 
Aufgabe vollkommen Genüge leiste. Die Grösse einer 
Anstalt an jene Grenze zu knüpfen, wo der Director 
noch im Stande ist, den Zustand sämmtliehcr Kranken 
im Gcdächtniss zu behalten, ist eine Verkennung der 
Beziehung zwischen Organismus und leitendem Centrum. 
Diese Auffassung, auf andere Organisationen, sociale 


Gebilde, industrielle Etablissements etc. angewandt, 
führt zu Paradoxa. 

Grundbedingung ist nur die einheitliche Organisation, 
das Ineinanderarbeiten der Thcile. Je verschieden¬ 
artiger, differenzirter die einzelnen Theilc, bei Vor¬ 
aussetzung einheitlicher Leitung, um so höher die 
Entwickelung der Organisation, um so vollkommener 
und verfeinerter die Dctailarbeit. Dass in dieser Be¬ 
ziehung psychiatrische Forschung und Behandlungs¬ 
methoden Hand in Hand gehen, braucht nicht erst 
gesagt zu werden. Eine kleine Anstalt mit 4—500 
Patienten kann ja einen recht anheimelnden Eindruck 
machen, und mit dem Director gleichsam als Familien¬ 
oberhaupt an der Spitze, der jedes Mitglied der 
kleinen Ansiedelung persönlich kennt, sehr patriar¬ 
chalisch gemüthlich sein, kann auch im Kleinen alles 
verwirklichen, was zu den modernen Attributen einer 
modernen Irrenanstalt gehört, wird aber in ihren 
höheren psychotherapeutischen Bestrebungen nur zu 
bald an die budgetären Grenzen einer kleinen Anstalt 
stossen. Ist doch unser psychotherapeutisches Instru¬ 
mentarium die Anstalt selbst mit ihrem ganzen 
Inventar von der Kapelle bis zur Küche ja ihre ver¬ 
schiedenen Insassen mit einbegriffen. Eine Milieube¬ 
handlung im modernen Sinne ist nur möglich, wo die 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


no 


in verschiedenen kleinen Anstalten vertheilten therapeu¬ 
tisch zusammengehörigen Elemente örtlich zusammen- 
bringbar sind. Diese Möglichkeit wächst mit der Grösse 
der Anstalt im gleichen und mit den erforderlichen 
Kosten im umgekehrten Verhältniss. Freilich die 
planlose Anhäufung eines kunterbunten Materials wie 
sie ein Landesdistrict gerade liefert, kann ja drückend 
werden, aber das ist das Ideal einer grossen Anstalt 
nicht, ist vielmehr ein monströses Gebilde. Unter 
einer „grossen Anstalt“ verstehe ich einen grossen 
Organismus der Irrenpflege, dessen einzelne Glieder 
räumlich von einander innerhalb gewisser Grenzen 
getrennt sein können, aber unter einheitlicher Leitung 
als zusammengehöriges Ganzes in beständigem Contact 
mit einander bleiben müssen, wo jeder Kranke das 
jeweilige Milieu findet, das ihm passt. Es klingt als 
Paradoxon, aber ich meine: je kleiner die Anstalt, 
je weniger Kranke, um so geringer die Möglichkeit 
einer individualisirenden Behandlung. Kleine autonome 
Anstalten mit begrenztem Contingentirungs - Gebiet 
sind werthlos. Irrenanstalten dienen keinem localen 
Interesse wie Spitäler. Die Discussion, ob in einem 
District eine neue Anstalt als Colonie, oder als ge¬ 
schlossene Anstalt oder sonst wie errichtet werden 
soll — ist völlig unpsychiatrisch. Eine braucht die 
andere und alle brauchen eine Organisation von 
grosser Conception. Müssen doch die meisten Kranken 
entsprechend dem Krankheitsverlauf durch die ein¬ 
zelnen Systeme successive durchgeleitet werden. Und 
nun erst das Stadium der Irrenbehandlung, die doch 
Endzweck jeder psychiatrischen Forschung ist! Welche 
Perspectiven eröffnen sich, wenn die Möglichkeit ge¬ 
geben ist, dass der Anstaltsleiter statt einem Arzt eine 
gemischte Abtheilung zuzuweisen, ihm eine bestimmte 
Aufgabe stelle z. B. Behandlung der Depressionszu¬ 
stände oder gewisser senilen Formen, Intoxications- 
psychosen etc. und wenn zur Erforschung jeder Detail¬ 
frage ein entsprechendes Krankenmaterial zur Ver¬ 
fügung steht. Ich denke, die Zeiten sind vorüber, wo 
in der öffentlichen Irrenfürsorge die Frage der Unter¬ 
bringung im Vordergrund stand. 

Wir hätten in den Culturstaaten die Geisteskranken 
nun so ziemlich unter Dach und Fach. Jetzt harren 
unser grössere Aufgaben als die einer guten Unter¬ 
bringung, aber diese sind meines Erachtens in kleinen 
autonomen Anstalten nicht zu lösen. Sehen wir ja 
einen Differenzirungsprocess in der specialisirenden 
Richtung der Privatheilanstalten in immer feineren 
Nuancen vor sich gehen. Selbst die Specialanstalten 
für Alkoholisten theilen sich weiter je nach der socialen 
Classe der Patienten und den Formen des Alkoholismus. 
Aufgabe der einzelnen Staaten ist dieser Specialisirung 


[Nr. io. 


im Rahmen von grossen Anstalten mit zahlreichen 
Dependencen, Familienpflegehäusem etc. Geltung zu 
verschaffen anstatt der Classification nach Verpflegs- 
classen, die ich mit den Bestrebungen der öffentlichen 
Irrenfürsorge für unvereinbar halte. Mit sogenannten 
Luxusabtheilungen und Zahlstöcken das Budget der 
Anstalt günstiger zu gestalten und den Anstaltsärzten 
ein Nebeneinkommen zu sichern, ist keine Aufgabe 
des öffentlichen Sanitätswesens, und einer Irrenfürsorge 
im grossen Styl. Diese soll dem Kranken all das 
bieten, was ihm zukömmlich ist ohne Rücksicht auf 
Verpflegsclassen; aber was darüber hinaus ist, die 
luxuriöse Verpflegung nach gegenseitiger Ueberein- 
kunft, mag gänzlich den Privat-Heilanstalten überlassen 
werden, die eher in der Lage sind speciellen Rück¬ 
sichten Genüge zu leisten. 

Was den aufgeworfenen Gedanken einer zweck¬ 
entsprechenderen Benennung der Anstalten betrifft, 
so bin ich natürlich dafür, dass man nicht weit genug 
gehen kann im Kampf gegen die Exclusivität der 
Irrenanstalten und in der Tilgung der traurigen Remi- 
niscenzen, die sich an dieselben knüpfen. Elin in¬ 
differenter Titel wie „Sanatorium“, „Asyl“., Him- 
krankenanstalt“, oder das von den Franzosen vor¬ 
geschlagene „Maison Esquirol“, „Maison Pinel“ etc. 
ist jedenfalls besser als Irrenanstalt, doch ist 
damit nicht das erreicht, was wir bezw'ecken. Die 
angeführten indifferenten Benennungen werden nur 
zu bald ihre Harmlosigkeit verlieren und jeder, der 
in einer „Hirnkrankenanstalt“ war, wird gern davon 
schweigen, so wie sich niemand damit brüstet, in der 
harmlos benannten „Maison nationale de Charenton“ 
gewesen zu sein. Warum den Geisteskranken nicht 
den Namen geben, für was sich die sich selbst Be¬ 
wussten — und das sind ja die meisten — gewöhnlich 
halten: „Nervenkrank“? Sind sie es denn nicht? 
Nervenkrankheiten, die einer Anstaltsbehandlung be¬ 
dürfen, sind ja in den meisten Fällen centraler 
Natur, das heist mehr als Nervenkrankheiten im con- 
ventionellen Sinne. Die Benennung „Staats- oder 
Landes- oder Öffentliche Anstalt für Nerven¬ 
kranke“, könnte mit einem Schlag die von jedem 
Psychiater herbeigesehnte Ueberbrückung zwischen 
dem öffentlichen Leben und der Anstalt in unmittel¬ 
bare Nähe stellen. Es ist heutzutage nicht mehr die 
Irrenanstalt mit ihrer modernen Einrichtung, die ab¬ 
schreckend wirkt, einzig nur der Name. Es ist damit 
was Eigenes. Wir schämen uns niemals der Symp¬ 
tome einer durchgeraachten Gehirnkrankheit, nur der 
Diagnose allein. Auch sind es ja nicht alle Psy¬ 
chosen, die man mit dem odiösen Namen Geistes¬ 
krankheit belegt. Sind denn Rauschzustände, Fieber- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


I I I 


delirien etc. nicht ebenso krankhafte Zustände des 
centralen Nervensystems als es z. B. eine Puerperal¬ 
psychose ist? Und wenn die Benennung „Oeffent- 
liche Nervenheilanstalt“ zu Missverständnissen 
fuhren sollte — (ich höre schon die ängstlichen 
Stimmen, welche vor der Möglichkeit warnen in den 
Verdacht einer Geisteskrankheit zu kommen) so ist 
dieses Missverständnis für Niemand schädigend, das 
heisst für Nervenkranke leichteren Grades überhaupt 
nicht obwaltend, für die sogenannten Geisteskranken 
aber von unermesslichem Gewinn. Ist doch das 
Urteilsvermögen bezüglich der Bedeutung der Irren¬ 
anstalt bei den meisten Kranken ungestört. Bei 
Anstaltsbesuchen hören wir die stereotype Klage: 
„Man hat mich statt in eine Nervenheilanstalt ins 
Irrenhaus gebracht“. — Wie oft wird gesagt, dass es 
was Entsetzliches sein müsste, wenn ein Geistesgesunder 
in eine Irrenanstalt gesteckt würde. 

Nun dieses Gefühl haben die meisten Geistes¬ 
kranken ebenso. Nicht die Umgebung, nicht die Mit¬ 
patienten schrecken sie, an denen sie bei entsprechender 
Sortirung des Materials nichts Auffälliges bemerken, 
nur die Benennung und der darin liegende Character 
der Anstalt, den sie nur zu bald erfahren, ist es, was 
sie als eine Ungerechtigkeit empört und eine Quelle 
ewiger Recriminationen bildet. Es würde sich eines 
Versuches lohnen, von zwei parallelen Irrenanstalten 
der einen probeweise den Namen „Oeffentliche Heil¬ 
anstalt für Nervenkranke“ zu geben. Schon in kür¬ 
zester Zeit wäre letztere bezüglich des Heilungspro- 
centes überlegen (natürlich in beiden Anstalten nur 
die eigentlichen Psychosen gerechnet). Die Fälle 
würden derselben im Frühstadium, bei den ersten 


drohenden Symptomen zugeführt werden (besonders 
wichtig bei chronischen Intoxicationspsychosen!), wo 
die Heilungsbedingungen viel günstiger liegen. 

Will man aus gewissen civilrechtlichen Gründen 
die Gemeinschaft der Kranken mit und ohne selbst¬ 
ständigem Verfügungsrecht vermeiden, so Hessen sich 
ja Verfügungen treffen, dass die ersteren als nicht 
anstaltsbedürftig oder der öffentlichen Fürsorge nicht 
berechtigt zurückgewiesen werden. 

Uebrigens sehe ich nicht ein, warum ein mittelloser 
Tabetiker oder nach Apoplexie Gelähmter hier nicht 
Aufnahme und Behandlung finden könnte. 

Ueber die Nothwendigkeit der Entziehung des 
selbstständigen Verfügungsrechtes könnte ja eine ge¬ 
richtliche Commission von Fall zu Fall entscheiden. 

Die Errichtung von selbstständigen öffentlichen 
Heilanstalten für anstaltsbedürftige unbemittelte Nerven¬ 
kranke, wie sie hier in Ungarn vorgeschlagen wurde, 
halte ich vom psychiatrischen Standpunkte für sehr 
bedenklich, weil sie mir geeignet erscheint, die Ex- 
clusivität der odiösen Irrenanstalten noch weiter zu 
steigern. Ich gebe zu, dass die aufgeworfenen Fragen 
noch weiterer Erwägungen bedürfen, aber ich bin der 
Ueberzeugung, dass, wenn es die grosse That des 

19. Jahrhunderts war, in entsprechender Zahl Heil¬ 
stätten für Gehimkranke zu errichten, es Aufgabe des 

20. Jahrhunderts sein wird, dieselben den Kranken 
ohne deren sociale Schädigung und schon 
im Stadium der günstigst gelegenen pro¬ 
gnostischen Bedingungen zugänglich zu 
machen. 

Budapest, Mai. 1902. Dr. Gustav Olah. 


Die Irrenfürsorge in Baden. 

Von Oberarxt Dr. Max Fischer- lllenau. 
(Schluss). 


Aus einer auf ähnlichen Grundlagen aufgebauten 
Berechnung, welche sich indes auf beide Pflege¬ 
anstalten Emmendingen und Pforzheim als die defi¬ 
nitiven Abnahmestellen der ganzen Landesirrenfürsorge 
ausdehnt und den jährlichen Ueberschuss des Zugangs 
von Kranken über den Abgang aus den beiden 
Anstalten zusammengenommen in Betracht zieht, er¬ 
halten wir das Ergebniss, dass dieser Ueberschuss 
in den Jahren 1889—1900 zwischen den Zahlen 
16 und 145 schwankte. Das daraus berechnete 
Jahresmittel beträgt 78,67 — also die gleiche Ziffer 
wie die vorhin gefundene; ein gütiger Beweis dafür, 

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dass dieselbe nicht allein aus der Neubelegung Emmen¬ 
dingens resultirt, also nicht etwa nur eine locale, 
sondern eine allgemeinere, die ganze Lage der Irren - 
Versorgung characterisirende Bedeutung hat. 

3. Betrachten wir nun die Zunahme der in den 
Staatsirrenanstalten insgesammt ohne Rück¬ 
sicht auf die Platzfrage thatsächlich unterge¬ 
brachten Irren nach der jährlichen Schlussbilanz im 
Verfolg der letzten 30 Jahre, so ergiebt ein Vergleich 
folgende Zusammenstellung: 

In allen staatlichen Irrenanstalten (Illenau, Emmen¬ 
dingen, Pforzheim, Heidelberg und Freiburg) zusammen 

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[Nr. io. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


betrug die Zunahme der Anstaltsinsassen nach dem 
Krankenstände am Schlüsse des Jahres: 
in den Jahren 1871 — 1875 für das Jahr = — 

1876—1880 „ „ „ = + 

1881 — 1885 „ „ „ = + 

1886—1890 „ „ „ = + 

1891—1895 „ „ „ = + 

1896—1900 „ „ „ = + 

Die Zunahme der Anstaltsinsassen betrug in der 


1 

34 

22 

06 

03 

63 


gleichen Weise 

auf die letzten 30 Jahre gerechnet, für ein Jahr: 47,5 


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Aus diesen Zahlenzusammenstellungen geht hervor, 
dass, während es früher auch Jahre gab, in denen 
ein Rückgang an Anstaltsinsassen (z. B. —32 im 
Jahre 1875 und von —1 im Lustrum 1871—75, 
von —11 noch im Jahre 1883) stattfand, seit dem 
Jahre 1884, also lange vor der Eröffnung der Anstalt 
bei Emmendingen, eine beständige und steigende Zu¬ 
nahme an Anstaltsinsassen, nach dem Jahresschluss- 
bestande verglichen, in den staatlichen Anstalten zu 
verzeichnen war, welche sich nach Lustren gerechnet, 
von jährlich +22 für die Jahre 1881 —1885, auf 
jährlich +66 für das Lustrum 188G—1890 und auf 
jährlich 103 für die Jahre 1891 —1805 hob; die ge¬ 
ringste Steigerung seit 1884 weist das Jahr 1889 mit 
+ 4, die grösste das Jahr 1891 mit + 153 auf; 
aber auch in der Zeit von 1896— 1900 betrug dieselbe 
trotz des Mangels an neuen Plätzen noch 63 für das 
Jahr und stieg im Jahre 1900 allein, sobald wieder 
Plätze in einiger Anzahl geschaffen waren, sofort wieder 
auf 130 an. 

Wichtig ist hierbei für unsere Darstellung besonders, 
dass in der Hauptentwicklungszeit der neuen Anstalt 
bei Emmendingen in den Jahren 1890—1897. wo 
deren Bestand um jährlich 59—235 Kranke anwuchs, 
die Gesammtzahl der Insassen aller Anstalten 
zusammen gleichfalls ungehindert anwuchs in den 
Grenzen von +58 bis +153, und zwar ohne je¬ 
weilige Correlation der beiden Ziffern nach den ein¬ 
zelnen Jahren; während z. B. die Hauptzunahme in 
Emmendingen auf die Jahre 1890 (wie natürlich nach 
der Eröffnung) mit 235 und auf 1895 mit 119 fällt, 
ist die Höchstzunahme für die Gesammtheit der In¬ 
sassen aller Anstalten in den Jahren 1891 mit 153 
(Emmendingen + 70) und dann wieder 1900 mit 
+ 130 (Emmendingen +28) erreicht. Diese Zahlen 
sind der beste Beweis dafür, dass der Zuwachs nicht 


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77»o 

82,6 

63,0 


allein auf die Anstalt Emmendingen mit deren zu¬ 
nehmendem Ausbau beschränkt ist, sondern dass der 
Zudrang von Kranken gleichmässig auf die gesammte 
Anstaltsversorgung eingeströmt ist. 

Das für unsere Zwecke — die Berechnung des 
für die künftige Zeit annähernd ma;issgcl müden jähr¬ 
lichen Zuwachses an Geisteskranken —wichtigste Dun h- 
schnittsmaass ist, weil es Verhältnissen entspricht, in 
denen dem Zudrang von Kranken von aussen auch 
durch vorhandene freie Anstaltsplätze nachgegeben 
werden konnte, die obige Zahl für die letzten 15 
Jahre, d. h. ein jährlicher Zuwachs von 77 und die 
Durchschnittszahl für die letzten 10 Jahre mit 83, 
wozu noch die für die Irren Versorgung günstigste Zeit 
(nach der Eröffnung von Emmendingen) die Jahre 

1 Hq 1 — 1805 mit einem Durchschnittszuwachs von 
103 für das Jahr kommt. 

Wir wollen uns jedoch in unserer Bemessung für 
die Zukunft nicht an die letzte höhere, sondern an 
die mittleren Zahlen 77—83 halten, woraus sich das 
M ittel von 80 neuen Plätzen für das Jahr er- 
giebt, eine Zahl, welche auch mit dem unter 1 und 

2 gefundenen Berechnungsresultate sollständig über- 
einstimmt. Und zwar ist, da diese Zahl erstens den 
thatsächlichen Zuwachs von Anstaltsinsassen und 
zweitens die dem Andrang von aussen immer erst 
nac hfolgende Zunahme angiebt, da zudem der Bestand 
an Plätzen fortwährend hinter der Nachfrage nach 
solchen zurückblieb, die gewonnene Zahl 80 
der Mindestau sdruck für das bestehende 
Bedürfnis». 

Die seitherige jährliche Steiger u 11g des Be¬ 
standes an Anstaltsinsassen erfolgte nämlic h im Grossen 
und Ganzen unabhängig von der vorhandenen Beleg¬ 
ziffer und Plätzezahl der Anstalten. Waren viele 
Plätze frei infolge von Neuerstellungen, so wurden 
sie allerdings rascher besetzt; bei beschränktem Raume 
aber musste dem unaufhaltsamen Andrange von Auf¬ 
nahmen nachgegeben werden durch vermehrte (eigent¬ 
lich verfrühte) Entlassungen oder durch das noch 
nähere und einfachere, aber auch bedenklichste Aus¬ 
kunftsmittel : der Vermehrung der Bettenzahl, trotz 
knapp bemessenen Luftraums und bereits bestehender 
Ueberfüllung. Und noch in den letzten 5 Jahren ist 
ohne Rücksicht auf den vorhandenen Platz die Anzahl 
der Gesammtversorgten in den Anstalten , trotzdem 
Emmendingen schon nahezu ausgebaut war, noch um 
63 für das Jahr gewachsen — im Jahre 1900 aber, 
sobald wieder neue Plätze vorhanden waren, wie 
bereits erwähnt, allein um 130 — der klare Beweis, 
dass die gleichen Verhältnisse auch jetzt noch herrschend 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


sind und auch für die Zukunft als wirksam angenommen 
werden dürfen. 

Aber nicht nur aus der heutigen Gesammtlage 
und auf Grund des seither mitgetheilten Materials 
ergiebt sich ein ansehnlicher Rückstand zwischen 
Sollen und Können, zwischen Nachfrage und An¬ 
gebot von verfügbaren Plätzen, sondern auch aus dem 
weiteren bemerkenswerthen Moment, dass die Kreis¬ 
pflegeanstalten des Landes, trotz aller Ein¬ 
schränkungen in deren Aufnahmebestimmungen einer¬ 
seits, und trotz der Inbetriebnahme von Emmendingen, 
der beständigen, beträchtlichen Mehrung der Beleg¬ 
ziffer der öffentlichen Anstalten und trotz deren so¬ 
fortiger Ausfüllung durch Kranke andrerseits, keine 
Abnahme ihrer geisteskranken Pfleglinge, sondern gegen- 
theils auch in den letzten Jahren einen regel¬ 
mässigen Zuwachs von 22 pro Jahr nach dem 
Jahresschlussbestande erfahren haben. Diesen Zuwachs 
dürfen wir sicher auf die ungenügende Plätzezahl in 
den öffentlichen Anstalten, auf ihre Ueberfüllung 
zurückführen. Er ist ein Zeichen der Rück¬ 
st a u u n g. 

Angesichts dieser Lage könnte es nun scheinen, 
als ob die staatliche Fürsorge hinter den Anforderungen 
der Zeit zurückgeblieben sei. Vergleichen wir aber 
mit dem Anwachsen der Kranken in den Anstalten, 
wie wir es vorstehend geschildert haben, die An¬ 
strengungen des Staates in der Beschaffung neuer 
Anstaltsplätze, so erhalten wir für die letzten 15 Jahre 
das Bild einer enorm gesteigerten Thätigkeit gegen¬ 
über den diesen vorhergegangenen 15 Jahren, sowie 
überhaupt allen früheren Zeitperioden gegenüber. 

Es wurden nämlich, während von 1870—1877 
die Anstaltsplätze auf derselben Zahl 1000 stehen 
blieben und bis 1885 nur bis 1205 stiegen, also in 
diesen ersten 15 Jahren nur um 205 (= 14 im 
Jahr) vermehrt wurden, in den nun folgenden 15 Jahren 
von 1886—1900 in den Staatsanstalten theils durch 
Neubauten (besonders Emmendingen), theils durch 
administrative Mehrung der Betten in bestehenden 
Räumen, im Ganzen 1190 neue Plätze zur Verfügung 
gestellt; das sind im Jahr 79 Plätze, also das Fünf- 
bis Sechsfache des früheren Satzes. Die Thatsache, 
dass das Anwachsen des Krankenstandes (77 in jedem 
der letzten 15 Jahre — siehe oben —) im Ganzen mit 
dieser Beschaffung neuer Plätze (79 für das Jahr) 
gleichen Schritt gehalten hat, beweist uns aber zugleich 
die Nothwendigkeit dieser Plätzebeschaffung aufs Ein¬ 
dringlichste. 

Diese enorm erhöhte Anforderung an die An¬ 
staltsversorgung der Irren geht nun aber über das 
Verhältniss der Bevölkerungszunahme weit hinaus, 

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113 


wenn diese selbstverständlich auch eines der mitbe¬ 
dingenden Momente gewesen sein muss. Während 
nämlich die Bevölkerung des Landes in den letzten 
15 Jahren um 16,6 °/ 0 der Bevölkerungszahl vom Jahre 
1885 zunahm, betrug die nothwendig gewordene 
Mehrung der Anstaltsplätze gegen den Stand derselben 
vom Jahre 1885 beinahe 100 °/ 0 . 

Es muss also schon von früher her ein erhebliches 
unerfülltes Maass von „Anstaltsbedürftigkeit“ in der 
Bevölkerung, d. h. unter den im Lande zurückge¬ 
haltenen Geisteskranken bestanden haben, welches zu 
dieser übergreifenden Besitznahme der neugeschaffenen 
Plätze drängte und den gesteigerten Anspruch an die 
Anstalten weit über das Verhältniss zur Steigerung 
der Population hinaus verursachte. Und auch jetzt 
noch hält trotz dem Neubau von Emmendingen mit 
1000 Plätzen, trotz Beibehaltung eines sogar noch 
erweiterten Pforzheim der Zudrang zu den Anstalten 
in gleicher Stärke an. 

Freilich erklärt sich dieser für die neueste Zeit 
direct und wesentlich auch noch aus den Ergebnissen 
der Volkszählung resp. aus der gerade in den letzten 
Volkszählungsperioden noch viel rapider wie früher 
ansteigenden Volkszahl selbst. Während diese Zu¬ 
nahme nämlich noch von 1880—1885 nur 31001 
Personen oder 1,97 °/ 0 des Vorbestandes betrug, 
haben wir seither (1885 — 1890) 56612 oder 3,54 °/ 0 
und 1890—1895 eine Steigerung von 67597 oder 
von 4,08% und nun gar für 1895—1900 eine Zu¬ 
nahme von 142480 Einwohnern oder um 8,3 °/ 0 
erfahren. Letztere Zahl ist das Vierfache der früheren 
Zunahmen und noch mehr als das Doppelte der bei 
der unmittelbar vorhergehenden Volkszählung festge- 
gestellten. Ein derartiges Ansteigen muss sich natürlich 
auch in einer Mehrung der Geisteskranken und in 
einer Steigerung der Anforderungen an die Anstalts¬ 
versorgung derselben geltend machen. 

Die vorstehend gegebene geschichtliche Entwickelung 
erweist aber auch ein Weiteres, was ebenso als Resultat 
der Vergangenheit gelten, wie als Lehre für künftig 
dienen kann. Die Erfüllung des Bedürfnisses durch 
Neuschaffung von Plätzen ist der Anforderung an 
solche jeweils erst lange nachgefolgt. 

Aus diesen Zahlen, wenn wir sie nicht nur richtig 
verstehen, sondern auch beherzigen wollen, ergiebt 
sich darum bezüglich der Zukunft der zwingende 
Schluss, dass nur eine noch höher gesteigerte 
Beschaffung von Anstaltsplätzen dem theils 
zurückgehaltenen, theils stetig anwachsenden Bedürf¬ 
nisse wird genügen können; sollen doch unsere Er¬ 
wägungen und Reformvorschläge der sicher kommen¬ 
den Forderung der nächsten und näheren Zukunft 

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nicht minder gerecht werden, als der Nothlage der 
Gegenwart. 

Sind nun auch in unseren vorstehenden, der that- 
sächlichen bisherigen Entwicklung der Anstaltsver¬ 
sorgung entnommenen Aufstellungen bereits die An¬ 
forderungen der Zukunft und der jeweiligen Be¬ 
völkerungszunahme neben den schon zur Zeit hervor¬ 
tretenden und zum Theil aus der Vergangenheit 
stammenden Bedürfnissen in der Irrenversorgung be¬ 
reits enthalten, so steht doch weiterhin ausser Frage, 
dass, wenn einmal die bisher noch ausstehenden 
Forderungen an die Anstaltsversorgung der Irren 
erfüllt, d. h. wenn die geplanten neuen Anstalten 
fertig gestellt sein werden und die bis dahin nicht 
genügend versorgten, im Lande zurückgehaltenen 
Irren mehr • und mehr der geordneten Anstaltsbe¬ 
handlung zugeführt werden können — dass dann 
die jeweilige Bevölkerungszunahme für sich allein 
immer wieder neue Plätze in den Anstalten, je nach 
der Stärke ihres Fortschreitens fordern wird. Sie 
wird für jene fernere Zukunft das wirksamste Moment 
für die Weiterentwickelung des Anstaltswesens und 
für das Maass des Plätzebedarfs in der Bevölkerung 
werden. 

Wenn wir uns nun nach einem Maassstabe für 
die Befriedigung des Bedürfnisses an Anstaltsplätzen 
mit Rücksicht auf die jeweilige Bevölkerungszunahme 
urasehen, so dürfen wir uns die neuesten statistischen 
Untersuchungen auf diesem Gebiete zu nutze machen. 
Auf Grund eingehender, vergleichender Betrachtungen 
der Irrenversorgungsverhältnisse in den einzelnen 
Ländern sind namhafte Vertreter unseres Fachs zu 
dem Ergebnisse gelangt, dass eine irgendwie aus¬ 
reichende Irren Versorgung eines Landes nicht gewähr¬ 
leistet werden könne, so lange nicht für Zwecke der 
AnstaltsVersorgung 2 Plätze in eigentlichen Irren¬ 
anstalten auf 1000 Menschen der Bevölkerung 
kommen. Erst wo dieses Verhältniss zutreffe, könne 
von einer Befriedigung der hauptsächlichen Bedürf¬ 
nisse der Irrenfürsorge und einer Bewältigung des 
Zudrangs von Kranken zu den Anstalten gesprochen 
werden. Andere gehen über diese Forderung noch 
weit hinaus auf ein Verhältniss von 3 : 1000 und 
sogar 5 : 1000. 

Wenn wir die erstere Proportion 2 : 1000 auf die 
künftig bei uns zu erwartende Bevölkerungszunahme 
anwenden wollen, so kommen wir mit Zuhilfenahme 
einer nach den für die Bevölkerungsstatistik maass¬ 
gebenden Regeln der geometrischen Progression vorge¬ 
nommenen, schätzungsweisen Berechnung zu folgenden 
Resultaten: 

Bis zum Jahre 1905 hätten wir zu rechnen mit 

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einer Bevölkerungszunahme von ungefähr 80000; für 
diese wäre nach dem obigen Verhältnisse eine Ver¬ 
mehrung der Irrenanstaltsplätze um 160, d. h. pro Jahr 
um 33 vorzunehmen. Für die Zeit von 1905—1910 
wäre die Bevölkerungszunahme ungefähr 86000 und die 
für diese einzustellende Zahl von Anstaltsplätzen wäre 
172 oder pro Jahr 34. Die gleiche Rechnung für 
das Lustrum 1910—1915 ergäbe eine Bevölkerungs¬ 
zunahme von 92000 und einen entsprechenden Zu¬ 
wachs der Anstaltsplätze um 184 oder pro Jahr um 37. 

Ebenso wäre für die Zeit von 1915—1920 und 
die anzunehmende Bevölkerungszunahme von etwa 
95000 eine entsprechende Plätzezahl von 190 oder 
für das Jahr 38 Plätze anzusetzen. 

Mit diesen und ähnlichen Zahlen, die eher zu 
klein als zu gross bemessen sein dürften und wohl, 
wie die Bevölkerungszunahme selbst, sicher mit der 
Zeit noch ansteigen werden, hätten wir als einfachen 
Resultanten aus dem jährlichen Anwachsen der Be¬ 
völkerung also auch nach Erstellung der neuen An¬ 
stalten noch weiterhin in der Irrenversorgung als einem 
bleibenden, treibenden Factor zu rechnen. 

Wenden wir nun einmal, w*enn auch nicht, um 
daraus für unser Programm bindende Schlüsse zu 
ziehen, sondern lediglich eines Vergleichs mit den 
thatsächlich bei uns bestehenden Verhältnissen halber, 
die obige Forderung der Irrenärzte d. h. die Pro¬ 
portion von 2 Anstaltsplätzen auf 1000 Einwohner 
auf den gegenwärtigen Stand der Bevölkerung von 
1867944 Einw r ohnem an, so ergäbe sich daraus ein 
Bedarf von 3736 Plätzen in eigentlichen 
Irrenanstalten. Davon bestehen in Wirklichkeit 
2395 Plätze in staatlichen und 707 in privaten 
Irrenanstalten; die letzteren sind übrigens vor¬ 
wiegend für die Versorgung jugendlicher Schwach¬ 
sinniger, Idioten und Epileptiker bestimmt. 

Aber selbst mit Hinzunahme dieser 707 gelangen 
wir nur auf eine Summe von 3102 Plätzen und 
blieben somit hinter der Forderung von 3736 um 634 
zurück; statt auf 2 : 1000 ständen wir auf der Pro¬ 
portion 1,66 : 1000. 

Aus diesen Zahlen d. h. dem Fehlen von 634 
Plätzen in der gegenwärtigen Anstalts-Irrenversorgung, 
bei Annahme des als nöthig befundenen Verhältnisses 
von 2 : 1000, verstehen wir nun erst vollkommen den 
fortwährenden, unverminderten Zudrang zu den An¬ 
stalten, trotzdem, wie oben gezeigt, vom Staate in den 
letzten 15 Jahren bedeutend mehr Plätze (um mehr 
als das Sechsfache), als der Zunahme der Bevölkerung 
allein entsprach, geschaffen worden sind. 

Suchen wir nun aber dieses bereits bestehende 
Manquo von 634 abzutragen unter gleichzeitiger Be- 

Üriginal fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1902.J 


rücksichtigung auch der kommenden Bevölkerungszu¬ 
nahme nach dem gleichen Gesichtspunkte, so erhalten 
wir folgendes Ergebniss: 

Bis zum Jahre 1905 betrüge, nach der bisherigen 
Progression gerechnet, die Gesammtbevölkerung un¬ 
gefähr 1947000; die Plätzeanzahl hierfür in Irren¬ 
anstalten nach dem Verhältnisse 2 : 1000 wäre 3894 
oder, wenn wir einmal den Stand der Plätze in den 
Privatirrenanstalten mit 707 als gleichbleibend an- 
nehinen, gegen den jetzigen Bestand ein Mehr von 
792, resp., wenn man die ganze Last der Plätzebe¬ 
schaffung auf diese 5 Jahre häufen würde, eine Be¬ 
reitstellung von 158 neuen Plätzen auf jedes der 5 
Jahre. 

Bis zum Jahre 1910 mit einer wahrscheinlichen 
Landesbevölkerung von dann 2033000 wäre die ent¬ 
sprechende Plätzezahl 4066 d. h. gegen jetzt ein Mehr 
von 964, resp., gleichfalls auf das einzelne der 10 Jahre 
berechnet, eine Anforderung von 96 Plätzen jährlich. 

Auf das Jahr 1915 mit einer approximativen 
Bevölkerung von 2 125000 betrüge die Plätzezahl 
4250 oder gegen jetzt 1148 mehr, resp. auf das 
einzelne dieser 15 Jahre 76,5 Plätze. 

Für das Jahr 1920 schliesslich berechnet, ergäbe 
die Bevölkerung von dann etwa 2 220000 eine Forde¬ 
rung von 4440 Anstaltsplätzen, d. h. gegen jetzt 1338 
Plätze mehr; für jedes dieser 20 Jahre wären somit 
1338: 20 = 67 neue Plätze zu erstellen. 

Aus der vorstehenden Berechnungsweise, welche, 
wie gesagt, einfach die Anwendung des nach stati¬ 
stischen Untersuchungen gefundenen Mindestsatzes von 
2 : 1000 in der Irren Versorgung auf die gesammte gegen¬ 
wärtige und künftige Bevölkerung also einschliesslich 
der nach Regeln der Statistik anzunehmenden Pro¬ 
gression bedeutet, ergiebt sich nun zur Evidenz, dass 
der früher aus den thatsächlichen Entwicklungsmomenten 
unsres Anstaltswesens gewonnene und als maassgebend 
auch für die Zukunft erwiesene Ausdruck des jährlichen 
Mehrbedürfnisses an Anstaltsplätzen, nämlich die Zahl 
80, von den hier erhaltenen Zahlen weit überholt 
wird; wir kommen auf 158 Plätze pro Jahr, wenn 
wir die nach dem Satze von 2 : 1000 bereits fehlenden 
und die der Bevölkerungszunahme bis 1905 entsprechen¬ 
den Plätze Zusammenlegen und dann das Ergebniss 
auf die nächsten 5 Jahre vertheilen, und auf 96 pro 
Jahr zu beschaffende Anstaltsplätze bei der gleichen 
Vertheilung auf 10 Jahre. 

Erst dann können wir unsere Zahl 80 mit den 
hier aufgestellten Forderungen in Einklang bringen, 
wenn wir die Lasten zugleich auf volle 13—14 Jahre 
gleichmässig vertheilen, d. h. auf solange hinaus eine 
jährliche Neubeschaffung von 80 Anstaltsplätzen fest- 

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115 


legen würden. Erst nach dieser Erfüllung, also nach 
1914, w'ären wir auf einem Satze von 2 Anstaltsplätzen 
auf 1000 Einwohner angelangt und würden damit 
in der Irren Versorgung eine ruhigere Zeit, resp. ein 
Anwachsen des Plätzebedarfs allein nach den Be¬ 
dürfnissen der Bevölkerungszunahme d. h. um 37—40 
Plätze jährlich anzunehmen haben. 

Bei dieser ganzen Berechnung haben wir aber 
den Ersatzbau für die alte Pforzheimer Anstalt (650 
Plätze), sowie die Behebung der Ueberfüllung der übrigen 
Anstalten (160 Plätze) noch ganz ausser Acht gelassen. 
Selbstverständlich ist auch diese Schuld noch abzu¬ 
tragen resp. auch diese 810 Plätze in die Summe des 
Bedarfs aufzunehmen. Würden wir die Abtragung 
etwa auf 10 Jahre vertheilen, so hätten wir bis 1910 
statt der obigen 964 nun 1774 neue Plätze zu 
schaffen oder auf 1 Jahr statt 96 nun 177. 

Die Last auf 20 Jahre vertheilt, ergäbe statt der 
obigen 1338 bis zum Jahre 1920 2148 neue Plätze 
oder aufs Jahr statt 67 nun 107, also beidemal be¬ 
deutend mehr als nach der obigen Berechnung und 
auch nach dem Jahre 1920 noch mehr als unsere 
Zahl 80. 

Wenn wir aber nun einmal einerseits für den 
Ersatz dieser 810 Plätze keinen bestimmten Zeitpunkt 
ansetzen und andererseits mit dem jährlichen Satze 
des Plätzemehrbedarfs nicht über die Zahl 80 hinaus¬ 
gehen wollten, so müssten wir, um alle Rückstände 
mit Einschluss der 810 Plätze abzutragen und zu¬ 
gleich die neu auftretenden Bedürfnisse zu be¬ 
friedigen, die Zahl 80 auf ungefähr 33—34 Jahre 
hinaus festlegen d. h. auf solange immer wieder 80 
neue Plätze pro Jahr bereitstellen. Erst nach dieser 
Zeit würde die Bevölkerungszunahme allein maass¬ 
gebend für die fernere Bereitstellung neuer Plätze 
werden. 

Man ersieht daraus, zu welchen Resultaten wir 
gelangen, wenn wir nur das mindeste der heutigen 
Tages von den Irrenärzten aufgestellten Postulate an 
die Plätzeverhältnisse in der Anstaltsversorgung der 
Irren in Ansatz bringen. 

Eine Berechnung nach dem Prozentsätze 3 : 1000 
oder gar 5: rooo ergäbe natürlich noch bedeutend 
höhere Anforderungen. 

Wir kehren aber von diesem Excurs, welcher einen 
Einblick in die von der praktischen Psychiatrie nach 
einschlägigen, gründlichen Untersuchungen aufgestellten 
Forderungen geben sollte, zu unserer, unter Punkt 
2 und 3 gegebenen Darstellung der thatsächlichen 
Entwicklung des badischen Anstaltswesens in den 
letzten 15 und 30 Jahren und des sich daraus für 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. io. 


116 


die Zukunft aufdrängenden Bedürfnisses an die Anstalts¬ 
versorgung der Irren zurück. 

Wir haben dort aus dreifacher Berechnung die 
Zahl 80 als ganz realen Ausdruck für die jährliche 
Anforderung an neuen Plätzen in Irrenanstalten ge¬ 
funden und dieselbe aus der Vergangenheit auch in 
die nächste Zukunft als übertragbar betrachtet, und 
zwar deshalb, weil eben die gleichen Verhältnisse, 
welche die seitherige Steigerung des Plätzebedarfs 
hervorriefen, als treibende Kräfte noch jetzt wirksam 
sind, indem erwiesenermaassen der gleiche Andrang 
von Kranken aus dem Lande zu den Anstalten noch 
fortbesteht und manche unbefriedigte Ansprüche an 
die Irrenversorgung noch zu tilgen sind. 

Wir haben des weiteren gesehen, dass dieser Zahlen¬ 
ausdruck durchaus kein übermässig hoher ist, sondern 
im Gegentheil ein Mindestmaass des Bedürfnisses dar¬ 
stellt und dass erst bei regelmässiger Beschaffung dieser 
Plätzezahl durch eine Reihe von Jahren hindurch ein 
Nachlass der Anforderungen eintreten kann, während 
andrerseits in der fortwährenden Bevölkerungszunahme 
allein an und für sich ein gleichmässig treibendes 
und immer wieder neue Plätze bedingendes Moment, 
wenn auch in gemässigterem Grade (nach Obigem 
handelt es sich um eine steigende Ziffer von 
33—37 u. s. w. neuen Plätze pro Jahr) erhalten 
bleiben wird. 

Mit der Gesammtheit unserer bisherigen Dar¬ 
legungen dürfen wir aber hoffen, den überzeugenden 
Nachweis erbracht zu haben, dass wir dieses Maass 
von für ein Jahr neu zu beschaffenden 80 
Anstaltsplätzen als vollberechtigte und wohl 
fundämentirte Forderung in unser Programm 
aufnehmen dürfen, wenn anders dasselbe in gleicher 
Weise den Verhältnissen der Gegenwart wie den 
Ansprüchen, die die nächste Zukunft stellen wird, 
gerecht werden soll. 

Mit ihrer praktischen Ausführung wird man 
wenigstens im Laufe der Jahre das Ziel, dem unser 
heisses Bemühen gilt, erreichen können. 

Aus dem Vorausgehenden aber dürfte des Weiteren 
zu erkennen sein, dass es einen eigentlichen Stillstand 
in der Anstaltsentwicklung, die ein Kind der aktuellen 
Zeitverhältnisse ist und mit diesen, wie im Besonderen 


mit der Bevölkerungszunahme, Schritt halten muss, nicht 
giebt und nicht geben kann. Wohl aber wird sie in 
ein ruhigeres Fahrwasser gelangen, je mehr wir die 
Aufnahmekapazität der Anstalten und zwar der wirk¬ 
lichen Irrenanstalten, einem gewissen Sättigungspunkt, 
wie er etwa in dem Verhältniss von 2 Anstalts¬ 
plätzen : iooo Einwohnern gegeben zu sein scheint, 
nähern werden. 

Nach dem Gesagten und wenn wir nur mit einer 
ganz allmählichen Einlösung unserer dringendsten Desi- 
derien rechnen, kommen wir somit zu dem Resultate, 
dass: 

1. für den Ersatz von Pforzheim 650 neue 
Plätze anzusetzen sind, 

2. zur Hebung derzurZeit in den staat¬ 
lichen Anstalten bestehenden Ueber- 

füllung 160 neue Plätze und 

3. zurErfüllung der nächsten Zukunfts¬ 
wünsche pro Jahr ein Zuwachs von 80 
Plätzen, d. h. 

bis 1905 = 400 Plätze mehr 

,, 1910 = 800 ,, ,, 

„ I915 = 12(30 

in staatlichen Anstalten erforderlich sein werden. 

Mit Hinzunahme der unter 1 und 2 normirten 
810 Plätze wären somit 


bis 

1905 neu 

zu 

schaffen 

1210; 

» 

1910 „ 

*> 

ft 

IÖIO; 

t » 

1915 » 


tt 

2010; 


1920 „ 

» 

rt 

2410 Plätze. 


Mit der Erfüllung dieser Anforderungen würde 
man dem Bedürfnisse in weitgehender Weise gerecht 
werden und auch der oben aufgestellten psychiatrischen 
Berechnung ziemlich nahe kommen. 


Damit beschliessen wir unsere Darlegungen. Wir 
haben dieselben hier nochmals zum Abdruck bringen 
wollen, weil wir glauben, dieselben könnten allgemeiner 
für die Feststellung der Bedürfnisse der Irren Versorgung 
auch in andern Ländern und Bezirken von Interesse 
werden. 

Der Redaktion der Zeitschrift bleiben wir für den 
zur Verfügung gestellten Raum zu lebhaftem Danke 
verpflichtet. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


1 u n g e n. 

(Bei der rückständigen Auffassung, welche massgebend 
sein wollende Berliner „Autoritäten“ in der Alcoholfrage 
haben, überrascht uns das garnicht. Red.) Die Anstalt 
„Waldfrieden“ ist eine Wohlfahrtseinrichtung des Be¬ 
zirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke 
für Berlin und Umgegend. (Vorsitzender unser Herr 
Mitherausgeber Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Guttstadt- 
Berlin.) Die Oberleitung der Anstalt führt Stadtrath 
Dr. med. Wald Schmidt, Arzt der Anstalt ist Dr. 
Jacke. Eine kurze Beschreibung der Anstalt führt 
Folgendes aus: „Demnach (d. h. wegen des Characters 


— Die Trinkerheilstätte „Waldfrieden“ bei 
Fürstenwalde a. Spree, welche am 31. December igoi 
ihr erstes Betriebsjahr vollendete, hat ihren ersten 
Bericht ausgesendet. Es wurden bis dahin (Eröffnung 
im Juli 1900) 86 Kranke aufgenommen, davon 63 
entlassen, nämlich 22 geheilt, 12 gebessert, 17 un- 
geheilt; 8 wurden wegen ihres Verhaltens gegen die 
Hausordnung entlassen, 1 wegen Siechthums in ein 
Krankenhaus, einer in eine Irrenanstalt; einer kehrte 
in die Anstalt zurück. Obgleich alle Aufgenommenen 
ausnahmslos beim Eintritt sofort abstinent gehalten 


wurden, brach doch bei keinem das Delirium aus; 
dabei wurden fast alle direct von der Strasse her, zum 
Theil in einem unglaublichen Zustande eingeliefert. 
Mehrere der Entlassenen haben sich naehgewiesener- 
massen bereits länger als ein Jahr vollständig frei 
von Alcohol gehalten. Leider verliessen manche 
Patienten vorzeitig gegen ärztlichen Rath die Anstalt; 
Mittel, einen Trunksüchtigen in letzterer zurückzuhalten, 
giebt es nicht, und in den beiden Fällen, wo es 
wegen bereits erfolgter Entmündigung möglich gewesen 
wäre, war es nutzlos, denn diese Fälle waren unheilbar. 
Weise Gesetzgebung! Auch wird beklagt, dass die 
Verwaltungen bezw. Armendirectionen noch zu wenig 
oder garnicht von der Anstalt Gebrauch machen. 
„Gleichfalls erfolglos und auch ohne Antwort 
blieben unsere Gesuche an die Directioncn 
säm mtlichcr Krankenanstalten Berlins“. 


der Wohlfahrtseinrichtung) kommen Einnahmen, die 
dem Unternehmen zufliessen, der Anstalt und ihren 
Pfleglingen zu Gute, etwaige Ueberschüsse der Betriebs¬ 
kosten werden für Freibetten oder zur Unterstützung 
hilfsbedürftiger Familien der Kranken oder dieser selbst 
nach ihrer Entlassung verwendet werden. 

Die Anstalt ist für solche männliche Kranke be¬ 
stimmt, deren Zustand Heilung, also die Wiederer¬ 
langung ihrer geistigen und körperlichen Kräfte, sowie 
ihrer früheren Erwerbsfähigkeit erhoffen lässt. 

Die ärztliche Ueberwachung und Behandlung der 
Kranken ist ausreichend vorgesehen; ebenso ist für 
die seelsorgerischc Thätigkeit in der Heilstätte gesorgt. 

Die Heilstätte ist 3 Kilometer von Fürstenwalde 
(Vorortstation zwischen Berlin und Frankfurt a. d. 
Oder, von hier wie dort in ca. 40 Minuten zu er¬ 
reichen) an der Chaussee nach Steinhöfel gelegen. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io. 


Auf dem 43 V 3 ha oder 170 Morgen grossen Grund¬ 
stück ist ein Hauptgebäude neu erbaut, welches nach 
Norden, der Chausseeseite, durch einen breiten Wald¬ 
streifen gedeckt ist, nach Südost einen prächtigen 
freien Blick auf die in weitem Umkreise mit Wald 
begrenzten Aecker und Wiesen bietet. Die Lage ist 
durch ihre völlige Abgeschlossenheit bei relativ leichter 
Erreichbarkeit für den Zweck der ärztlichen Behand¬ 
lung von Trunksüchtigen eine besonders günstige zu 
nennen. Das Ganze bietet einen reizvollen Land¬ 
aufenthalt. 

Das Anstaltsgebäude liegt mit seiner Längsachse 
von Nordost nach Südwest, also mit seinen Breit¬ 
seiten nach Südost und Nordwest; die erstere bildet 
die Hauptfront, während der Haupteingang an der 
Nordwestseite sich befindet. Es enthält in Folge dieser 
Lage keinen Raum, der nicht dem directen Sonnenlicht 
zugänglich ist. Der Bau ist im Ziegelrohbau ausgeführt 
und besitzt ein Kellergeschoss, ein Erd- und ein Ober¬ 
geschoss. Das Kellergeschoss, das übrigens ganz zur 
ebenen Erde liegt, enthält die Wohnung des Hausvaters, 
2 Dienstbotenzimmer, die Küche, die Vorrathsräume, 
den gemeinschaftlichen Speisesaal und das Billardzimmer. 
Das Erdgeschoss enthält einen Aufenthaltsraum mit 
grosser gedeckter Veranda, ein Bureau, ein Warte¬ 
zimmer, 2 Arztzimmer, 6 Krankenzimmer mit je 3 
Betten und 3 Krankenzimmer mit je 1 Bett. In dem 
Obergeschoss befinden sich 3 Einzelzimmer, 7 drei- 
bettige und ein fünfbettiger Krankenraum mit grosser 
Terrasse. In jedem der beiden Stockwerke befinden 
sich Closet, Bade- und Wirthschaftsraum, wie je ein 
Zimmer für 2 Wärter. Die einzelnen Stockwerke 
sind durch ein breites Treppenhaus mit einander ver¬ 
bunden. Das Ganze wird von einem grossen Boden 
überdeckt. In den Einzelzimmern beträgt der Luft¬ 
raum mindestens 35 Kubikmeter; in den mehrbettigen 
Räumen kommen mindestens 27 Kubikmeter Luft¬ 
raum auf ein Bett. Die Heilstätte kann 50 trunk¬ 
süchtige Männer aufnehmen. 250 Meter entfernt vom 
Hauptgebäude und mit diesem durch einen Weg ver¬ 
bunden liegt das Wirtschaftsgebäude, das ebenfalls 
in Ziegelrohbau errichtet ist. Der das Grundstück 
begrenzende eigene Wald und die sich anschliessenden 
Gemeindewaldungen bieten der Anstalt nicht nur 
Schutz, sondern auch andere Annehmlichkeiten, sodass 
die Lage der Anstalt hervorragend gesund und schön 
genannt werden kann. 

— Die diesjährige Versammlung des Vereins 
nordostdeutscher Psychiater findet am 7. Juli 
in Danzig statt. 

— Der Resolution des deutschen Reichstags, die 
verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigst einen 
Gesetzentwurf vorzulegen, welcher die Grundsätze 
feststellt, wodurch die Aufcnthaltsverhältnisse und die 
Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten, 
sowie die Entlassung aus denselben reichsgesetzlich 
geregelt werden, hat nunmehr der Bund esrath zu¬ 
gestimmt, was wir mit besonderer Freude begrüssen. 

— Berlin. Die städtische Deputation für die 
Irrenpflege beschäftigte sich in ihrer letzten Sitzung 
mit dem Anträge zwei neue Irren-Anstalten zur Auf¬ 
nahme pflegebedürftiger Kranker zu errichten. Vor 


einigen Jahren genügte für Berlin die Anstalt Dalldorf 
noch vollständig zur Aufnahme der städtischen, einer 
Anstaltspflege bedürftigen Kranken. Als sich dann 
eine Zunahme dieser Kranken bemerkbar machte, 
wurde Dalldorf, wo jetzt durchschnittlich rund. 3000 
Irre und Idioten behandelt werden, vergrössert und 
Herzberge gebaut. Auch diese Anstalt, die sich in 
Lichtenberg befindet, musste bald vergrössert werden. 
Es werden dort durchschnittlich rund 1800 Kranke 
behandelt, davon befinden sich stets eine geringere 
Zahl in Familienpflege und in Privatanstalten. Eine 
dritte, bedeutend grössere Anstalt ist in Buch an der 
Stettiner Eisenbahn im Bau begriffen. Sie geht in 
nächster Zeit ihrer Vollendung entgegen. Da sich in 
der letzten Zeit die Anmeldungen geisteskranker, einer 
Anstaltspflege bedürftiger Personen vermehrt haben 
und eine Abnahme kaum zu erwarten ist, so hat die 
Deputation für die städtische Irrenpflege beschlossen, 
den Gemeindebehörden den Bau von zwei neuen 
Irren-Anstalten vorzuschlagen und diesen Antrag damit 
zu begründen, dass die Irrenanstalt Buch nicht genügt, 
auf Jahre hinaus die steigende Zahl von geisteskranken 
und pflegebedürftigen Personen aufzunehmen. 

— München. Nach dem Vorbild der in Berlin, 
Augsburgerstrasse 62 und Lessingstrasse 46, unter 
Aufsicht der Herren Geheimräthe Prof. Dr. Eulenburg 
und Ewald neuerrichteten Institute für Behandlung 
von Nervenkrankheiten, ist nunmehr auch in München 
eine Station vorgesehen, die, unter Aufsicht des Herrn 
Universitätsrath Prof. Dr. Jos. von Bauer, von den 
Nervenärzten Drs. F. C. Müller und Hoeflmeir geleitet 
wird. Das Institut wird in dem neuen Sanatorium 
von Dr. Ammann, Königinnenstrasse 14, untergebracht 
werden. 

— Königsberg. Eine neue Nervenheil-Anstalt 
wird demnächst in dem idyllisch gelegenen ehemaligen 
Adl. Gut Speichersdorf, dessen herrliche Parkanlagen 
wie dazu geschaffen sind, eröffnet werden. Der zeitige 
Besitzer des Grundstücks und Erbauer der Anstalt 
ist Director Nischik. Für die Stelle des technischen 
Directors ist, wie wir hören, eine Kapazität auf dem 
Gebiete der Nervenheilkunde, Dr. Steinert gewonnen 
worden. Die Bauleitung befindet sich in den Händen 
des Baumeisters Pflaum hier, aus dessen Atelier auch 
die Pläne für die umfangreiche Anlage hervorgegangen 
sind. Die Anlage und Einrichtung der Anstalt soll 
in jeder Hinsicht den Ansprüchen der Neuzeit Rechnung 
tragen und sie wird mit allem Komfort ausgestattet 
werden. 

— Ein verhungerter Geisteskranker. Zu 

Beginn dieses Jahres ist in . einem oberpfälzischen 
Dorfe ein Ortsarmer verhungert. Die Angelegenheit 
bildete den Gegenstand einer Verhandlung vor der 
Strafkammer in Amberg. Ueber den Sachverhalt be¬ 
richten die „Berl. Neuest. Nachr.“ folgendes: Die Ge¬ 
meinde des Pfarrdorfes Neukirchen bei Schwandorf 
besass einen epileptischen, geistesschwachen Orts¬ 
angehörigen, den zwanzigjährigen Max Graf. Dieser 
war bis vor kurzem in der Anstalt Reichenbach ge¬ 
wesen. Dann aber erschien der Gemeinde der jähr¬ 
lich aufzuwendende Unterstützungsbeitrag von 200 
Mark zu hoch. Der junge Mann wurde aus der 


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Original frnm 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Anstalt genommen und ins Ortsarmenhaus geschafft. 
Damit glaubte man aber genug gethan zu haben. 
Der arme hülflose Geistesschwache wurde, obwohl 
er sich nicht einmal mehr selbst bedienen konnte, 
seinem Schicksal überlassen. Niemand kümmerte sich 
um ihn, weder seine Mutter noch die einzige Mitin¬ 
sassin des Armenhauses, eine ortsarme ältere Frau, 
noch die Gemeindebehörden. Es soll nicht einmal 
ein Lager für ihn vorhanden, noch weniger aber 
trotz der Winterkälte für Heizung gesorgt gewesen 
sein. Weithin schallten in den ersten Tagen des 
neuen Jahres die Jammerrufe des Bedauemswerthen, 
aber auch das veranlasste niemand, sich seiner anzu¬ 
nehmen. Schliesslich verstummten die Klagen des 
armen Menschen. Er wurde eines Tages, in einem 
Winkel des Armenhauses zusammengekauert, todt 
aufgefunden. Er war verhungert. Die Gemeinde 
wollte ihn kurzer Hand beerdigen. Da erschien infolge 
einer bei der Gendarmerie erfolgten Anzeige eine 
Gerichtscommission im Orte und nahm eine Unter¬ 
suchung vor. Die Obduction der Leiche durch den 
Landgerichtsarzt ergab, dass der Magen vollständig 
leer gewesen war; in den Eingeweiden fanden sich 
Ueberreste von Tuch und Getreidekörnern vor. Beide 
Beine waren erfroren. Der Körper war zu einem 
Skelett abgemagert und mit Ungeziefer bedeckt. 
Infolgedessen hat die Staatsanwaltschaft gegen die 
für das Vorkommniss verantwortlichen Personen, 
denen die Fürsorge für den völlig hülflosen Menschen 
oblag, Anklage wegen fahrlässiger Tödtung erhoben, 
und zwar gegen den Pfarrer Bergler, den Bürger¬ 
meister des Ortes, den früheren Centrumsabgeordneten 
im bayerischen Landtage, Martin Lautenschlager, den 
Armenpflegschaftsrath Trettenbach, den Ortsführer 
Moritz und den Gemeindediener Kagerer. Die Straf¬ 
kammer hat den Pfarrer Bergler zu acht Tagen Ge- 
fängniss, den Bürgermeister Lautenschlager zu drei 
Monaten und den Armenpflegschaftsrath Treffenbach 
zu einem Monat Gefängniss verurtheilt Der Orts¬ 
führer Moritz und der Gemeindediener Kagerer wurden 
freigesprochen. 


Referate. 

— The Journal of Mental Science. April 
I qo i. (Schluss.) 

Joseph Shaw Bolton bringt eine sogenannte vorläu¬ 
fige Mittheilung über krankhafte Veränderungen bei der 
Dementia. Er hat 6 Hinterhauptlappen mikroskopisch 
durchforscht. Hier sollen nämlich weniger grobe Ver¬ 
änderungen Vorkommen wie in den Stimlappen. Er 
fand, i) dass die Dicke der Pyramidenzellenschicht wech¬ 
selt mit dem Grade der Amentia oder Dementia, und 
2) dass die mikroskopisch nachgewiesenen krankhaften 
Veränderungen von dem Grade der Dementia allein 
abhängen, dagegen unabhängig sind von der Dauer 
der Geisteskrankheit. 

Wiglesworth erzählt einen Fall von reinem Mord¬ 
impuls. Als Direktor hatte er zwei geisteskranke Frauen 
in seinem Haushalte beschäftigt. Die H. hatte ver¬ 
schiedene Grössenideen und war eine harmlose Person. 
Die Gr., 28 Jahre alt. Rekonvaleszentin, war vor einigen 
Monaten aufgenommen worden. Sie war damals sehr 

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deprimirt, zurückhaltend, schweigsam und verrieth 
einige unbestimmte VergiftungsVorstellungen. Zur Zeit 
schien sie gesund und war schon überall in der Anstalt 
beschäftigt worden. Eines schönen Morgens wurde 
Verf. durch Gekreisch und Schreie vom Frühstück auf¬ 
geschreckt und wie er die Treppe hinaufeilte, sah er 
die Gr. auf der H. knieen und sie im Nacken mit einem 
Tischmesser bearbeiten. Er riss die Mörderin weg, 
die alsdann in einen anstossenden Gang lief. Die 
Wunde erwies sich später als tödlich, da die Vertebralis 
durchschnitten war. Einige Stunden später inquirierte 
Verf. die Gr. Er konnte keine Wahnideen und keine 
Sinnestäuschungen bei ihr nachweisen. Sie zeigte sich 
etw'as erregt, war aber in ihrem Reden vernünftig und 
zusammenhängend. Sie sagte aus, w’as sie schon vor¬ 
her der Oberwärterin gegenüber geäussert hatte, sie 
sei diesen Morgen in einer verzweifelten Stimmung 
aufgestanden und habe den unbestimmten Drang ge¬ 
fühlt, jemanden zu töten Möge kommen was wolle, 
sie müsse jemanden den Hals abschneiden. Sie habe 
nichts gegen die H. gehabt. „Das arme Ding“ thue 
ihr leid. Sie habe sie nur angefallen, weil sie ihr eben 
zuerst begegnet sei. Das Messer hatte sie sich aus 
einem Schrank zu verschaffen gewusst. Der Oberwär¬ 
terin erzählte sie noch am gleichen Abend auf ihre 
Fragen, sie habe vor 14 Tagen denselben Drang in 
sich gespürt zu töten. Sie arbeitete damals auf einem 
Korridor der Abtheilung und wusste sich ein Messer 
zu verschaffen, das sie unter der Schürze verbarg. 
Darauf lief sie einem der Dienstmädchen nach, mit der 
Absicht, es ihr in den Nacken zu stossen. Zufällig 
kam ein andres Dienstmädchen dazwischen, worauf 
sie von ihrem Vorhaben abstandund das Messer wieder 
an seinen Platz legte. Sie setzte dann ihre Arbeit fort, 
und der Drang schwand allmählich. Ein ähnlicher 
Vorfall habe sich einmal in der Küche abgespielt. Sie 
erzählte alles ganz trocken und verrieth nicht die ge¬ 
ringste Spur von Gewissensbissen. Nach 24 Stunden 
wurde sie mürrisch und schweigsam. Nach 2 Tagen 
wurde sie erregt und hysterisch und als sie vom Ge¬ 
richt verhört werden sollte, begann sic zu singen, richtete 
unverschämte Bemerkungen an einen der Zeugen, wurde 
schliesslich ohnmächtig und kümmerte sich nicht weiter 
mehr um die Vorgänge. An jenem Morgen w ar die Men¬ 
struation eingetreten. Da sie weiter s« hwatzte von 
Mord, Halsabschneiden und sehr erregt w^ar, kam sie 
nach Broadmoor. 

Eltern blutsverwandt, abnorm. Geisteskrankheiten 
in der Familie. Die Gr. hatte mit 9 Jahren mit einer 
Kanne einen Schlag auf den Kopf erhalten. Seitdem 
„Anfälle“. Ruhig, zurückhaltend, fromm. Neuralgie. 
Zeitweise Trunk. Ihr Aufenthalt schwankte zwischen 
Freiheit, Irrenanstalt, Arbeitshaus, Mädchenheim. Eine 
Oberin schilderte sie als trunk- und streitsüchtig. In 
der Irrenanstalt wechselte Schweigsamkeit mit Erregt¬ 
heit. Es fehlte ihr die Selbstbeherrschung. Manchmal 
w r ar sie gewaltthätig, zerriss, warf sich auf den Boden, 
behauptete Kinder schreien zu hören. Sie hatte auch 
schon scheinbare Selbstmordversuche gemacht. 

Verf. schliesst mit Recht, dass es sich hier um eine 
degenerierte und erblich belastete Person handle. Der 
Fall verliert aber doch etwas von seiner Kuriosität, 
wenn man bedenkt, dass der Mordimpuls durchaus nicht 

Original from 

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I 2o 


IhSYCHlATRLSGH-NFAJROLOGLSCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io. 


als isolierte Erscheinung dastcht, ohne ursächlichen Zu¬ 
sammenhang, vielmehr lässt er sich hier in das Symp- 
tomenbild der auf degenerativer Basis beruhenden 
schweren Hysterie einreihen. Man braucht nicht mit 
Ycrf. nach dem Atavismus hinüber zu schicken, oder 
sonstige gezwungene Erklärungsgiünde zu suchen. So 
etwas würde auch kaum einem Richter einleuc hten, 
wenn es sich um einen forensischem Fall handelte. 
Der bei diesen Impulsen sich abspielende (iehirnmec ha- 
nismus bleibt uns allerdings verborgen, man kann 
eben einen solchen Fall nur an der Hand bekannter 
Erfahrungstatsachen erklären. 

Arthur Wileox beschreibt einem Fall von „akuter 
Melancholie“ bei Zwillingen. Es waren zwei ledige 
Frauenzimmer, 47 Jahre alt, ohne erbliche Belastung. 
Der Tod ihres vor kurzem verstorbenen Vaters soll die 
Ursac he ihrer Geisteskrankheit gewesen sein. Sie er¬ 
krankten fast zur selben Zeit an „akuter Melancholie“. 
Sie machten Selbstmordversuche, waren erregt und 
unruhig. Ihre Reden und Gebärden glichen einander 
auffallend. Die eine hielt sich für das schlechteste 
Weil», sie habe ihre Schwester geisteskrank gemacht. 
Die andre sc hwätzte und machte' ihr alles nac h. Thr 
Geschwätz und Benehmen war erotisc h und ohseön. 
In der Anstalt Hess man sie einige Tage beisammen, 
aber auch, als sie getrennt worden waren, war das 
Krankheitsbild bei beiden fast das gleiche. Ruhigere 
Zeiten bei Arbeit wechselten mit den geschilderten Zu¬ 
ständen. Merkwürdig an den beiden Fällen ist die 
Diagnose: „akute Melancholie“. Hysterie wäre wohl 
besser gewesen. 

Um Golgi-Präparate dauerhaft zu machen, haben 
Robertson u. Macdonaldje eine Methode'erfunden. 
Mit dem nac h der Modifikation von C'ox behandelten 
Präparaten wird so weiter verfahren: I. Nach der Meth« »de' 
von Roberts» »n : 1) Die Sc hnitte I 5 Minuten in eine ge¬ 
sättigte Lithiumkarbonatlösung legem. 2) Rasch ab- 
spi'ilcn. 3) 1—2 Tage in gleic he Theile einer 1 °/ 0 
Kaliumchlorplatinlösung und einer ic >°! u Citn »nensäure- 
lösung legen. Die Lösungen müssen frisch sein. Im 
Dunkeln aufbewahren, dann 4) 1 —2 Stunden ins 

Wasser, bei mindestens zweimaligem Wechsel der 
Wassers. 5) Dann 5 Minuten in gleic he Teile eines 
mit Jod gesättigten i°/ 0 |odkaliumlösung und Wasser, 
ü) In Wasser waschen. 7 ) 5 Minuten in ein Wasserglas 
legen bei Zusatz von 2 3 Tropfen Ammoniak. 8) 

In Wasser waschen, o) In absoluten Alke ►hol, in Benzol, 
in Benzolbalsam. Deckglas. II. Nach der Methode 
von Macdonald: Die nach Cox imprägnierten Ilewebs- 
stiieke über Nacht in eine reichliche Menge destillierten 
Wassers legen. Dann eine halbe Stunde in rektifizierten 
Spiritus. Darauf mit dem Mikrotom*.) schneiden, jedem 
Schnitt in ein Uhrglas mit rektifiziertem Spiritus legen. 
Den untern mit dem Anisöl in Berührung gekommenen 
Theil des Gewebsstückes nicht benutzen. Nun die 
Schnitte 1) aus dem rektifizierten Spiritus in destilliertes 
Wasser legen. 2) 24 Stunden in Lösung X. luncl 2. 
a ) Lösung N. 1: 1 n / 0 Kaliuim hlorplatinlösung. 
b) ., N. 2 : Unterschwefligsaures Natrium 40,5g 

1 Wo 

'*) Mit dem Mikrotom von Cathcart nach Coats’ Methode 
sehnei»len. 


Schwefligs. Natrium 23,25g ( 3 / 4 ozi 
Chlorsaures ,, 7,75 g ( l ( 4 < »z i 

Destilliertes Wasser 0.3 1 (10 Fluid- 
»uinces) 

3) Dann 2 Minuten in Salzsäure 1:80. 2— : 3mal 
wiederholen. 4) 10 Minuten in Losung X. 2. 5) Da¬ 

rauf in gleiche Theile einer 1 ü () spirituösen Jodlösung 
und destillierten Wassers, bis die Schnitte wie die 
Lösung gefärbt sind. 6) 10 Minuten in Lösung N. 2 
aufhellcn und fixieren. 7) 2 Stunden in viel destil¬ 
liertes Wasser legen. 8) In Alkohol absolutus, in Benzol, 
in Benzolbalsam, Deckglas. Die Schnitte sollen je¬ 
weils mit einem Pinsel oder Federkiel, nicht mit einem 
metallenen Instrument, herausgen«»mmen werden. — 
Kleinere Bemerkungen. 

Seit das Trunksuchtsgesetz am 1. Jan. 1899 in 
Kraft getreten ist, mac ht man sich eifrig an die Erric htung 
v»tfi Trinkerheilanstalten. Im gemannten Jahre wurden 5 
Erlaubnissscheine hierfür ertheilt. Indessen wurden im 
Laufe des Jahres nur 88 Kranke verpflegt, eine sehr 
geringe Zahl. Viele von diesen Fällen waren zwar 
nicht eigentlich geisteskrank, aber doc h Grenzfälle. 

I11 den Irrcnabtheilungen der Arbeitshäuser 
waren verschiedene Todesfälle vorgekommen, die eine 
gerichtliche Untersuchung nach sic h zogen. Das Resul¬ 
tat scheint gewesen zu sein : Nichts gewisses weiss man 
nicht. Abgesehen von Todesfällen ist das Leben in 
cliesc*n Abtheilungen reich an sogen, bedauerlichen 
Zwisc henfällen. Das Personal ist spärlic h und unaus- 
gebildet, die Aerzte haben viel zu tliun, sind schlecht 
bezahlt, keine Fachmänner, ihr Einfluss ist fast Null. 
Diese Irrenabtheilungen der Arbeitshäuser sc heinen die 
reine Ka rikatur einer modernen Irrenanstalt zu sein. 
Sie gleic hen in dieser Beziehung vielfach unsern Sie- 
chenhäusern und Kreispflegeanstalten, wo man auch alles 
mögliche und unmögliche zusammensperrt. Allerdings 
dürfen diese bei uns keine frischen Fülle autnehmen. 

In Irland will man jetzt das scheine Beispiel von 
Sc hottland nachahmen, das in Edinburgh ein C entral- 
laboratori um für seine Irrenanstalten errichtet hat. 

Da wir bei den Lesern ein grosses Interesse für 
Pensionierungen v< »raussetzen , lassem wir die Pensio- 
nierungsliste von 1 S<|2 an folgen. ( >b die meistens wegen 
ill health Peiisi» »liierten alle Direkt» »ic*n waren, können 
wir nic ht sagen, nur bei N. 7 heisst s: Assistant me¬ 
dical officc t, also Assistenzarzt. Wir gratulieren ! 



Alter 

Dic'nstzeit 

Gehalt 


Theil dc's 

Nr. 

Jahre 

Monat«' 

in Pfund 

Pension 

(ichaltes 

1 

5 b 

25 

— 

1 OC )C ) 

400 

24 / 

/t;o 

j 

üb 

4 ° 


1 250 

071 

3 - 2 / 

/KO 

5 

51 

20 

5 

1000 

880 

21/ 

/k.» 

■1 

05 

4 () 

— 

780 

8 ° 7 

31 » 

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1440 

840 

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Erscheint ieden> Sonnabend -1- s« 

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Schluss der Insrmtennnnahine 3 Tagt* vor der Ausualu*. — V 
Hevneraann’sche Jtuchdruckerei (Cicbr. WoiH) in Hall«; 


l\ 1-is« lin 1 1 /. ( li rsienj. 

’rlae von Carl Marholdin Halle a. S 

. s ungirarfrcm 


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Psychiatrisch ^Neurologisebe 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

harausgegeben von 

Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttstadt, 


(Jrhtapnnge (Altmark). 

Graz. 

Zünrh. 

Frankfurt a. M. Geh. Med.-Ratb, Barlin. 


Prof. Dr. E. Mendel 

Dr. P. J. Möbius, 

Director Dr. Morel, 


Berlin. 

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Mons (Belgien.). 


Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlasian). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 11 . 14 - Juni. 1902. 

Oie ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden flir die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten 

Inhalt. Originale: Ueber periodischen Wahnsinn. Von Prof. Bleuler, Burghölzli (Zürich) (S. 121). — Mitteilungen (S„ 127). 


Ueber periodischen Wahnsinn. 

Von Prof. Bleuler , Burghölzli (Zürich). 


nter dem Namen p c r i < ul i s c h e s Irresein 
fasste K rüpelin vor b Jahren eine Anzahl 
Krankheiten zusammen, deren gemeinsame Symptome 
folgende waren: Verlauf in Anfällen; in den Zwischen¬ 
zeiten keine eigentliche (progressive) Verblödung, 
wenn auch Gemüthslabilität und Neigung zu einer Art 
transitorischer andeutungsweiser Schwankungen im 
Sinne der eigentlichen Anfälle recht deutlich ist; in 
den Anfällen manischer und melancholischer Symp- 
tomenkomplcx (d. h. gehobene Stimmung, Ideenflucht, 
Bewegungsdrang einerseits, Depression, Hemmung der 
Assocationen und Motilität andererseits; daneben aueli 
gemischte Gruppirung dieser Einzelsvmptomc); Ab¬ 
wesenheit der für andere Krankheiten charakteristischen 
Symptome: primäre Orientimngsstörungen, katatonc, 
paralytische Symptome, (primäre) Gedächtnisstörungen 
etc. Hallueinationcn oder Wahnideen können wie bei 
allen andern Psvchosen hinzutreten, sind aber nicht 
nothwendig. 

Zu dieser Gruppe gehörte das cyclische Irresein, 
die periodische Melancholie und Manie, alle reinen 


Manien und rein melancholischen Zustände (mit Aus¬ 
nahme der Involutionsmelancholie), ob sie sich nun 
häufiger wiederholten oder nicht. 

Diese Aufstellung begegnete starkem Widerspruch, 
der aber immer in einen Woitstreit auslief, indem 
man behauptete, ein Theil dieser Störungen könne 
unmöglich als „periodisch“ bezeichnet werden. 

So taufte Kräp eli n die Gruppe in der folgenden 
Auflage seines Lehrbuches um in manisch-depres¬ 
sives Irresein. 

Nach meinen Erfahrungen entspricht die Darstellung 
Kräpelins vollständig den Thatsachen. 

Einen symptomatologischen Unterschied zwischen 
einfacher und periodischer Manie, einfacher und 
periodischer Melancholie, zwischen diesen Gruppen 
und denen mit gemischten Anfällen, handle es sich 
um einen regelmässigen Cyclus oder um unregel¬ 
mässige Schwankungen, konnte ich nie entdecken. 
Die Krankheiten gehen kontinuirlich in einander über, 
wenn auch bei dem einen Patienten Vorliebe zu 
manischen, beim andern Vorliebe zu melancholischen 


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Original fr&m 

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122 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. ii. 


oder zu cyclischen Anfällen vorherrscht. Wenn man 
ein ganzes Leben übersehen kann, so fehlen unter 
vielen Anfällen gleichen Charakters selten einige anders 
geartete; der periodische Maniakus hat einzelne me¬ 
lancholische Anfälle durchgemacht, der Melancholische 
wird gelegentlich einmal manisch, ein regelmässig ab- 
laufcnder Fall wird unregelmässig u. s. w. 

Sogar die Heredität, die sich von der Heredität 
bei andern Geisteskrankheiten unterscheidet, ist allen 
Formen gemeinsam, wenn auch (wie beim einzelnen Indi¬ 
viduum) die Familienanlage bald die melancholischen 
Störungen bald die manischen Aufregungen bevorzugt. 

Kräpelin hat es aber unterlassen, ausdrücklich 
darauf hinzuweisen, dass auch „Wahnsinnsformen“ 
(Vesania) Vorkommen können, obgleich seine Be¬ 
schreibung zeigt, dass er solche Fälle gesehen haben 
muss. Der Name „manisch-depressives Irresein“ 
scheint Anfälle ohne primäre Geftihlsstörung geradezu 
auszuschliessen. 

M i t d e m Worte „ W a h n s i n n “ o der — weil 
das zu diesem Worte gehörige Adjektiv 
schon vergeben ist — „Vesania“ soll hier 
ein Krankheitsbild (nicht eine Krank¬ 
heit) verstanden sein, das charaktcrisirt 
i s t d u r c h Störungen auf intellektuellem 
Gebiet und Zurücktreten oder Fehlen von 
Anomalien des Gemiithcs. 

Der Wahnsinn in diesem Sinne bildet einen Gegen¬ 
satz zu den manisch-depressiven Krankheitsbildern. 
Durch Hinzutreten von manischen oder melancho¬ 
lischen Symptomen in verschiedenstem Grade lun- 
sichtlich der Dauer und Intensität derselben können 
diese vesanischen Formen durch den „melancholischen 
Wahnsinn“ und den „manischen Wahnsinn“ in den 
manischen respective melancholischen Zustand über¬ 
gehen. Gerade wie das manische und das melan¬ 
cholische Zustandsbild kommt auch das vcsanische bei 
den verschiedensten Krankheiten vor, mischt sich dann 
aber mit den specifischen Symptomen dieser Psychosen 
(Paralyse, Dementia praecox u. s. w.), 

Im Wahnsinn selbst haben wir zwei Haupt¬ 
gruppen zu unterscheiden: Diejenigen mit Vor¬ 
wiegen der Halluzinationen und diejenigen 
mit blosser oder vorwiegender Wahn bi 1- 
d u n g. Da dieselben sogar beim einzelnen Patienten 
ganz fliessend in einander übergehen, werden sie 
unter jenem Namen hier zusammengefasst. 

Die halluzinatorische Form ist in etwas anderer 
Abgrenzung unter verschiedenen Namen bekannt, von 
denen Amcntia und Delirium halluzinatorium 
hier angeführt werden mögen. Die einfache Form — 
oder auch die ganze Gruppe — wurde auch als acute 

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Paranoia bezeichnet. Da der letztere Ausdruck für 
einen andern Symptomencomplex — nach Kräpelin 
für eine andere Krankheit — schon längst ver¬ 
geben ist, werden wir ihn hier vermeiden. Die Pa¬ 
ranoia im Sinne Kräpelins ist trotz der äusseren 
Aelmlichkeit nicht nur durch den chronischen Verlauf, 
sondern auch durch die Art der Associationsstörungen, 
der Gemüths- und Motilitätsaffection toto coclo von 
dem Wahnsinn verschieden. 

Keine Rücksicht w'ird im Folgenden darauf ge¬ 
nommen, ob Verworrenheit und Traumzustand 
(Dämmerzustand) dabei sei oder nicht. Verworren¬ 
heit entsteht aus den allerversehiedensten Störungen: 
Fast jede Art von Associationsstörung führt zu diesem 
Bilde, wenn sie hochgradig ist; massenhafte Hallu- 
cinationen erzeugen sic ebenfalls. Was das Wesen 
des Traumzustandes ausmacht, ist uns noch nicht 
klar; die Begriffe der Einengung des Bewusstseins, 
der ungenügenden Auffassung oder Verarbeitung der 
Sinneseindrücke u. s. w. befriedigen unser Erklärungs- 
bedürfniss nicht recht. Es kommt hinzu, dass beim 
gleichen Kranken wie von einem Fall zum andern 
Verworrenheit und Traumzustand bald fehlen, bald 
vorhanden sind, so dass ihre Bedeutung für unsere 
Betrachtung eine sekundäre zu sein scheint. 

P e r i o d is c h e r W a h n s i nn ist unter verschie¬ 
denen Namen schon mehrfach beschrieben worden, 
ich nenne nur S pi e 1 m a n, K i r n, M c n d e 1 , M e s c h cd e, 
Bechterew', Pilcz, Koppen*). 

Alle diese Autoren lassen aber die nosologische 
Stellung dieser Krankheitsbilder im Unklaren. Der 
engere Begriff der periodischen Störung kann eben 
nur theoretisch abgegrenzt werden; in praxi, rcisst 
er Zusammengehöriges auseinander und bringt ganz 
verschiedene Dinge zusammen. Verlangt man mit 
Pilcz eine ziemlich regelmässige Wiederholung der 
Anfälle und eine ziemliche Gleichheit der verschiedenen 
Anfälle beim nämlichen Individuum, so werden wenige 
Krankheiten, die viele Jahrzehnte beobachtet sind, 
hieher gezählt werden dürfen. Nicht einmal die Epi¬ 
lepsie, die doch nach Manchen den Namen einer 
periodischen Störung vollauf verdient, könnte man oft 
hieher rechnen. 

Ich möchte nun durch einige Beispiele zeigen, 

*) Mendel. Allg. Zcitschr. für Psych. Bd. 44, pg. 617. 
Ziehen. Monatsschr. für Psych. und Neurol. Bd. III pg. 30. 
Meschede. De le paranoia periodique XIII, Congr. intern, de 
Paris 1900, p. 140, und Skierlo, Ueber period, Paranoia. Diss. 
Königsb. 1900. Bcchterewc Ueber period. acute Paranoia Sim¬ 
plex als besondere Form periodischer Psychosen. Monatsschr. 
für Psych. und Neurol. 1899. Pilcz. Die period. Geistes¬ 
störungen, Wien 1901. Pick, Berl. Klin. Wochenschr. 1899. 
Koppen. Neurol. Centr.-Bl. 1899, S. 434. 

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iQ02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 123 


dass der „periodische Wahnsinn“ eine Untergruppe 
des manisch depressiven Irreseins bildet und dass 
die Kenntniss dieser Formen vor der Annahme heil¬ 
barer chronischer Paranoia schützt und in manchen 
einzelnen Fällen eine richtige Prognose erlaubt, die 
sonst nicht gestellt werden könnte*). 

Fall I. 

Bäuerin, geb. 1827. Ein Stiefbruder hatte mehrere De¬ 
zennien lang manische Anfälle, in den letzten Lebensjahren 
dazwischen einige depressive Anfälle. 

Patientin war von 1863 an dauernd wegen periodischer 
Manie in der Irrenanstalt. Anfälle reiner Manie meist etwa 
alle zwei Jahre, mehrere Monate dauernd, dann alle Jahre. Von 
Mitte der 80er Jahre an meist zwei Anfälle im Jahre. Im 
Sommer 1890, mitten in einem manischen Anfall, schwerer 
Darmkatarrh. Zu gleicher Zeit Auftreten von Haliucinationen 
und Angst, es seien viele böse Leute da, hörte Stimmen von 
Männern, die in die Anstalt eindringen, die Leute fortnehmen 
wollten, um sie in einer Höhle umzubringen. Grosse Präcordial- 
Angst, wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem Herzfehler, 
der nicht mehr recht compensirt war. Nach einigen Wochen 
verschwanden die Haliucinationen, dann langsame Besserung. 
Von nun an Mischung verschiedener Anfalle: manischer Wahn¬ 
sinn, melancholischer Wahnsinn, einfache, zum Theil etwas 
kraftlose, zum Theil flotte Manie; alle meist von kurzer Dauer, 
aber sehr häufig. 1899 Hinzutreten deutlicher Erscheinungen 
von Hirnatrophie. Tod an Carcinom eines Nävus 11. VIII. 00. 

Fall II. 

Arbeitslehrerin, geh. 1847. Eine Schwester melancholische 
Selbstmörderin. 

8. VIII. bis 14. X. 90 im Burghölzli wegen eines verwirrten 
Traumzustandes mit Gewalttätigkeit, Ideenflucht. Nachträgliche 
Erinnerung an die wirklichen Vorkommnisse fehlte fast ganz, 
dagegen erzählte Patientin von einem wunderbar schönen Traum¬ 
leben. Es war ein grosses Arbeitsfeld da, für das nicht genug 
Leute sich fanden, sie hörte die Leute singend von den Alpen 
kommen u. s. w. Während der Besserung war sie nur sehr 
allmählich von der Irrealität dieser Erscheinungen zu überzeugen. 
Geheilt. 

1893 kurz dauernde Aufregung, die draussen überstanden 
wurde. 

27. III. 98 ins Burghölzli gebracht mit der Diagnose: Para¬ 
noia (chronica). Entwickelte ein coofuscs Wahnsystem, das sich 
auf wirkliche Differenzen mit dem Vormund ihres Sohnes be¬ 
zog. Daneben Ideenflucht, Bewegungsdrang, gehobene Stim¬ 
mung. Viele Haliucinationen und auf der Höhe der Krankheit 
zeitweise Verwirrtheit. Gebessert entlassen, 15. VII. 98. 

27. I. 99 bis 25. VIII. 99. Manie mit weniger hervor¬ 
tretenden Haliucinationen. Gebessert. 6. IX 01 bis 23. XII. 01 
Manie ohne Haliucinationen. Gebessert entlassen. 

Der erste Anfall der Patientin war ein reiner Traumzustand, 
dann kan» eine hallucinatorischc Manie mit einem festgehaltenen, 
wenn auch confusen Wahnsystem, dann einfache Manie. 

Fall III. 

Hausfrau, geh. 1865. Mutter, Vater, Bruder geisteskrank. 

Körperlich etwas schwächlich, geistig gut entwickelt. 

1887 Melancholie nach Erkrankung der Mutter, ca. 1892 

*) Die Krankengeschichten werden ausführlicher publicirt 
von Frl. Rabinowitsch in ihrer Dissertation über das gleiche 
Thema, deren Druck sich etwas verzögert. 

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nach dem 1. Wochenbett leichte Melancholie. 1899 in der 
4. Schwangerschaft isolirter Suicidversuch Nach dem Wochen¬ 
bett im April 99 Schlaflosigkeit, 4 Wochen später deutliche 
melancholische Verstimmung, dann Traumzustaud. Fast alles 
wird illusionistisch verkannt; Haliucinationen des Gesichtes; 
befindet sich in einem Zaubergarten und rcagirt demgemäss; 
zeitweise Verfolgungs- und Beziehungswahn. Mutismus, Nah- 
ru ngsverweigerung. 

Nach dem Anfall traumhafte Erinnerung, submanisches 
Nachsladium. Heilung Ende 1899. 

Fall IV. 

Klavierlehrerin, geb. 1854, eine Schwester vorübergehend 
schwcrmüthig. 

Seit Jahren sehr nervös; grosses Uterusmyom. Somtncr 
1890 bis April 1891 Zeiten nervöser Erschlaffung mit hoher 
Reizbarkeit. Dann Schlaflosigkeit; etwas später täglich heftige 
motorische Aufregungen, verwirrtes Reden; daneben ruhigere 
Stunden mit einer gewissen Einsicht;,, gab an, fortwährend 
Stimmen zu hören, welche sie verwirrten. Im Laufe des Juli 91 
ruhiger, dann etw'as läppische Euphorie. 

3. IX. 91 vollständig geheilt entlassen. Erinnerung nur 
an das letzte submanische Stadium vorhanden. 

1894 vier bis fünf Monate gleicher Anfall. 

13. IY. 98 einige Tage Depression, Schlaflosigkeit. Dann 
gleicher Anfall wie früher, nur neben den Stimmen Halluci- 
nationen der anderen Sinne: Das Bett brennt, es wird immer 
grösser, chemische Dünste steigen auf. Ab und zu lichte Augen¬ 
blicke. 

Ende April bedeutend ruhiger; beschäftigt sich, doch etwas 
labil; lässt sich von der krankhaften Natur der spottenden 
Stimmen überzeugen. Etwas ideenflüchtig, daneben Beziebungs- 
wahn; die Wärterinnen spotten über sie; sie wollte nicht in 
eine bestimmte Wohnung gehen, die Leute würden sie auffressen. 

10. XL 98 gebessert entlassen; draussen Frühling 99 ganz 
geheilt. 

Anfang 1900 neuer Anfall, 10 Monate in einer Irrenanstalt; 
dann gebessert in Privatpflege, wo sie allmählich besser wurde, 
so dass sie für gewöhnlich normal erscheint, nur dann und wann 
— für Stunden oder wenige Tage — wechselnde Verfolgungs- 
Wahnideen. 

Fall V. 

Schneiderin, geb. 1875. Unehelich. Heredität fraglich. 

6. VI. 95 bis 29. I. 96 wegen eines dem jetzigen gleichen 
Anfalls in einer andern Irrenanstalt. Geheilt. 

Pat. kam 10. X. 99 ins Burghölzli. Anfangs Manie mit 
vielen Haliucinationen und Illusionen, namentlich auch des All- 
gcmeingefühls (glaubte sich gestochen, Berührungen machten ihr 
Schmerzen), aber auch aller anderer Sinne, hörte Beschimpfungen, 
wurde verfolgt. Nach und nach wurden die Haliucinationen 
und Verfolgungsidcen das Hervorstechende; Patientin sprach 
wochenlang nichts, als dass sie schimpfte, verkroch sich unter 
die Decke; oft gewaltthätig. Dabei ganz unregelmässige Ab¬ 
wechslung von ruhigeren und unruhigeren Zeiten. Nach und 
nach Beruhigung. Noch einige Monate lang bei durchschnitt¬ 
licher Ruhe und lleissigem Arbeiten plötzlich Aufregungen auf 
Grund von Haliucinationen, namentlich des Gehörs, an die sich 
Patientin nachträglich nur undeutlich oder gar nicht erinnern 
wollte. Die früheren dauernden Aufregungszustände waren fast 
ganz vergessen. (>. II. oi in Heilung entlassen. Draussen 
normal (bis III. 02). 

Original frnm 

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124 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n 


Fall VI. 

Schneiderin, geh. 1839. Grossvater mütterlicherseits „im 
Alter geisteskrank“. 

Unter anderen Krankheiten hat Patient im 12. Jahr eine 
Meningitis mit 6 wöchentlicher Bewusstlosigkeit durchgemacht, 
später Spondylitis mit Beinlähmungen und in einem zweiten 
Anfall derselben auch mit Lähmung der Zunge und eines Armes. 
Heilung der motorischen Störung und der Spondylitis. 

1864 nach dem Tode der Mutter melancholische Verstim¬ 
mung. 1869, anschliessend an Pocken, erster etwa ein halbes 
Jahr dauernder Anfall von hallucinatorischem Irresein, theils 
mit Gewaltthätigkeiten und gehobener Stimmung, theils mit 
melancholischem Charakter. 

1876 bis in die 80 er Jahre, fast regelmässig anschliessend 
an die Menstruation, ein deliriöser Anfall; Schlaflosigkeit, Ge- 
sichtshallucinationen zusammenhängender Sccnen; bald namen¬ 
lose Angst, bald Gereiztheit, bald gehobene Stimmung, daneben 
Beziehungswahn. 

Nach und nach lösten sich die Anfälle ganz von der Men¬ 
struation ab, sie wurden länger, aber seltener, 2—3 im Jahr 
von 2 — 3 Monaten Dauer. 

Schon von Anfang an neben den hallucinosen Zuständen 
falsche Deutung der Umgebung in feindlichem Sinne. Nach 
und nach wurde dieses Symptom häufiger; viele Anfälle — die 
meisten der letzten Jahre — verliefen fast ohne Hallucinationen 
nur in paranoider Form. 

Stimmung immer entsprechend den Hallucinationen. 

Dann und wann, namentlich in den früheren Stadien, Zeichen 
von melancholischer Hemmung und Depression oder von ma¬ 
nischer Ideenflucht, Bewegungsdrang, gehobene Stimmung. 

In den Intervallen vollständig arbeitsfähig, einsichtig, wenn 
auch etwas geziert und süsslicb. 

Fall VII. 

Landwirth, geb. 1842. Zwei Tanten und eine Schwester 
mütterlicherseits geisteskrank; in den letzten Jahren soll noch 
eine Schwester geisteskrank geworden sein. 

Von jeher etwas sonderbar. 

1867, acht Monate „tobsüchtiger Anfall“; geheilt. 1873 
vier Monate lang „melancholisch“. Geheilt. Ende 1880 hatte 
Patient das väterliche Haus in Brand zu stecken versucht und 
sich einen Stich in die Herzgegend beigebracht. Seitdem nun 
eine ganze Anzahl von Anfällen, die meist eingeleitet werden 
durch ein leichtes melancholisches Stadium mit brutalen Selbst¬ 
mordversuchen, manchmal auch durch eine auffallende Neigung 
zum Lachen. Dann tauchen die Wahnideen aus den früheren 
Anfällen wieder auf; hierauf kommt ein Stadium von mehreren 
Wochen oder Monaten Dauer, in welchem das Bild von Hallu¬ 
cinationen beherrscht wird und der Kranke ungemein gewalt¬ 
tätig ist. Zum Theil interkurrent zwischen den Auflegungen, 
dann aber namentlich nachher, Monate, sogar r—2 Jahre lang, 
treten die Hallucinationen ganz zurück. Patient fühlt sich als 
Vorkämpfer der protestantischen Kirche, schreibt eine Kirchen¬ 
verfassung und Geschichtsphilosophie, treibt Politik, macht allen 
Behörden Vorschriften, legt mit grossem Scharfsinn die Bibel 
aus u. s. w. Die Krankheit ist dann sehr schwer von einer 
typischen Paranoia zu unterscheiden. In einigen der ruhigen 
Zwischenzeiten bleiben diese Wahnideen, wenn sie auch ver¬ 
heimlicht werden, in andern erscheint der Kranke vollständig 
gesund, sehr thätig, arbeitet sich mit aussergewöhnlichem Geschick 
in die verschiedensten Berufe hinein (Dreher, Mechaniker, 
Gärtner u. s. w.). 


Die Uebergringe zum Schlimmen, wie zum Guten, sind oft 
recht plötzlich. 

In früheren Anfällen soll Patient manchmal etwas benommen 
gewesen sein, seit 1886 jedenfalls nicht mehr. 

Die Erinnerung an die Anfälle ist eine gute. 

Gelegentlich zeigten sich Andeutungen des manischen oder 
melancholischen Symptomcncomplexcs, am deutlichsten im Sinne 
der Kräpel i n’schen Mischfälle: Hemmung, Euphorie und 
motorische Aufregung. 

Fall VIII. 

Landwirth. geb. 1851, Vater hat sich ertränkt. 

Von Jugend auf etwas schwachsinnig, früh schon zeitweise 
melancholisch oder hallucinirend; dann arbeitsscheu, wander¬ 
lustig, übernachtete im f reien u. s. w. 13. Mai 1872 bis 28. No¬ 
vember 1873 wegen einer typischen und sehr starken melan¬ 
cholischen Depression mit Versündigungswahn und Hemmung, 
aber ohne nachweisbare Hallucinationen, in Burghölzli. — 3. III. 
78 bis 2. IX. 79 wieder im Burghölzli. Hallucinatorischc Auf¬ 
regung, vorwiegend als Verfolgter, äusserlich abwechselnd tobend 
und schimpfend oder wortkarg vor sich hinbrütend. Gebessert 
entlassen. 1883 von einem Specialisten drnussen als chronische 
Paranoia nach Rheinau geschickt. Schlief schlecht, antwortete 
Stimmen, die ihm unter anderen sagten, er werde getödtet. 
Arbeitete aber fleissig, war vollständig orientirt. 

Von 1884—87 volle Einsicht, normal. Oct. 87 bis Sommer 
88 wieder Stimmen, dann Gesichtshallucinationen und Illusionen, 
Vergiftungswahn u. s. w. Wochenlang Tag und Nacht arg auf¬ 
geregt, lärmend, zerstörend, beständig hallucinirend, nicht selten 
manisch und melancholisch. Dann normal bis 1890. Hierauf 
hartnäckige etwas sonderbare Lumbago, anschliessend daran 
etwas gereizt, schien ein wenig benommen; dann bis Nov. 97 
hallucinatorischer Zustand, bald aufgeregt, bald zugänglich und 
geordnet, je nach dem Vorhandensein der Stimmen, nicht selten 
manisch oder depressiv, Stimmung „abhängig von den Hallu¬ 
cinationen.“ 1892—97 normal, 97—99 wieder abwechselnd 
hallucinirend, gewaltthätig und ruhiger, von da bis Herbst iooi 
normal. Jetzt, Winter 1901/2, wieder halhicinatorische Auf¬ 
regung. 

In den früheren ruhigeren Zeiten hatte Patient etwa einmal 
ganz kurz dauernde Aufregungen, in denen er etwa eine 
Sense verbog, einige Stunden stumpf vor sich hinbrütete und 
dgl., in den letzten 10 Jahren nicht mehr. In den kleinen An¬ 
fällen erschien er etwas benommen, hatte aber gute Erinnerung; 
an die grossen Anfälle hatte er nachher eine etwas ver¬ 
schwommene Erinnerung. 

Fall IX. 

Bauersfrau, geb. 1839. Mutter geisteskrank; Onkel, eine 
Nichte und ein entfernterer Verwandter, alle mütterlicherseits, 
Epileptiker. Ein Bruder ertränkte sich, ein Sohn imbccill. zu¬ 
gleich an Dementia praecox leidend. (Vater desselben war 
Trinker, hat sich das Leben genommen.) Pat. war in- 
tcllectucll schwach entwickelt. Mit 20 Jahren erste Psychose 
ohne nähere Nachrichten. 

1885 kurz nach einem Abort wegen leichten, manischen 
Anfalls im Burghölzli. Ungeheilt entlassen. Seit 1887 in 
Rheinau, dort abwechselnd depressive und tobsuchtartige An¬ 
fälle mit längeren und kürzeren Tntermissionen, in welch letzteren 
sie aber jeweilen nur für wenige Wochen — oder auch gar 
nicht — auf eine Art normalen Zustand kam, in dem sie volle 
Krankheitseinsicht hatte. Dauer eines Cyklus während langer 
Zeit etwas mehr als ein Jahr. Früher müssen die normalen 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


125 


1902.] 


Zeiten länger gewesen sein. Die“ Kranke hat 2 mal geheirathet, 
das zweite mal allerdings in nicht ganz normalem Zustande. 

Pat. hörte Stimmen, hatte Visionen, vor allem aber sehr 
lebhafte Illusionen des Gesichtes; verkannte Flecken an der 
Wand als Christus (in verschiedenen Anfällen wieder in ganz 
gleicher Weise), der zu ihr sprach, sie solle Schnaps trinken 
und Aehnliches; ruhig hängende Wäsche sah sie für vorüber¬ 
spazierende Vögel an und dergl. 

Die Reaction auf die Hallucination hatte immer etwas 
Triebartiges, Plötzliches an sich. In melancholischen Zeiten 
einige Suicidversuche; in den manischen Prügeln, Schmieren 
mit Speichel, manchmal auch mürrisches sich Zurückzichen, 
das nur in Toben übergeht, wenn man etwas von der Patientin 
wünscht. 

ln den letzten Jahren fehlt gehobene Stimmung und Ideen¬ 
flucht meist, während die depressive Phase Andeutungen der 
melancholischen Symptomentrias zeigt. Immerhin spielen die 
Stimmen die Hauptrolle. 

Fall X. 

Börsenagent, geb. 1847. Tante, Cousin, Cousine väterlicher 
Seite „melancholisch“. 

Still, züchtig, solid. Febr. 89 Schlaflosigkeit, Aengstlich- 
keit. Mai 89 Beziehungs- und Verfolgungswahn: bekommt 
Gift, man will ihn betäuben, um ihn Wechsel unterschreiben 
zu lassen. Jedermann meint es schlecht mit ihm. Schliesslich 
wird sozusagen alles, was dem Kranken begegnet, auf sich 
selbst bezogen im Sinne des Verfolgungswahns. Rheumatische 
Schmerzen hat ihm der Arzt gemacht u. s. w. Vom Sommer 
1890 an vollständig normal bis März 1898. Er hatte sein Ge¬ 
schäft ausgedehnt und mit Glück geführt. 1898 nach Operation 
seines Sohnes übermässig bekümmert, ängstlich, schlaflos;] melan¬ 
cholische Verarmungsideen, die aber bald vollständig verdrängt 
wurden, von Verfolgungswahn : die kleinsten und die grössten 
Vorkommnisse deuteten darauf, dass man ihn verfolge, ihm an’s 
Leben wolle. Er musste auch für alle Leute einstehen, die 
irgend etwas für ihn thaten. Fühlt sich unschuldig, nut selten 
eine melancholische Versündigungsidee. 

Febr. oder März 1900 ziemlich rasche Besserung. Völlige 
Einsicht. Hypomanischer Zustand, anfangs sehr deutlich, nach 
und nach abklingend. Patient führt seit Herbst 1901 sein Ge¬ 
schäft wieder, wenn auch auf unseren Rath in vermindertem 
Umfange. 

Der paranoide Inhalt der Wahnideen hatte in diesem Fall 
eine unheilbare Krankheit annchmen lassen. Im zweiten An¬ 
fall liess sich aber nach unserem jetzigen Wissen die Diagnose 
der periodischen Krankheit leicht machen: Hemmung der Ge¬ 
danken, Mangel an Ablenkbarkeit, beständiges Ruminiren der 
gleichen Ideen, vollständiger Mangel an Initiative, Beschränkung 
der motorischen Aeusserungen auf Angstausdrücke, (beständiges 
Hin- und Hergehen im Zimmer bei Abneigung ins Freie zu 
gehen, unaufhörliches Schwatzen über seine Wahnideen); im 
Beginn schienen die Anfälle gewöhnliche melancholische zu sein, 
einzelne Wahnideen mit melancholischen Timbre kommen auch 
später vor, und die maniakalische Exaltation nach Ablauf des 
zweiten Anfalls demonstrirte die klinische Stellung der Krank¬ 
heit so recht ad oculos. 

Fall XI. 

Schreiner und Glaser, geb. 1854. Vater und ein Bruder 
Potator, Mutter schwerinüthig. 

In der Jugend geistig und körperlich etwas schwächlich. 
Vor dem 12. Jahr Masturbant. Lief vor Beendigung der Lehr¬ 


zeit fort, hielt es nirgends lange aus, meist wegen Trunksucht 
fortgeschickt. Will ausserehelich wenig mit Frauen verkehrt 
haben, hat mehrmals, zum Theil im angetrunkenen Zustande, 
kleine Mädchen missbraucht, einmal auch eine Hündin, 1885 
deshalb im Zuchthaus. Dort fand er ca. 1886 in allen gleich¬ 
gültigen Vorkommnissen allerhand „Zeichen“, die ihm sagten, 
er müsse mit einem bestimmten Mädchen in der Strafanstalt 
coitieren, und sie dann heirathen, sonst werde er geköpft. 

Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus 1888 lief er im 
Rausch von weither mehrmals in die Strafanstalt, um das Mädchen 
heraus zu verlangen, wurde jeweilen natürlich fortgeschickt. 

Nun ca. '/. 2 Jahr lang Trinkerleben, während dessen er 
mehrmals tagelang andauernde Thiervisionen hatte. Dann Ab¬ 
stinent, verzichtete auch auf die Onanie, besserte rasch, heirathete 
1889, übernahm ein eigenes Geschäft, das er in die Höhe 
brachte. Es war überhaupt etwas Abnormes an ihm nicht zu 
finden. 1898 kamen die „Zeichen“ wieder. Patient fing an zu 
trinken, lief in angetrunkenem Zustande mehrmals in die weit 
entfernte Strafanstalt, um das Mädchen heraus zu verlangen. Die 
Zeichen sagten ihm dann, es sei anderswo. Schliesslich, 11. 
XL 98, machte Patient ein Attentat auf eine Unbekannte, die 
er für ihn bestimmt hielt, aber erst am 12. III. 99 kam er in 
die Anstalt. 

Daselbst vollständig orientirt, erzählte ruhig und geordnet, 
sah aber überall die Zeichen; meinte, das Mädchen sei im Ver¬ 
waltungsbureau; dann und wann stärker aufgeregt, wurde ge- 
waltthätig, weil man ihn nicht zu dem Mädchen gehen liess, 
zog seine Genitalien aus den Hosen, wollte sogar die Aerzte 
missbrauchen. 

Im Oktober 99 rasche Besserung, volle Einsicht, Heilung. 

Bewegungsdrang wie Hemmung der Motilität fehlte; am 
Gedankengang war nur das auffallend, dass Patient auf der Höhe 
der Krankheit in keiner Weise ablenkbar war und Gegenvor¬ 
stellungen spurlos an ihm vorübergingen. Zu den paranoiden 
Wahnvorstellungen kam noch die melancholische, dass er meinte, 
er werde geköpft, wenn er das Mädchen nicht brauche. 

Bei allen Beispielen, mit Ausnahme des letzten, 
finden wir deutliche Zeichen des manisch-depressiven 
Irreseins, seien es typische Anfälle neben den 
vcsanischen Störungen, sei es dass sich zeitweise 
manisch-depressive Symptome mit dem Wahnsinn 
mischen, wenn sie auch oft längere Zeit nicht nachzu¬ 
weisen sind. 

Nur im Falle 11 kann inan sich fragen, ob sie 
vorhanden sind; doch entspricht der Mangel an Ab¬ 
lenkbarkeit, die Einengung der Gedanken auf einen 
ganz kleinen Kreis bei guter Orientirung durchaus 
dem Gedankengang bei melancholischer Depression. 
Immerhin wagten wir vor der Heilung bei dem un¬ 
sinnigen, triebartigen Benehmen des Kranken nicht 
mit aller Sicherheit die Dementia praecox auszu- 
sehliesscn, zu welcher die Discussionsunfähigkeit des 
Kranken ja ebenfalls gepasst hätte. 

Bei mehreren Fällen sind hallucinatorische und 
paranoide Formen gemischt. Eine grosse Rolle spielen 
die Gesichtsillusionen sicher in den Fällen 8 und 9; 
wahrscheinlich beruht auch hei andern Fällen ein 


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I 2 6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n. 


Theil der Krankheitserlei misse auf Illusionen und nicht 
bloss auf Hallucinationen. 

Eine „ph o tog ra p h i sche T re u e“ der ver¬ 
schiedenen Anfälle zeigt sich nirgends. Dagegen 
treten oft die gleichen Wahnideen, Hallucinationen 
und Illusionen wiederauf; hei Fall 7 und 8 bezeichnete 
die Wiederaufnahme früher gebildeter Wahnideen oft 
den Beginn eines Anfalls. 

Wie es nicht selten ist, dass mitten in den Inter¬ 
missionen des gewöhnlichen manisch-depressiven Irre¬ 
seins ab und zu kurz dauernde manische oder melan¬ 
cholische Verstimmungen sich bemerkbar machen, so 
kommen auch hier mitten in vollem Wohlbefinden 
einzelne Hallucinationen, einzelne Bcziehungs- oder 
Verfolgungswahnideen vor, die aber practisch meist 
ohne Bedeutung sind. 

Die Fülle 7, 8, 10, 11 wurden von Spezialisten 
als chronische Paranoia angesehen, Fall 2 vom ein¬ 
weisenden Arzte. Eine genauere Untersuchung auf 
manisch-depressive Symptome hätte davor bewahren 
können. Es sei indess ausdrücklich darauf aufmerksam 
gemacht, dass auch gelegentlich ein Paranoiker im 
engeren Sinne mal vorübergehend melancholisch werden 
kann. Manien bei echten Paranoikern hat Verf. noch 
nicht gesehen, es scheint ihm aber nicht ausgeschlossen, 
dass Manie und Paranoia auch einmal den gleichen 
Pat. befallen können. 

Bei No. 3, 5 und 11 waren wir selbst im Zweifel, 
ob nicht Dementia praecox vorliege. Ob das sonder¬ 
bare Benehmen nur auf hallucinatorischer Verkennung 

o 

der Umgebung (3, 5) und Mangel an Ablenkbarkeit 
bei einer herrschenden Wahnidee (11) oder dann 
auf der für Dementia praecox characteristischen Asso¬ 
ciationsstörung beruht, lässt sich eben schwer ent¬ 
scheiden, wenn die Kranken unsere Fragen nicht be¬ 
antworten. Immerhin wird die gemachte Erfahrung 
späteren Fällen zu gute kommen können. 

Bei Fall 2, 3 und 4 war die Auffassung der 
Umgebung', resp. der „Bewusstseinszustand“ 
ein durchaus traumhafter; die Erinnerung war 
nicht vollständig. Fall 5 schien orientirt, die Er¬ 
innerung war aber dennoch eine schlechte. Fall 6 
zeigte Traurnzustände neben Anfällen, in welchen 
Pat. sehr gut orientirt war; die Erinnerung war immer 
sehr getreu. Bei Fall 7 wurde nur einzelne Male 
„Bewusstseinstrübung* 1 notirt, sonst war der Kranke 
ganz klar und imponirte als chronischer Paranoiker. 
Ebenso waren 8, 9, 10 und 11 äusserlieh immer gut 
orientirt und hatten ziemlich gute, oder sehr gute 
Erinnerung an die krankhaften Erlebnisse. 


Bei 7 und 9 kamen neben vollständigen Inter¬ 
missionen oft nur Remissionen vor, in denen bei 7 
die Reizbarkeit und Neigung zu Hallucinationen, bei 
() die Wahnideen nicht ganz verloren gingen. Bei 
beiden bildeten die ganz normalen Zustände geradezu die 
Ausnahme. Bei 8 bestand einmal ein mehrere Jahre 
dauerndes paranoides Stadium mit v<» 11 er Arbeitsfähig¬ 
keit, aber einzelnen Gehprshulliicinationen und un- 
korrigirten Wahnideen. 

Inwiefern eine vollständige Correetur der Wahn¬ 
ideen nothwendig ist, um eine „Heilung vom Anfall“ 
anzunehmen, ist mir überhaupt noch nicht klar. Es 
befindet sich jetzt ein Professor der Philologie im 
Burghölzli, der als Student eine manieartige Aufregung 
durchgemacht hatte, der gegenüber er während 50 sonst 
ganz normalen Jahren nie Krankheitseinsicht gezeigt 
hatte. Jetzt leidet er an Dementia senilis. 

Ein anderer Fall, bei dem die Diagnose offen 
gelassen werden muss, mag hier angeführt werden. 
Eine in Rheinau versorgte Kranke hatte während eines 
langen Lebens immer mchrwöehentlichc Perioden 
von Bezichungswahn mit Gereiztheit, abwechselnd 
mit normaler Gemüthsstiinmung und normaler Auf¬ 
fassung ; doch war die Patientin — wenigstens in 
den letzten Jahrzehnten, aus denen allein genauere 
Beobie iitungen vorliegen — in den Zwischenzeiten 
nicht im Stande, die Wahnideen zu corrigiren. Leider 
wurde die nun verstorbene Kranke nicht genauer 
auf manisch-depressive Symptome untersucht; es ist 
mir aber wahrscheinlich, dass auch dieser Fall, trotz 
seines Residual wahnes , hierher gehört. 

Interessant ist, dass Fall b zuerst den Tvpus einer 
menstruellen Psychose zeigte, während bei No 3 Gra¬ 
vidität und Wochenbett und bei No. 9 ein Abortus 
Anfälle auslösten. K räpelin’s Auffassung der men¬ 
struellen und puerperalen Manie wird durch diese 
Fälle* wie auch durch andere, welche ich beobachtet 
habe, gestützt. 

Warum in den einen Fällen von manisch-de¬ 
pressivem Irresein Wahnsinn, in den andern Manie 
oder Melancholie auftritt, ist vorläufig noch nicht zu 
entscheiden. 

Die Heredität ist in unsern Fällen wie überhaupt 
bei manisch-depressivem Irresein eine grösst 1 ; bei 
Fall 6 übertrifft wohl die Meningitis die leichte Ple- 
redität (dem. senilis des Grossvaters) an Bedeutung. 
Es handelt sich sonst immer um Geisteskrankheiten 
in der Familie; ob auch periodische Geistes¬ 
krankheiten, lässt sich leider nicht entscheiden, ist 
aber wahrscheinlich. Beachtenswert!! ist das Vorwiegen 


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1Q02.] 

der melancholischen Störungen bei den anderen Fa- 
miliengliedem. *) 

R esu me: Es giebt hallucinatorische und para¬ 
noide Wahnsinnsformen, die Einzelanfälle des me¬ 
chanisch depressiven Irreseins darstellen und gleich- 
werthig sind den manischen oder melancholischen 
Anfällen dieser Krankheit. Die paranoiden Formen 
können manchmal eine chronische Verrücktheit Vor¬ 
täuschen. Ihre Zugehörigkeit zum manisch-depressiven 
Irresein wird bewiesen durch den dieser Krankheit 
eigenthiimlichen Verlauf, den Mangel an Intelligenz¬ 
störung in den Intermissionen, die Mischung mit 

*) Ueber die Heredität bei periodischem Irresein vergl.: 
Sioli, Arch f. Psych. 16. Hiirbolla, direkte Vererbung 
von Geisteskrankheiten. Breslau, Diss. 1893. Kitschen, 
Beziehung der Heredität zum periodischen Irresein. Monatsschr. 
f. Psych. und Neurologie Bd. Yll. Weygandt, Zeitschr. f. 
Psychiatrie, 58, pag. 493. 


l2 l 

manisch-depressiven Symptomen, die Mischung von 
manischen, respectivc depressiven Anfällen mit den 
vesanischen beim gleichen Kranken und wohl auch 
durch die gleichartige Heredität. 

Die Gruppe des manisch-depressiven oder peri¬ 
odischen Irreseins wird dadurch noch etwas grösser 
als sie schon war. Das ist wohl kein Schade, wenn 
auch der Name nun wieder nicht gut zu allen Fällen 
passt. Das Wesentliche ist aber nicht der Name, 
sondern der Begriff, und dieser muss als ein einheitlicher 
festgehalten werden, bis es einmal gelingt, innerhalb 
der grossen Masse das Auftreten der zur Zeit un¬ 
wesentlich erscheinenden Differenzen zu erklären. 
Vorläufig aber hält der gleiche Verlauf, die gleiche 
Heredität, die Auswechselbarkeit der einzelnen Svmp- 
tome und Anfälle beim einzelnen Kranken wie von 
Fall zu Fall die Gruppe sehr gut zusammen und 
grenzt sie zugleich gegen alle andern Psychosen ab. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— XXVII. Wanderversammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte in 

Baden-Baden am 24. und 25. Mai 1902. 

1. H offmann - Heidelberg: 

a) Ein 19 jähriges Mädchen war ganz allmählich 
erkrankt mit ziehenden Extremitätenschmerzen, Paresen; 
Stellungsanomalie der Hände ; Atrophie, Herabsetzung, 
stellenweise Erlöschen der elektrischen Erregbarkeit. 
Patellarreflexe schwach. Die Nervenstämme, beson¬ 
ders Ulnaris, Medianus, Radialis waren auffallend 
verdickt wie ein Bleistift, hart und etwas druckem¬ 
pfindlich. Auch die sensibeln Nerven waren in ihrer 
Erregbarkeit herabgesetzt. Es handelt sich um ein 
Bild der progressiven neuralen (neurotischen) Muskel¬ 
atrophie, im gewissen Grad erinnernd an die Fälle 
Duchennes von Neuritis interstitialis hypertrophica, 
die allerdings daneben noch tabische Symptome auf¬ 
wiesen. (Krankenvorstellung). 

b) Eine 53 jährige Frau klagt seit 7 Jahren über 
Schmerz in der Schläfengegend, Blepharospasmus, Tic 
convulsif im Gesicht. Es traten nunmehr klonische 
Krämpfe dazu, die das Gaumensegel, die Uvula, die 
hintere Rachen wand, den Kehlkopfeingang und die 
Stimmbänder betrafen. (Krankenvorstellung). 

c) Ueber tonischen Faci a 1 iskra mpf. Es 
zeigten sich in einem Fall im r. Facialis Herabsetz¬ 
ung der Erregbarkeit, sowie langsam eintretende to¬ 
nische Krämpfe ohne Lähmung. Die elektrische 
und myotonische Reaktion waren träge. Ncuroto- 
nische Krämpfe im Abducensgebiet. Wahrscheinlich 
ist ein Prozess an der Schädelbasis zwischen Pons 
und Oblongata anzunehmen. 

2. E her s-Baden-Baden : Demonstration 
eines durch Operation geheilten Falles 


von chronischem Kram pf der Nacken - u nd 
Hals m us k u 1 a t u r. Patient acquirirte v< >r 9 Jahren, 
damals 3ojährig, in Ostafrika Malaria (Tertiana). Mai 
1901 fuhr er urlaubswcise nach Europa und spürte 
auf der Rückkehr Steifigkeit im Nacken und Hals. 
September konstatirtc Vortr., dass der Kopf nach 
rechts unten krampfhaft fixirt war, die Halsmuskeln, 
besonders rechts, waren bretthart kontrahirt. Nur mit 
Gewalt brachte man den Kopf in Mittelstellung. 
Beim Versuch der Rechtsbeugung stellten sich ruck¬ 
artige heftige Zuckungen nach rechts ein. Zum 
Schlucken musste Pat. den Kopf mit der Hand 
fixiren. Chinin, Bromsalze, Zinc. valerian. u. s. w. 
waren wirkungslos, Scopolainininjektionen erleichter¬ 
ten vorübergehend, physikalische Heilmethoden ver¬ 
sagten. Kocher trennte November 1901 durch 4 
Operationen beide Nervi accessorii, die meisten ober¬ 
flächlichen und tieferen Nacken- und Halsmuskeln, 
sowie die Unterkiefer- und Zungcnbeinmuskeln rechts, 
ferner einige Muskeln links. März 1902 stand der 
Kopf in Mittelstellung, war jedoch durch Narbenzug 
in der Beweglichkeit eingeengt. Eine Lcdercravatte 
wurde wegen der Ermüdbarkeit getragen. Durch Gym¬ 
nastik mit Zanderapparaten, Massage und Suspension 
in der Sayrc’schen Schlinge wurde der Kopf im Laufe 
von 3 Monaten frei beweglich, so dass er jetzt in 
jeder Stellung fixirt werden kann und keinerlei Be¬ 
schwerden mehr macht. 

D i s k u s s i o n: S c h u 1 1 z e - Bonn verweist auf die 
weniger eingreifende Operation von Kean, der nur 
die Nerven durchschneidet. 

3. V11 1 p in s - Heidelberg: MuskeIüberp f 1 an - 
zung bei spinaler Kinderlähmung. 

a) Ein 9jähriger Junge hatte in Folge spinaler 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. ii. 


Kinderlähmung gelähmten Quadriceps und Biceps 
femoris; aktive Beinstreckung war unmöglich. Opera¬ 
tiv wurde der Semimembranosus nach vom gelagert 
unter Verlängerung durch eine 5 cm lange Seiden¬ 
sehne. Zur Besserung der Zugrichtung wurde bei 
einer 2. Operation der M. semimembranosus in grosser 
Ausdehnung auf dem Quadriceps befestigt und der 
Semitendinosus tenotomirt. Osteotomie beseitigte das 
Genu valgum. Jetzt geht der Junge recht gut, steigt 
sogar Treppen. (KrankenVorstellung). 

b) Ein Junge mit Kinderlähmung lernte nie laufen, 
übte sich im Handgang. Der einzig überlebende 
Muskel links, Biceps wurde an der Tuberositas Ti¬ 
biae befestigt. Durchschneidung der Muskeln am 
Hüftgelenk gab dem Bein Abduktionsstellung. Weiter¬ 
hin wurde Osteotomie am Trochanter, ferner wegen 
Spitzfuss Achillessehnenplastik vorgenommen. Rechts 
wurde der gelähmte Quadriceps durch Kniebeuger 
ersetzt. Jetzt kann der Junge leidlich gehen. (Kran¬ 
kenvorstellung). 

4. Schwalbe-Strassburg: Ueber Windungs¬ 
protuberanzen des Schädels. Manche Tbiere, 
wie Iltis, Fischotter, Marder, Lemur, zeigen einige 
Hirnwindungen frappant an der Schädelfläche aus¬ 
geprägt. Beim Menschenschädel kommen besonders 
die muskelbedeckten Parthien in Betracht. In der 
Occipitalgegend findet sich die Protuberantia cerebel- 
laris, manchmal sogar eine Protuberantia vermiana. 
Darüber ist gelegentlich eine dem Hinterhaupts¬ 
lappen entsprechende Protuberanz zu fühlen. Der 
Sulcus sphenoparietalis entspricht einem Theil der 
Fossa Sylvii. Stirn- und Schläfenlappengebiet ist zu 
unterscheiden; eine Wulst entspricht dem vorderen 
Theil der 3. Stimwindung, Fast immer vorhanden 
ist eine Protuberantia gyri temporalis medii, manch¬ 
mal findet sich auch ein Theil der 3., seltener der 
1. Schläfenwindung ausgedrückt. 

Diskussion: Hitzig-Halle, Schwalbe-Strass¬ 
burg, Fürstner - Strassburg. 

5. Erb- Heidelberg: Bemerkungen zur pa¬ 
thologischen Anatomie der Syphilis des 
centralen Nervensystems. 

Nur dank der klinischen Befunde kann die patho¬ 
logische Anatomie auf syphilitische Veränderungen 
sch Hessen. Man trifft in einer Gruppe von Fällen 
typisch luetische Veränderungen des Central nerven- 
Systems, Meningitis, Myelitis, Arteriitis, dazu Hcrd- 
und Strangdegenerationen ohne engere Beziehungen 
zu spccifischen Veränderungen. Eine zweite Gruppe 
zeigt Systemerkrankungen oder Strangdegenerationen, 
daneben zweifellos specifische Veränderungen. So 
können bei Tabikern noch Meningitis, Gefässverän- 
derungen, Gumniata u. a. auftreten. Drittens trifft 
man Sklerosen ohne speeifischen Charakter, ohne 
andere spezifische Läsionen, bei früher zweifellos 
syphilitischen Individuen ; auch eine Reihe von kom- 
binirten Systemerkrankungen bei Luetischen; ferner 
zählt hierher die Tabes, in deren Vorgeschichte 70 
bis po u 0 Syphilis zu finden ist. Die Veränderungen 
bei dieser 3. Gruppe sollte man nicht als para- oder 
meta- oder postsyphilitisch bezeichnen, sondern sic 


sind mit demselben Recht syphilitisch wie die typi¬ 
schen Veränderungen. 

6. Schüle-Freiburg: Neuro fibromatose der 
Haut. 

3 Brüder, von den 2 vorgestellt wurden, zeigen 
im Wesentlichen die gleiche Störung. Herabsetzung 
der Schmerzempfindung am ganzen Körper, hand¬ 
schuhförmige Anästhesie gegen alle Sensibilitätsformen. 
Kein Zeichen für Syringomyelie. Alopecia univer- 
salis. Die Haut zeigt eine Menge kleiner, harter 
Knötchen. Der eine Pat. wurde erst nach einem 
Trauma auf sein Leiden aufmerksam. Sein Bruder 
leidet ausserdem noch an Opticusatrophie, ziehenden 
Schmerzen an den Beinen, spastisch ataktischem Gang 
und Blasenbeschwerden. 

7. Winkler-Aachen: Ueber akute Mye¬ 
litis (Verdacht auf Abscess; Versuch ope¬ 
rativer Behandlung). Ein Fall zeigte 1 . schlaffe 
Lähmung, r. Parese des Beins. Patellarreflex 1 . er¬ 
loschen , später gesteigert. Blasenschwäche. Sensi¬ 
bilitätsstörung. Da Gonorrhoe bestand, könnte man 
an gonorrhöische Myelitis denken, wie sie von Leyden 
in einem Fall vermuthete, doch ist die Auffassung 
noch nicht zu beweisen. 

Ein lumbal kyphotischer Patient zeigte nach Typhus 
Symptome von Meningomyelitis, Schmerzen, Parapa¬ 
rese, Urinbeschwerden, Obstipation; wechselndes Fieber. 
Später Heilung. W. hält den Fall für eine typhöse 
N acherkrankung. 

Ein Kranker hatte Paraparese, Urininkontinenz, 
Zuckungen und tonische Muskelkontraktionen. Pyä¬ 
misches Fieber. Trophische Störungen. Hyperästhesie 
bis zur Nabelgegend; darüber eine hyperästhetische 
Zone von 12 cm. 5 Wirbeibögen wurden entfernt, 
doch nichts Abnormes gefunden. Die Sektion zeigte 
eine transversale Myelitis vom 3. Dorsal- bis zum 
1. Lumbalsegment, ferner Appendicitis larvata und 
Abscess unter den 1 . Glutäen. 

Hoche-Strassburg: Differentialdiagnose 
zwischen Epilepsie und Hysterie. 

Referent kommt zu folgenden Schlusssätzen: Epi¬ 
lepsie und Hvsterie sind prinzipiell verschiedene Neu¬ 
rosen; die reine Hysterie ist funktioneller Natur in 
dem Sinne, dass sie eine pathologische Anatomie 
weder besitzt, noch besitzen wird; die Epilepsie ist 
funktionell nur in dem Sinne, dass wir die ihr zu 
Grunde liegenden Veränderungen noch nicht kennen. 

Ein zweiter Theil der Fälle macht differential¬ 
diagnostische Schwierigkeiten, vor Allem in den mit 
Bewusstlosigkeit einhergehenden grossen Anfällen. Für 
die Majorität derselben besteht bei genügender Fach¬ 
kunde auf Grund fast konstanter Symptome kein 
Zweifel über die Diagnose; bei einer Minorität lassen 
sich aus dem Anfalle selbst keine differentialdiagnosti¬ 
schen Anhaltspunkte gewinnen. 

Es giebt kein Symptom, welches mit absoluter 
Sicherheit den epileptischen Charakter eines Anfalles 
beweise, auch nicht Zungenbein und Aufhebung der 
Lichtreaktion der Pupillen. 

Die „hysterische Pupillenstarre“ ist keine Reflex¬ 
störung. sondern eine durch abnorme Zustände der 


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1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 129 


inneren Augenmuskeln verursachte Unbeweglichkeit 
der Pupille. 

Die Existenz einer echten „Hvsteroepilepsie“ ist 
abzulehnen. Abgesehen von anderen Combinationen 
ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Hysterie, 
ohne aus ihrem Rahmen zu fallen, den dem echten 
epileptischen Anfall zu Grunde liegenden centralen 
Vorgang zur Auslösung bringen kann, ebenso wie 
dieser, ohne dass es sich deswegen schon um Epi¬ 
lepsie handelt, durch andere Umstände ausgelöst 
werden kann. 

In allen differentialdiagnostisch zweifelhaften Fällen 
sind Verlauf und Entwickelung, speciell die Art der 
dauernden psychischen Veränderungen wesentliche 
Hilfsmomente. (Eigenbericht.) 

Diskussion: B ru n s-Hannover: Bei vielen 
epileptischen Insulten trifft man kleine Blutungen in 
Gesichtshaut und Conjunktiva. Kurze Bewusstseins¬ 
störungen bei Kindern sprechen mehr für Epilepsie. 

Rumpf-Bonn beobachtete bei schweren hyste¬ 
rischen Anfällen, dass die abgehende Urinmenge vor¬ 
her vermindert, nachher vermehrt war. 

Bäumler- Freiburg sah bei einem epileptischen 
Anfall den Uebergang in einen hypnotischen Anfall 
mit Katalepsie. Es giebt ein Gebiet des Ueberein- 
andergreifens der Hysterie und Epilepsie. 

Von Strümpell-Erlangen: Epileptische Verände¬ 
rungen könnten sich auch in anderen, höheren cere¬ 
bralen Gebieten etabliren und einen kompüzirten 
Anfall hervorrufen, der äusserlich als hysterisch er¬ 
scheint. 

Hitzig-Halle betont, dass beim epileptischen An¬ 
fall keineswegs lediglich das motorische Rindengebiet 
affizirt ist, vielmehr die ganze Rinde. Einseitige 
epileptische Krämpfe, auch doppelseitige giebt es ohne 
Bewusstlosigkeit, vielfach aber auch ist die motorische 
Region nicht befallen, so in Acquivalcnten, Traum¬ 
zuständen, Psychosen. 

Schult ze - Bonn betont die Schwierigkeit der 
Pupillenuntersuchung im Anfall. Weist darauf hin, 
dass eine Hvsterica sich auch epileptiforme Anfälle 
suggeriren kann. 

Secligm üller - Halle legt Nachdruck auf die 
im Gemüthsleben sich ausbildende dauernde Ver¬ 
stimmung, den Abschluss gegen die Aussenwclt bei 
Epilepsie. 

Kraepelin - Heidelberg erinnert an die epilepti- 
formen Anfälle bei vielen Psychosen, dann auch an 
die hysteriformen Erscheinungen selbst bei schweren 
organischen Himleiden, auch bei Psychosen wie Para¬ 
lyse, Dementia praecox, cirkulärem Irresein. Ver¬ 
blödete Epileptiker können auch psychogene Symp¬ 
tome haben. 

We yg a n d t - Würzburg beobac htete bei Kindern 
mit leichten Bewusstseinsstörungen den späteren 
Uebergang in schwere epileptische Anfälle. Manch¬ 
mal war dabei schon früh der epileptische Charakter 
ausgeprägt, der bei ausserklinischer Beobachtung 
einen wichtigen Anhaltspunkt giebt. Psychische Ein¬ 
flüsse als Auslösungsmoment eines Anfalls schlie&sen 
nicht immer die epileptische Basis aus. 

Sticher- Giessen berichtet den Fall eines Schul- 

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kindes mit epileptischen Anfällen, das hierdurch eine 
psychische Epidemie veranlasste, indem 30 Mitschüle¬ 
rinnen an polymorphen hysterischen Anfällen er¬ 
krankten. 

Friedmann - Mannheim glaubt, dass bei Kin¬ 
dern mit kurzen Anfällen doch manchmal Epilepsie 
ausbleibt. Ein Junge, der hunderte kleiner Anfälle 
hatte, zeigte nach Schreck eine typische Chorea magna. 

F ü r s t n e r-Strassburg hält solche Kinder vor¬ 
wiegend für hysterisch. Psychische Einwirkung gilt 
sicher für beide Arten, dafür sprechen die Fälle von 
Schreckepilepsie. F. kann sich nicht rückhaltslos 
der Auffassung von der psychogenen Entstehung der 
hysterischen Anfälle anschliessen. 

Ho che (Schlusswort). Kleine Blutungen sind ein 
Majoritätssymptom. Urinuntersuchungen sind in ihren 
Ergebnissen unsicher. Stigmata haben keinen grossen 
Werth, Sensibilitätsstörungen kommen auch bei Epi¬ 
leptikern recht oft vor, Areflexic des Rachens auch 
in Fällen ohne Bromwirkung. 

9. Für stn e r-Strassbuig: Zur Kennt n iss der 
vasomotorischen Neurosen. 

Eine Frau von 38 Jahren erkrankte unter Hitze¬ 
gefühl und Müdigkeit schubweise an einer Hautver¬ 
änderung, Röthung, Blasenbildung wie bei bullösem 
Erysipel, besonders an Lidern und Ohren. L. Pupille 
enger. Puls klein, frequent. Ein 17 jähriger Bauer, der 
seit einem Schreck stotterte, ferner schwachen, frequenten 
Puls und gesteigerte Patellarreflexe zeigte, erkrankte an 
Gesicht und Händen mit diffuser Röthung und 
Blasenbildung. Die Störung war psychisch beeinfluss¬ 
bar, nach dem Besuch der Mutter war sie besonders 
lebhaft. Temperatur bis 38,4 °. Diarrhoe. Später 
mehrere Recidive. 

In einer Familie zeigten Grossmutter, Mutter und 
Tochter dieselbe Störung an den Fingern, Schwellung, 
Blasenbildung, allmählich Deformität: Verdickung 
der Grundphalangen, Zuspitzung der Finger nach 
vom. Gedern nach dem Handrücken. Dabei Ohn¬ 
mächten, Herzklopfen, Hitzegefühl, Patcllarreflexstei- 
gerung. 

10. Bavert h a 1 - Worms: Zur Diagnose der 
Thalamus- und Stirnhirntumoren. 

a) Eine 31 jährige Frau erkrankte unter Erbrechen, 
Cession der Menses, psychischer Störung. Sie war 
apathisch, antwortete verkehrt, verweigerte die Nah¬ 
rung, hatte starre Mienen. Urin- und Stuhlinkon¬ 
tinenz. Keine Aphasie; Puls verlangsamt. Pupillen 
träge, erst spät Stauungspapille. Somnolenz. Sterto¬ 
röse Athmung, daher Trepanation. Es fand sich ein 
Tumor des 1 . Parietalhirns. Wichtig 1 für die Lokali¬ 
sation ist die Schädeldruckempfindlichkcit, doch er¬ 
laubt sie keinen Schluss auf die Entfernung des Tu¬ 
mors von der Oberfläche. Gleichgewichtsstörung wies 
auf Affektion im Thalamus und Vierhügel hin. Der 
eigenartige Blödsinn soll bei Balkenkompression Vor¬ 
kommen. 

b) Eine Frau wurde apathisch, Charakterverände¬ 
rung; epileptiforme Anfälle, Benommenheit. Rechts 
Parese, aphasische Störung, Gleichgewichtsstörung; 
links Abducensschwäche und Ptosis, sowie Supraorbi¬ 
ta Ibesch werden. Die Sektion zeigte einen Tumor, 

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130 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. u. 


von der Basis des Schläfenlappens zum Stirnhirn hin 
ausgehend. 

n. Barte 1 s-Strassburg: Beitrag zur Kasui¬ 
stik der Hirntumoren. 

Ein über gänseeigrosses Sarkom hatte fast den 
ganzen Schläfenlappen, die Occipitotemporalwindung, 
Gyrus hippocampi und Uneus zerstört; trotzdem war 
vor dem Tod der Geruch nicht aufgehoben, auch 
war trotz des starken Himdrucks keine Demenz ein¬ 
getreten. 

12. Gerh ardt-Strassburg: Zur Anatomie 
der Kehlkopflähmung. 

Bei einem Syringomyeliker bestand 8 Jahre lang 
eine isolirte Posticuslühmung. Es fragte sich, ob die 
geringere vitale Dignität am Muskel oder am Nerven 
lag. Zunächst zeigte die Untersuchung eine gleich- 
mässige Degeneration des ganzen Nerven, so dass 
man an eine muskuläre Grundlage der Störung denken 
musste; die Untersuchung der Nervenendäste jedoch 
ergab, dass die zum Posticus gehenden Fasern doch 
weit stärker ergriffen waren. 

13. Schultze-Bonn: a) Weitere Mitthei¬ 
lungen über operativ behandelte Geschwülste 
der Rückenmarks häute. 

In 8 Fällen war 6 mal operativ vorgegangen 
worden, wobei 3 mal mehr oder weniger vollständige 
Heilung, einmal eine weitreichende Besserung erzielt 
worden war. Im Ganzen waren diese Erfolge wesent¬ 
lich günstiger als die bei Hirntumoren. Caries und 
chronische Pachymeningitis ist sorgfältig auszuschliessen; 
Schwierigkeit macht die Frage, ob es sich nicht um 
multiple Tumoren handelt. Die Blutung, besonders 
aus den Knochen ist noch recht stark; peinlich muss 
der Operateur jeden Druck auf die Medulla spinalis 
vermeiden. 

Diskussion: Erb-Heidelberg, Edinger-Frankfurt, 
Fürstner-Strassburg, Hitzig-Halle, Rumpf-Bonn, Dink- 
ler-Aachen, Bruns-Hannover. 

b) Das Verhalten der Zunge bei Tetanie. 

Beim Beklopfen der Zunge von Tetanikem sieht 
man Wellenbildung von Nachdauer wie an myotoni- 
schen Muskeln, jedoch nicht bei elektrischer Reizung. 

14. Monakow-Zürich : Beitrag zur Ent¬ 
wicklung der Sehsphären. 

2 Gehirne von Fällen mit angeborener Blindheit 
zeigten keine grösseren Veränderungen im Occipital- 
lappen und in der Calcarina. Bei der Untersuchung 
der Windungs- und Fissuren typen der Calcarina an 
einem Material von 80 Individuen Hessen sich 4 
Typen aufstellen. Von den beiden Hirnen Blinder 
gehörte das eine zur Gruppe I, das andere zur 
Gruppe II. Lebenslängliche Absperrung des Lichts 
hatte also nicht die Entwicklung der Furchen zu 
einem besonderen Typus zur Folge. 

Diskussion: Hitzig - Halle, Pfister - Frcihurg, 
Stichcr-Giessen. 

14. Edinger-Frankfurt: Zur vergleichenden 
Anatomie des Gehirns: Das Vogelgehirn. 

Seit Bumins grundlegender Arbeit sind wenig 
Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die Vogelgc- 
hirne sind so vielgestaltig wie die Säugergehirne. Am 
höchsten steht das Papageigehirn, dann kommt das 

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der Gans; Gänsezi'ichter sind übrigens von der hohen 
Intelligenz dieses Vogels überzeugt. Das Papageige¬ 
hirn täuscht eine Windung vor durch eine Rinne, 
von der nach innen das Corpus striatum angewachsen 
ist. Ferner ist dort ein grosser Schläfenpol vorhanden, 
der bei der Gans nur angedeutet ist und bei den 
andern Vögeln völlig fehlt. Beim Schnitt durch ein 
Taubenhirn sieht man einen feinen Ventrikelspalt. 
Um denselben liegt ein Pallium, in ihn ragt ein 
mächtiges Corpus striatum. E. operirte 70 Tauben- 
gehirne und verfolgte die Faserdegeneration mit der 
Marchimethode. Das mächtige Corpus striatum ist 
zu teilen in ein Hyperstriatum; darunter dem Globus 
pallidus der Säuger entsprechend das Mesostriatum; 
darunter der Nucleus interpeduncularis. Von aussen 
schiebt sich das dreieckige Markfeld der Vögel (nach 
Bumm Ektostriatum) hinein, an dem die ersten 
Markfasem auftreten. Nach hinten aussen sitzt das 
Epistriatum, das beim Papagei einen grossen Theil 
des Schläfenpols ausmacht; hier liegt die Commissura 
anterior. In der Rinde zeigt sich grosse Verschieden¬ 
heit der Faserung. Das Frontalmark ist bei Papagei, 
Gans, Ente sehr entwickelt, bei der Taube bloss 
durch einige Fasern. Nur die Papageien haben eine 
Capsula interna. 17 Faserzüge konnte E. auseinander¬ 
halten, die er nach Anfangs- und Endstück be¬ 
nannte: 

A. Eigenfasern: 

1. Intrakortikale Fasern, besonders im Frontal- 
und Parietalgebiet. 

2. Tractus fronto-occipitalis intrastriaticus. 

3. Tractus fronto-occipitalis epistriaticus. 

4. Commissura pallii. 

3. Commissura anterior. 

B. Im Vorderhirn selbst entspringen: 

1. Tractus scpto-mesencephalicus. 

2. Tractus fronto-thalamicus. 

3. Tractus fronto-mesenccphalicus. 

4. Tractus occipito-mesencephalicus. 

5. Tractus strio-mesencephalicus. 

(). Tractus cortico-habcnularis. 

C. In das Vorderhirn gelangen: 

1. Tractus thalamo-striaticus. 

2. Tractus thalamo-frontalis et parietalis. 

3. Tractus aus der Gegend des Isthmus zum ba¬ 
salen Stimhirn. 

Die Faserzüge bilden aus dem Vorderhim und 
zu demselben ganz bestimmte Marklager, die bei ver¬ 
schiedenen Vogelarten sehr verschieden entwickelt sind. 
Das Vogelgehirn scheint aus dem Reptilienhirn ab¬ 
leitbar, ist aber nicht in das Säugergehirn überzuführen, 
sondern bildet einen eigenen, zu hoher Vollendung 
gelangten Hirn typ. 

Es ist zu erwarten, dass nun neue Untersuc hungen 
über die Leistungsfähigkeit des beschriebenen Appa¬ 
rates verglichen mit dem der Reptilien, Untersuchungen, 
welche der Vortragende begonnen hat, zu für die 
Psychologie brauchbaren Resultaten führen können. 

ib. B 1 u m - Frankfurt: Ueber experimentelle 
Erzeugung von Geisteskrankheiten. 

Bei strumektomirten Hunden konnte B. durch 
Milchfüttemng den raschen Tod einige Zeit hinaus- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1902.] 


131 


schieben. Diese Thiere zeigten psychotische Zustände, 
Hallucinationen, sie bissen in die Luft, stellten sich 
auf die Schnauze, zerkratzten sich die Nase; auffällige 
Charakterveränderungen. Tod unter geistigem und 
körperlichem Verfall. 

17. Link-Freiburg: Demonstration von Muskel¬ 
präparaten bei Myasthenia g r a v i s. 

Pat. erkrankte mit Ziehen im Auge, links Ptosis, 
gekreuzte Doppelbilder. Extremitätenschwäche, nach 
mehrmaligem Heben des Annes war er nicht mehr 
dazu im Stande. Myasthenische Reaktion deutlich im 
Supinator longus, Delto'ides u. a. Oefters Verschlucken. 
Atheminsufficienz, Tod. Sektion zeigte persistente 
Thymus, Nervensystem intakt. Dagegen fanden sich 
Zellherde in vielen Muskeln, in mehreren Augen¬ 
muskeln, im Supinator longus, Delto’ides, im r. Tibialis 
anticus; es waren Anhäufungen von kleinen lympho'iden 
Zellen im Perimysium internum, z. Th. in die Muskel¬ 
fasern eindringend. Einzelne Fasern schienen etwas 
geschrumpft. In einem Zellherde fand sich eine frische 
Blutung. 

18. N iss 1 -Heidelberg: U eher einige Bezie¬ 
hungen zwischen der Glia und demGefäss- 
Hpparat. 

Gliazellen reichen mit Fasern und dreieckigen 
Füsschen vielfach bis ganz nahe an die Gefässwand. 
Im perivaskulären Raum findet man Ansammlungen 
von Gliakernen. Wuchernde, proliferirende Gefässe 
treten in Verbindung mit Gliazellen, manchmal ist das 
Gefäss förmlich in Gliazellen eingemauert. Gliöses 
Protoplasma kann zerstörtes Gewebe geradezu über¬ 
schwemmen, sodass ein förmlicher Protoplasmarasen 
entsteht; das Gebilde ist von runden oder ovalen 
Löchern durchbrochen, die Ränder sind gezähnt. 
Manchmal ist eine Zelle der Länge nach durchbohrt 
von einem jungen Gefäss. Am meisten findet man 
derartiges am 2. und 3. Tag nach einem experimen¬ 
tellen Eingriffe, doch auch beim Menschen in Para¬ 
lyse, Katatonie, Epilepsie, Arteriosklerose. 

19. Schröder-Heidelberg: Die Katatonie im 
höheren Lebensalter. 

Das Heidelberger Material zeigte 5 Fälle, die 
zwischen 55 und 59 Jahren begannen, 4 zwischen 50 
und 55, sowie 10 zwischen 45 und 50. Davon waren 
15 Frauen, nur 4 Männer. Die Verblödung reichte 
meist nicht sehr tief. Gewöhnlich überwog die de¬ 
pressive Stimmung. 

20. Kraepelin-Heidelberg: Die Arbeitskurve. 

Vortr. demonstrirt den Gang der geistigen Leistungs¬ 
fähigkeit während einer Stunde und nach einer Pause, 
gemessen durch Addiren einstelliger Zahlen, und legt 
die Komponenten auseinander, insbesondere Uebung, 
Ermüdung, Erholung, Anregung, Gewöhnung, Willens¬ 
spannung. Vortr. glaubt, dass ausser diesen kein 
maassgebender Factor mehr in Betracht kommt. 

Weygandt -Würzburg. 

— Zur reichsgesetzlichen Regelung des 
Irrenwesens wird der „Kölnischen Zeitung“ (30. 5. 
1902) von sachverständiger Seite geschrieben: Der 
Reichstag ist nicht die einzige Stelle, an der die 
Ueberzeugung von der NothWendigkeit eines Reichs¬ 
irrengesetzes sich Bahn gebrochen hat. Grade die 

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der Sache Nahestehenden, die Irrenärzte, hegen das 
lebhafte Verlangen nach einem solchen Gesetz. Man 
will lieber unter festen gesetzlichen Bestimmungen 
arbeiten, als unter administrativen Verordnungen, über 
deren Entstehungsweise, weil sie fix und fertig aus 
dem Bureau ans Tageslicht gelangen, nicht nur die 
Aerzte selbst, sondern auch das Publikum im Un¬ 
klaren bleiben, und die, wie die Erfahrung gezeigt 
hat, gemäss den jeweiligen uncontrollirbaren Einflüssen 
heterogener Natur, häufig Abänderungen und dabei 
leider nicht immer eine Verbesserung erfahren. Sollte 
auch das. Reichsirrengesetz, wie zu erwarten, beim 
ersten Gusse nicht in idealer Form erscheinen, so ist 
die Volksvertretung ja nicht minder in der Lage, 
Aenderungen vorzunehmen, und vor allem sind die 
Irrenärzte in den Stand gesetzt, die Oeffentlichkcit 
über die Mängel des jungen Gesetzes an der Hand 
geeigneter Beispiele zu belehren. So wie jetzt die 
Dinge liegen, wissen die wenigsten Leute aus dem 
Publikum überhaupt etwas davon, dass jene Verord¬ 
nungen bestehen, daher das Misstrauen gegen die 
Anstalten und der Glaube, dass in ihnen die Aerzte 
nach Belieben über das Schicksal der Insassen 
schalteten und walteten; anders ist es bei einem von 
der Volksvertretung in öffentlicher Erörterung ge¬ 
schaffenen Gesetz, dessen Inhalt und Wandlung der 
Kenntniss jedermanns zugänglich ist. In den Kreisen 
der preussischen Irrenärzte scheint man hier und da 
in den Reformwünschen noch weiter zu gehen und 
als erstrebenswerth hinzustelleir, dass die ganze Irren-, 
Epileptiker- und Idiotenfürsorge aus den Händen 
der Provinzial- und Communalverwaltungen in die 
unmittelbar staatliche übergehe, wie dies in den übrigen 
Bundesstaaten bereits der Fall ist. Während es sich 
nun einerseits nicht bestreiten lässt, dass auch in 
Preussen hier und da — ob aus finanziellen oder 
andern Giünden, bleibe dahingestellt — die gesetz¬ 
lichen Verpflichtungen zur Irren- u. s. w. Fürsorge 
mehr oder weniger unzureichend erfüllt werden, so 
steht doch anderseits fest, dass den einschlägigen 
Schöpfungen zweier Provinzen, Sachsens, (Anstalt Alt¬ 
scherbitz) und der Rheinprovinz (Anstalten Grafenberg 
und Galkhausen) das deutsche Irrenwesen, soweit 
Anstaltseinrichtungen in Betracht kommen, den Welt¬ 
ruf verdankt, den es gegenwärtig thatsächlich besitzt; 
ein grösserer Ruhm wäre es freilich für das deutsche 
Volk, wenn es nicht nur die besten Anstalten hätte, 
sondern auch die wenigsten brauchte! Es steht daher 
zu hoffen, dass die Bestimmungen des Reichsirren¬ 
gesetzes, da wo es nothwendig ist, nicht nur auf die 
Intensität, sondern auch auf die Extensität der Irren-, 
Epileptiker- und Idiotenfürsorge einen fördernden 
Einfluss ausüben. 

— Eisass - Lothringen. Geheimer Obermedi- 
cinalrath Krieger, der Director der Bezirks-Irren¬ 
anstalt zu Stephansfeld, San.-Rath Dr. Vorster und 
der Director der Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd 
San.-Rath Dr. Dittmar waren von der Bezirks¬ 
regierung des Obereisass mit der Begutachtung zweier 
für den Neubau der dortigen Irrenanstalt in Aussicht 
genommenen Gelände betraut worden, deren eines 
bei Colmar, das andere bei Rufach gelegen ist. Die 

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132 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n. 


genannte Sachverständigen-Commission hat nach einer 
am 31. v. M. vorgenommenen Besichtigung beide 
Gelände für geeignet erklärt; doch schien ihr das 
bei Colmar gelegene den Vorzug zu verdienen. — 
In der am 5. d. M. stattgehabten Sitzung des Bezirks¬ 
tags des Obereisass kam es über die Wahl des Bau¬ 
platzes für die zukünftige Irrenanstalt zu sehr lebhaften 
Debatten, deren Resultat der Beschluss war, dieselbe 
bis zum November d. J. zu vertagen. Bis dorthin 
sollen Pläne über die Bebauung beider Gelände 
dem Bezirkstag vorgelegt werden. 

—r Ein Mord in der Irrenanstalt. Sternberg, 
3. Juni. Das Sprechzimmer der hiesigen mährischen 
Landesirrenanstalt war am vergangenen Sonntag der 
Schauplatz einer furchtbaren Scene. Vor den Augen 
aller Besucher erwürgte^ ein internirter Wahnsinniger 
eine zum Besuche ihres geisteskranken Gatten in die 
Anstalt gekommene Frau. 

Der irrsinnige Mörder heisst Risanek und war, 
bevor er in die Irrenanstalt kam, Unterlehrer in Prerau. 
Er befand sich Sonntag Vormittags im Sprechzimmer 
der Anstalt, wo sich zumeist an Sonntagen Angehörige 
der Patienten zum Besuche einfinden. Unter den 
Besuchern befanden sich diesmal eine Frau Wodicka 
und deren Sohn, die den geisteskranken Gatten und 
Vater sehen wollten. Plötzlich stürzte sich der wahn¬ 
sinnige Lehrer Risanek, der sich bis dahin ganz ruhig 
verhalten hatte, auf die nichts ahnende Frau, warf 
sie zu Boden und erwürgte sie mit einem einzigen 
furchtbaren Griffe, ehe ihr Jemand Hilfe leisten konnte. 
Als Besucher und Wärter nach wenigen Minuten Frau 
Wodicka von ihrem wahnsinnigen Angreifer befreiten, 
konnte nur mehr der Tod der unglücklichen Frau 
konstatirt werden. Eine strenge Untersuchung wurde 
eingeleitet. (Wiener Mittagsztg., 4. VI. 02.) 

— Die „Münchener Post“ (27. 3. 02), aus 
deren Spalten wir kürzlich (in No. 9) einen Angriff 
gegen die Dr. Rehm’schc Anstalt zugleich mit der 
vernichtenden Zurückweisung dieses Angriffes ab¬ 
druckten, beschäftigt sich weiter mit den Münchener 
Irrenanstalten. Sie schreibt: „Anlässlich der jüngsten 
Tagung des Landrathes für Oberbayern im Herbste 
igoi gelangte auch eine Eingabe der verheiratheten 
Pfleger der Münchener Kreisirrcnanstalt bezüglich 
der Gewährung eines Wohnungsgeld Zuschusses zur 
Vorbescheidung. Und in No. 316 der Augsb. Abendztg. 
vom 15. Nov. 01 war zu lesen, dass das Gesuch in 
Rücksicht auf die gegenwärtige Krisis und die baldige 
Verlegung der Irrenanstalt, die dann ohnehin eine 
Neuregelung der Dienstverhältnisse für die Pfleger 
bringen werde, abgelehnt wurde. Dagegen, so hiess 
es in dem Bericht weiter, erhalten die verheiratheten 
Pfleger anstatt wie bisher 8 Stunden in der Woche, 
jede Woche einen ganzen Tag frei! 

Dazu wird uns nun geschrieben: Vom neuen Jahr 
ab, wo der freie Tag hätte in Kraft treten sollen, 
bekamen die verheiratheten Pfleger alle 14 Tage 


eine freie Nacht. Dafür kommen die Wärter ^lle 
4 Tage auf Wache, wo sie 40 Stunden ununterbrochen 
Dienst thun und gleich darauf den regulären Dienst 
wieder antreten müssen. Die Herren Psvchiatriker 
thun sich allerdings leichter, sie spazieren durch die 
Säle, suchen dann wieder andere Gesellschaft auf 
und halten womöglich auch Vorträge über die zu¬ 
nehmende Nervosität u. s. w. Um das arme Pflege¬ 
personal, das die ganze Woche aus dem Narrenhaus 
nicht herauskommt und deshalb schliesslich selbst 
verrückt werden kann, aber kümmert man sich nicht. 
Und doch bedingt die richtige Warte des Geistes¬ 
kranken, dass das Pflegepersonal nicht auch nervös, 
überarbeitet und mürrisch ist. Was die Folgen solcher 
Ueberanstrengungen sind, ist ja schon in Gerichts¬ 
verhandlungen festgestellt worden, wo Wärter wegen 
Misshandlung der ihnen an vertrauten Patienten bestraft 
werden mussten. 

Man versäume also nicht die versprochene Dienst¬ 
erleichterung, den freien Tag zu gewähren !“ (Eine 
Berichtigung wäre sehr erwünscht. Red.) 

— In der Münchener Orientalischen Gesellschaft 
sprach am 22. Mai Dr. Moharren Bey über das 
Thema: „War Mohammed Epileptiker?“ Die 
seelische Analyse der Visionen des Propheten erscheint 
bekanntlich seit alter Zeit dem Abendlande als ein 
geheiinnissvolles Problem. Während ihn Viele für 
einen Hypochonder hielten, erklärte ihn Lombroso 
für toll und irrsinnig. Eine grosse Anzahl von 
Forschem behauptet, er habe in seiner Kindheit und 
in späterem Alter an Epilepsie gelitten. Einer freund¬ 
lichen Anregung des Ministerialrathes v. Bumm fol¬ 
gend, trat auch der Vortragende an die Diagnose 
von Mohammeds Seelenzustand heran, die sich bei 
der Dürftigkeit des Materials freilich sehr schwierig 
gestaltet. Nach äusserst sorgfältigen und komplicirten 
Untersuchungen der wichtigsten Lebensmomente des 
Propheten gelangt der Redner zu folgendem Ergeb- 
niss: Es könne nicht geleugnet werden, dass das 
Leben Mohammeds manche bedenkliche Symptome 
aufweise, welche auf Epilepsie hindeuteten. Aber 
diese Erscheinungen fänden sich auch bei einer grossen 
Anzahl anderer Erkrankungen und bildeten keine 
wesentlichen Merkmale. Wohl müsse das uns über¬ 
lieferte Bild Mohammeds, im Einzelnen betrachtet, 
als anormal erscheinen; als Ganzes falle es aber 
keineswegs mit dem Gesammtbegriff der Epilepsie zu¬ 
sammen. Die aus dem Munde eines Arabers be¬ 
sonders interessanten, klaren Ausführungen fanden 
bei dem wieder sehr zahlreich erschienenen Publikum 
lebhaften Beifall. Eine kurze, sich anschliessende 
Diskussion, an der sich die Herren Dr. Grothe und 
Dr. Schupp betheiligten, bewies, wie verschiedenartig 
das Krankheitsbild des Propheten noch immer ge¬ 
deutet wird. Schliesslich wies noch Herr Professor 
Dr. Prutz mit einigen wenigen, vortrefflichen Worten 
auf die grosse historische Parallele der Offenbarungen 
Mohammeds mit den Visionen der Jungfrau von 
Orleans hin. (Münch. N. Nadir.) 


Für den redactioncllon Thei! verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brcsler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint Jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevneniann’sche Buchdruckerei (Clebr. Wnlff) in Halle a. S. 


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Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin. 


Prof. Dr. E. Mendel. 

Dr. P J. Möbius, 

Director Dr. Morel, 


Berlin. 

Leipzig. 

Mons (Belgien). 


Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien». 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. »Adresse: Marho ld Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 12. 21. jum. 1902. 

Die ,,Psychiatr 1 scb-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

B »-Stellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden,für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermämigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur spontanen Harnblasenruptur bei der progressiven Paralyse. Von Dr. Max Edel (S. 133). — Mit¬ 
teilungen (S. 140). — Referate (S. 142): 


Aus dem Asyl für Gemüthskranke zu Charlottenburg. 

Zur spontanen Harnblasenruptur bei der progressiven Paralyse. 

Von Dr. Afax Edel. 


uf das bis dahin nicht bekannte Vorkommen spon¬ 
taner Harnblascnzerreissung bei der progressiven 
Paralyse der Irren machte im Jahre 1895 Ilerting- 
Altscherbitz in einer im Archiv für Psychiatrie er¬ 
schienenen Arbeit über 3 Fälle nichttraumatischer 
Ilarnblasenruptur bei paralytischen Geisteskranken auf¬ 
merksam *). Fast gleichzeitig veröffentlichte Posner**) 
in der Festschrift für Georg Lewin einen bemerkens- 
werthcn hierhingehörigen Fall aus unsrer Anstalt, den 
ersten der Art, welchen ich gesehen habe und bei 
dessen Section ich zugegen war. Die Diagnosen- 
Stellung war in diesem Fall bei Lebzeiten nicht mög¬ 
lich; Posner führt in seinem Aufsatz an, dass er auf 
die eben erschienene Arbeit von Herling leider erst 
nach Abschluss unsres Falles durch mich aufmerksam 
.gemacht wurde, sonst hätten wir ja sicherlich die Diag- 

*) Archiv für Psychiatric XXVII. S. 541. 

**) Festschrift für Georg Lewin 1895, S. 149. Beiträge 
zur Dermatologie und Syphilis. Posner: Blasenruptur bei pro¬ 
gressiver Paralyse. 


nose zu stellen vermocht, wie dies ja fortan bei ähn¬ 
lichen Vorkommnissen ein leichtes sein werde. Diese 
Voraussage hat sich bei mehreren weiteren Fällen von 
Harnblascnzerreissung bei Paralytikern, welche ich in 
den verflossenen Jahren in unserer Anstalt beobachtet 
habe, bestätigt. Ich habe die Diagnose in 2 Fällen 
sicher und mit Leichtigkeit während des Lebens 
stellen können. Da inzwischen von keiner weiteren 
Seite das Vorkommen dieses das Leben der Kranken 
eminent bedrohenden Ereignisses mitgetheilt ist, so 
erlaube ich mir durch kurze Wiedergabe meiner Be¬ 
obachtungen die Aufmerksamkeit noch einmal auf 
diesen Gegenstand zu lenken, um einerseits zur Ver¬ 
hütung dieser gefährlichen Erscheinung, andererseits 
zur schnellen klinischen Erkennung und Würdigung 
des Ereignisses sowie zur geeigneten Behandlung 
solcher Fälle beizutragen. 

I. Fall. 

Ueber den ersten bereits mitgelheiltcn Fall seien 
mir noch einige recapitulii ende und ergänzende Be- 


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134 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 12 


merkungen gestattet. Dass es sich um progressive 
Paralyse handelte, stand zweifellos fest. Der 4ojähr. 
Kaufmann, dessen Vater an Gehimschlag und dessen 
einer Bruder an Gehirnerweichung gestorben war, 
hatte mit 16 Jahren einen Schanker gehabt, zeit¬ 
weilig viel getrunken und geraucht. Er litt einige 
Jahre vor seiner Psychose an Intermittens, später an 
heftigen Gesichtsneuralgien. Seit Frühjahr 1895 be¬ 
suchte er seiner steigenden Erregung wegen verschiedene 
Anstalten, zeigte ungewöhnliches Benehmen, bekam 
Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche und Störungen 
des Lesens und Schreibens. Die Zunge klebte förm¬ 
lich im Munde fest, wodurch die Sprache sehr er¬ 
schwert wurde. Es bestand Pupillendifferenz und -enge, 
die Lichtreaction war wegen der Unruhe des Kranken 
nicht zu prüfen. Die Zunge zitierte stark beim Her¬ 
vorstrecken. Die Kniereflexe waren stark erhöht. 

Der Patient war mager und anämisch, die Tem¬ 
poralarterien traten stark geschlängelt hervor. Es be¬ 
stand in unsrer Anstalt, in welcher er am 24. August 
1895 aufgenommen war, hohgradige Erregung und 
Verwirrtheit bei beängstigenden Sinnestäuschungen, 
hypochondrischen und Grössenvorstellungen. Gelang 
es, ihn einen Moment zu fixieren, so waren Intelli- 
genzdefecte deutlich nachweisbar. Zeitweilig ver¬ 
weigerte er die Nahrung und wurde agressiv. Die 
Sprache war in characteristischer Weise gestört, schwer, 
undeutlich, stockend, stolpernd. Er verschluckte die 
Endsilben oder brachte sie falsch und unverständlich 
heraus und vollendete die Sätze zum theil nicht richtig. 
Die Schrift war verändert, kritzlich, undeutlich, krumm. 

Vieles war ausgestrichen und überschrieben, die 
Sätze waren zum theil nicht richtig beendet, Buch¬ 
staben, Silben und Worte ausgelassen, z. B. Sanorium 
statt Sanatorium, und nicht hingehörige eingeschoben. 
Die Hirn-Section bestätigte die klinische Diagnose. 
Der Patient, welcher noch am Tage zuvor verwirrt und 
erregt war, gelacht und getanzt hatte, konnte am 
3. September nicht mehr Urin lassen, verhielt sich 
apathisch und hatte starken Durst. Das Allgemein¬ 
befinden war im übrigen nicht gestört. Die allmäh¬ 
lich zunehmende Dämpfung über der Blasengegend 
Hess eine übermässige Ausdehnung der Harnblase 
vermuten. 

Da vorsichtige Katheterisirungen zuerst wegen der 
Unruhe des Kranken und dann wegen der Neigung 
der Harnröhre zu Blutungen abgebrochen werden 
mussten, wurde am 5. September die Punctio hypo- 
gastrica vorgenommen, wobei sich ca. 800 ebem trüben, 
stark blutigen Urins entleerten. Offenbar war die bei 
der Section constatierte Blasenzerreissung bereits am 
3. erfolgt, und es hatte, wie der Referent in Virchow- 


Hirschs Jahresbericht wohl mit Recht annimmt, der 
massenhaft in den Retzius’schen Raum getretene blutige 
Ham die Blasenausdehnung vorgetäuscht. Das kreis¬ 
runde, 3 cm im Durchmesser haltende Loch befand 
sich in der vorderen Wand, mit gewulsteten Rändern 
und blutig infiltrierter Umgebung. Die Blasenwand 
war theilweise hypertrophisch, theilweise papierdünn. 
Das Befinden des Kranken hatte sich allmählich ver¬ 
schlechtert, die Temperatur war normal, später sub¬ 
normal, der Puls beschleunigt. Der Patient deutete 
mit schmerzlichem Gesichtsausdruck auf die Blasen¬ 
gegend. Die Zunge war trocken. Am Unterleib wurde 
Infiltration phlegmonösen Characters sichtbar; unter 
Apathie, Sopor und Stertor trat der Tod am 7. Sep¬ 
tember, also etwa 4 Tage nach der muthmasslichen 
Blasenruptur ein. Bei der vorgeschrittenen Ent¬ 
kräftung und Unruhe des Patienten konnte von einer 
Operation wohl kaum die Rede sein, selbst wenn die 
Diagnose rechtzeitig richtig gestellt wäre. Peritonitische 
Erscheinungen waren weder klinisch noch pathologisch- 
anatomisch nachweisbar. Ein der Zerreissung vorher¬ 
gegangenes Trauma war bei sorgfältiger Ueberwachung 
des Kranken durch eigenen Pfleger bestimmt ausge¬ 
schlossen; es fehlten plötzliche Collapserscheinungen 
an Temperatur und Puls. Characteristisch war, dass 
bei jedem Katheterisiren immer nur eine kleine Menge 
trüben blutigen Harns, etwa 200—300 ebem, entleert 
wurden und dass dabei die Dämpfung der Blasen¬ 
gegend nicht vollkommen zurückging. 

II. Fall. 

46j. Kaufmann, 12. Dezember 1900 aufgenommen, 
hat Lues vor 6 Jahren gehabt, war viele Monate anti¬ 
syphilitisch behandelt worden und litt viel an Kopf¬ 
schmerz. Seither hat er Ptosis links mit Doppelsehen 
beim Blick nach oben bekommen. Zeitweilig hat er 
gar nicht sehen können. Die Geistesstörung bestand 
seit einigen Wochen und hat bereits zur Abmagerung 
geführt. Das linke Auge kann sich nicht nach oben 
drehen, nur wenig nach unten. Die Pupillen sind 
different und verzogen, die Lichtreaction ist sehr träge. 
Die linke Nasenlippenfalte ist verstrichen, der linke 
Mundwinkel hängt. Schwache Patellarreflexe, Herab¬ 
setzung der Schmerzempfindung. Unsicherer Gang. 
Euphorie, Grössenideen, Verwirrtheit und Erregung, 
Schlaflosigkeit, Stuhlverhaltung. Er war sehr reizbar, 
ertrug keinen Widerspruch, sprach viel, äusserte grosse 
Pläne, machte cynische Bemerkungen und beging 
sinnlose Handlungen. Er will 50 Kinder bekommen, 
einen Check auf Kaiser Wilhelm ausstellen u. a. Ur- 
theils- und Intelligenzschwäche traten deutlich hervor. 
Obwohl er Kassirer ist, konnte er einfache Rechen¬ 
aufgaben nicht richtig lösen. Sprache hin und wieder 


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IQ02.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


*35 


verwaschen, Wiederholung einzelner Worte. Die 
Diagnose progressive Paralyse stand danach fest Am 
13. Dezember habe ich notiert: Manisches Wesen. 
Stuhlverhaltung. 20. Dezember. Leib etwas mete- 
oristisch, Blasengegend nicht vorgewölbt. Patient 
schwimmt in Urin, hat 3 mal unwillkürliche reichliche 
Urinentleerung (von normaler Farbe und Beschaffen¬ 
heit). Der Kranke ist wegen einer starken spontan 
auftretenden Blutunterlaufung am rechten Fuss bett¬ 
lägerig. In der Nacht vom 21. zum 22. Dezember 
schrie er laut vor Schmerzen. Am 22. ist das Bild 
verändert. Peritonitische Erscheinungen sind vorhanden. 
Starke Auftreibung des Leibes, Brechneigung, heftiges 
Erbrechen, Aufstossen, kleiner beschleunigter Puls, 
Schmerzhaftigkeit des Leibes bei Berührung. Gegen 
Abend wurden circa 2 Liter blutigen Urins durch 
Katheterisirung entleert. Die Diagnose Blasenruptur 
wurde gestellt, von einer Operation aber wiegen des 
schlechten Allgemeinstandes, der vorgeschrittenen geis¬ 
tigen und körperlichen Schwäche im Einverständnis 
mit den Angehörigen Abstand genommen. Der Pa¬ 
tient delirirte, sah Vögel und Mäuse. Seine Schwäche 
nahm zu. Er wurde täglich mehrmals cathetrisirt, da 
er nicht von selbst Urin Hess. Der entleerte Urin 
war hell, ei weissreich. Unter Stertor trat am 26. De¬ 
zember, also 5 Tage nach dem Einreisen der Blase 
der Tod ein. Die Section bestätigte am 27. Dez., 
die Diagnose Blasenruptur. Das Peritoneum erwies 
sich glatt, feucht und glänzend. Die Därme waren 
etwas aufgebläht, fibrinöse Verklebungen waren nicht 
sichtbar. Im Abdomen befanden sich ca. 50 chcin 
freien Urins, ohne Blutbeimengung. Die Harnblase 
war zusammengefallen. Auf der hinteren Seite der 
Harnblase etwas rechts vom Scheitel war ein von oben 
nach unten etwas schief verlaufender intraperitonealer 
Riss, welcher w'eit klaffte, und eine Ausdehnung von 
ca. 8 cm hatte. Die Ränder desselben w r aren auf 
dem Blaseninnern blutig injicirt, in der Nähe be¬ 
merkte man verschiedene kleine Hämorrhagien. Die 
Blasenwandung war nicht merklich verdünnt; die Blase 
enthielt keinen Urin, aber verschiedene Blutcoagula. 
Uebrige Section nicht gestattet. 

III. Fall. 

44j. Kaufmann, aufgenommen 4. September 1901, 
zeigte seit 1 / J Jahr gleichzeitig mit einer Entfettungs¬ 
kur, wobei er 50 Pfd. abnahm, verändertes Wesen, 
äusserte hypochondrische Beschwerden, wurde de- 
prirairt und erregt. Er klagte viel über Kopfschmerzen. 
Das Sättigungsgefühl ging ihm verloren. Die Erregung 
steigerte sich wenige Tage vor seiner Aufnahme; er 
schlief schlecht, machte sich viele Vorwürfe, behaup¬ 
tete, von allerlei Krankheiten befallen zu sein, sich 


umgebracht zu haben u. s. w. Dabei w’arf er sich 
beständig ruhelos umher. 

Er sprach zeitweilig mit deutlichem Silbenstolpern. 
Die Pupillen w r aren etwas eng und different, die Licht- 
reaction war stark herabgesetzt, die Convergenzreaction 
mässig. Die vorgestreckte Zunge zitterte fibrillär. 

Beim Sprechen und Bewegen des Gesichts fiel 
eine Ungleichmässigkeit der unteren Gesichtshälften 
auf. Die Kniesehnenreflexe waren abgeschwächt. 
In geistiger Beziehung ist Gedächtnissschwäche, hoch¬ 
gradige Urtheilsschwäche und völlige Concentrirung 
der Gedanken auf sein Leiden zu constatiren, wo¬ 
durch er ohne jedes Interesse für die Vorgänge in 
seiner Umgebung erscheint und auch schmerzhafte 
Nadelstiche nicht spürt. Der grosse fettreiche Mann 
war tief deprimirt, und befand sich andauernd in 
hochgradiger ängstlicher Erregtheit, hallucinirte, äusserte 
Versündigungsideen und w'älzte sich hin und her. Es 
bestanden Verstärkung und Beschleunigung der Herz¬ 
töne, keine Geräusche, an den Stimgefässen sclerotische 
Erscheinungen. Da der Puls von Anfang an anhaltend 
beschleunigt war, 100—120 —140, so erhielt der Pa¬ 
tient ausser Bädern und Beruhigungsmitteln vorüber¬ 
gehend kleine Dosen Digitalis. Am 9. September 
Hess Patient einige mal Urin unter sich und schmierte 
mit Koth. Am 10. September war die Blasengegend, 
welche täglich untersucht wurde, nicht vorgewölbt; 
Dämpfungsgrenze bei der Unruhe nicht festzustellen. 
Nach Angabe des Pflegers hatte der Patient genügend 
Urin entleert Am 11. September liess er J / 2 Nacht¬ 
geschirr voll hellen Urins. Abends gegen io*/j Uhr 
bekam er einen raptusartigen Aufregungszustand, wo¬ 
bei er seine Urinflasche zertrümmerte. In derselben 
Nacht Hess er reichlichen Urin, vermischt mit hell¬ 
rotem Blut auf den Fussboden. Am Morgen des 
12. September war das Gesammtbild verändert. Die 
Temperatur betrug 35,8, der Puls war bis auf Soge¬ 
sunken, Hände und Füsse w f aren kühl, die Zunge 
trocken, etw r as belegt. Der Patient lag jetzt im Ge¬ 
gensatz zu seinem bisherigen ruhelosen Verhalten still 
auf dem Rücken, hielt den Oberkörper etwas nach 
vom gebeugt, die Füsse an den Leib angezogen, konnte 
sie nicht ohne Schmerzen ausstrecken und sich nicht 
ohne Schmerzen bewegen; von Zeit zu Zeit schrie er 
heftig auf und gab an, kolikartige Leibschmerzen zu 
haben, es sei ein fürchterliches Ziehen von beiden 
Unterrippengegenden zum Nabel. 

Es müsste etwas im Leib geplatzt sein. 

Dabei war der Kräftezustand ein verhältnissmässig 
guter. Schweres Krankheitsgefühl. Kein Aufstossen, 
kein Erbrechen, kein bedrohlicher Collaps. 

Ueber der rechten Unterleibgegend von der Nabel- 


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U6 

Symphysenlinie an nach rechts war deutliche Dampfung 
zu constaticren, welche sich an der rechten Seite 
etwas nach hinten und oben erstreckte. Der Leib 
war nicht aufgetricbcn, Druckcmpfimllichkeit nicht 
wahrzunehmen. Ich stellte sofort die Diagnose auf 
Blasenriss. Da seitdem von selbst kein Urin mehr 
entleert wurde, wurde katheterisirt. Dabei erhielt 
ich ca. 400 ebem. einer braunen, trüben, dicken Flüssig¬ 
keit, welche eine Menge verändertes, zum Teil ge¬ 
ronnenes Blut absetzte. Ich ordnete Eisblase und 
Opium an. Der Puls stieg auf <)2 , die Temperatur 
auf 36. Der Patient fühlte sich nicht kühl an, und 
war nicht collabirt; er wurde hallücinatorisch verwirrt. 

Wegen der ins Auge gefassten Möglichkeit einer 
operativen Behandlung wurde Herr Professor Dt . Bessel- 
hägen zugezogen. Dieser bestätigte die Diagnose 
und nahm wegen der cirumseriptcn Dämpfung, des 
Fehlens von Druckempfindlichkeit des Leibes, von 
Aufstossen und Erbrechen und wegen des vcrhült- 
nissmässig günstigen Allgemeinbefindens an, dass der 
Riss der Blase sich noch extraperitoneal befand. Da 
noch keine augenblickliche Lebensgefahr vorlag und 
andrerseits die hochgradige halliu inatorisc he Ver¬ 
wirrtheit und Erregung Bedenken bezüglich'der Nach¬ 
behandlung einer eventuellen Operation erweckte, 
stand Prof. Besselhagcn von sofortiger Lapaiotomie und 
Vernühung des Blasenrisscs ab. Er meinte, der 
Blasenschluss könne besser auf granulirendem Wege 
zustande kommen; bei der unausbleiblichen Harn¬ 
infiltration würde sich eine Phlegmone entwickeln, die 
dann voraussichtlich Incisionen erforderlich machen 
würde. Zur Vermeidung einer Blascnausdehnung 
empfahl er die häufigere Katheterisirung und Einlegung 
eines Verweilkatlieters. Ich legte demgemäss einen 
Dauerkatheter (Nclaton) ein, wobei die Entleerung 
von ca. 200 cbcin. hellen Urins das Stehen der Blutung 
anzeigte. Es schwammen nur wenige Blutcoagula 
im Harn. Spät abends befand sich in der Ente 
noch eine kleine Menge hellgelben Urins ohne Blut. 
Es wurde abends Aufstossen wahrgenommen, In 
der Nacht zum 13. September wurde ich zu dem 
Patienten gegen 4' 2 Uhr gerufen. Ich fand ein ver¬ 
ändertes Gesammtbild vor. Es bestand Lungen¬ 
ödem, Stertor, kleiner beschleunigter Puls (120), kühler 
Schwciss, Sopor und Aufschreien bei jeder Berührung 
des Leibes. Offenbar war der Durchbruch in die 
Bauchhöhle erfolgt. Trotz exitirender Behandlung 
erfolgte um 8 l 4 Uhr morgens (13. September) der 
tötliehe Ausgang. Die Section wurde leider nicht ge¬ 
stattet. Als Todesursache notirte ich auf dem 
Totenschein: Blasenriss bei fortschreitender Gehirn- 
lühnuing. 

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[Nr. 12. 

IV. Fall. 

45 jr. Rechtsanwalt, aufgenommen 28. Juni i8q8. 
Mutter nicht ganz normal, eine Schwester war vorüber¬ 
gehend geistesgestört. Als junger Mann hatte er 
öfters Gonorrhoe und bekam eine Strictur, musste 
wegen Urinretention mehrmals katheterisirt Werden. 

Seit 3 Jahren „nervös“, litt an Schwihdclgefühl, 
Angst und Zwangsvorstellungen bei Vorhandensein 
eines in letzten Jahren grösser gewordenen Kropfes. 
Kurze Zeit bestellt ungewöhnliche nianiäkalische Er¬ 
regung; er zeigte übermässige Geschäftigkeit. Sucht 
Pläne und grosse Einkäufe zu machen, fühlte sich 
überglücklich, witzelte und war gegen seine Gewohn¬ 
heit ausgelassen fröhlich, gehobener Stimmung und 
ausserordentlich reizbar. Der Patient war in anhaltend 
lebhafter Erregung, sprach fortwährend weitschweifig 
und hatte wenig Schlaf. Grössenidecn traten auf. 
So äusserte er, mit dem Kriegsininister Scat zu spielen, 
wegen seiner Strictur ö Wochen lang keinen Urin ge¬ 
lassen und dann 42 Liter Urin mit einem Mal ent¬ 
leert zu haben; Urtheilsschwächc war ersichtlich, bis¬ 
weilen wurde Vergesslichkeit und Mangel an ethischen 
Empfindungen bemerkt. Der Ernährungszustand war 
ein guter. Der Patient halte eine Struma von er¬ 
heblicher Grösse. An körperlichen Lühmungs- 
erscheinungen waren vorhanden: Schielen, (Strabismus 
divergens), linksseitige Ptosis, Pupillendiffercnz und 
Trägheit der Lichtreaction, Schwäche, des linken 
Facialis. Die grade ausgestreckte Zunge zitterte 
leicht fibrillär, bisweilen trat eine Sprachstörung her¬ 
vor, die in Versetzen resp. Hinzufügen von Buch¬ 
staben bestand, wie z. B.: „polpulär, kathretisirt, 
Stivilproccss.“ Der rechte Kniesehnenreflex war er¬ 
loschen, der linke schwach vorhanden. Das Schmerz¬ 
gefühl war stark herabgesetzt; der Stuhl oft verhalten. 
An der Diagnose progressive Paralyse konnte somit 
ein Zweifel nicht bestehen. Die psychische Erregung 
nahm zu, der Pat. wurde verworren. Er schwitzte 
stark. Am 1. Juli wünschte er die Einlegung eines 
Bougies in die Harnröhre und behauptete, an io mal 
Urin gelassen zu haben, jedesmal ein Nachtgeschirr 
voll. Nachdem am 2. Juli unwillkürlicher Abgang 
von Urin beobachtet war, stellte sich am 3. Juli Er¬ 
brechen und Hinfälligkeit mit Pulsbeschleunigung ein. 
Der Leib erwies sich stark gespannt und die Blasen- 
clämpfung ausgedehnt, die Katheterisirung misslang 
bei der vorliegenden engen Strictur der Harnröhre. 
Da Indicatio vitalis vorlag, Sopor, Cvanose, kleiner 
fliegender Puls, kalter Schweiss, häufiges Erbrechen 
erfolgte, wurde die Blasenpunktion durch den Haus¬ 
arzt Dr. Friedlaender yorgenomnien, wodurch eine 
grössere Menge stark ciwcisshaltigcn LTins entleert 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 




1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 157 


wurde. Ueber den Lungen hörte man rechts hinten 
unten Knisterrasseln. In den nächsten Tagen wurde 
dort auch eine kleine Dämpfung nachweisbar. Die 
Katheterisirung gelang nach vorherigem Bougiren. 
Fortan musste der Ham durch Katheterisirung ab¬ 
gelassen werden, da spontan keine Urinentleerung 
erfolgte. Der Urin war ohne Blut. Am 6. Juli wurden 
in 1 1 j 2 Stunden dauerndem Katheterismus ca. 2 Nacht¬ 
töpfe voll Urin entleert. Auffällig war der langsame 
Abfluss des Harns. Das Allgemeinbefinden ver¬ 
schlechterte sich. Der Puls war klein, fliegend, die 
Temperatur betrug 36,8—37 0 , der kalte Schweiss 
hielt an, ebenso das Erbrechen, die Benommenheit 
nahm zu, die Sprache wurde undeutlich und ganz 
verworren, die Glieder wurden kühl, die Athmung kurz 
und beschleunigt. Am 7. Juli 1898 trat der Tod 
ein. 

Section wurde leider auch in diesem Fall nicht 
gestattet. Auch hier handelt es sich neben einer 
Lungenentzündung sehr wahrscheinlich um eine Blasen- 
zerreissung. 

Zunächst muss ich ebenso wie Posner und Her- 
ting bei meinen P'ällen betonen, dass von der Ein¬ 
wirkung eines Trauma auf die Blase keine Rede 
sein konnte. Sämtliche Patienten wurden sorgfältig 
überwacht: nur bei Fall III liegt die Möglichkeit 
vor, dass der raptusartige Erregungszustand des 
Patienten, bei dem er eine Urinflasche zertrümmerte, 
vielleicht die Veranlassung zum Platzen der Blase 
gegeben hat. Auch von einer nennenswerthen Ueber- 
dehnung der Harnblase durch Urinverhaltung kann 
man abgesehen von Fall I nur bei Fall IV sprechen 
In diesem lag eine hochgradige Strictur vor und der 
versuchte Katheterismus gelang theils deshalb, theiis 
wegen Unruhe des Patienten erst, als bereits die 
Punctio hypogastrica wegen vitaler Indication vor¬ 
genommen war. Den wirklichen Grund für die Zer- 
reissung der Harnblase in diesen Fällen nachgewiesen 
zu haben, ist das Verdienst Hertings, welcher eine 
Degeneration der Blasenmusculatur microscopisch bei 
seinen 3 Fällen feststellte. (Übermässige Fett¬ 
entwicklung sowohl subperitoneal als zwischen den 
einzelnen Muskelbündeln. Die Muskelfasern selbst 
zeigten alle Stadien der Degeneration. An den 
Rissstellen fand er kleinere und grössere Blutungen 
und in letzteren structurlose fadenartige Gebilde). In 
allen Fällen liegt zweifellos progressive Paralyse vor. 
Alle bisher bekannten Fälle betrafen Männer. Die 
bei Paralytikern bekannte Neigung zu Blutungen trat 
auch in meinen sowie in Hertings Fällen hervor. 
(Neigung der Harnröhre zu Blutungen in Fall I und 
eine starke spontan aufgelretene Blutunterlaufung am 

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rechten Fuss in Fall II). Herting meint, dass es 
sich bei der Blasenzerreissung um eine primäre 
Muskelblutung handelt, welche die Zerreissung der 
Blase zur Folge hat. Das Ereigniss eines Blasen- 
risses bei Paralytikern ist selbstverständlich ein höchst 
unangenehmes und gefährliches. Es fragt sich, ob 
es nicht zum Theil verhütet werden kann. Es muss 
zugegeben werden, dass eine starke Hamblasen¬ 
füllung, die ja an sich schon gelegentlich zu einer 
Ruptur Veranlassung geben kann, bei degenerativer 
Veränderung der Blasenwandung von Paralytikern 
einen Riss der Blase um so eher fördern kann. Jede 
erhebliche Anfüllung der Blase muss also bei Paraly¬ 
tikern verhütet werden. Wie wir gesehen haben, ist 
der Blasenriss meist bei hochgradig erregten und ver¬ 
wirrten oder völlig apathischen männlichen Patienten 
vorgekommep. Wenn es auch eine wichtige Aufgabe 
des Irren-Arztes ist, in derartigen Fällen den Stand 
der Blase und ihren Füllungsgrad zu überwachen, 
so versteht es sich von selbst, dass diese Aufgabe 
grade bei den erregten Paralytikern eine schwere, 
bisweilen unmögliche ist. Auf Angaben des Wart¬ 
personals über genügend entleerten Urin sollte man 
sich nicht verlassen, da der ganze Urin in der Regel 
nicht aufgefangen werden kann und die Anschauungen 
darüber, ob genügend Urin gelassen wurde, individuellen 
Schwankungen begegnen. Es kommt darauf an, dass 
alle Tage hintereinander auch genügend Urin entleert 
wurde und nicht etwa eine unzureichende Menge 
an einem oder mehreren Tagen übersehen wurde. 
Erfahrungsgemäss darf man sich nicht dadurch täuschen 
lassen, dass der Kranke unwillkürlich Urin gelassen 
hat, auch wenn die Menge eine reichliche war ; Pa¬ 
tient 2 schwamm förmlich in Urin und zwar mehrere 
Male. Im Gegentheil kann der unwillkürliche Ab¬ 
gang von Ham als Zeichen für möglicherweise vor¬ 
liegende Harnblasenüberfüllung gelten und zur ge¬ 
nauen Untersuchung und eventuellen Katheterisirung 
mahnen. Der Arzt muss, wo es möglich ist, täglich 
bei aufgeregten oder sehr apathischen Paralytikern 
den Stand der Blase durch Inspection des Abdomen, 
Palpation und Percussion festzustellen suchen, wenn 
er die unliebsame Ueberraschung der Blasenruptur ver¬ 
meiden will, und zwar in regelmässigen Zwischen¬ 
räumen. Hat man Harnverhaltung festgestellt, so 
ist die Beseitigung derselben sofort anzustreben. 
Ebenso wie bei Paralytikern oft prophylaktisch die 
Darmentleerung vorgenommen wird, sollte man sich 
nicht scheuen, bei allen Paralytikern, bei denen der 
Verdacht einer Urinretention vorliegt, die Catheteri- 
sirung der Blase vorzunehmen; ja ich möchte sogar 
den von Zeit zu Zeit prophvlactisch vorgenommenen 

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[Nr. r_\ 


13» 


PSYCHIATRISCH-NKUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Entleerungen der Blase das Wort reden. Sind die 
Blasenzerreissungen im ganzen auch glücklicherweise 
anscheinend nicht zu häufig, so sind sie doch so 
unliebsame und bedrohliche Complicationen, dass der 
Irrenarzt mit ihnen rechnen und alles zur Verhütung 
derselben thun sollte. Bei sehr erregten Paralytikern 
wird natürlich ohne dringendste Indication von der 
prophylactischen Blascnkatheterisirung Abstand ge¬ 
nommen werden müssen, hält es bei ihnen doch 
schon schwer, sich über den Blasenstand und die 
Urinentleerung zu informieren. Manchmal ist dies 
bei tobsüchtigen Personen fast ganz unmöglich. 
Dieselben lassen unter sich auf den Fussboden und 
benutzen kein Stechbecken oder Closet, sodass die 
Ueberwachung des Urinabganges die grössten 
Schwierigkeiten macht, umsomehr wenn es sich um 
fettreiche Bauchdecken handelt. Wo Stricturen vor¬ 
handen sind und schon bei ruhigen Kranken die 
Katheterisirung erschwert bcz. zunächst undurchführ¬ 
bar ist, erscheint die rechtzeitige Erweiterung der 
Strictur durch Bougieren gerathen, damit nicht erst die 
Blasenpunction zur Nothwendigkeit wird. Das Aus¬ 
drücken der Blase mit der Hand, welches von Heddaeus 
empfohlen wurde, muss bei der nachgewiesenen 
Brüchigkeit infolge von degenerativen Veränderungen 
der Blasenmusculatur als nicht unbedenklich be¬ 
zeichnet werden, worauf auch Hcrting und Posner 
mit Recht hingewiesen haben ( 1 . 1 . c.). Dahingegen 
dürfte gegen den häufigen Gebrauch des Katheters 
bei Paralytikern, die infolge von centraler Nerven¬ 
erkrankung zu Blasenlähmungen neigen, wieder der 
Umstand geltend gemacht werden, dass leicht dadurch 
Cystitiden erzeugt werden können, ja dass die Blase 
einmal durchstossen werden könne. Obwohl die Dcs- 
infection der für gewöhnlich angewandten weichen 
Nelatonkatheder sich kaum bei den bisherigen Me¬ 
thoden bis zur völligen Sterilität der Katheder aus¬ 
führen lässt und wir uns damit begnügen, die mit 
kaltem Wasser durchgespülten Katheder vor dem Ge¬ 
brauch kurze Zeit in Carbolsäurc zu legen, sie 

dann mit steriler Gaze abzutrocknen und mit reinem 
Olivenöl zu benetzen, ist bei uns im Allgemeinen 
recht selten Blasenkatarrh bei noch nicht im Encl- 
stadium befindlichen Paralytikern beobachtet worden. 
Natürlich muss man saubere und ganze, nicht schad¬ 
hafte Katheder verwenden. 

Wo aber einmal Zeichen von Cvstitis auftraten, 
gelang cs dieselben alsbald durch Blasenausspülungen 
zu beseitigen. Die weitere Furcht, die Blase etwa 
zu durchstossen, scheint mir bei einiger Vorsicht in 
der Handhabung der Katheter trotz der präsumptiven 
Atrophie der Blasenwandung der Paralytiker noch 

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weniger begründet. So sehr man auch im allgemeinen 
gut thut, bei Geisteskranken jede Polypragmasie zu 
vermeiden, so dürfte doch ein etwas ausgiebiger Ge¬ 
brauch des Katheters bei den Paralytikern zur Ver¬ 
hütung von Harnretention und Uebcrfüllung der Blase 
infolge von Lähmungen recht angebracht sein. Es 
wird wohl ungleich häufiger der Fall sein, dass es 
durch Harnstauung in der Blase zu Cystitis kommt, 
als dass diese durch Katheterisirung erzeugt wird. 
Bei paralytischen Frauen kommt es wohl infolge der 
grade verlaufenden kurzen Harnröhre seltner zu Urin¬ 
zurückhaltung. Darauf mag wohl auch der Umstand 
beruhen, dass die Harnblasenruptur bisher bei para¬ 
lytischen Frauen nicht beobachtet wurde, während die 
spontane Harnblasenruptur im übrigen fast nur bei 
Weibern im Anschluss an den Geburtsact gesehen 
wurde*). Wie Herlings und meine Fälle zum Th eil 
gezeigt haben, wird es aber trotz alledem hin und 
wieder zur Blasenzcrrcissung bei Paralytikern kommen 
können, da wo es sich gar nicht um eine Ilarnreten- 
tion handelt, und zwar infolge der beschriebenen de¬ 
generativen Veränderungen der Blasenmusculatur bei 
Patienten, welche im allgemeinen zu spontanen Blu¬ 
tungen neigen. Befördert werden kann die Ruptur 
gelegentlich durch heftige Muskelaction bei starker Er¬ 
regung, wie in meinem Fall III. Auch Thorndicke 
hat Blasenzerreissung infolge von Muskelaction beob¬ 
achtet**). Ist nun einmal der Blasenriss eingetreten, 
so ist es wichtig, das Ereigniss sofort richtig zu di- 
agnosticieren. Dies gelang anfangs nicht, als man auf 
ein solches nicht gefasst war und es nicht kannte. 
Auch jetzt noch giebt es Fälle in der Littcratur, in 
denen selbst traumatische Harnblasenrupturen infolge 
mangelnder charakteristischer Symptome nicht sofort 
oder gar nicht bei Lebzeiten diagnosticiert wurden. 
Es wird aber wohl in der Mehrzahl der Fälle jetzt 
wie in unseren gelingen sofort die Diagnose auf Bla- 
senriss zu stellen. 

Es liegt mir fern, hier auf die klinischen Symptome 
der Blasenruptur erschöpfend einzugehen. Nur einige 
Momente, die mir besonders bei den Paralytikern 
wichtig erscheinen, möchte ich hervorheben, indem 
ich in Bezug auf die eingehendere Klinik der Ilarn- 
blasenruptur auf Güterbock: Die Krankheiten der Harn¬ 
blase ’ **) verweise. Die eigenartigen subjectiven Be- 

*) Eulcnburgs Rcalcncyclopädic 1894, S. 34". Blasenkrank- 
heiten. Englisch, 3. Auflage, 3. Band. 

**) Thorndicke. A fcw remarks on tlie diagnosis and treat- 
ment of rupture of the bladder. Journ of. cut and gen. ur. 
diseas. p. 210. ref. nach Virch.-Hirsch Jahresbcr. 189g, II. S 520. 

***) Güterbock. Die chirurgischen Krankheiten der Harn- u. 
männlichen Geschlechtsorgane, Band I, Die Kiankheiten der 
Harnblase. Leipzig und Wien 1890, S. 304 ff. 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 13g 


schwerdcn werden bei den Geisteskranken nicht immer 
hervortreten. Characteristisch ist der heftige Schmerz 
im Leib, welcher kolikartig auftritt und von der Bla¬ 
sengegend nach oben oder unten zieht. Allerdings 
kann er auch bei vorgeschrittenen Paralysen, hoch¬ 
gradig stupidem und analgetischem Verhalten fehlen 
oder weniger deutlich in die Erscheinung treten. In 
mehreren Füllen waren die klinischen Erscheinungen 
ganz eklatante und eine völlige ungünstige Veränder¬ 
ung des Gcsainmtbildes nach dem Blasenriss sofort 
bemerkbar. Die Kranken machten einen verfallenen 
Eindruck, der Puls war beschleunigt, sie sahen blass 
aus, hatten kühle Temperatur, kühle Glieder. 

In einigen Fällen fehlt aber der sofortige Collaps, 
das kommt namentlich bei denjenigen vor, bei welchen 
der Bl äsen riss extraperitoneal geblieben ist. Am 
meisten muss aber das spontane Entleeren blutigen 
Urins auf den Eintritt eines Risses aufmerksam machen. 
Oefter sind Vorboten in Gestalt von unwillkürlichem 
Urinabgang vorhergegangen, bis mit einem Male über¬ 
haupt von selbst kein Urin mehr gelassen werden 
kann. Das spontane Harnlassen hört nämlich ge¬ 
wöhnlich nach dein Riss auf. Katheterisirt man dann, 
so erhält man keinen oder wenig sanguinolenten oder 
rein blutigen Harn. Bisweilen zeigen auch einige 
Coagula die Residuen einer Blasenblutung an. Meist 
wird die bisweilen noch spontan gelassene oder durch 
Katheter entleerte geringfügige Menge des Urins auf¬ 
fallen. Gelangt man aber mit dem Katheter durch 
den Riss in die Bauchhöhle, so kann man unter Um¬ 
ständen eine erhebliche Menge blutigen Harns her¬ 
ausbefördern, wie in Fall III Hcrtings. Die Blasen¬ 
dämpfung ist bei intraperitonealen Rissen meist ver¬ 
schwunden. Blut- und Urinergüsse im praevesiealen 
Raum können bisweilen eine Dämpfung verursachen. 
Fall I zeigt, dass eine Blasendämpfung durch den in 
den Rctziusschen Raum getretenen Urin vorgetäuscht 
werden kann; die Dämpfung ging dabei trotz Ent¬ 
leerung von Urin durch Katheder nicht ganz zurück. 
Bei extraperitonealem Riss findet man Dämpfungen, 
die sich nach der einen -oder anderen Seite von der 
Blasengegend aus erstrecken. Erscheinungen von Peri¬ 
tonitis, Empfindlichkeit der Bauchdecken, Aufstosscn, 
Erbrechen auch Metcorismus kramen ganz fehlen, 
selbst bei intraperitonealen Fällen und stellen sich 
erst nach mehreren Tagen ein. Spontane Blutunter¬ 
laufungen fanden sich in mehreren Fällen am Körper 
der Paralytiker. 

Die Patienten mit Harnblasenzerreissung machen 
in psychischer Hinsicht einen bald ruhelosen Ein¬ 
druck mit wirren Delirien, bald einen ganz stuporösen. 

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Vorübergehend kann auch Lucidität mit schwerem 
Krankheitsgefühl hervortreten. 

Der Ausgang der .Harnblasenruptur ist in allen 
Fällen ein tötlichcr und zwar tritt der Tod meist 
sehr bald durch Shock oder innerhalb weniger Tage 
durch Peritonitis ein, auch bei extraperitonealen Füllen, 
bei denen es in kürzester Zeit zum Durchbruch in 
die Bauchhöhle oder zur Sepsis durch Harninfiltration 
kommt. Rettung ist bei den Harnblascnrisscn für 
gewöhnlich nur durch schleunige Operation möglich. 
Ein Zuwarten hat dabei keinen Zweck und kann den 
schlimmen Ausweg nicht abwenden. Die Statistik der 
Erfolge von Blasenrupturen ergiebt ca. 50 °/ 0 Hei¬ 
lungen*). Mit der fortschreitenden Vervollkommnung 
der Technik, bei schneller Diagnose und Indications- 
stellung haben die Heilungsziffern, welche noch vor 
kurzem recht spärliche waren, erheblich zugenommen. 
Wird man nun auch bei einem Paralytiker, einem un¬ 
heilbar Geisteskranken eine solche eingreifende Ope¬ 
ration im Fall eines Blasenrisses anrathen können ? 
Erfahrungen über Operationen bei denselben liegen 
noch nicht vor. Es ist fraglich, ob die Hcilungsre- 
sultate ceteris paribus bei Paralytikern mit ihren 
trophischen Störungen ebenst) gute wie bei den nicht 
paralytischen Menschen mit Blasenruptur sein würden 
und ob nicht die Nachbehandlung erheblichen Schwie¬ 
rigkeiten bei den Geisteskranken begegnen würde. 
Die letzteren Hessen sich überwinden. Ist die Para¬ 
lyse weit vorgeschritten, der Kräftezustand ein schlechter, 
so wird man von der Operation selbstverständlich Ab¬ 
stand nehmen. Wenn die Kranken noch nicht zu 
weit vorgeschrittene Paralytiker sind, relativ gutes All¬ 
gemeinbefinden zeigen, und ihre nächsten Angehörigen 
bezw. Vormünder mit der Operation einverstanden 
sind, muss aber künftig meiner Ansicht nach unbe¬ 
dingt zur Operation einer festgestelltcn Blascnruptur 
geschritten werden, dem einzigen Mittel, um den 
traurigen Ausgang wenigstens für die allernächste Zu¬ 
kunft zu vermeiden. Es können ja noch jahrelange Re¬ 
missionen cintreten, womit vielen Kranken und An¬ 
gehörigen schon gedient ist. Man muss auch von 
dem ärztlichen Grundsatz ausgehen, den Menschen 
— solange es irgend möglich ist — am Leben zu 
erhalten, ganz abgesehen von den Fällen, in welchen 
die Diagnose progressive Paralyse noch nicht ganz 
fcststeht. Ich bin also entschieden dafür, in geeigneten 
Fällen die Frage einer operativen Behandlung des 
Blasenrisses auch bei Paralytikern zu bejahen. Na¬ 
mentlich aber dürfte bei extraperitonealem Sitz der 

*) Hollend all: Ueber die operative Behandlung einer 
traumatischen intraperitonealen Ruptur der Harnblase. Inaug.- 
Abh., Strassburg i. E. 1896. 


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140 

Ruptur, wie in einem meiner Fälle, bei sonst günstigen 
Umständen, die schleunige Operation angezeigt er¬ 
scheinen. Vielleicht wäre dadurch in meinem be¬ 
treffenden Fall der baldige Tod nach Durchbruch ins 
Peritoneum noch rechtzeitig abgewendet worden. Ucbcr 
die beschriebenen und ausgeführten mannigfachen 
Arten der Operationen und ihre Technik will ich hier 
keine Ausführungen machen und verweise in dieser 
Beziehung auf Güterbock *) und die übrige Littcratur. 
Es kommt hauptsächlich die Laparotomie mit Blasen¬ 
naht oder Blascndrainage in Betracht. 

Dass die spontane Harnblasenruptur bisher noch 
nicht in weiterem Umfange in Irrenanstalten beobachtet 
wurde, mag wohl an der aufmerksamen Uebcrwach- 

♦) 1 . c. S. 308. 


[Nr. 12. 

ung der Blasenfunction , der Verhütung und schnellen 
Beseitigung von Harnverhaltungen bei Paralytikern 
liegen, zum Theil aber mögen Harnblasenrisse wohl 
infolge mangelnder Kcnntniss des Ereignisses an sich 
undiagnoslicirt geblieben und auch bei tödtlichcm Aus¬ 
gang übersehen worden sein.**) — Mögen diese Zeilen 
zur Verhütung dieses unliebsamen Ereignisses und 
wo dies nicht möglich ist, durch sofortige richtige 
Diagnosenstellung und schleuniges thatkräftiges ope¬ 
ratives Eingreifen in geeigneten Fällen zur Abwend¬ 
ung der augenblicklichen Lebensgefahr beitragen. 

**) Nach Mittheilung von Herrn Sanitätsrath Dr. Richter, 
Oberarzt in Dalldorf, ist daselbst l>ci der Scction von Para¬ 
lytikern Anfang der achtziger Jahre ein Fall von Harnbla&cn- 
zerreissung gefunden worden, welcher bei Lebzeiten nicht diag- 
nosticirt war. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— 69. Versammlung des Psychiatrischen 
Vereins der Rheinprovinz am 7. Juni 1902 in 
Galkhausen. 

1. Schultze-Andernach: Bemerkungen zur Sach- 
vcrständigen-Thätigkeit. 

a) Sch. berichtet über seine Erfahrungen, die er 
gemacht hat, wenn er als sachverständiger Zeuge 
414 C.-P.-O., $ 85 St.-P.- 0 .) geladen war. In 
einem derartigen, genauer mitgetheilten Falle ver¬ 
suchte das Gericht auf die verschiedenste Weise von 
Sch. ein fachmännisches Urtheil zu erlangen und 
weigerte sich andrerseits, ihn als Sachverständigen 
zu vereidigen. Da alle Versuche vergebens waren, 
sah sich das Gericht schliesslich doch genötlugt, seinen 
ursprünglichen Widerstand aufzugeben und den sach¬ 
verständigen Zeugen auch noch als Sachverständigen 
zu vereidigen. 

Sch. sucht den principiellen Unterschied zwischen 
dem Sachverständigen und dem sachverständigen 
Zeugen festzustellen. Er findet ihn, besonders im 
Anschluss an die Arbeit von Stein, darin, dass der 
sachverständige Zeuge wie der Zeuge überhaupt dem 
Gericht eine bestimmte Thatsache mittheilt, während 
dasjenige, was der Sachverständige als etwas piicipiell 
Neues dem Gericht zuführt, eine allgemeine, der be- 
sondern Sachkunde entstammende Regel ist. Der 
Zeuge berichtet, kurz gesagt, etwas Concretes, der 
Sachverständige etwas Abstraetes oder wenn wir uns 
der in der Logik •üblichen Terminologie bedienen 
wollen, jener liefert einen Untersatz, dieser einen 
Obersatz zu dem von dem Richter zu bildenden Ur- 
theile. Insofern unterscheidet sich aber der sachver¬ 
ständige Zeuge von dein Zeugen, als die Wahrnehmung 
der von ihm berichteten Thatsachcn und Zustände 
eine besondere, dem Laien für gewöhnlich fehlende 
Sachkunde erfordert. Deren Vorhandensein ist auch 
die Voraussetzung einer zutreffenden Schilderung des 

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Befundes und einer Würdigung m. a. W. in vielen 
Fällen wird der Richter mit der Aussage der sach¬ 
verständigen Zeugen nichts anzufangen wissen. Das 
trifft beispielsweise zu für die Aeusserung des als 
sachverständigen Zeugen geladenen Augenarztes, er 
habe mittels des Augenspiegels im Augenhintergrunde 
schwarze und weisse Flecken gesehen. Ein typisches 
Beispiel für das, was der sachverständige Zeuge dem 
Gericht mitzutheilen hat, ist das Sectionsprotocoll. 

Der sachverständige Zeuge hat nur das zu be¬ 
richten, was ihm seine technisch-geschärften und ge¬ 
schulten Sinne haben wahmehmen lassen. Er braucht 
keine persönliche Stellung zu diesem Befunde einzu¬ 
nehmen; er braucht ihn nicht tec hnisc h zu beurtheilen, 
ihn weder nach der klinischen noch nach der recht¬ 
lichen Seite zu würdigen. 

Schliesslich führt Sch. kurz an, welche Schlüsse 
sich hieraus für das Verhalten des Sachverständigen 
ergeben, der als sachverständiger Zeuge geladen ist. 
Er betonte dabei unter anderem, dass der Sachver¬ 
ständige auch in diesem Falle nach einer neuerlichen 
Entscheidung des Reichsgerichts verpflichtet ist, sein 
Gedächtniss über das, was er vor Gericht auszusagen 
hat, vorher aufzufiischen, nothwendigenfalls unter Zu¬ 
hilfenahme schriftlicher Notizen. 

b) Sodann theilt Sch. noch kurz Erfahrungen hin¬ 
sichtlich der Beanstandung der Liquidation von 
Vorbesuchen mit, aber wegen der vorgerückten Zeit 
nur insoweit, als der Ort, an dem die Vorbesuche 
erstattet sind, hierbei in Frage kommt. Dieser Punkt 
ist für den Irrenanstaltsarzt nicht gleichgültig; das 
Gericht ist hier und da, wenn auch meist nur vorüber¬ 
gehend, der Ansicht, der Anstaltsarzt, der den zu 
untersuchenden Kranken in dem betreffenden Kranken¬ 
pavillon aiifsuehc, verlasse seine Behausung nicht ; er 
erstatte als«» auch keinen V« »rbesueh, sondern empfange 
ihn in seiner Wohnung. Eine solche, genauer mitge- 

Original fram 

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IQ02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 141 


theilte Entscheidung wurde seitens des zuständigen 
Amtsgerichts und Landgerichts getrollen; die be¬ 
treffende Anstalt war eine neuere Anstalt im modern¬ 
sten Pavillonstyl. Dass eine tierartige Entscheidung 
dem allgemeinen Sprachgebrauch der Worte: Wohnung, 
Behausung wenig entspricht, dass sie geeignet ist, die 
Anstaltsärzte materiell zu schädigen, braucht kaum 
hervorgehoben zu werden. (Autoreferat.) 

2. R. Foerster und Bauckc-Bonn: Seetionsbe- 
fund bei zwei Geisteskranken: 1. Disseminirte Ence- 
phalomyelitis, 2. Syringomyelie (Demonstration von 
Präparaten). 

Fall I. Erblich belastete, 30jährige Lehrerin, seit 
5* 2 Jahren in AnslaltspHcge wegen Dementia praecox 
mit hysteriformen Symptomen. Begann bald nach 
dem Einsetzen ihrer Krankheit zu „humpeln“ und 
klagte vorübergehend über Schmerzen im linken Ober¬ 
schenkel. Januar iqoi : unbeholfener Gang. Patientin 
hütete das Bett, da sie das linke Bein nicht bewegen 
könne (Luxationsstellung); von Seilen der Reilexe und 
der Sensibilität war nichts Abnormes nachzuweisen. 
Die chirurgische Untersuchung im November 01 er¬ 
gab nur eine Spannung in der Musculalur des Ober¬ 
schenkels, Knie- und Hüftgelenk waren völlig frei; 
nach forcirter Extension wurde ein vom Nabel bis 
zu den Knieen reichender Gypsverband angelegt, nach 
dessen Abnahme die Weiterausbreitung eines bereits 
beginnenden Decubitus nicht verhindert werden konnte. 
Tenesmus vesicae. Temperaluisteigerung bei häufigen 
Messungen nicht nachzuweisen. In den letzten Lebens¬ 
lagen erhebliche Parese des rechten Armes. Am 
18. März 02 exitus letalis. 

Scctionsbefund :■ Pleuritis fibrin. ’ et serosa, 
Pneumonia lobularis, vergrößerte Milz, Eettleber. 
Ausgedehnter Decubitus. 

Hirngewicht 1300. Arterien der Basis dünnwandig. 
Pia ablösbar. Ventrikel weit, Ependym verdickt. In 
den Wandungen der Scitcnventrikcl finden sich mehrere 
etwa erbsengrosse Herde von derber Consistenz; in den 
basalen Ganglien mehrere hirsekorngrosse Plaques von 
grauröthlieher Farbe und weniger derber Consistenz; 
ebenso ist die Marksubstanz der Hemisphären und des 
Kleinhirns von ähnlichen verschiedenartig gestalteten 
Herden durchsetzt. Pons und medulla abh mgata ent¬ 
halten nur je 2 Plaques, Tractus opticus, Chiasma und 
die Sehnerven sind frei. Im Rückenmark sieben 
größere,' scharf abgegrenzte, zackige Plaques von 
transparenter, glasiger Beschaffenheit und vermehrter 
Consistenz; die Hinter- und Seitenstränge sind be¬ 
vorzugt. 

Die Betrachtung des frisch secirten Gehirns musste 
die Annahme einer multiplen Sclemse nahelegen, in¬ 
des« stimmten die klinischen Symptome damit nicht 
überein. Der mikroscopische Befund lässt auf eine 
Sogenannte gemeine disserniniertc Encephalomyelitis 
sch Hessen. 

Die Pathogenese des Falles wäre folgende: Bei 
einer körperlich schwachen, erblich belasteten Person 
mit einem minderwerthigen, functioneil untüchtigen 
Centralnervensystem (das Hinken wäre als hvsteriformes 
Symptom aiifzufassen) entwickelt si< h nach dem Ein¬ 
griff, der mit erheblicher Zerrung der Nervenstränge 

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(und möglicher Weise auch einer mechanischen Reiz¬ 
ung der Medulla) einherging und bald von einem 
jauchigen Decubitus gefolgt war, auf infectiösem Wege 
eine disserniniertc Encephalomyelitis. 

Fall II. Erblich belasteter Mann von 29 Jahren, 
von jeher widerspenstig und einfältig, als Kind Rhaehitis 
und Wasserkopf; Stottern und Schwerhörigkeit. Patient 
erkrankt 8 Tage vor der Aufnahme plötzlich angeb¬ 
lich im Anschluss an einen Todesfall in der Familie 
mit Depression, äussert verschiedene Wahnideen und 
geräth in zunehmende motorische Unruhe. Bei der 
Aufnahme zeigte sich ausser einigen Degenerations¬ 
zeichen körperlich nichts Auffallendes. Der Kranke 
bot die ausgesprochenen Symptome des sogen. De¬ 
lirium acutum und starb am 6. Tage des Anstalls¬ 
aufenthaltes. 

Sectionsbefund: Starke Hvperaemie des Gehirns, 
Erweiterung der Ventrikel und des Aquaeductus Svlvi 
sowie Granulierung des Ependyins. Hvperaemie der 
Lungen, petechiale Blutaustritte auf den Pleuren. Das 
Gehirn steht leider nicht mehr zur Verfügung, das 
Rückenmark wurde in Müllcr’sclicr Flüssigkeit conscr- 
viert. Es fand sich eine vom Halsmark bis in das 
obere Brustmark reichende, etwa 11 cm lange Höhle, 
die caudalwürts an Ausdehnung zunimmt; an der 
weitesten Stelle kann mau bequem einen Bleistift in 
den Canal einführen. 

Der mikroscopische'Befund spricht für einen acuten 
Prozess, ebenso das klinische Bild; bei längerem Be¬ 
stehen hätten die ausgedehnten Zerstörungen der ner¬ 
vösen Elemente früher merkliche Symptome hervorrufen 
müssen. Das anatomische Bild lässt mit ziemlicher 
Sicherheit annehmen, dass es sich um einen fort¬ 
schreitenden Gewebszerfall und Einschmelzung im 
Anschluss an eine Gefässalteration handelt. Aetiolo- 
gisch könnte sehr wohl derselbe Factor in Betracht 
kommen, der auch das acute Delirium und die Pe¬ 
techien auf der Pleura verursacht hat — höchst 
wahrscheinlich eine Infection, die im krankhaft ver¬ 
änderten Gehirn die heftigsten Reizerscheinungen aus¬ 
löste und im Rückenmark, das bereits gewisse Ent- 
wickhmgsanoinalicn auf wies, zu ausgedehnter centraler 
Höhlenbildung Veranlassung gab. (Der Vortrag wird 
anderweitig ausführlich erscheinen.) 

3. Dr. Hoffmann, Gerichtsarzt in Elberfeld: Ein 
Fall von „inducirtem Irresein“. 

Vortr. spric ht über das Wesen des „indueirten 
Irreseins“, sich hauptsächlich anlehnend an die Ar¬ 
beiten von Finkelnburg, Lehmann, Knittel, Jürger, 
Wollenberg, Pronier, Schönfeldt u. A. 

Er thcilt dann eine eigene Beobachtung mit, Hei 
der es sich um 7 Personen handelt, die an religiöser 
Paranoia erkrankt sind. 

Den Kern dieser 7 bilden 2 Personen, die wahr¬ 
scheinlich unabhängig von einander erkrankt sind 
(folic simultance); bei den übrigen ist dann das Irre¬ 
sein indudrt, und nach des Vortr. Ansicht handelt 
es sich nicht bloss um eine folie imposee, um ein 
scheinbares Irresein, sondern um eine echte induderte 
Psvchose, eine folie communiquee. 

Diese siebenköpligc Gemeinde besteht aus der 
Mutter Gottes, dem neuen Messias und 5 (1 männl. 

Original fram 

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4 -’ 


PS Y CH IA TR ISC H - NEU ROLOGISC H K WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 12. 


und 4 weibl.) Jüngern, die auf das nahe bevorstehende 
Ende der Dinge harren. 

Weil sie nicht arbeiten wollten und nach ihrer 
Ansicht nicht zu arbeiten brauchten, setzten sie sich 
der Gefahr des Nothstandes aus, ein Umstand, der 
zunächst die Verwandten veranlasste, den Antrag auf 
Entmündigung zu stellen. (Wird in der Allg. Zeitschr. 
f. Psychiatrie erscheinen.) Autoreferat. 

4. Lückeraths Vortrag: Diebeiden ersten Jahre 
in der Prov. - Heil - und Pflegeanstalt Galkhausen, 
erscheint demnächst in dieser Wochenschrift. — 

Die Zahl der bei der Versammlung Anwesenden be- 


und eine Frau getötet. Dreissig Personen wurden 
verletzt. Die Mehrzahl der Kranken befand sich 
wegen Trunksucht in Behandlung. Als das Feuer 
ausbrach, waren eine Anzahl von Deliriumkranken an 
die Betten festgeschnallt. (Tägliche Rundschau.) 

Referate. 

— Movimento de la Casa de orates de 
Santiago. II. Semester 1900. Santiago de Chile 1901. 

Wieder liegt ein Bericht der Anstalt zu Santiagt> 
vor von einer Genauigkeit und Uebcrsichtlichkeit, 




Totalansicht der Irrenanstalt zu Santiago de Chile. 


trug über bo. Von der Prov.-Verwaltung waren der Lan¬ 
deshauptmann Geh. Über-Reg.-Rath Dr. Klein und 
Landesrath Vorster erschienen. Director Dr. Herting 
gab an der Hand eines Plans eine Beschreibung der 
Anstalt, worauf eine Besichtigung der letzteren, der 
neuesten und hervorragendsten Schöpfung auf dem 
Gebiete der rheinischen Irrenfürsorge, erfolgte. Die 
Prov.-Verwaltung hatte in liebenswürdiger Weise die 
Bewärthung der Gäste übernommen. 

— Chicago, 10. Juni. Bei dem Brande im Sana¬ 
torium der „St. LucesSociely***) wurden neun Männer 
*) scheint eine religiöse Genossenschaftsanstalt zu s ! 


dass man diese Art Jahresberichte zu schreiben hier 
und da bei t uns zur Nachahmung empfehlen könnte. 
Viele Illustrationen von Anstaltsansichten, von denen 
wir einige wiedergeben, zieren die Schrift. Die An¬ 
stalt umfasste am 30. Juni 1900 1148 Patienten. 
Zugang im II. Sem. 1900: 420; Abgang: 353. Be- 
merkenswerth ist die Häufigkeit des Alkoholismus als 
Krankheitsursache bei den Aufnahmen, 48 °/ 0 der 
Männer, 20 0 „ der Frauen. 77 der Aufnahmen 
waren Nachkommen von Trinkern. Es werden über 
die geographische Herkunft, die Berufs- und Ehe¬ 
standsverhältnisse, das Alter genaue Mittheilungen ge- 


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HARVARD UNiVERSITY 





1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


*43 




macht. Die Kranken von 20 bis 29 Jahren betrugen 
31 ° 0 der Aufnahmen; die von 30 — 39: 30 0 0 ; die 
von 40 — 49 : 17 °/„; die von 50 — 59 : 6 °/ w ; die 
von 60 — 69: 5 n /<i- 25 waren 10 bis 19 Jahre alt, 


Laboratorium. 

1 1 älter als 70. Das durchschnittliche Alter der Auf¬ 
genommenen betrug bei den Männern 36 Jahre, bei 
den Frauen 35 Jahre. Krankheitsübersicht bei den 
Aufnahmen: toxische Psychosen einschl. Alkoholismus 
133, Manie 54 und Melan¬ 
cholie 52, degenerative Psy¬ 
chosen 47, Neuropsy chosen 
35, Demenz 29; systematisirte 
Psychosen 17, progressive Para¬ 
lyse 3, infektiöse Psychosen 12 
und congenitale Zustände 16, 
periodische Psychosen 9. 3ö°/ 0 
der Aufgenommenen waren 
Analphabeten. 74 °/ 0 fanden 
zum ersten Male Aufnahme, 
i6°/ 0 zum zweiten Male, 5% 
zum dritten Male, 1 " n zum 
vierten Male. — Bei 12 Kran¬ 
ken fand die Zwangsjacke An¬ 
wendung, die Isolirung kein 
Mal. — Geheilt entlassen 
wurden 171, gebessert 35; 
von den Angehörigen wurden 60 
zurückgenommen , entwichen 
4; gestorben 80; die Zahl der 
Heilungen gestaltet sich mit 
Rücksicht auf die zahlreich auf¬ 
genommenen Alkoholdeliranten 
so hoch. — Die poliklinische 
Sprechstunde wurde von 755 

Kranken (die verschiedensten Neurosen und Psycho¬ 
sen) besucht. — Einrichtung für elektrische Bäder, 


Arsonvalisirung, Röntgenstrahlcn etc. — Zwei wissen¬ 
schaftliche Arbeiten wurden geliefert über die Be¬ 
ziehung des toxischen Coefficienten des Urins zu den 
Geistesstörungen, speciell der Melancholie — und 
über das Verhältniss des Nährwerthes 
der Nahrungsmittel zu demjenigen 
der Kostration in der Anstalt. — Die 
Hygiene der Zähne ist besonders 
geregelt (monatliche Besichtigung der 
Kranken durch den Arzt). — Der 
Bericht über das wissenschaftliche 
Laboratorium und die Zahnpflege 
wird besonders herausgegeben. — 
Verschiedene Neubauten. — Auf 7 
Kranke kommt eine Pflegeperson. — 
Von Interesse ist für uns Europäer 
eine Zusammenstellung des Prozents 
der Heilungen in amerikanischen 
Anstalten im J. 1898.. 

Manhattan.15,18 0/ , 

Hudson River . . . 15,87 „ 

Buflalo.20,18 „ 

Willard. 22,26 „ 

Rochester.24,31 „ 

Long Island . . . . 21,13 „ 

Utica.28,73 „ 

St. Lawrence . . . . 28,82 „ 

Binghamton .... 31,28 „ 

Middletown , homeo- 

patico. 3L/8 „ 

Eine grosse Zahl vergleichender Tabellen, welche 
die Sterblichkeit und die Zahl der Heilungen in den 
einzelnen Jahren seit 1852 behandeln, sowie solche 
administrativen Inhalts sind dem Bericht beigefügt. 


Theater der Anstalt. 

— Israel, S. Entmündigung und Geschäfts¬ 
fähigkeit. Jurist. Wochenschr. 1901. XXX. pag. 790. 


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144 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 12. 


V. bemängelt, dass die durch Seelenstörung be- 
dingte Geschäftsunfähigkeit bei den Entmündigten und 
bei den Nicht-Entmündigten (cf. ^1) Z. 1 und § 104 
Z. 2) verschieden umschrieben ist, während der erste 
Entwurf des B. G. B. eine völlig übereinstimmende 
Fassung gewählt hatte. Auch V. wendet sich gegen 
die Anwendung des Ausdrucks der freien Willcnsbe- 
stimmurig; sie sei ein rein doctrinärer, überhaupt 
nicht in ein Gesetzbuch, sondern in die Philosophie 
gehöriger Begriff, der, wenn überhaupt, mehr für das 
Straf- als das Civilrecht passe. Zudem sei die Ent¬ 
scheidung über das Vorhandensein oder Fehlen der 
fieien Willensbestimmung eine medicinische, während 
die Frage nach der Fähigkeit oder Unfähigkeit der 
Besorgung seiner Angelegenheiten als eine thatsäch- 
liche auch durch nichtärztlichc Sachverständige gelöst 
werden könne. So könne es zu Meinungsdifferenzen 
kommen, wenn der nicht entmündigte Geistesgestörte, 
der seine Angelegenheiten zu besorgen vermag, sich 
in einem die freie Willensbestimmung ausschHcssen- 
den Zustande befindet. Um diese, doch nur theore¬ 
tischen Möglichkeiten zu beseitigen und um nicht im 
S 104 Z. 2 eine neue Klasse von geschäftsunfähigen 
Personen zu schaffen, müsste dieser Paragraph folgen¬ 
den Wortlaut haben : 

Geschäftsunfähig ist: ... 

2. wer sich in einem Zustand krankhafter Störung 
der Geistesthätigkeit befindet, der dem Betreffenden 
die Besorgung seiner eigenen Angelegenheiten unmög¬ 
lich macht, sofern nicht der Zustand seiner Natur 
nach ein vorübergehender ist. Ernst Schultze. 

— L e b e n s r e g e 1 n für Neurastheniker. 
Von Dr. med. Ralf Wichmann. 3. durchgesehene 
Auflage. Berlin 1901. 0 . Salle. 1 M. 68 S. 

Die Schrift belehrt in sehr anregender und gründ¬ 
licher Weise den Neurastheniker über die Ursachen 
der Nervenschwäche, die verschiedenen Arten, wie 
sie in Erscheinung tritt, und die zu ihrer Beseitigung 
nöthigen Verhaltungsmaassregeln. Für manchen Neu¬ 
rastheniker dürfte die Lektüre dieses Büchleins von 
grossem Nutzen sein, da ja für Viele das gedruckte 
Wort mehr Ueberzeugungskraft besitzt als das ge¬ 
sprochene. Br. 

— P. Näcke: Die Unterbringung geistes¬ 
kranker Verbrecher. Halle, Carl Marliold. 1902. 
57 S. 2 Mk. 

Zu unterscheiden sind geisteskranke Verbrecher, 
verbrecherische Geisteskranke, Geisteskranke mit ver¬ 
brecherischen Neigungen. Jede dieser drei Arten 
hat wieder verschiedene Abtheilungen; insbesondere 
sind die Gewohnheitsverbrecher, die Minderwertigen, 
die moralisch Defecten, die Epileptiker mit (psychisch) 
langen freien Zwischenräumen, auseinanderzuhalten. 
Die Bezeichnung „moralischer Irrsinn“ hat leider nicht 
blos unter den Laien, sondern auch in der gerichtlichen 
Medizin viel Verkehrtes zu Tage gefördert; und es 
hätte nur noch gefehlt, dass man, wie neuerdings 


de Snntis von einem moralischen Schwachsinn, von 
moralischem Blödsinn und Wahnsinn sprechen hörte. 
Richtig ist es, in der mehr oder weniger fehlenden 
Moral die A- bezw. Antisocialität und hierbei, gleich¬ 
gültig, ob es sich um Verbrecher oder Geisteskranke 
handelt, den Gesichtspunkt vor .allem ins Auge zu 
fassen, dass die Gesellschaft geschützt werden muss. 
Da eine sehr grosse Anzahl auch nicht mit dem Straf¬ 
gesetz in Konflict gekommener Geisteskranker bezüglich 
ihrer Moral Bedenken erregen, so sind die Irrenanstalten 
in der That keine reinen Heilanstalten, sondern, und 
das werden sie auch immer sein, zunächst Dctentions- 
anstalten. 

Dies vorausgeschickt, haben wir in der vorliegenden 
Abhandlung einen dankenswerthen Beitrag dazu^ wie 
pacli den durch viele Litteratur-Angaben erläuterten 
Erfahrungen der letzten Jahre die weitere Behandlung 
der obigen Elemente sich zu gestalten hat. Als eine 
äusserst wichtige Thatsache sei hervorgehoben, dass 
das Gefängniss an sich sehr wenig — abgesehen bei 
angeborener oder erworbener Disposition 1 Geistes¬ 
störung zu erzeugen im Stande ist. Ferner: dass die 
Paralyse bei den irren Verbrechern so äusserst selten 
vorkommt. Gegen die Unterbringung in die gewöhn¬ 
liche Irrenanstalt sind hauptsächlich vier Gründe 
geltend gemacht worden; das Zusammenlegen be¬ 
strafter und unbestrafter Irrer, die störende und 
demoralisircnde Wirkung ersterer, die Unmöglichkeit 
der Durchführung des No-rcslraints, und die Schwierig¬ 
keit der Bewachung* Nach Ansicht des Ref. hat Vf. 
diese Gründe nicht widerlegt. Ccntralgefängnisse, wie 
in England und Amerika ergaben dort gute Resultate; 
und wenn eine Autorität wie Tamburini die Errichtung 
neuer für Italien forciert, so kann namentlich Aversa 
unter der Leitung des ausgezeic hneten, humanen Prof. 
Vergilio unmöglich so schlecht sein, wie dem Vf. 
berichtet ist. Gegen die Errichtung von 2 bis 3 
solchen bei uns weiss Vf. nichts zu erinnern. 

Adnexe an Irrenanstalten, entweder als besondere 
Abtheilungen oder getrennt, hält er für weniger 
empfehlenswerth, während er solche an Strafanstalten 
empfiehlt. Jedoch sollten nur grössere Adnexe an 
grössere Strafanstalten, für 100 bis 150 Personen, 
eingeric htet werden, um nicht blos Durchgangsstationen 
darzustellen. Bezüglich des inneren Betriebes wären 
I. die zu Beobachtenden. II. die der Kur Bedürftigen 
aufzunehmen, gefährliche und unmoralische Elemente 
im Adnex zurückzubehalten. Die nach abgelaufener 
Strafe harmlos Gewordenen sollen jedenfalls, wenn 
die Entlassung gerichtlich verweigert wird, nicht in 
den Irrenanstalten verbleiben, sondern ins Gefängniss 
zurückkommen. Für die geistig Defecten kommt bald 
ein Strafhausaclnex, bald eine Landkolonie, ausser 
dem Gefängniss, in Frage. 

Aus den Berichten scheint hervorzugehen, dass 
im Staate New York bisher die schwerwiegendsten 
und beac htenswertesten Erfahrungen zur Lösung der 
einschlägigen Fragen gesammelt worden sind. 

Kornfeld. 


l'ür di*n redaktionellen Tluil verantwortlich: Oberarzt i>r. J. liresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Sc hluss der Inseratenannahine 3 Tape vor der Ausgabe. — Verlap von C a r I Marhold in Halte a. S 

Hevneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiflf) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herauagegeben von 

Direetor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttst&dt, 

IJrhupringf» lAitmarlri Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin. 

Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Direetor Dr. MoreL, 

Berlin. Leipzig. Mons (Belgien). 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitz (Schlesien!. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 13. 28 . jum. 1902. 

Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro (Quartal 4 Mk. 

B’-Mellnngen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Noch einmal die zellenlose Behandlung. Von Hoppe-Königsberg (S. 145). — Mittheilungen (S. 154). 
— Referate (S. 156). 

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Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift (bei den Postämtern unter Nr. 6252 
des Zeitungs-Kataloges) baldigst zu erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen 
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Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“. 

Carl Marhold in Halle a. S. 


Noch einmal die zellenlose Behandlung. 

Von Hoppi 


T^\ie Angriffe, welche Herr Neisser in seinem Auf- 
satze: „Bemerkungen zur Frage der zellenlosen 
Behandlung und einigen anderen einsc hlägigen Fragen“ 
(Psych. Wuc henschr. Bd. III Nr. 44 u. 4Ö) gegen mein 
Verfahren der zellen losen Behandlung gerichtet hat, 
nöthigen mich zu einigen Worten der Erwiderung und 
Aufklärung. Herr Neisser tadelt mit sehr scharfen 
Worten, dass ich den Kranken, von dem ich in meinem 
Aufsatze in Bd. III, Nr. 30 dieser Wochenschrift be- 

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■-Königsberg. 

richtet habe, so lange Zeit der Isolirung entzogen habe. 
Er spricht von starrem Festhalten am Princip, von Ver¬ 
irrung, von ganz unerträglichen Verhältnissen, die ich 
Monate lang auf der Abtheilung geduldet hätte und 
glaubt auf das Entschiedenste dagegen Einspruch er¬ 
heben zu müssen, „dass ein solches zuwartendes Ver¬ 
fahren als ein vom Geiste der modernen Therapie ge¬ 
fordertes angesehen werde.“ Dass damit indireet auch 
dem damaligen Direetor Dr. Sommer, welcher sich nicht 

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i4ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


mehr vertheidigen kann, da er todt ist, ein schwerer 
Vorwurf gemacht wird, scheint Neisser nicht be¬ 
dacht zu haben. 

Diesen Vorwurf muss ich auf das Entschiedenste 
zurückweisen. Zunächst möchte ich folgendes be¬ 
merken. Jede Schilderung enthält, mag der Verfasser 
sich bemühen, auch noch so objectiv zu sein, eine 
subjective Färbung, und es ist eine psychologische 
Thatsache, dass besonders dann, wenn die Schilderung 
zu einem bestimmten Zwecke erfolgt, die Farben in 
dieser Richtung hier und da etwas stärker aufgetragen 
werden. Und so habe auch ich wohl, weil der Zweck 
meiner Schilderung war, dem Leser zur Anschauung 
zu bringen, um welch’ schlimmen Kranken es sich ge¬ 
handelt habe, in dem zusammenfassenden Bericht ge¬ 
legentlich Hyperbeln gebraucht, die mir erst jetzt bei 
nochmaliger Prüfung als solche zum Bewusstsein 
kommen. So ist der Ausdruck: „bei jeder Gelegen¬ 
heit“ in dem Satze: „Er schlug bei jeder Ge¬ 
legenheit auf sie (die Kranken) los,“ natürlich nur 
als Hyperbel zu verstehen, wie sie Einem bei solchen 
Schilderungen entschlüpft. Neisser scheint diesen Aus¬ 
druck so aufgefasst zu haben, als ob der betr. Kranke 
fortwährend, also vielleicht jeden Tag und öfter am 
Tage die übrigen Kranken geschlagen habe, während 
ich in Wirklichkeit nur sagen wollte, dass der Patient 
bei geringfügigen Veranlassungen und auch ohne 
äusseren Anlass (auf Grund von Hallucinationcn) auf 
die Kranken losgeschlagen habe. Wie oft dies ge¬ 
wesen ist, kann ich jetzt leider nicht mehr feststcllen, 
da mir hier das Material dazu fehlt. Aber sicher kam 
dies, soweit ich es in der Erinnerung habe, höchstens 
1 oder 2 mal in der Woche vor, während manchmal 
8—14 Tage und mehr ohne solche Angriffe vergingen. 
Neisser hat die Notizen von 4 Tagen, an welchen 
solche Angriffe erfolgten, hinter einander gestellt, so 
dass der Eindruck einer ausserordentlichen Häufung 
derselben entsteht, während doch zwischen dein 
1. und 2. Datum 6 Tage, zwischen dem 3. und 4. 
ib Tage liegen. Andererseits ist von Neisser nicht 
bemerkt worden, dass nach dem letzten Angriffstage, 
dem 21. September, bis zum Schlüsse der mitgetheilten 
Krankengeschichte, den 10. October, also volle 10 
Tage, keine Angriffe notirt sind, wie denn Neisser 
auch nicht beachtet hat, dass der Patient oft halbe 
Tage oder Tage lang, manchmal auch längere Zeit 
(so z. B. vom 22.—27. September) ganz ruhig und 
stuporös dalag Der Eindruck einer ausserordentlichen 
Häufung der Angriffe wird dann noch dadurch ver¬ 
stärkt, dass Neisser unmittelbar nach der Notiz vom 
letzten Angriffstage (19. September), worauf doch, wie 
gesagt, mindestens 19 Tage verhältnissmässige Ruhe 


folgten, auf Grund meines späteren zusammenfassen¬ 
den Berichts den Satz stellt: „In der nächsten 
Folgezeit wurde der Patient immer unleidlicher und 
aggressiver“, während es in meiner Darstellung heisst: 
„Um nicht durch weitere ausführliche Mittheilung der 
Notizen zu ermüden, will ich nur zusammenfassend 
bemerken, dass Patient immer unleidlicher und aggres¬ 
siver wurde“. Dass diese Bemerkung von der näch¬ 
sten Folgezeit gilt, davon steht in meinem Aufsatze 
nichts, das ist eine Zuthat des Herrn Neisser. Im 
Gegentheil ist die Bemerkung für die letzte Zeit vor 
der Isolirung zu verstehen, bis zu welcher ja vom 10. 
October, wo die Krankengeschichte abbricht, noch 
ca. 7—8 Wochen vergingen. Als eben in der letzten Zeit 
vor der Isolirung Patient immer unleidlicher und 
aggressiver wurde, wurde schliesslich zur Isolirung 
geschritten. 

Neisser schreibt: „Vom September bis Dccember, 
über ein Vierteljahr, wurde der oben geschilderte Zu¬ 
stand, wobei fo r t w ä h re n d andere Kranke geschlagen 
wurden, geduldet,“ während, soweit die Notizen vor¬ 
liegen, in der ersten Hälfte dieser Zeit vom I. Sep¬ 
tember (resp. 22. August) bis 10. Oktober, also in 
vollen 6 Wochen 4 mal (resp. 3 mal, wenn die beiden 
Angriffe in der Nacht vom 21. einzeln gezählt werden) 
thütlichc Angriffe notirt sind. Und das nennt 
Neisser „fortwährend.“ Glaubt denn übrigens Neisser 
wirklich, dass sich ein Dircctor bereit gefunden hätte, 
einer Marotte oder einem Prinzip von mir zu Liebe, 
„ganz unerträgliche Zustände“ monatelang auf der 
Abtheilung zu dulden? Schlimm waren ja die Zu¬ 
stände, welche der Patient auch schon durch sein 
häufiges Lärmen und von Zeit zu Zeit wiederkehrendes 
aggressives Verhalten schuf, aber unerträglich waren sie 
nicht, sonst wären sie nicht monatelang geduldet 
worden. Erst als in der letzten Zeit die Angriffe sich 
immer wiederholten und die Klagen der Kranken 
sich mehrten, musste ich, der ich in der Hoffnung, 
dass Patient sein Verhalten mit der Zeit ändern würde, 
die in letzter Zeit wiederholt in Frage gekommene 
Isolirung hinauszuschieben versucht hatte, schliesslich 
doch, wenn auch schweren Herzens, da ich auf andere 
Weise Abhilfe zu schaffen mich ausser Stande sah, 
die Isolirung gut heissen, welche ich vielleicht, wenn 
ich selbst zu entscheiden gehabt hätte, noch etwas 
hinausgeschoben hätte. 

Wie sehr Recht ich mit meinem Zögern hatte, 
zeigte das Verhalten des Kranken in der Zelle, die 
Kehrseite der Medaille, welche Neisser nicht ge¬ 
nügend beachtet zu haben scheint. War Patient 
vor der Isolirung sc hon recht schlimm und unleid¬ 
lich, so wurde er in der Zelle noch viel schlimmer 


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IQQ2.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


und ganz untractabel, waren die Zustände vorher 
fast unerträglich, so wurden sie nach der Isolirung 
geradezu trostlos. „Er lärmte fast ununterbrochen 
Tag und Nacht, attaquirte die Wärter, sowie sie in 
die Zelle traten, warf ihnen das Essgeschirr an den 
Kopf, stiess mit den Füssen nach ihnen und versuchte, 
sobald die Thür geöffnet wurde, indem er sich wie 
ein Pfeil nach derselben stürzte, hindurchzudrängen, 
so dass fast regelmässig eine Balgerei entstand und 
drei oder vier Wärter Mühe hatten, ihn zurück zu 
halten und die Thür zu schliessen, bevor er sich 
zwischen Thür und Pfosten geklemmt hatte. Wenn 
er zum Austreten auf das Closet geführt wurde, schlug 
er, wo er nur konnte, auf die im Corridur 
liegenden Kranken los, stiess nach ihnen mit den 
Fussen oder spuckte ihnen ins Gesicht, was er auch 
den Wärtern odei Aerzten gegenüber mit Vorliebe 
that. Bald wurde er auch sehr unreinlich, er depo- 
nirte täglich Stuhlgang und Urin in der Zelle und 
begann schliesslich mit den Excrementen die Zellen- 
wände zu bewerfen und zu beschmieren; auch sein 
Essen warf er häufig in die Zelle und machte aller¬ 
hand Schmutzereien mit demselben (urinirte z. B. in 
sein Essgeschirr) etc.“ Die Stelle: „er schlug, wo er 
nur konnte, auf die im Corridor liegenden Kranken 
los“ ist im Druck hervorgehoben, weil sie eine Paral¬ 
lele bildet zu der von Neisser hervorgehobenen Stelle 
aus der Zeit vor der Isolirung: „er schlug bei jeder 
Gelegenheit auf sie los,“ und es mir nicht zweifelhaft 
ist, dass auch erstere von Neisser durch Druck her¬ 
vorgehoben gegen mich und als Beweis meiner Ver¬ 
irrung angeführt worden wäre, wenn sie sich auf die 
Zeit vor der Isolirung bezogen hätte. Jedenfalls 
war also in dieser Beziehung auch nach der Isolirung 
im Sinne Neissers nichts wesentliches gebessert und die 
„ganz unerträglichen Zustände,“ „die Nachtheile, Auf¬ 
regungen und Plackereien, welche die anderen Kran¬ 
ken durch denselben haben in Kauf nehmen müssen,“ 
dauerten zum Theil auch während der Isolirung noch 
fast ein Jahr fort; ja ich kann Herrn Neisser ver- 
rathen, dass auch, nachdem bei eingetretener Ver¬ 
blödung (es handelt sich entschieden um einen F'all 
von Dementia praecox) die Isolirung aufgehoben 
worden war, Patient noch wiederholt bis in die 
letzte Zeit vor meinem Fortgang von Allenberg 
auf Kranke losgcschlagen hat, ohne dass in diesem 
gelegentlichen Schlagen eine Indication für seine Iso¬ 
lirung gesehen wurde, wie ja auch reizbare Epileptiker, 
die „bei jeder Gelegenheit“ losschlagen, wohl nirgends 
dauernd isolirt gehalten werden. Ich möchte in Be¬ 
zug darauf nur noch einen Autor citiren, der doch 
gewiss für Herrn Neisser maassgebend sein wird. In 

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seinem Aufsatze: „Noch einmal die Bettbehandlung 
der Irren“ (Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 1894, Bd. 50) 
sagt nämlich Herr Neisser selbst: „Die Isolirung eines 
kranken Menschen in einer Zelle, wenn sie lediglich 
zum Schutze der Umgebung und wegen seiner stören¬ 
den Unruhe erfolgt, ist und bleibt, wie ich trotz meh¬ 
rerer Angriffe wiederhole, eine Grausamkeit, 
und wenn sie auch, wie ich stets zugegeben habe, 
manchmal nicht zu umgehen ist, so ist ihre Noth- 
wendigkeit darum nicht minder beklagenswerth“. Eine 
Grausamkeit aber möglichst hintanzuhalten, oder 
wenigstens so lange aufzuschieben, als es nur irgend 
möglich erscheint, das ist keine Verirrung, kein starres 
Festhalten am Princip, sondern einfach Pflicht des 
Arztes. Das Urtheil darüber abei, wie lange das in 
dem einzelnen Falle möglich war resp. wann es unmög¬ 
lich zu werden begann, das kann kein Fernstehender 
nach der Lectüre einer Krankengeschichte sich an- 
maassen, das können nur Aerzte haben, welche den 
betr. Kranken und die Zustände auf der Abtheilung 
mit beobachtet haben, also vor allen Dingen der be¬ 
handelnde Arzt und der Director, welcher die Con- 
trolle ausübte. 

Ich habe in meinem Aufsatze bemerkt, dass unter 
Umständen vielleicht auch in diesem Fall die Iso¬ 
lirung zu umgehen gewesen wäre. Herr Neisser frägt, 
unter welchen Umständen dies wohl hätte angenom¬ 
men werden können. Es wäre dies z. B. möglich 
gewesen, wenn die übrigen 4 Einzelzimmer, welche 
neben dem des Patienten an einem Corridor lagen, 
von ihren Insassen hätten geräumt werden können, 
s<> dass der Kranke diesen Theil der Abtheilung 
allein mit einem .Wärter eingenommen hätte, ode r 
wenn statt des grossen Corridors mit 5 Einzelzimmern 
ein kleiner mit 2 Zimmern zu Gebote gestanden 
hätte, von welchen das eine ja wohl unter allen Um¬ 
ständen hätte geräumt werden können. Wenn übri¬ 
gens Herr Neisser meinen Aufsatz genau durchliest, 
so würde er eine Stelle finden, in welcher auch ich 
zugebe, dass in ganz exceptionellen Fällen die Noth- 
wendigkeit einer Isolirung herantreten könne, ja dass 
man ausnahmsweise auch einmal in die Lage kom¬ 
men könne die Zwangsjacke anzulegen, wofür Herr 
Neisser sofort das Beispiel durch Anführung eines 
solchen Falles erbracht hat. Aber solche F'älle ge¬ 
hören zu den seltensten Ausnahmen, durch welche 
das Prinzip des No-restraint nicht berührt wird*), 

*) Ich möchte hier auf ein sehr treffendes Wort verweisen, 
welches bereits Griesinger 1867 im 1. Bd. des Arch. f. Psych # 
S. 247 bei der Besprechung der freien Behandlung geäussert 
hat: „Oh in ganz extraordinären Fällen bei schweren chirur¬ 
gischen Verletzungen und einer plötzlichen grossen Gefahr durch 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


ebenso wenig wie das Princip der zellenlosen Be¬ 
handlung, wenn in einer grossen Anstalt einmal im 
Verlauf mehrerer Jahre zu einer Isolirung geschritten 
werden muss. Dass man sich so lange als möglich 
gegen die Ausführung einer solchen exceptioneilen 
Zwangsmaassregel sträubt, liegt eben im Begriff des 
No-restraint und wird jeder Verfechter desselben, also 
in Deutschland jeder Irrenarzt, begreiflich finden. So 
hat auch Neisser, wie aus seiner Krankengeschichte 
hervorgeht, trotz der von Anfang an bestehenden un¬ 
ausgesetzten schwersten Unruhe und des ausserordent¬ 
lich starken Selbstbeschädigungsdranges des Kranken, 
welcher sich in die Augen zu bohren, die Genitalien 
herauszureissen oder zusammenzuquetschen oder sich 
kopfüber auf den Boden zu stürzen suchte, eine volle 
Woche gewartet, ehe er zur Anlegung der Zwangs¬ 
jacke sich entschloss. Niemand wird ihm daraus 
einen Vorwurf machen. Aber gesetzt der Fall, dass 
die Krankengeschichte Neisser’s vor 30 oder 35 Jah¬ 
ren veröffentlicht worden wäre, wo das No-restraint 
sich erst in Deutschland Bahn zu brechen anfing und 
noch sehr viele dasselbe bekämpften, so ist es gar 
nicht unwahrscheinlich, dass da ein Irrenarzt aufge¬ 
treten wäre, welcher das abwartende Verfahren 
Neisser’s in der ersten Woche als starres Festhalten 
am Princip, als Verirrung gegeisselt und auf das Ent¬ 
schiedenste dagegen Einspruch erhoben hätte, „dass 
ein solches zuwartendes Verfahren als ein vom Geiste 
der modernen Therapie gefordertes angesehen werde“. 
Soviel hierüber. 

Herr Neisser interpellirt mich, was ich zu thun 
empfehle, wenn ein oder mehrere Kranke so lärmen 
oder in anderer Weise so störend sind, dass ihre 
schlafbedürftigen Nachbarn nicht Ruhe finden können. 
Die Frage ist meiner Ansicht nach nicht ganz präcis 
gestellt Handelt es sich im Sinne Neisser’s auch um 
Kranke, die in der Nacht einmal 1 oder 2 Stunden 
störend sind und während dieser Zeit andere nicht 
zur Ruhe kommen lassen, so ist dies ein verhältniss- 
mässig so häufiges Vorkommniss, das auch auf so¬ 
genannten ruhigen Abtheilungen eintreten kann, dass 
man nicht stets sofort einschreiten, sondern abwarten 
wird, ob der Kranke nicht wieder ruhig wird und 

einen Kranken mechanische Beschränkungsmittel gebraucht 
werden sollen, darüber braucht man meiner Meinung nach gar 
nicht zu streiten und gar keine Regel zu geben. Ich halte das 
für ganz gleichgültig, weil die wirkliche Behandlungsmethode 
und der Geist der Anstalt nicht berührt wird. Hier hilft man 
sich eben, wie man kann, und das nächste was die Gefahr ab¬ 
wenden kann, ist das Beste. Was soll das auch für eine 
wesentliche Differenz machen, ob der Kranke von Wärtern ge¬ 
halten, mit Schnupftüchern gebunden oder mit Leibriemen ge¬ 
halten wird?“ 


einschläft. Geht aber das Lärmen stundenlang fort 
und ist nach der Natur des Kranken eine Beruhi¬ 
gung nicht zu erwarten, was ja vorzugsweise auf den 
unruhigsten Abtheilungen vorkommt, so bleibt in der 
That nichts weiter übrig als die Absonderung” in 
einem (unverschlossenen) Einzelzimmer. Herr Neisser 
sagt, ob man das ein Separiren oder Isoliren oder 
Wegstecken nennt, ändere an der Sache nichts. 
Sicher nicht, denn die Bezeichnung eines Dinges 
ändert nie das Ding selbst. Wohl aber giebt es ge¬ 
wisse Bezeichnungen, mit denen der Sprachgebrauch 
einen ganz bestimmten Sinn verbindet. So verstellt 
man unter Isolirung ganz allgemein die Einsperrung 
eines Kranken in einem Einzelzimmer durch Ver¬ 
schluss desselben, aus dem er also spontan nicht 
heraus kann. Unter Separiren aber verstehe ich 
wenigstens, — und ich habe darüber in meinen dies¬ 
bezüglichen Aufsätzen keinen Zweifel gelassen — die 
Unterbringung eines Kranken in einem offenstehen¬ 
den resp. unverschlossenen Einzelzimmer, so dass 
derselbe von der Umgebung nicht völlig abgesperrt 
ist, sondern jederzeit zu derselben gelangen kann, 
wenn er sein Zimmer verlassen will. Isoliren ist Ab¬ 
sondern mit Verschluss, Separiren Absondern ohne 
Verschluss. Zwischen Isoliren und Separiren besteht 
also ein fundamentaler Unterschied, der auch jedem 
Geisteskranken, wenn er nicht geradezu total verblödet 
ist, deutlich zum Bewusstsein kommt, es ist eben der 
Unterschied zwischen Eingesperrtsein und Nichtein¬ 
gesperrtsein. 

Wenn mich Herr Neisser weiter frägt: Wie aber, 
wenn der Kranke in dem offenen Einzelzimmer nicht 
bleibt, sondern herausläuft und draussen weiter lärmt ? 
Dann wird es vor allen Dingen auf die Lage des 
Separatzimmers ankommen. 

Wenn z. B. wie in vielen Anstalten 2 Separat¬ 
zimmer durch ein Wärterzimmer getrennt an einem 
kleinen Corridor zusammen liegen, so dürfte es den 
Kranken auch dann nicht besonders viel schaden. 
In Allenberg liegen aber 4 resp. 5 Separatzimmer 
(die früheren Isolirzimmer) dicht neben einander an 
einem Corridor, was ja als zweckmässig sicher nicht 
bezeichnet werden kann. Wenn nun alle Separat¬ 
zimmer besetzt waren, so konnte unter Umständen 
ein solcher Kranker die übrigen 3 oder 4 Kranken 
erheblich stören (was übrigens auch früher, als noch 
isolirt wurde, der Fall war, wenn der Kranke die 
ganze Nacht mit aller Kraft an seine Zellenthür pol¬ 
terte und lärmte, dass der ganze Corridor erdröhnte). 
Für solche Fälle möchte ich auf die neuerdings von 
Kraepelin so warm empfohlenen nächtlichen Dauer¬ 
bäder (Die Wachabtheilung der Heidelberger Klinik 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


—- Centralbl. für Nervenheilkunde, Dec. 1901) hin- 
weisen. Ich habe in Allenberg auch eine Zeit lang 
den Versuch gemacht, die Dauerbäder über die Nacht 
auszudehnen, dies aber bald aus Mangel an genügen¬ 
dem Wartpersonal aufgeben müssen. Jedenfalls halte 
ich das Dauerbad über Nacht für den besten und 
zweckinässigsten Ersatz der Isolirung. Die Schwierig¬ 
keiten, welche sich der Anwendung der Hydrotherapie 
in der Nacht entgegenstellen, müssen sich bei festem 
Willen des Anstaltsleiter beseitigen lassen. 

Bezüglich der Bettbehandlung freue ich mich, 
mit Herrn Neisser übereinstimmen zu können. Auch 
ich bin Scholz gegenüber der Ansicht, dass keines¬ 
wegs alle Kranke, welche der Bettbehandlung unter¬ 
zogen werden, nächtlicher Ueberwachung bedürfen. 
Wie ich in meinem letzten Aufsatze bereits angeführt 
habe, sind in Allenberg seit Jahr und Tag neben 
den Wachsälen eine grosse Anzahl von Zimmern zur 
Bettbehandlung eingerichtet, aber ohne ständige Ueber¬ 
wachung, welche in einzelnen Zimmern aus Mangel 
an Wartpersonal selbst bei Tag nicht dauernd sein 
kann und bei den Kranken, um die es sich handelt 
aus den Gründen, welche Neisser angeführt hat, auch 
nicht dauernd zu sein braucht. 

Dass alle irgendwie störenden, in Haltung und Be¬ 
nehmen ungeordneten oder auffälligen Elemente (letztere 
soweit sie sich nicht beschäftigen) ins Bett gehören, 
habe ich übrigens bereits seit 1890, wo ich die Männer¬ 
abtheilung übernommen habe, als Prinzip befolgt, (was 
ich auch, wie ich glaube, in meinem Referat über 
Neissers erste Arbeit über Bettbehandlung im Central¬ 
blatt für Nervenheilkunde 1891 bemerkt habe), so 
dass die Procentzahl der Bettlägerigen bald auf 30 
und 40 0 o gestiegen ist. Ich bin in den letzten Jahren 
sogar noch weiter gegangen und habe auch die äusser- 
lich geordneten Kranken, die zu einer geregelten Be¬ 
schäftigung nicht zu bewegen waren (mit Ausnahmen 
der von jeher eine Sonderstellung geniessenden Pen¬ 
sionäre) ins Bett gesteckt, bis sie bereit waren eine 
regelmässige Beschäftigung aufzunehmen. Ich glaube 
auch, dass die obengenannten Grundsätze der Bett¬ 
behandlung auch anderweitig geübt wurden, bevor 
Neisser sie öffentlich verkündete. Das Verdienst die 
Bettbehandlung mit Nachdruck empfohlen und sie 
zur allgemeinen Kenntniss gebracht und dadurch zum 
Gemeingut der Irrenärzte gemacht zu haben, soll ihm 
aber ungeschmälert bleiben. 

Was die Schlafmittel betrifft, um auch darauf 
noch kurz einzugehen, so betont Herr Neisser, dass 
er im Laufe der Zeit immer mehr dazu gekommen 
sei, die Aufgabe, täglich für ausreichenden Schlaf zu 
orgen, für eine der dringlichsten zu halten. Und um 

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diese Dringlichkeit zu erhärten, weist er auf die 
„immer von neuem zu machende Erfahrung“ hin, 
„dass die meisten Erregungszustände und Erregungs¬ 
steigerungen sich an schlaflos verbrachte Nächte an- 
schliessen bezw. mit solchen einleiten“. Die That- 
sache ist zuzugeben und wohlbekannt, aber ich habe 
bisher nicht geglaubt, dass sie nach dem Satze: post 
hoc, ergo propter hoc, wie Neisser will, zu erklären 
sei, und ich glaube auch nicht, dass Neisser’s An¬ 
schauung von den Irrenärzten getheilt wird. Meiner 
Ansicht nach ist die Schlaflosigkeit im Beginn der 
Erregungszustände nicht die Ursache, sondern weiter 
nichts als ein Symptom oder ein Prodromalsymptom 
der Hirnveränderung, welche sich bald durch deut¬ 
liche Erregung kund giebt, ebenso wie die Unstetig¬ 
keit der betreffenden Kranken am Tage, die manch¬ 
mal allerdings nur bei besonderer Aufmerksamkeit 
bemerkt w'ird. Ich glaube auch kaum, dass es Herrn 
Neisser gelungen ist, beginnende Erregungszustände, 
die sich mit Schlaflosigkeit einleiten, durch Schaffung 
von künstlichen Schlaf zu coupiren, sonst würde er 
ja gar nicht in dei Lage sein, immer wieder von 
neuem die Erfahrung zu machen, dass sich Erregungs¬ 
zustände an schlaflos verbrachte Nächte anschliessen. 
Uebrigens hätte Herr Neisser durchaus nicht nöthig 
gehabt, die Dringlichkeit der Aufgabe den Kranken 
Schlaf zu schaffen, durch Hinweis auf klinische Er¬ 
fahrungen besonders ‘ hervorzuheben. Die Wichtig¬ 
keit des Schlafes für Gesunde nicht minder wie für 
Kranke leuchtet von selbst ein und ist allgemein an¬ 
erkannt. Und das Bewusstsein dieser Wichtigkeit 
hat sich ja bei den Irrenärzten in einer Weise gel¬ 
tend gemacht, dass bis vor wenigen Jahren in den 
meisten Irrenanstalten geradezu ein Massenkonsum 
von Schlafmitteln stattfand und das Erste, was der 
junge Psychiater beim Eintritt in die Irrenanstalt von 
Therapie lernte, der Gebrauch der Pravazspritze und 
die Verzapfung von Schlafmitteln war, die in grossen 
Flaschen und allen möglichen Combinationen auf die 
Abtheilung kamen. Es galt eben als die Hauptauf¬ 
gabe unter allen Umständen Ruhe zu schaffen, und 
so herrschte vielfach in den Irrenanstalten ein Zu¬ 
stand, welcher von spottsüchtigen Collcgen als „die 
Ruhe des Kirchhofs“ bezeichnet wurde. 

Ich führe dies an, um zu zeigen, dass von jeher 
die Aufgabe Ruhe, besonders in der Nacht, zu schaffen, 
als eine sehr wic htige betrachtet worden ist. Und 
ich kann Herrn Neisser versichern, dass auch ich 
von dieser Wichtigkeit überzeugt bin. Darüber be¬ 
steht also keine Meinungsverschiedenheit. Nur was 
die Mittel anbetrifft, diese Aufgabe zu lösen, darin 
beruht die Streitfrage. Und da muss ich nach mei- 

Original from 

HARVARD UN1VERS1TY 




150 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


nen Erfahrungen die Narcotica für durchaus unge¬ 
eignete und unzweckmässige Mittel halten, die höch¬ 
stens in Ausnahmefällen einmal angewendet werden 
sollten, und ich halte es für falsch, den Schlaf unter 
allen Umständen durch Narcotica erzwingen zu wollen. 
Ich habe in meinem Vortrage 1897 darauf hinge¬ 
wiesen, dass es bei vielen und gerade bei den stö- 
rendsten Kranken nicht möglich ist, durch noch so 
gesteigerte Dosen der verschiedensten Narcotica den 
gewünschten Schlaf herbeizuführen, höchstens dass es 
gelingt auf 1 oder 2 Stunden Schlaf resp. Narkose 
zu erzielen. Ist die Narkose vorüber, so geht das 
Lärmen und Toben von neuem los. Andrerseits 
treten, wie ich auf Grund der Erfahrungen nach Fort¬ 
lassen der Schlafmittel gleichfalls betont habe, selbst 
bei den unruhigsten und erregtesten Kranken auch 
ohne unser Zuthun von Zeit zu Zeit, in ganz regel¬ 
loser Weise, kürzere oder längere Pausen ein, in denen 
sie ruhiger sind oder schlafen. Die Kranken schlafen 
einmal am Tage oder in der Nacht eine Stunde oder 
auch mehrere, auf mehrere sehr unruhige Nächte 
folgt eine ruhigere und auch in den unruhigen Näch¬ 
ten lärmen die Kranken oft nicht die ganze Nacht 
hindurch, sondern mit kürzeren oder längeren Unter¬ 
brechungen. Die Verabreichung eines Narkoticums 
ist meiner Ansicht nach in solchen Fällen höchstens 
im Stande den Schlaf zu anticipiren, ohne dass man, 
wenn man nicht sehr grosse narkotische Dosen giebt, 
den Schlaf mit Sicherheit herbeiführen kann. 

Ich möchte hier nur noch auf die ganz ähnlichen 
Erfahrungen des Directors der Irrenanstalt York, 
Hitchcock, (Note on 206 consccutive cases of acute 
mania treated without sedatives. — Joum. of ment, 
science Jan. 1900) hinweisen , welcher daselbst in 
16 Jahren 206 Fälle von akuter Tobsucht trotz der 
Erregung und trotz der Schlaflosigkeit, welche in allen 
Fällen mehr oder minder hervortrat, ohne Narcotica 
behandelt hat und dadurch eine grössere Anzahl von 
Heilungen, eine geringere Anzahl von Todesfällen 
und bei den ungeheilten Fällen eine grössere Ruhe 
erzielt zu haben glaubt. Die Erfahrungen, die Hitch¬ 
cock in 6 Irrenanstalten, in denen er früher gewesen, 
über die Wirkung der Schlafmittel gemacht hat, haben 
ihn zur Ueberzeugung geführt, dass sowohl bei akuten 
als bei chronischen Fällen der Gebrauch der Schlaf¬ 
mittel gefährlich ist, dass kein bekanntes Narcoticum 
den Anfall heilt oder abkürzt, dass die Verabreichung 
in genügend grossen Dosen, um die Aufregung zu 
unterdrücken, den Kranken dauernden Schaden 
bringt und dass auch längere Schlaflosigkeit die spä¬ 
ter^ Heilung nicht hindert. Ich kann dies Wort für 
Wort unterschreiben, ebenso wie die Empfehlung 

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diätetischer und hydrotherapeutischer Maassnahmen, 
welche einen natürlichen Schlaf herbeizuführen ge¬ 
eignet sind, an Stelle der Betäubung durch Narcotica*). 

N ach trag. 

Bevor noch die Drucklegung der vorstehenden 
Ausführungen erfolgen konnte, hat auch Bleuler Ge¬ 
legenheit genommen, sich über meinen Aufsatz zu 
äussem und seinen Standpunkt zu ^ertheidigen. Es 
hat sich dabei gezeigt, dass die Differenzen zwischen 
den Anschauungen Bleuler’s und den meinigen gar 
nicht so bedeutend sind, als es den Anschein hat 
Jedenfalls kann ich mit Bleuler’s Zugeständniss, dass 
er ganz gern sähe, wenn meine Anschauungen an¬ 
genommen würden, damit das viele Gute, das in mei¬ 
nen Vorschlägen liege, möglichst Verbreitung fände, 
völlig zufrieden sein. 

Auch damit kann ich mich einverstanden erklären, 
dass wenn ich etw’as übers Ziel hinausgehen sollte, 
sich das ganz von selbst korrigiren w’ird. Ich glaube 
aber ebenso w'enig über das Ziel hinausgegangen zu 
sein wie die ersten Anhänger des No-restraint, ob¬ 
gleich ihnen dies zuerst allgemein vorgeworfen wände. 
Hoffentlich lässt es Bleuler nicht bei def prinzipiellen 
Anerkennung bewenden, sondern versucht practisch 
die zellenlose Behandlung zugleich mit der Bettbe¬ 
handlung durchzuführen, wobei die Bedenken, die 
Bleuler jetzt noch hat, sicher schwinden werden. Und 
in dieser Beziehung noch einige Bemerkungen. 

Wie Bleuler beim genaueren Durchlesen meiner 
Aufsätze über die zellenlose Behandlung und der 
vorstehenden Ausführungen ersehen wird, habe ich 
gegen die Unterbringung von Kranken in Einzel¬ 
zimmern an und für sich nichts einzuwenden, ich 
bekämpfe nur das Einsperren in Einzelzimmern oder in 
eigens dazu eingerichteten „Zellen“. Das Separiren in 
Einzelzimmern habe ich ja selbst in vielen Fällen an 
Stelle des ,;Isolirens“ empfohlen. Mein Kampf richtet 
sich gegen das geschlossene Einzelzimmer, die Zelle, 
nicht gegen das offene oder vom Kranken jederzeit zu 
öffnende Einzelzimmer, w’eil sich eben aus der zwangs- 
mässigen Abschliessung oder Einsperrung des Kran¬ 
ken zahlreiche Nachtheile ergeben, die von allen Vor¬ 
kämpfern der zellenlosen Behandlung genügend be¬ 
leuchtet worden sind. Ich pflichte Bleuler vollständig 

*) Experimentelle Untersuchungen, welche neuerdings von 
Hans Winterstein („Zur Kenntniss der Narkose“, Zeitschr. f. 
allg. Physiologie 1902, Bd. I, H. 1) angestellt worden sind, 
führten zu folgendem Schluss: Niemals darf die Annahme Platz 
finden, dass der natürliche Schlaf durch die Narkose des Nerven¬ 
systems zu ersetzen sei. Denn in dem Ueberwiegen der Assi¬ 
milation über die Dissimilation ist das Wesen des Schlafes zu 
suchen, während die Narkose beide in gleicher Weise lähmt. 

Original from 

HARVARD UNfVERSITY 



1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 151 


bei, dass „bei den Geisteskranken wie bei Gesun¬ 
den sich Leute befinden, die sich Nachts am 
wohlsten allein befinden und denen dies nichts scha¬ 
det“, sondern sogar nutzt. Ja, man kann sogar noch 
weiter gehen und sagen, dass es Geisteskranke giebt, 
die sich auch am Tage am wohlsten allein befinden, 
deswegen aber brauchen dieselben doch nicht hinter 
Schloss und Riegel zu sitzen. Gegen den „Komfort 
des Einzelzimmers“ hat wirklich niemand etwas ein¬ 
zuwenden. Auch* ich halte, wie ich dies in meinem 
Aufsatze in Nr. 30 und 31 des 3. Jahrgangs deut¬ 
lich genug ausgedrückt habe, eine grössere Anzahl 
von Einzelzimmern durchaus nicht für unzweckmässig, 
(wenn sie nur nicht als Isolirzellen gemissbraucht 
werden), ich habe direct betont, dass es im Allge¬ 
meinen das beste wäre, wenn man jedem Kranken 
sein eigenes Zimmer anweisen könnte, wie dies in 
vornehmen Privatanstalten der Fall ist, bei öffent¬ 
lichen Irrenanstalten scheitert dieser fromme Wunsch 
aber an der allzugrossen Kostspieligkeit. Und da 
sind denn, wie dies in allgemeinen Krankenhäusern 
und Kliniken auch der Fall ist, grössere Schlaf- und 
Wachsäle unvermeidlich. Andrerseits aber halte ich 
bei zahlreichen überwachungsbedürftigen Geisteskran¬ 
ken gewisser Art den Aufenthalt in Wachsälen aus 
psychischen Gründen und der besseren Ueberwachung 
wegen für durchaus geboten und zweckmässiger als 
die Unterbringung in Einzelzimmern, so dass ich selbst 
in einer vornehmen Privatanstalt für erstklassige Patien¬ 
ten aus therapeutischen Gründen einen Wachsaal ein¬ 
richten würde. Die Einsamkeit des Einzelzimmers 
wirkt vielfach psychisch ungünstig und es bilden sich 
oft unangenehme Eigenschaften aus, die im Wach¬ 
saal gar nicht aufkommen können. 

Das „Modeaxiom, dass Geisteskranke krank seien 
und deshalb ins Bett gehören“, ist niemals und nir¬ 
gends aufgestellt worden. Es wird niemanden ein¬ 
fallen, einen ruhigen, unauffälligen, arbeitsfähigen und 
arbeitslustigcn Geisteskranken deswegen ins Bett zu 
stecken, weil er eben geisteskrank ist. Bleulers 
Aeusserungen in dieser Hinsicht zeigen, dass er das, 
was die Bett-Behandlung will, völlig missverstanden 
hat. Es handelt sich bei der Bettbehandlung doch 
nicht um alle Geisteskranken, sondern nur um solche 
Elemente, die unruhig oder in irgend einer Weise 
störend und zu einer Arbeit nicht zu verwenden sind. 
Dass chronische Fälle im Prinzip arbeiten sollen, wie 
Bleuler zu betonen müssen glaubt, ist ein bereits 
vor 100 Jahren (Pinel, Reil, Langermann) ausgespro¬ 
chener und jetzt allgemein anerkannter Grundsatz. In 
Allenberg w^aren, wie ich dies schon in meinem Vor¬ 
träge 1897 bemerkt habe, ungefähr die Hälfte der 

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Kranken 3. Klasse regelmässig mit nutzbringender 
Arbeit beschäftigt*) Auch für die andern deutschen 
Irrenanstalten, wo die Bettbehandlung in ausgedehn¬ 
ter Weise geübt wird, gilt Aehnliches. Das scheint 
Bleuler entgangen zu sein. Dass manche unruhige 
Elemente bei der Arbeit ruhiger werden, ist auch in 
diesen Anstalten ganz bekannt. 

Bei leichteren Graden von Unruhe, bei denen 
eine Beschäftigung noch möglich ist, tritt die Bettbe¬ 
handlung eben nicht ein. Zu Bett gelegt werden nur 
chronische Kranke mit stärkerer Unruhe und chroni¬ 
schen Erregungszuständen, w'elche ein Verbleiben bei 
der Arbeit unmöglich machen. Und w'enn wieder 
Beruhigung eingetreten ist oder der Zustand sonst 
es erlaubt, lässt man die Kranken aufstehen und 
schickt sie, sobald es geht, wieder zur Arbeit. In 
den Fällen, wo die Bettlage den Kranken „eine Qual“ 
ist, aber auch bei anderen wird natürlich von Zeit 
zu Zeit der Versuch gemacht, ob sie sich beim Auf¬ 
sein besser befinden. Wird jedoch dadurch ihre Un¬ 
ruhe, ihre Angst, ihr Jammern und Klagen etc. ver¬ 
mehrt, so müssen sie wieder ins Bett, w’o sie sich 
dann in Wirklichkeit am wohlsten befinden, selbst 
wenn sie die Bettruhe als Qual bezeichnen. 

Wenn Bleuler meint, dass nach meiner Berech¬ 
nung die Bettbehandlung sehr theuer sei und auf 
die 600 unruhigen Kranken über 150 Wärter (!) noth- 
wendig seien, so weiss ich wirklich nicht, wie Bleuler 
zu dieser exorbitanten Zahl kommt. In meinem 
Aufsatz (3. Jahrgang Nr. 30, 31 dieser Wochen¬ 
schrift) findet sich über die Zahl der Wärter nur die 
Bemerkung, dass in Allenberg durchschnittlich unge¬ 
fähr 1 Wärter auf 8 Kranke kommt. Und in meinem 
Vortrage vom Jahre 1897 erwähnte ich, dass ich 
auf der Abtheilung der erregtesten Kranken (Zellen¬ 
abtheilung) 5 Wärter auf 20 Kranke oder 1:4 hatte, 
aber meiner Meinung nach 1:3 nothw'endig w'ären. 
Nun werden doch aber sicher nicht alle 600 Kran¬ 
ken Bleulcr’s dauernd tobsüchtig erregt sein und dau¬ 
ernd zu Bett liegen müssen. Ein solcher Gedanke 
ist mir nicht im entferntesten gekommen. Von den 
600 Unruhigen wird w r ohl die weit überwiegende 
Mehrzahl zu den sogenannten Halbunruhigcn gehören, 
die zum grössten Theile (dauernd oder zeitweise) 
noch beschäftigt w erden und ausser Bett sein können, 
während andere durch die Bettbehandlung so weit 
beruhigt werden könnten, dass sic (wenigstens zeit- 

*) In meinem Vortrag heisst es, „dabei will ich gleich 
erwähnen, dass auch die Beschäftigung der Kranken, deren 
beruhigender Einfluss bekannt ist, die nothwendige Berücksich¬ 
tigung gefunden hat“. (Bericht über die Jahresvers. des Ver¬ 
eins deutscher Irrenärzte 1897, S. 44.) 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 



152 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


weise) arbeitsfällig werden. Selbst wenn ich annehrae, 
dass regelmässig 150 von den 600 Kranken tobsüchtig 
erregt*) sind, also bei Beltbehandlung ca. 45 Wärter 
brauchen und im Uebrigen ungefähr die Verhältnisse 
obwalten, wie sie im Allenberger Siechenhause mit chro¬ 
nisch unruhigen, unreinlichen und verblödeten Kran¬ 
ken herrschten, wo in 3 Abtheilungen 12 Wärter auf 
110—120 Kranke (mit ca. 6o°/ 0 Bettlägerigen) 
kommen, so dass auf die restirenden 450 Kranken 
Rheinau’s etwa 50 oder gar 55 Wärter kommen 
würden, so würden sehr hoch gerechnet immer 
erst 100 Wärter oder 1 auf 6 nothwendig sein, ein 
Verhältniss, wie es in zahlreichen grossen Irrenan¬ 
stalten besteht und für unruhige Kranke auch kaum 
zu gross erscheint. Es ist mir aber auch nicht frag¬ 
lich , dass sich mit dem Verhältniss 1:7 oder 85 
Wärtern bei den 600 Kranken in Rheinau die Bett- 
und zellenlose Behandlung ohne besondere Schwierig¬ 
keiten durchführen lassen würde**), besonders, wenn 
erst das System Aerzten und Wärtern in Fleisch und 
Blut übergegangen ist. Mit theoretischen Raisonne- 
ments, die auf Vorurtheilen begründet sind, lässt sich 
allerdings die Frage nicht entscheiden, hier heisst es 
eben probiren, denn 

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie 
Und grün des Lebens goldner Baum. 

Wenn Bleuler allerdings die Bauten in Rheinau, 
besonders den Zellen bau als einen Nothbehelf be¬ 
zeichnet, der bei den zeitigen Verhältnissen nicht zu 
umgehen gewesen sei, so kann man ja die Verthei- 
digung eher gelten lassen, man begreift dann aber 
nicht recht, was mit der Veröffentlichung des Auf¬ 
satzes, in dem diese Bauten beschrieben wurden, be¬ 
zweckt war, da im Allgemeinen jede solcher Be¬ 
schreibung und Veröffentlichung in dem Leser die An¬ 
schauung zu erwecken geeignet ist, dass es sich um 
etwas Mustergültiges handle. 

*) Auch von den schlimmsten Artefakten lassen sich viele, 
wenn nicht die meisten, bei zweckmässiger Bettbehandlung 
noch wesentlich bessern und erziehen, wie allenthalben die Er¬ 
fahrungen zeigen. Ich verweise in dieser Beziehung nur auf 
die Erfahrungen, die, wie Neisser in seinem Aufsatze bemerkt 
hat, ueuerdings in der Pensionärabtheilung von Leubus ge¬ 
macht worden sind und ausführlich in einem Aufsatze von 
Alter („Versuche mit zellenloser Behandlung etc “, Centralbl. für 
Nervenheilk., März 1902) veröffentlicht worden sind. 

**) Ich möchte Herrn Bleuler in dieser Beziehung nur auf 
den jüngst in der Allg. Zeitschr. für Psychiatrie erschienenen 
Aufsatz von WUrth in Hofheim „Ueber die Bettruhe bei 
chronischen Geisteskranken“ verweisen, worin derselbe schil¬ 
dert, wie er die Bettbehandlung bei 200 chronischen (unruhi¬ 
gen) weiblichen Geisteskranken mit dem besten Erfolge durch¬ 
geführt hat, ohne däss eine Vermehrung des Wartpersonals er¬ 
forderlich war. 

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Und nun noch eins. Wenn Bleuler zur Verth ei - 
digung der Isolirungen (darunter immer das Einsperren 
in Zellen verstanden) anführt, dass manche Kranke die 
Isolirungen als eine Wohlthat empfinden, dass sie sejbst 
nach der Zelle verlangen u. s. w., (auch Fürstner hat 
auf der letzten Versammlung südwestdeutscher Irren¬ 
ärzte in Karlsruhe, Nov. 1901, dieses Moment den 
Anhängern der zellenlosen Behandlung gegenüber 
hervorgehoben), so will ich nur darauf binweisen, 
dass, als vor 50 Jahren der Kampf um das No-restraint 
entbrannt war, den Vorkämpfern desselben von den 
Vertheidigem des Restraint auch entgegengehalten 
wurde, dass viele Kranke selbst nach dem Restraint 
verlangen und später dankend die Nothwendigkeit 
derselben anerkannten (siehe Dick, Reiseskizzen 
Allg. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XIII, S. 37b). 
Es giebt eben nichts neues unter der Sonne. Die 
Diskussion, die jetzt über die Frage „Isoliren 
oder Nichtisoliren“ geführt wird, ist schon vor einem 
halben Jahrhundert 30 Jahre hindurch in derselben 
Weise über das Restraint oder No-restraint geführt 
werden. Alle Gründe, welche damals für die Bei¬ 
behaltung des Restraints vorgebracht wurden, sie sind 
jetzt, vielfach mit denselben Schlagworten, bei der 
Vertheidigung der Isolirzellen wiedergekehrt. Es 
wurde damals „vor jeder Einseitigkeit, vor allen Ex¬ 
tremen“ gewarnt, wie jetzt vor der „Schablone“ 
(Bleuler) gewarnt wird und von „Prinzipienreiterei“, 
von „Uebertreibungen“, von „Extremen“, von „ex¬ 
tremen Zielen der Fanatiker“ oder „Fanatismus“*) 

*) Herrn Jolly, von welchem die letzten Ausdrücke in 
dem neuesten Jahrgang der Charit^-Annalen bei den Erläu¬ 
terungen zum Neubau der psychiatrischen und Nerven-Klinik 
der KÖnigl. Charitö (Band 26, Seite 347, vergleiche diese 
Wochenschrift, gd. IV, Nr. 1, S. io) gebraucht worden 
sind, scheinen seine Ausführungen auf der Versammlung 
deutscher Irrenärzte in Berlin, dass „das flir das neue 
Jahrhundert ausgegebene Stichwort der zellenlosen Behandlung 
als ein aussichtsvolles Verbesserungen in sich schliessendes, bezeich¬ 
net werden dürfe“, unter Hinweis darauf, dass trotz der 
Schwierigkeiten, mit welchen Anfangs die Durchführung des 
No-restraints zu kämpfen hatte, diese doch schliesslich ohne 
Rest gelungen sei, schon leid zu thun, sonst würde er den 
Ausdruck „Fanatiker“, mit dem ja auch die Anhänger des No- 
restraints über 2 Jahrzehnte lang regalirt worden sind, nicht 
gebraucht haben. Der Widerspruch ist um so grösser, als 
Jolly selbst betont, dass er trotz der ungünstigen Verhältnisse 
in der Charitd nunmehr durch systematische Einschränkung der 
Isolirungen zu auffallend viel günstigeren Verhältnissen gekommen 
sei, als sie früher bestanden und als er sie erwartet hatte. Die 
mildernden Umstände, welche Herr Jolly so gütig sein will, 
den „Fanatikern“ zuzubilligen, sind denselben wirklich nicht 
von Nöthen und werden ebenso freundlich wie entschieden zu¬ 
rückgewiesen. Ich glaube, es werden kaum 10 Jahre ins Land 
gehen, dass man den Spiers wird umdrehen können und in 
der Lage sein wird, den Gegnern der zellenlosen Behänd- 

Original from 

HARVARD UNiVERSITY 




1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


gesprochen wird; strenge vernünftige Individualisirung 
wurde damals beim Restraint empfohlen, wie sie jetzt 
beim Isoliren empfohlen wird, ein „milder“ Restraint 
wurde damals in vielen Fällen als Heilmittel, ja als 
„Quelle des Comforts“ (s. Dick, Reiseskizzen a. a. O.) 
gepriesen, wie jetzt vom „Comfort“ der Isolirzelle ge¬ 
sprochen und in manchen Fällen die Isolimng „in 
therapeutischer Beziehung nützlich“ genannt wird; es 
wurde die grosse Störung und die Belästigung der 
anderen Kranken und der Wärter als die nothwen¬ 
dige Folge der Beseitigung des Zwanges hervorge¬ 
hoben, wie jetzt das gleiche Motiv gegen die zellen¬ 
lose Behandlung angeführt wird; es wurde von den 
„rohen Wärterfäusten“ gesprochen, welche an die Stelle 
des Restraint treten müssten, wie man jetzt das 
Gleiche bei der Aufgabe der Isolirung prophezeit; es 
wurden an die Anhänger des No-restraint zahlreiche 
Fragen gestellt, wie sie in diesen und in jenen Fällen 
ohne Zwangsmittel auskoinmen wollen (vgl. bcs. Guis- 
lain: Le<;on orales sur les phrenopathics 1852, übers, 
von Laehr 1854) resp. was sie in solchen Fällen zu 
thun empfehlen (z. B. wenn ein Kranker sich immer¬ 
fort ausziehe oder alles zerreisse oder nicht im Bett 
bleiben wolle), ebenso wie jetzt Neisser mich inter- 
pellirt, was ich in den und den Fällen zu thun em¬ 
pfehle; und endlich wurde die ausserordentliche Kost¬ 
spieligkeit des No-restraint, die Benüthigung einer be¬ 
deutenden Vermehrung des Wartpersonals, des ärzt¬ 
lichen Personals etc. betont und die Frage als „reine 
Kostenfrage“ bezeichnet, wie jetzt Mcrcklin und Sie¬ 
mens die zellenlose Behandlung vorwiegend eine 
„Personal- und Geldfrage“ und eine „Geldfrage von 
grosser Tragweite“ nennen. Es ist also alles schon 
einmal dagewesen. 

Und wie vor einigen Jahrzehnten das No-restraint 
sich allem Hohn und allen Schmähungen, allen Ein¬ 
würfen und Bedenken gegenüber siegreich durchge¬ 
kämpft und die erbittertsten Gegner schliesslich zum 
Schweigen gebracht oder in die eifrigsten Vorkämpfer 
verwandelt hat, so wird auch in unseren Tagen die zellen- 
luse Behandlung den endgültigen Sieg „ohne Rest“ davon¬ 
tragen und mit der durch die Thatsache bewiesenen 
Macht seiner Zweckmässigkeit die Bedenken der bis¬ 
herigen Gegner verstummen machen. Allem An¬ 
schein nach wird das schneller gehen als mit dem 
Siege des No-restraint. Mit dem Falle der Zelle, 

lung mildernde Umstände bewilligen zu müssen, ebenso wie 
Wcstphal auf der Jahresversammlung des Vereins deutscher 
Irrenärzte i. J. 1879 mildernde Umstände für die anfänglich 
fast allgemeine Opposition gegen das No-restraint bewilligte, 
die er „als kein freundliches Blatt in der Geschichte der prac- 
tischen Psychiatric“ bezeichncte. 


welche ja weiter nichts ist als das letzte und am 
längsten festgehaltene Beschränkungsmittel des Restraint, 
das letzte Ueberbleibsel des alten Tollhauses, wird 
das No-restraint-Systcm erst gänzlich vollendet sein. 

Die historische Gerechtigkeit erfordert es, darauf 
hinzuweisen, was jetzt anscheinend in Vergessenheit 
gerathen ist, dass in England schon vor 50 Jahren 
mit dem Restraint vielfach auch die Zellen abgeschafft 
wurden, worauf schon Conolly hingedrungen zu haben 
scheint. Dick berichtet in seinen obengenannten 
Reiseskizzen (1853), dass auf der weiblichen Abthei¬ 
lung der Irrenanstalt Springfield mit 500 weiblichen 
Kranken nicht nur alle Zwangsmittel verbannt, son¬ 
dern auch die Zellen völlig beseitigt waren; es be¬ 
fand sich zur Zeit seines Besuches nur eine einzige 
Kranke in einer offenen Zelle. Dabei wird der wohl- 
thuende Geist der Ruhe, des Friedens und der Ord¬ 
nung hervorgehoben, welcher in der Anstalt herrschte, 
und der Verwunderung Ausdruck gegeben, dass dies 
Alles trotz des geringen Wartpcrsonals (1 : 18) und 
der wenigen (2) Aerzte möglich war. Auch scheint 
die Bettbehandlung noch unbekannt gewesen zu sein. 
Nur bei der Anstalt Devonshire wird erwähnt, dass in 
ihr Director Ruckwill ebenso wie Guislain die Beobach¬ 
tung gemacht habe, dass durch somalische Erkran¬ 
kungen herbeigeführtes Bettliegen oft vom günstigsten 
Einfluss auf das psychische Befinden sei (eine histo¬ 
risch recht bemerkenswerthe Notiz). — Auch in der 
französischen Anstalt Mareville fand Dick zwar alle 
Zellen beseitigt (und sie blieben es auch, wie spätere 
Reiseberichte lehren), aber eine reichliche Anwendung 
von Zwangsmitteln. Bei dieser Gelegenheit berichtet 
Dick, dass nach Koster auch in Stephansfelde mit 
der Scklusion gebrochen werden soll. Dass das Vor¬ 
gehen in Springsfield übrigens nicht vereinzelt war, zeigen 
die Angaben von Ludwig Mayer in seinem Aufsatze: 
„Die Abschaffung des No-restraint“ im 20. Bande der 
Allg. Zcitschr. f. Psychiatrie (1863), die er auf Grund 
eigener Informationen bei einer Reise durch englische 
Irrenanstalten gemacht hat. „Die englischen Irren¬ 
anstalten“, sagt er, „gewähren zwar über dem 5. Theil 
der Gesammtbcvölkerung die Wohlthat des Einzel- 
schlaf/.immcrs, aber sie besitzen keine eigentlichen 
Zellenahtheilungen, und kaum 2 von 20 einzelnen 
Räumen sind zur Aufnahme Lärmender und Zer- 
störungssüchtiger geeignet. Die Benutzung einer eigent¬ 
lichen Zelle ist aber eine ausserordentlich seltene, und 
es ist mir nicht besser als den meisten Besuchern 
englischer Anstalten gegangen, ich hatte keine Ge¬ 
legenheit, die Benutzung einer Polster zelle zu beobach¬ 
ten. Die Commissionars of lunaev fanden bei den 
Besuchen sümmtlicher Grafschaftsanstalten mit einer 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


Bevölkerung von ca. 1300 Geisteskranken nur einen 
derartigen Fall. Aber auch die Isolimng im gewöhn¬ 
lichen Schlafzimmer ist so selten, dass man geneigt 
ist seinen eigenen Augen zu misstrauen. In 5 eng¬ 
lischen Irrenanstalten mit ca. 5700 Geisteskranken 
fand ich in zweien gar keine und in den 3 übrigen 4 
Kranke in ihren Schlafzimmern isolirt. Morel begeg¬ 
nete bei seinen Besuchen der englischen Irrenanstal¬ 
ten unter 5 — 6000 Irren nur 3 Fällen von Isolirung. 
Die Commissionars of lunacy fanden nur in wenigen 
Grafschafts-Asylen einzelne Kranke zur Zeit ihrer Be¬ 
suche isolirt. In fast allen Fällen erstreckte sich die 
Isolirung auf wenige Stunden. In Suffolk wurde jeder 
Kranke als isolirt betrachtet und demgemäss registrirt, 
welcher auch nur 1 / 2 Stunde sich hinter der zuge¬ 
zogenen Thür seines Schlafzimmers befand, auch 
wenn die Thür nicht abgeschlossen war. Isolirungen 
von der Dauer eines Tages sind ganz aussergewöhn- 
liche Vorkommnisse. Nur einmal im Verlauf eines 
Jahres war die Zahl einer Woche erreicht worden. 
In 4 Anstalten, Lincoln, Surrey, Sussex und Birming¬ 
ham (mit 2169 Geisteskranken), war innerhalb eines 
Jahres und länger keine Isolirung vorgenommen wor¬ 
den. Kürzere freie »Zeiträume (Monate und Wochen) 
kamen in zahlreichen Anstalten vor“. Das Urtheil 
Griesingers, welcher die „Zellenpsychiatrie“ ebenso 
verpönte wie das No-restraint, ist bekannt. Weniger 
bekannt aber dürfte sein, dass Rust sich bereits i. J. 
1831 in einem Gutachten über die Anlage von Mars¬ 
berg ganz entschieden gegen die Errichtung von 
Zellen ausgesprochen hat: „Mit der Absicht für die 


Tobsüchtigen einzelne Zellen anzulegen kann man 
sich nicht einverstanden erklären, da letztere d i e 
nothwendige Beaufsichtigung und Pflege, 
deren die Tobsüchtigen im höchsten Grade 
bedürfen, nicht gestatten. Es muss freilich 
dem Ermessen des Arztes anheimgestellt bleiben, in¬ 
wiefern er in besonderen Fällen der einen oder der 
anderen abgesonderten Zelle sich bedienen will, um 
einen besonders widerspenstigen Kranken durch Ent¬ 
fernung aus der menschlichen Gesellschaft auf einige 
Zeit zu bändigen. Aber als allgemeine Regel darf 
es nicht gelten, jeden Tobsüchtigen völlig zu iso- 
liren. Und da die Ausbrüche der Wuth oft lange 
Zeit hinter einander fortdauern und nicht selten mit 
schweren körperlichen Leiden vergesellschaftet sind, 
so ergiebt sich hieraus ein Zustand, der die 
ununterbrochene Gegenwart und Aufsicht 
des Wärters dringend nothwendig macht. 
Denn oft sind Fälle von Selbstmord in einsamen 
Zellen vorgekommen, in denen der Kranke durchaus 
nicht so gefesselt werden kann, dass er dadurch 
völlig gehindert würde Hand an sich zu legen. Der¬ 
gleichen traurigen Ereignissen darf aber durch die bau¬ 
lichen Einrichtungen nicht Vorschub geleistet werden. 
Es dürfte für die Marsberger Anstalt hinreichend sein, 
2 Zellen für einzelne männliche und 1 Zelle für 
weibliche Tobsüchtige, die übrigen zu Zellen be¬ 
stimmten Räume aber zu angemessenen Zimmern her¬ 
zurichten“ (Koster und Tigges: Die Irrenanstalt Mars¬ 
berg, Allg. Ztschr. f. Psych. Anhang zu Bd. 24, 1867, 
S. 90). 


M i t t h e i 

— Norddeutscher psychiatrischer Verein. 

Neunte Sitzung Montag, den 7. Juli 1902, Vormittags 
11 Uhr im „Danziger Hof“ zu Danzig. Tages-Ord- 
nung: Geschäftliche Mittheilungen. Vorträge und 
Demonstrationen: 1. Die acute hailucinatorische Ver¬ 
wirrtheit als Initialstadium bei Melancholie. Dr. Glu- 
zewski, I. Assistenzarzt in Conradstein. 2. Ueber 
Gchirnsection, mit Demonstrationen. Dr. Wickel, 
III. Arzt in Dziekanka. 3. Die Familienpflege Geistes¬ 
kranker bei der Provinzial-Irren-Anstalt Conradstein. 
Dr. Neugcbauer, III. Oberarzt in Conradstein. 4. Die 
neu errichtete Irrenabtheilung an der Strafanstalt zu 
Graudenz. Dr. Sander-Graudenz. 5. Körperverletz¬ 
ungen, körperliche Misshandlungen als Ursache von 
Geistesstörungen. Med.-Rath Dr. Krömer, Direktor 
in Conradstein. Nach der Sitzung Diner mit Damen 
im „Danziger Hof“ (Gedeck 3 M.), dann Fahrt nach 
Zoppot. Um zahlreiche Betheiligung — auch der 
Damen — wird gebeten. Die Geschäftsführer: Krömcr- 
Conradstein, Siemens-Lauenburg. 


1 u n g e n. 

— Zur „Irrenftlrsorge“ in Tirol schreiben die 
„Innsbrucker Nachrichten“ vom 14. Juni 1902: 

Wie verlautet, besteht in der Landesirrenanstalt 
in Hall eine Typhusepidemie. Wer die Verhältnisse 
in dieser Anstalt kennt, den erfüllt eine solche Nach¬ 
richt mit ernster Besorgniss, wenn er bedenkt, welchen 
Gefahren die Pfleglinge in einem solchen Falle in 
einer Anstalt ausgesetzt sind, die aller Erfordernisse 
einer entsprechenden Irren pflege entbehrt, im höch¬ 
sten Grade überfüllt ist und in welcher überdies 
geeignete Räume für die abgesonderte Behandlung 
von den mit ansteckenden Krankheiten Behafteten 
nicht vorhanden sind. 

Der Ausbruch der Epidemie giebt Anlass, die 
Verhältnisse der Irrenpflege in Tirol neuerdings zu 
besprechen und neuerdings den Versuch zu machen, 
den mächtigen Kräften, die in diesem Lande daran 
sind jede Neuerung und jeden Fortschritt zu unter¬ 
drücken, entgegenzutreten und sie zu erinnern, welche 


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1902 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Schuld des verhängnisvollen Unterlassens sie unent¬ 
wegt auf sich laden. 

Wir erinnern hiebei an die von massgebender 
Seite nicht widerlegte Notiz in den Innsbrucker Nach¬ 
richten vom 3. December 1901, welche für den 
Kundigen deutlich genug volle Aufklärung darüber 
enthält, dass es mit der Irrenpflege in Tirol be¬ 
schämend schlecht steht. Wir halten uns für ver¬ 
pflichtet, nochmals öffentlich darauf hinzuweisen, dass 
beide Irrenanstalten des Landes überfüllt sind und 
dass sich in Folge dessen der Aufnahme der Anstalts¬ 
behandlung dringend bedürftiger Geisteskranker in 
diese Anstalten immerwährend die grössten Schwierig¬ 
keiten entgegenstellen. 

Ruhige und unruhige, reine und unreine, frische 
und veraltete Fälle sind in der Irrenanstalt in Hall, 
die unter den Anstalten Oesterreichs und Deutsch¬ 
lands weitaus die rückständigste ist, untereinander 
untergebracht. 

Von einer den unbedingten Erfordernissen der 
Irienbehandlung Rechnung tragenden Trennung der 
Kranken kann wegen Raummangels und der ungün¬ 
stigen Anlage der Anstalt keine Rede sein. Auf 
mehreren Abtheilungen sind keine Ventilaiionsein- 
richtungen vorhanden. In die Krankenräume dringt 
Abortluft, das Aussehen der Räume erinnert an Ge¬ 
fängnisse schlimmster Sorte, wie man sie hierzulande 
übrigens auch häufig genug antrifft. Die Abortan¬ 
lagen der Anstalt sind wahre Beispiele von Unzweck¬ 
mässigkeit und Unreinlicbkeit. 

In der Anstalt, die für höchstens 2 50 Kranke 
Raum hat, schwankt der Krankenstand um die Ziffer 
3Ö0. Die für die Heilung der Kranken nach moder¬ 
nen Grundsätzen so unentbehrliche Bettbehandlung, 
sowie die Behandlung mit Dauerbädern ist wegen 
Raummangels und mangels an dem hiezu nothwendi- 
gen Wärterpersonale undurchführbar, eine Wachab¬ 
theilung ist nicht vorhanden, die erforderliche Kranken¬ 
beobachtung kann nicht stattfinden, das Bad auf der 
Männerabtheilung befindet sich in einem nahezu unbe¬ 
nutzbaren Zustande. Wegen Mangels an Räumen kön¬ 
nen Werkstätten zur Beschäftigung der Kranken nicht 
hergestellt werden, dieselben können nur mit Feld¬ 
arbeit beschäftigt werden. 

Die Bezahlung des Wartepersonales ist elend, 
besser qualificirte Wärter sind daher fast gamicht zu 
bekommen. 

Es ist einleuchtend — und dies giebt uns die 
Berechtigung, das Loos vieler in der Anstalt Aufge¬ 
nommener als ein verzweiflungsvoll entsetzliches zu 
-bezeichnen —, dass bei derart traurigen, der ratio¬ 
nellen Irrrenpflege hohnsprechenden Zuständen von 
einer eigentlichen Heilthätigkeit in der Anstalt keine 
Rede sein kann, sondern im Gegentheile die der 
Anstalt anvertrauten Kranken sogar in ihrer körper¬ 
lichen Gesundheit gefährdet werden. Wie soll unter 
solchen Umständen den heilbaren Kranken die er¬ 
forderliche Ruhe geschaffen werden, wie sollen Schäd¬ 
lichkeiten von ihnen abgehalten werden, die Ursachen 
ihrer Krankheit ermittelt und wirkungsvoll beseitigt 
werden, w r enn die allernothwendigsten Voraussetzungen 


L55 

für ein derartiges wahrhaft segensreiches Wirken voll¬ 
ständig mangeln? 

Man muss mit voller Resignation zu dem Schlüsse 
kommen, dass die Heilaussichten in der Anstalt 
gleich Null sind. Vielleicht ist auch dies noch zu 
w f enig gesagt für diejenigen Maassgebenden, die sich 
allen wohlgemeinten, tief empfundenen Vorstellungen 
so ruhig und doch so verantwortungsvoll verschliessen 
und gleichgiltig zusehen, wie die Anstalt nicht eine 
Stätte des Trostes und der Heilung, sondern ein Haus 
der Qual und der Verzweiflung ist. 

Mit der Irrenpflege ausserhalb der Irrenanstalt 
sieht es nicht besser aus. Von verlässlicher Seite 
ist uns mitgetheilt worden, dass auch hinsichtlich 
der Unterbringung Geisteskranker in Versorgungs- 
häusem und Landspitälern geradezu grauenvolle Zu¬ 
stände herrschen. Häufig kommt es vor, dass Gei¬ 
steskranke in derartigen Anstalten im Keller oder in 
kellerartigen, winzigen, finstern, feuchten und nicht 
heizbaren Räumen, die sich entweder gar nicht lüften 
lassen, oder die selbst im Winter nicht einmal gegen 
das Eindringen von Kälte und Schnee geschützt sind, 
gehalten werden. In unmittelbarer Nähe von Inns¬ 
bruck, unter den Augen der Bezirksbehörde kommen 
solche Dinge vor. Wer hat es nicht schon gesehen, 
in welchem schlechten Zustande sich die Gemeinde¬ 
armenhäuser gewöhnlich befinden, wie w*enig für 
Ordnung und Reinlichkeit, geschweige denn Behag¬ 
lichkeit der Pfründner und Bresthaften gesorgt ist, 
wie häufig aber auch in dieser Beziehung die gröbsten 
Unterlassungen Vorkommen, wie Trunkenbolde die 
Anstaltsruhe stören, wie arme Kinder, die in solcher 
Stätte des Jammers auch aufgenommen werden, zu 
Zuschauern des Anblickes all dieses Elends und der 
Widerlichkeiten gemacht werden. Selbst der ruhigste 
und unvoreingenommenste Beobachter all dieser Miss¬ 
stände der Armen Versorgung muss zu dem Urtheile 
kommen: „Wehe dem Elenden, der der Armen Ver¬ 
sorgung der Gemeinden anheimfällt“. In verborgenen 
Winkeln der Armenhäuser, wo man kaum das Vor¬ 
handensein eines Stalles vermuthen würde, findet 
man dann noch schliesslich die Unterkunft eines 
Geisteskranken, dessen Zustand der Verwahrlosung 
jeder Beschreibung spottet. In Telfes, Matrei, Wattens 
und Welschhofen sind allein vor nicht langer Zeit in 
unmittelbarer Aufeinanderfolge solche Zustände auf¬ 
gedeckt worden. 

Wird die elende Unterkunft solcher bedauems- 
werther Geschöpfe, in dem sie vor Schmutz, Gestank 
und Mangel jeder Pflege vergehen, nicht zufällig durch 
eine Controlle von auswärts aufgedeckt, so denkt 
niemand an die Beseitigung solcher Zustände, sondern 
denjenigen, welchen unmittelbar die Sorge für das 
Wohl solcher Kranken obliegt, bleibt nichts anderes 
übrig, als nur dafür zu sorgen, dass Störungen der 
Umgebung verhütet werden, weiter reicht ihre Für¬ 
sorge nicht Der schwere Vorwmrf der Vernach¬ 
lässigung der Pflege trifft in solchem Falle nicht so 
sehr die mit der unmittelbaren Pflege Betrauten, 
denn sie kommen thatsächlich bei dem Mangel jeglicher 
Unterstützung von maassgebender Seite zu der Ueber- 


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156 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


zeugung, all das müsse so sein und könne nicht 
anders sein. 

Ganz nahe von Innsbruck ist es vor¬ 
gekommen, dass wegen Raummangels in 
einer Anstalt, die zum Aufenthalte un¬ 
heilbarer, aus der Landesirrenanstalt 
entlassener Geisteskranker bestimmt ist, 
mehrere Geisteskranke in den Räumen 
einer Ferien -Colo nie für Knaben, mitten 
unter diesen untergebracht wurden. 

Nicht um vieles besser steht es mit der Irren¬ 
pflege in Südtirol. Auch dort ist es wegen der steten 
Ueberfüllung der Landesirrenanstalt in Pergine ge¬ 
bräuchlich, unheilbare Geisteskranke in ungeeigneten 
Landspitälem unterzubringen, wo für Verpflegung 
und Wartung der Kranken nicht annähernd ent¬ 
sprechend gesorgt ist. Eine derartige Anstalt ist das 
Krankenhaus in Ala. Die Räume für die Geistes¬ 
kranken sind daselbst überfüllt, es fehlt an der ent¬ 
sprechenden Ueberwachung, nicht einmal ein Garten 
ist vorhanden, in den die bedauemswerthen Kranken 
im heissen Sommer zum Aufenthalt ins Freie gebracht 
werden könnten. Im Spitale zu Transacqua kam es 
vor, dass Geisteskranke, die in mangelhaft gelüfteten 
und unreinen Räumen untergebracht waren, eines 
geeigneten Wärterpersonals vollständig entbehrten. 

Nochmals ergeht unter Vorbringung solcher That- 
sachen an Alle jene, die in die Lage kommen können, 
Einfluss auf die Beseitigung der geschilderten Zustände 
zu nehmen, der dringende Ruf, sich dafür einzusetzen, 
dass eine gründliche Besserung des Irrenwesens im 
Lande herbeigeführt werde und nicht mit jenen, die 
bisher dringende Mahnungen unberücksichtigt gelassen 
haben, den Vorwurf über sich ergehen zu lassen, 
gegenüber solchen Zuständen einen Gleiehmuth be¬ 
wahrt zu haben, der Allen, die das Herz auf dem 
rechten Flecke haben, als Gefühllosigkeit erscheinen 
muss. 

Möge es gelingen, die Aufmerksamkeit der Behörde, 
welcher die Aufsicht über die Irrenfürsorge obliegt, 
zu erregen und so endlich die Widerstände an jener 
Stelle zu überwinden, der die Behebung dieser mittel¬ 
alterlichen Zustände gesetzlich obliegt. 


meiden. Niemand wird bestreiten, dass vielfach Unter¬ 
schiede zwischen den Anlagen bezw. Leistungen beider 
Geschlechter bestehen. Der Vergleich fällt aber nicht 
durchweg zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts 
aus. Viele Bemerkungen in dem vorliegenden Buche 
sind zu scharf, die Schilderungen betreffs der weib¬ 
lichen Gefühle und Betätigungen auf ethischem und 
moralischem Gebiet sind mehrfach nicht richtig. Den 
meisten Widerspruch erweckt der Ausdruck; „phy¬ 
siologischer Schwachsinn des Weibes“, denn der früh¬ 
zeitige geistige Verfall z. B. nach Wochenbetten oder 
im Klimakterium gehört nicht zum durchschnittlichen 
Entwicklungsgang der Frauen. Sind die von Möbius 
geschilderten Veränderungen in diesem und jenem 
Falle eingetreten, so sind sie Folgen abnormer äusserer 
oder innerer Verhältnisse. Es handelt sich dann um 
psychische Krankheit, um pathologische 
Processe im Gehirn. Würde der Herr Verfasser 
mehr berücksichtigen, dass psychische Krankheiten in 
ihren leichten Formen recht oft verkannt werden, 
was er doch an anderer Stelle selbst hervorgehoben 
hat, würde er unbefangener, weniger pessimistisch 
Umschau halten unter den gesunden, feinsinnigen 
Frauen und den klugen Töchtern des Landes, er 
würde sich von manchen Autosuggestionen frei machen, 
die seine Feder bei diesem Büchlein geführt haben. 

Ein alter Grieche hat einmal erklärt, das voll¬ 
ständige menschliche Individuum bestehe aus 2 Hälften, 
der männlichen und der weiblichen. Diese Hälften 
kommen getrennt zur Welt; sind sie reif, so suchen 
sie sich. Haben sich die zu einander gehörigen 
Hälften gefunden, so stellen sie erst ein Ganzes dar. 
Bleiben wir doch als Vertreter der einen Hälfte 
gerecht gegen die Repräsentanten der erfreulicher¬ 
weise vielfach anders gearteten Hälfte! Suchen wir 
— jeder an seinem Theile — dahin zu wirken, dass 
die Schwierigkeiten geringer werden, die sich der 
Vereinigung für einander bestimmter Hälften in Folge 
ungünstiger socialer Verhältnisse so oft cntgegcnstellen. 
Dann werden unseren Mädchen und Frauen weniger 
Wunden geschlagen werden im Kampf um’s Dasein. 
Dann werden viele schwere und auch gar manche 
leichte Krankheiten seltener werden! 

G. Ilberg (Grossschweidnitz). 


Referate. 

-— Ueber den physiologischen Schwach¬ 
sinn des Weibes. Von P. J. Möbius. 4. Aufl. 
Halle a. S. Carl Marhold. 1902. 

Die Abhandlung hat in kurzer Zeit ihre vierte 
Auflage erreicht, noch mehrere Auflagen werden dieser 
folgen. Es ist dies ein erfreulicher Beweis dafür, dass 
sich in unserer Zeit weite Kreise für mitten aus dem 
Leben gegriffene psychologische Themata intercssircn. 

Ich habe in dieser Wochenschrift die erste Auflage 
ausführlich besprochen und habe mich seitdem 
bei allen passenden Gelegenheiten bemüht, die Be¬ 
hauptungen des Herrn Verfassers im Einzelfall zu 
prüfen. Und auch beim Durchlescn dieser vierten 
Auflage habe ich gesucht Missverständnisse zu ver¬ 


Zur Denkschrift über die „Badische Irrenfürsorge.“ 

Die Verfasser der Denkschrift über die Badische Irren¬ 
fürsorge haben gegenüber der Besprechung Gaupp’s*) 
darauf hingewiesen, dass er die Verhältnisse nicht 
„aus eigenem Erleben“ kenne**). Dieser Einwand 
veranlasst mich zu der Erklärung, dass die Darstellung 
Gaupp’s den wirklichen Hergang der Dinge 
vollkommen zutreffend wiedergegeb cn hat. 
Die aktenmässigen Belege dafür sind in meinen Händen. 
Ein nochmaliges Eingehen auf die jüngsten Aus¬ 
führungen der „Verfasser“ erscheint demnach völlig 
zwecklos. 

Heidelberg, 23. VI. 1902. E. Kraepelin. 

*) Centralblatt f. Nervenheilkunde 1902, 147, S. 230. 

**) Diese Wochenschrift 1902, 9, S. 104. 


Für den redaktionellen Tliril \ erantwot tlich : Ubriaizt I>r. J . Frisier Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Mar hold in Halle a. S 

Hcvncruann’sche Uuchdrnckcrei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgageben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Urhtspnnge (Altmark 1 Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitx (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 14. _ 5 - Juh- _ 1902. 

Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestallungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Der chirurgische Pavillon der öffentlichen Irrenanstalten des Seinedeparlement, im klinischen Styl. Von 
Lucien Picqud (S. 157). — Eine Irrenanstalt in der Levante. Von Privatdocent Dr. W. Weygandt (Wllrzburg) (S. 162). 
— Aphasie und Agraphie nach epileptischen Amälleu. Von Nervenarzt Dr. Stadelmann (S. 165). — Mittheilungen 
(S. 170). — Referate (S. 171). — Personalnachrichten (S. 172). 


Der chirurgische Pavillon 

der öffentlichen Irrenanstalten des Seinedepartement, im klinischen Styl. 

Von Lucien Picque\ chirurgischer Referent der öffentlichen Irrenanstalten. 


jp^er Pavillon, welcher am 9. April 1901 eröffnet 
wurde, unterscheidet sich von allen ähnlichen 
Einrichtungen dadurch, dass er einzig und allein für 
operative Chirurgie bestimmt und von den übrigen 
Krankenstationen gänzlich getrennt ist. Diese völlige 
Trennung, die sich sonst nicht in unsern Kranken¬ 
häusern findet, bietet aber derartige thatsächliche 
Vortheile, dass man nicht nachdrücklich genug darauf 
bestehen kann. 

Man vermeidet durch eine derartige Trennung die 
Gelegenheit zur Infection durch die Kranken und 
ihre Familien, durch Wärter, die nur zu häufig und 
trotz aller Abmahnungen von ihrem Krankendienst 
zu Operationen kommen. Der Kranke wird auf einer 
Tragbahre überführt und in derselben Weise nach 
seiner früheren Station zurückgebracht, um dort seine 
Reconvalescenz durchzumachen. Während des ganzen 
Aufenthalts im Pavillon, der immer kurz sein soll, 

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bleibt er zu Bett. Unter diesen Umständen ist die 
Infectionsgefahr eine äusserst geringe. 

Der Dienst des Personals in dem Operationspa¬ 
villon ist einzig darauf beschränkt und genau vorge¬ 
schrieben. Es beschäftigt sich nur mit Operationen 
und der Wachbehandlung. 

Indessen springen die Vortheile eines gesonderten 
Operationspavillons hauptsächlich in Rücksicht auf 
die Art der allgemeinen Construction, der Vertheilung 
des Dienstes, dessen Anordnung und den dabei 
wichtigen Gesichtspunkten ins Auge. 

Allgemein gesagt muss in einem Krankenhaus¬ 
pavillon alles von dem Gesichtspunkt eines längeren 
Aufenthaltes des Kranken und in Rücksichtnahme 
auf sein Wohlbefinden, auf das er während dieser 
Zeit Anspruch zu erheben berechtigt ist, eingerichtet 
sein. Am meisten Platz ist den Krankensälen zu¬ 
gedacht. Ausserdem muss man auf die Anlage von 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wandelgängen, Ruhesälen, Aborten Bedacht nehmen, ich gehört, dass der Architect vor 20 Jahren im 

Der allgemeine Krankendienst beansprucht dabei auch Hospital Richat den Operationssaal vergessen hatte, 

viel Raum. Unter diesen Verhältnissen wird die Erst später ist er auf Antrag hier gebaut worden. 

Ausübung der operativen Chirurgie immer zu kurz Die Nebenräume der Opcrationssäle sind bisweilen 

kommen. Man lässt sich dazu verführen, mehr oder ungenügend: in einigen Krankenhäusern, an denen ich 

weniger zu kleine oder schlecht gelegene Opcrations- gewesen bin, fehlen sie vollständig — im Hospital 

sälc cinzurichten. Von einem meiner Gollegen- habe Richat, welches während 20 Jahren für eine Muster- 


Pho)ogrjpti 




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HARVARD UNIVERSITY 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


159 


anstalt gegolten hat, sind sie zu eng und unbedingt ungen für einen Operationspavillon vollkommen anders, 
zu weit vom Operationssaal entfernt gelegen. Sie be- Alles muss dort für einen chirurgischen Eingriff ein¬ 
finden sich in einem anderen Stockwerk und in gerichtet sein. Der Operationssaal, der dabei die 
Räumen, die der Apotheke unterstehen. In einem Hauptsache ist, muss geräumig und gut gelegen sein, 
ganz neuen Hospital hatte sie der Architect vergessen seine Nebenräume von geeigneter Grösse, dabei bequem 
und mehr als einmal hat man von der Anlage eines vertheilt und zweckmässig gmppirt. Das Wohl des Kran - 
Laboratoriums abgesehen, um an dessen Stelle Schwitz- ken, der während seines ganzen Aufenthaltes im Pavillon 
bäder u. dergl. einzurichten. Nichts destoweniger zu Bett liegen muss, hängt in hohem Grade von den 
muss man aber hervorheben, dass unsere Collegen aseptischen Massnahmen ab, die man gegen die In¬ 
sich trotz dessen Einrichtungen zu beschaffen gewusst fektion im Verlauf der Operationen, in den darauf 
haben, die ihnen die Ausübung einer aseptischen folgenden Verbänden, gegen die Infection der Bett- 
Chirurgie mit Sicherheit gestatteten. Aber wenn man Wäsche durch andere Kranke und umgekehrt gegen 



Abb. 3. 


nach dieser Richtung hin auch zu befriedigenden 
Resultaten gekommen ist, so dürfte das für die Aus¬ 
übung von septischen Operationen nicht der Fall 
sein. Um nur das Hospital Richat anzuführen, so 
muss der Chirurg dort in einem Verbandzimmer ope- 
riren. Die Nebenräume fehlen in diesem Kranken- 
hause vollständig. 

Das waren die — oft entschuldbaren — Mängel, 
die man an den Krankenhäusern zu erheben hätte, 
die in erster Linie für die Kranken gebaut werden 
und nicht zu dem Zwecke, um dort Operationen vor¬ 
zunehmen. 

In völligem Gegensatz hierzu liegen die Beding- 


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die Infection des Kranken durch schlechte desinfi- 
cirte Bettwäsche trifft. 

Die Krankenzimmer sind nichts weiter als ein An¬ 
hängsel des Operationssaales anstatt dass sie den 
Haupttheil des Baues einnehmen. Das sind die Be¬ 
dingungen, welche bei dem chirurgischen Pavillon 
des klinischen Asyls ihre Verwirklichung gefunden 
haben. 

Aber noch mehr, cs ist je eine Station für septische 
und aseptische Fälle eingerichtet, die, beide gleich 
wichtig, völlig von einander getrennt sind. Man muss 
den septischen Kranken dieselben Vortheile bieten 
können wie den aseptischen, eine doppelte Einrichtung 


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i6o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


ist daher, wie ich es oben auseinander gesetzt habe, 
in jedem chirurgischen Krankenhause nothwendig, 
hier, in diesem Pavillon, wie der unsrige ist, trat diese 
Nothwendigkeit in die erste Reihe. Während man 
zur Aufnahme in die Isolirpavillons unserer Hospitäler 
nur aseptische Kranke zulässt, müssen wir im Gegen¬ 
satz beide Arten, inficirte und nicht inficirte Kranke 
aufnehmen. 

Das war die zweite Bedingung, die wir zu er¬ 
füllen hatten, sie hat uns natürlich auf das Lebhafteste 
beschäftigt, denn es musste auf jeden Fall eine An¬ 
steckung der zweiten Gruppe durch die erste vermieden 
werden und, um nach dieser Richtung hin die grösst- 
möghehe Sicherheit zu haben, waren wir genöthigt, 
unseren Eintheilungen einen luxuriösen Anschein zu 
geben, indessen war diese Massnahme, welche unseren 



Abb. 4. 


feetionscinrichtung für die Wäsche und die Kleider 
der Kranken). Auf diese Weise findet man die For¬ 
derung erfüllt: 

Keine Ansteckung der Kranken durch Verband¬ 
stücke, Instrumente, Wärter und die Wäsche, keine 
Infection der Wäsche durch Kranke. Wir sollten 
zugleich auch die Einrichtung einer kleinen Entbindungs¬ 
anstalt im unteren Pavillon vorschen für diejenigen 
Frauen, die — in übrigens wenig zahlreichen Fällen 
— im Asyl niederkommen, doch hätten wir damit 
keine Ursachen für eine Ansteckung schaffen können. 
Wir haben diese Frage dadurch gelöst, dass wir eine 
selbstständige Station, die im Favillon völlig getrennt 
liegt und eigene Vorrichtungen für Wasser- und In¬ 
strumentesterilisation besitzt, geschaffen haben. 

Seit einigen Jahren lässt es sich jeder Krankenhaus- 



Abb. 4 a. 


Pavillon von allen[ähnlichen Einrichtungen unterscheidet, 
auf das Strengste geboten. Man hätte, wenn [man 
es genau nimmt, 2 getrennte oder nur einfach neben 
einander gestellte Pavillons bauen müssen. Es schien 
mir aber wirthschaftlicher, daneben auch wissenschaft¬ 
licher und auch der modernen Lehre von der chirur¬ 
gischen Infection entsprechend in unserem Pavillon 
die Trennung zwischen beiden Arten von Kranken 
nicht durch eine solide Mauer herbeizuführen, sondern 
jeder Art ein besonderes Personal und besonderes 
Material anzuweisen. Daraus ergiebt sich als Folge 
die Zweckmässigkeit der Einrichtung von 2 Operations¬ 
sälen mit getrennten Nebenräumen (Sterilisations- 
zimmer für Wasser und Instrumente, Desinfections- 
raum für Kranke und zur Vorbereitung von Ope¬ 
rationen, gesonderte Zimmer für die Kranken beider 
Sorte, Verbandzimmer für aseptische Kranke, Desin¬ 


chirurg angelegen sein, das Verbandmaterial, dessen 
er sich bedient, selbst zu sterilisiren, in diesem Falle 
glaubten wir aus Rücksichten der Sicherheit und 
Wirtschaftlichkeit auf diesen Vortheilen nicht bestehen 
zu dürfen. 

Da eine beträchtliche Menge von Verbandzeug 
bei der Krankenbehandlung im Pavillon auch in allen 
Irrenanstalten des Departements verbraucht wird, war 
es nach unserer Ansicht unumgänglich nothwendig, 
in dem Pavillon einen richtigen Verbandzeugdienst 
einzurichten. Dazu gehört ein Raum, in dem das 
Verbandzeug geschnitten wird, sich besondere Vor¬ 
richtungen zum Entfetten des Catjuts und zum Reinigen 
der Seidenfäden befinden, ein Sterilisationszimmer 
und ein bacteriologisches Laboratorium zur wissen¬ 
schaftlichen Controlle der sterilisirten Gegenstände. 

Dieser Betrieb ist seit dem 8. Mai im Gange und 


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HARVARD UNfVERSITY 
















1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


161 


hat wirklich unerwartete Resultate zu Tage gefördert. 
Mit einem geringen Personal (2 Personen) hat man 
wahrend der ersten Monate bei regelmässiger Arbeit 
wirklich ausserordentlichen Gewinn im Verhältniss zu 
den Handelspreisen erzielt und gleich heim ersten 


Einrichtungen für Verbandzeug. Im Souterrain (Abb. 1) 
befinden sich der Apparat zur Wäschesterilisation, 
das bacteriologische Laboratorium und die verschie¬ 
denen wissenschaftlichen Einrichtungen (für Radio¬ 
graphie, Histologie). Die erste Etage (Abb. 2) ist für 



Abb. 6. 


Male Producte erhalten, die sich bei der Prüfung in 
Culturenbouillon andauernd als steril erwiesen haben. 

Die verschiedenen Dienstzweige, wie ich sie eben 
angeführt habe, sollten in dem Pavillon auf eine 
regelmässige Methode vertheilt werden. Das Erdge¬ 
schoss (Abb. 3) umfasst die verschiedenen Arten des 
Operationsdienstes; die Entbindungsanstalt und die 


Kranke Vorbehalten. Ein medianer und vertikaler 
Aufriss (4a) zeigt die beiden für septische und aseptische 
Kranke bestimmten Theile des Pavillons. Das Studium 
des beigefügten Planes wird besser als jede Be¬ 
schreibung Aufschluss über die Anordnung und Ver¬ 
keilung der beiden Dienstzweige geben. 

Abb. 4, 5, 6 zeigen die Fa^aden des Pavillons. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 14. 


Eine Irrenanstalt in der Levante. 

Von Privatdocent Dr. IV. Weygandt (Würzburg). 


\ nstaltsbeschreibungen haben in erster Linie dann 
besonderen Werth, wenn man aus ihnen etwas 
lernen kann, das sich auch für den Fall eines Neubaues 
oder einer Neueinrichtung einer Anstalt an wenden 
lässt. Immerhin ist es gelegentlich auch instructiv, 
eine Anstalt zu sehen, die den modernen Anforde¬ 
rungen nicht entspricht und aus der man gewisser- 
maassen lernen kann, wie man es nicht machen soll. 
Schliesslich können manche Anstalten auch Einrich¬ 
tungen darbieten, die bei uns nicht angebracht wären, 
aber unter den fremden Verhältnissen doch von einer 
gewissen Berechtigung sind. Letztere zwei Gesichts¬ 


malitäten ab; zu jedem Schritt in der Türkei ist ja 
der Teskere, der behördliche Erlaubnissschcin erfor¬ 
derlich. In der grossen hauptstädtischen Anstalt zu 
Skutari wird deshalb auch der fachmännische Be¬ 
sucher von den Anstaltsärzten selbst höflich abge¬ 
wiesen, wenn er nicht eine durch verwickelte Laufe¬ 
reien bei Stadtverwaltung und Pforte, womöglich erst 
nach Vermittelung durch seine Gesandtschaft oder das 
Konsulat, ausgestellte Bescheinigung vorweist. Für 
die meisten Fremden wird die Zeit indess zu kostbar 
sein, als dass sie sich diesen Umständen aussetzen, 
deren Erledigung bei dem türkischen Phlegma nur 



Abb. 1. 


punkte kommen in Betracht, wenn ich im Folgenden 
kurz die Eindrücke eines Anstaltsbesuchs einer mässig 
grossen Anstalt der asiatischen Türkei schildere. 

Für eine Studienreise mit speciellem psychiatri¬ 
schem Programm ist der Orient keineswegs einladend. 
Aber auch zu gelegentlichen Besuchen von Anstalten 
wird man bei einer Orientreise nicht leicht kommen 
wegen der mit dein Zutritt zu den Anstalten verbunde¬ 
nen Unbequemlichkeiten. Wo Europäer das Heft in 
Händen haben, ist es einfacher; so lässt sich die 
grosse Irrenanstalt bei Kairo oder die von einem 
französischen Arzt geleitete Irrenabtheilung in Tunis 
ohne Umstände besuchen. Unter unmittelbarer tür¬ 
kischer Herrschaft dagegen geht cs nicht ohne For- 

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sehr stockend vor sich geht. Noch schwieriger, weil 
mit religiösen Rücksichten verbunden, ist der Zutritt 
zu den kleinen Irrenpflegestationen, welche nebst 
anderen Wohlfahrtseinrichtungen, wie Armenhäusern, 
Spitälern, Schulen in der Umgebung grosser Moscheen 
von deren Stiftern mit eingerichtet worden sind, so 
bei der bekannten Achmedmoschee in Konstantinopel. 
Einfacher gestaltete sich hingegen in dem zu M a - 
nissa bei Smvrna gelegenen Provinzialirrenhaus 
(Timar hane oder Deli hane) ein Besuch, dessen 
Eindrücke ich in Kürze skizziren möchte. 

Die Stadt ist das alte Magnesia am Berge Sipylos. 
Von Smvma aus ist sie leic ht zu erreichen (66 km) 
mit der französischen Levantebahn, die sich hier 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 



theilt in die Linie nach Afunkara hissar und die 
nach Somah. Letztere ist die gewöhnliche Route 
nach Pergamon, das ja immer mehr zum Wanderziel 
deutscher Orientreisender wird. Auch für den Nicht¬ 
fachmann bietet das schön am Bergesfuss gelegene 
Manissa mit seinen 60000 Einwohnern soviel, dass 
sich ein kurzer Besuch lohnen würde. 

Die Anstalt liegt im Bereich der Stadt. Nach 
einigen Verhandlungen öffnet der Pförtner. Durch 
einen Hof gelangen wir zum Bau der Männerab¬ 
theilung. Ein schweres Thor führt zur Vorhalle, die 
sich mit 3 säulengetragenen Bogen nach dem Haupt¬ 
krankenraum öffnet. Vorhalle und Krankeruaum selbst 


leinene Unterhosen. Manche laufen barfuss, andere 
tragen leichte Pantoffeln. Es ist eine bunt gemischte 
Gesellschaft, mancherlei Nationalitäten sind vertreten, 
auch ein Neger ist darunter. 

In der Mitte des Raumes steht ein achteckiges 
Wasserbassin, das von den Kranken nicht weiter be¬ 
achtet wird. Nach unseren Begriffen wäre dieser 
kleine Weiher wegen der Suicidgefahr ganz unzulässig. 
Als ich nach Behandlung und Wartung fragte, setzte 
man mir unter Verdolmetschung durch 2 junge, etwas 
französisch sprechende Türken auseinander, dass nur 
Vonnittags ein türkischer Arzt kurze Zeit die Anstalt 
besuche, des Tags über aber in der Regel nicht ein- 


Garten 


Abtritt Bade raun 


Krankenzimmer 


Männer- 


Wasser 


Abteilung. 

Gitter 


Ökonomie 

Gebäude 


Vorhalle 


Frauen 
Abteilung . 


Pförtner . 


sind innen, wie Abbildung 1 zeigt, durch ein riesiges, 
ziemlich enges Gitter, das bis in die obere Bogen¬ 
rundung hineinführt, streng getrennt. Das Ganze be¬ 
kommt dadurch gradezu einen menagerieartigen Ein¬ 
druck. 

Der quadratische Hof hinter dem Gitter ist der 
eigentliche Krankenraum. Das südliche Klima er¬ 
laubt ja einen fast ständigen Aufenthalt im Freien. 
Etwa 20 Kranke stehen herum, meist an die Mauern 
gelehnt, andere kauern auf Teppichen und Matten 
an der Peripherie des Raumes. Die Patienten tragen, 
wie Abbildung 2 zeigt, als Kleidung grosse, weisse, 
recht schwere Kameelhaarmäntel mit weit abstehenden 
Schultern und einer Kapuze, dazu ein weisses Käpp¬ 
chen aus demselben Stoff. Im Uebrigen haben sie 
nur noch weissleinene Hemden, einige auch weite 


mal das Pflegepersonal das Innere des Krankenraums, 
jenen Käfig betrete. Die Bitte um Öffnung des¬ 
selben wurde abgelehnt, ich müsste mir dazu erst 
von der Stadtverwaltung einen Erlaubnisschein holen. 

An der dem Gitter gegenüberliegenden Wand 
führt ein kleineres Thor zu mehreren engen Räum¬ 
lichkeiten, während an den Seitenwinden je 4 kleine 
Thüren in die Krankenschlaf räume gehen. In dieser 
Centrirung um einen leicht zu überblickenden Tag¬ 
raum ist eine gewisse Aehnlichkeit mit der Anord¬ 
nung der Wachabtheilungen nach Alt-Scherbitzer 
System zu erkennen. 

Der Rundgang um den Komplex der Männerab¬ 
theilung (vgl. die Planskizze, Figur 3) führt durch 
einen etw'as verwahrlosten Garten, in dem ein langer 
Schuppen die Oekonomiegebäude markirt und für 


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104 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


Wirthschaftszwecke, Wäscherei, auch Hühnerzucht 
dient. Durch die vergitterten Fenster des Männer¬ 
baues kann man in die einzelnen Krankenzellen, die 
sich nach dem Mittelhof hin durch Thüren öffnen, 
hineinsehen. 4 bis 6 Kranke haben in jedem Raum 
Platz. Die Einrichtung ist höchst primitiv, sie be¬ 
schränkt sich eben gewöhnlich auf einige Matratzen, 
ferner befindet sich in jedem Zimmer ein gitterum¬ 
schlossener Ofen und von der Decke hängt eine 
Petroleumlampe herab. Nur hier und da sieht man 
eine eiserne Bettstelle. Die Kranken kauern, soweit 
sie sich nicht im Hof befinden, auf den Matratzen 
oder an den Fenstern herum. Die Kammern der 
dem Haupteingang gegenüberliegenden Flucht gehen 
nicht direkt in den Mittelhof, sondern erst durch 
einen Gang zu jenem Bogenthor. In einem der 
Ziramerchen findet sich ein Pumpbrunnen, es dient 
als Baderaum; öfter werden hier die Kranken ge- 
doucht in der Weise, dass man sie anspritzt mit einem 
nassen Reiserbesen, der aus einem stark riechenden 
Strauch hergestellt ist. Ein primitiver Abtritt, ferner 
ein Kleiderraum sind noch besonders abgetrennt. 

Die Reinlichkeit ist im grossen Ganzen leidlich, 
wenigstens für den, der im Orient schon unter nor¬ 
malen Verhältnissen seine europäischen Anforderungen 
etwas herabzuschrauben gelernt hat. Die Zimmer- 
chen selbst, auch der Centralhof, sind nicht ver¬ 
unreinigt, ganz vereinzelt nur konstatirt man an einer 
Stelle einen üblen Geruch. Auch die paar Kleider 
der Kranken sind ziemlich gut im Stand, weder Fetzen 
noch Schmutzflecke sind mir aufgefallen. Ein Patient 
hatte sich Fingerringe aus Tuchstückchen gemacht, 
w'ie wir es bei unseren Manischen sehen. 

Auffallen muss die grosse Ruhe, die in der ganzen 
Abtheilung herrscht. Wohl kommen einige Kranke 
heran und erbitten sich Cigaretten; einer schimpfte ein 
wenig, die meisten aber verbringen in anergetischem 
Blödsinn ihre Tage. Augenscheinlich drückt sich in 
diesem Verhalten das bekannte Phlegma der Orien¬ 
talen aus. Ueber die Formen der Geistesstörungen 
war bei dem kurzen Besuch, der mangelhaften Füh¬ 
rung und der Unmöglichkeit sprachlicher Verständi¬ 
gung — nur wenige Patienten sprachen ein paar 
Brocken griechisch — kein Urtheil zu gewinnen. 
Mit Ausnahme eines Kranken, der sehr hinfällig und 
völlig aphasisch war, sah ich keinen moribunden noch 
einen schwer erregten Fall. Wenn ein heftiger Er¬ 
regungszustand und Gewaltthätigkeit ausbricht, so wird 
dagegen eingeschritten durch Fesselung und Beschwe¬ 
rung mit einer mächtigen Stelnkugel von etwa 1 ' 2 
Centner, die dem Erregten mit Ketten ans Bein ge¬ 


bunden wird. „C’est pour les tres fous“, sagten 
meine türkischen Begleiter. 

Der Eintritt in die nebenanliegende Frauenab¬ 
theilung wurde, was man in Anbetracht der orienta¬ 
lischen Sitte im Voraus erwarten musste, streng ver¬ 
weigert; auch mit Bakschisch liess sich nicht dagegen 
ankämpfen. Nur im Vorübergehen nahm man wahr, 
dass es dort etwas lebhafter zuging und auch kräftig 
geschrieen w r urde, vor allem rhythmisches Verbigeriren, 
wie bei unseren Katatonikern, war unverkennbar. 

Etwa 30 Insassen zählt die Frauenabtheilung, 
während ungefähr 40 Männer verpflegt w-erden. Bei 
dem geringen Comfort, der besonders hinsichtlich der 
Schlafgelegenheit besteht, würde der Raum auch ohne 
Umstände die Hälfte mehr Insassen fassen können. 
Bodenmatratzen, die traurigen Wahrzeichen einer 
überfüllten Klinik, gehören dort ja zum regulären 
Mobiliar. 

Es ist anzuerkennen, dass mit den einfachsten 
Mitteln hier für eine nicht auf unserer Kulturstufe 
stehende Bevölkerung Erträgliches geleistet wird. Vor 
allem ist eine gewisse Reinlichkeit nicht zu übersehen. 
Vor den Küchen- und Speisesaalfenstem einer italieni¬ 
schen Irrenklinik habe ich viel schlimmere Schmutz- 
und Kehrichtanhäufungen getroffen, als in jenem pri¬ 
mitiven kleinasiatischen Pflegehaus. Allerdings wird 
dessen Reinhaltung auch erleichtert durch den Mangel 
an Mobiliar und vor allem durch den langen Aufent¬ 
halt der Kranken im Freien. Unsere Begriffe des 
No-restraint oder gar des Opendoor-Systems haben 
selbstverständlich hier noch keinen Eingang gefunden. 
Die Ruhe mag, wie angedeutet, mit dem phlegma¬ 
tischen Temperament und der fatalistischen Lebens¬ 
anschauung der Orientalen Zusammenhängen. 

Beachtenswerth ist die geringe Zahl der Insassen 
für einen recht grossen Bezirk. Es fällt allerdings 
der Alkohol als Krankheitsursache w r eg, aber der 
Hauptgrund des geringen Andrangs in die Anstalt 
liegt doch in der Weiträumigkeit der orientalischen 
Verhältnisse und der geringen Bevülkerungsdichtigkeit, 
die den einzelnen Irren seiner Umgebung weniger 
störend und anstaltsbcdürftig werden lässt als bei uns, 
wozu ferner als überführungshindemd noch die Trans- 
portschw-ierigkeit hinzukommt. Vor allem die Minder¬ 
zahl geisteskranker Frauen in der Anstalt ist durch 
das Frauenleben unter dem Islam leicht erklärlich, 
der die Frauen schon in der Norm so gut wie internirt 
hält. 

Die geringe Zahl der Anstaltsplätzc im Verhältnis 
zur Bevölkerungsmenge muss auch in Griechenland 
ins Auge fallen, das mit seinen 2 A j 2 Millionen Ein¬ 
wohnern nur etwa den 6. Theil der Anstaltsplätze 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 165 


1902.] 


wie die Stadt Berlin besitzt. Doch sei an dieser Stelle 
anerkannt, dass die neue Anstalt bei Athen, auf der 
Strasse nach Eleusis kurz vor dem Daphnikloster, 
den Anforderungen der modernen Psychiatrie fleissig 
nachzukommen strebt. Selbst eine Gummizelle hatte 
sie sich im übereifrigen Verfolgen* einer allerdings 
bald wieder antiquirten Errungenschaft Westeuropa^ 
seiner Zeit bauen lassen. In dem nächstens eröflf- 
neten Syngrion, einem von dem Banquier Syngros 
gestifteten Pavillon, besitzt sie eine gradezu muster- 


giltige Station; an Reinlichkeit und Verpflegung, täg¬ 
lich z. B. Fleisch, leistet sie jedenfalls mehr, als ihre 
Patienten von Hause aus gewöhnt sind. Landwirt¬ 
schaftliche Beschäftigung wird angestrebt und von 
mechanischem Zwang ist nicht die Rede. Letztere 
Anschauungen sind den Türken noch völlig fremd, 
doch ist aus der vorliegenden Skizze zu entnehmen, 
dass sie von ihrem kulturellen Niveau aus auch in 
einer Provinzialstadt 2. Ranges ihren Geisteskranken 
entsprechende Unterkunft bieten. 


Aphasie und Agraphie nach epileptischen Anfällen. 

Von Dr . Stadelmann . 

Aus Dr. Stadelmann’s Klinik für Nervenkranke in Würzburg. 


|~^ie psychischen Störungen im Anschluss an einen 
epileptischen Anfall sind in ihrem Auftreten 
sehr verschieden je nach der Art der den Anfall be¬ 
dingenden Reizeinwirkungen und der individuellen 
Anlage des Kranken. — Theilweiser oder ganzer 
Ausfall einzelner psychischer Erscheinungen sowie 
völlige Bewusstlosigkeit sind postepileptische Symptome. 
So beobachteten Ormerod, Knapp u. a. nach epi¬ 
leptischen Anfällen völlige Taubheit bei negativem 
Ohrenbefund; Rüssel, Bennett, Fere, Binswanger er¬ 
wähnen die Anosmie und Ageusie; Jackson, Gail, 
Forbes-Winslow, Nasse, Hood, Bouillard, Ogle und 
insbesondere Pick haben postepileptische Aphasien 
beschrieben, die zum Th eil mit Worttaubheit einher¬ 
gingen. — 

Petrina beobachtete motorische Aphasie mit Wort¬ 
blindheit. — Als Ursache dieser Erscheinungen 
nimmt Bischoff als wahrscheinlich an, „dass es in epi¬ 
leptischen Anfällen sowohl zu diffusen, organischen 
und leicht reparabeln Läsionen als auch zu nur 
funktionellen Störungen in den Sprachcentren kommen 
kann“; dabei stützt sich Bischoff auf die Thatsache, dass 
man bei der Obduction Epileptischer häufig Herd- 
erkrankungeh des Gehirnes findet, obwohl im Leben 
kein Symptom davon da w r ar. Rasch vorübergehende 
postepileptische Aphasien bezeichnet Rüssel-Reynolds 
als Paralysen, die nur zufällig mit der Epilepsie zu¬ 
sammenfallen. 

Todd, Robertson, Hughlings-Jackson nehmen an, 
dass diese transitorischen Paralysen auf einer nervösen 
Erschöpfung beruhen, die eine Folge der übermässigen 
Anstrengung während des Anfalles, der Entladung 
der Rindenzellen ist. Als Stütze für diese Annahme 
der Ermattung der nervösen Centren und der dadurch be¬ 
dingten Sprachstörungen wird die Thatsache angegeben, 

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dass der Patellarreflex einen Augenblick nach der 
Attake verschwindet, wie von Fere, Westphal, Gowers, 
Beevor berichtet wird. 

Am eingehendsten hat Pick diese Frage behandelt, 
der in der postepileptischen Aphasie das Symptom 
einer Erschöpfung sieht, der eine Re-Evolution folgt 
in der Form eines „gesetzmässigen Abklingens der 
funktionellen Störung.“ 

Eines Falles von schweren nervösen Erschöpfungs¬ 
zuständen nach epileptischen Anfällen möchte ich 
hier Erwähnung thun, unter denen eine Aphasie mit 
Worttaubheit und Echolalie ein sehr bemerkenswerthes 
Symptom ausmacht. 

Ein 18 jähriger Mann litt seit Jahren an häufig 
sich wiederholenden epileptischen Anfällen. Zumeist 
äusserte sich der Anfall in der Weise, dass einer 
vorausgegangenen Aura — Druckempfindung in der 
Magengegend und aufsteigendes Gefühl — der Muskel¬ 
krampf folgte, der den Kranken in eine hockende 
Stellung zwang „caput versus genua trahens.“ Der 
Anfall dauerte 1—5 Minuten, wiederholte sich mitunter 
einige Male hintereinander und trat mehrere Male 
täglich auf. Nach den Anfällen bestand jedesmal 
Sopor, aus dem der Kranke sich nur langsam erholte; 
bei öfter sich wiederholenden Anfällen kam Patient 
fast nicht aus diesem Stadium heraus. Amnesien 
folgten jedes Mal auf einen Anfall, auch auf eine ein¬ 
fache (oben erwähnte) Aura ohne Anfall. Der Kranke 
macht einen stupiden Eindruck; blödes Lächeln; 
Zunge stark belegt; Verdauungsstörungen. 

Die angestellten Beobachtungen erstrecken sich auf 
10 Tage; ich gebe den Verlauf dieser 10 Tage nach 
den hier interessirenden Einzelheiten aus der Kranken¬ 
geschichte wieder. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 14 


Am 13. XI. hätte Patient um 1 / 1 3 Uhr nachmittags, 
, / 4 8 und 9 Uhr je einen Anfall, nach denen soporöser 
Schlaf sich einstellte. 

Der folgende Tag brachte 2 Anfälle um 8 / 4 10 
und V * 12 Uhr. Schmerzen in den Zehen und den 
Handgelenken. Druckempfindung auf der Stirne; 
abends Dämmerzustand. Nach den Anfällen halluci- 
nierte der Kranke, er hörte seine Mutter vor dem 
Fenster sprechen. 

15. Patient' schläft sehr unruhig und wälzt sich, 
den Körper krampfhaft zusammenziehend, im Bett, ist 
bewusstlos. Am Morgen kommt Patient aus seinem 
Sopor; er hält den nachts bei ihm wachenden Wärter 
für seinen Bruder. Auf die Frage, was ist das? indem 
ich auf das vor ihm liegende Taschentuch deute, 
schweigt der Patient und schaut mich blöd an, 

„Ist es eine Kravatte?“ 

„Kravatte“ sagt er nach einigen Secunden eintönig 
nach; — Verlangsamung der Wortklangperception und 
Echolalie. 

„Ist es ein Taschentuch“ ? 

„Taschentuch“ spricht er* nach; 

„Ist es ein Strumpf“? 

„Strumpf“ sagt Patient nach. 

„Was ist es?“ 

Nach mehreren Sekunden: „Taschentuch.“ 

Das Wort „Taschentuch“ konnte Patient jetzt 
finden , nachdem kurz vorher das Klangbild dipses 
Wortes von ihm gehört wurde. Eine Tasse Cacao 
bezeichnet Patient auf Befragen als Butter. Nachdem 
der Kranke den Cacao getrunken hatte, giebt er, be¬ 
fragt, was er getrunken habe, wieder an: „Butter.“ 
„In welcher Stadt bist du?“ 

„In Würzburg.“ 

„In welchem Haus?“ 

Patient schaut auf die Decke des Zimmers und 
im Zimmer herum und schweigt. 

„Wem gehört dieses Haus, in dem du bist?“ 
„Dem Herrn“ sagt er und deutet äuf mich. 

„Wer bin ich?“ 

Keine Antwort. 

Auf Vorsagen sagt er „Doctor“ nach. 

„Bin ich der Herr Pfarrer?“ 

„Pfarrer.“ 

„Bin ich der Herr Doctor?“ 

„Doctor.“ 

Während einer Pause spricht der Kranke viel für 
sich, er erzählt von seiner Familie. 

Man zeigt dem Patienten Milch in einer Tasse 
und fragt ihn: „Was ist das?“ 

Patient schweigt. 

„Das musst du trinken.“ 

„Musst du trinken,“ spricht er nach. 

„Ist es Kaffee?“ 

„Nein.“ 

Er versucht davon. 

„Das ist Bier.“ 

„Das ist Bier“ spricht der Kranke nach. 

Ich halte einen Bleistift vor und frage: 

„Was ist das ?“ 

„Da schreibt man mit.“ 

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Das Wort „Bleistift“ findet er nicht. Bei anderen 
Gegenständen verhält sich Patient ebenso. 

Ich halte Bleistift und Federhalter vor. Auf den 
Bleistift deutend: 

„Ist das ein Bleistift ?“ 

„Bleistift“ 

Auf die Feder deutend: 

„Ist das eine Feder?“ 

Keine Antwort. 

Wenn ich Bleistift und Federhalter Vorhalte, kann 
Patient auf Aufforderung hin dieselben nicht richtig 
auseinanderhalten; er ist ärgerlich darüber, dass er 
„das Zeug nicht weiss“; er deutet auf andere Gegen¬ 
stände und sagt: „das weiss ich auch nicht.“ 

Nachmittags */ 4 3 Uhr der erste Anfall dieses 
Tages, der leichter war als die gestrigen. Nach dem 
Anfalle ist Patient etwas erregt, deutet auf die Thüre 
und die verschiedensten Gegenstände im Zimmer, 
fragt seine Umgebung, was das sei, er habe es früher 
gewusst, jetzt wisse er es nicht mehr. Wird ihm die 
richtige Antwort zu theil, so vergisst er dieselbe 
gleich wieder und fragt von neuem. Auf sein Bett 
deutend, erkundigt er sich, wie das heisse; man sagt 
ihm: „worin man schläft.“ 

„Jetzt weiss ich es, im Bett.“ 

Patient sieht eine Taschenuhr und fragt: 

„Ist das ein Licht ?“ 

Den Ofen beschaut er und fragt: 

„Ist das ein Acker?“ 

„Ich bin so unten her“ sagt der Kranke tagsüber 
oft; er ist nicht orientirt über die wirkliche Lage 
seines Körpers, er hat eine falsche Vorstellung seiner 
Körperlage im Raume. Auch fehlt ihm die Orientiert- 
heit in der Zeit; als er hörte, dass es Abend sei, 
sagte er: „Ach Gott, es war doch erst Morgen.“ 
Heute nachmittags wiederhole ich eine Frage, 
welche ich schon vormittags gestellt hatte: 

„Wer bin ich?“ 

„Der liebe Gott.“ 

Als man ihm sagte, der Herr Doctor ist es, wieder¬ 
holte er: 

„Der Herr Doctor.“ 

Abends leichter Anfall. 

16. Nachts im Halbschlafe krampfhaftes Herum¬ 
wälzen im Bett Beim Erwachen morgens constatirt 
Patient, dass es regnet Morgens leichter Anfall. 
Patient erinnert sich nicht daran, dass er gestern 
abends im Bad war. Eine Stunde nach dem Anfalle 
besuche ich den Kranken, der mich heute nicht er¬ 
kennt, obwohl er sich vorher mehrere Male erkundigt 
hatte, ob ich nicht bald zu ihm komme. Ich exa- 
minire ihn wieder: 

„In welchem Monate leben wir?“ 

„Donnerstag.“ 

Der Kranke spricht das ganze Vaterunser ex memoria 
vor; ebenso die Zahlenreihe von 1—30. Kleine 
Rechenexempel löst er gut. 

Es wird ihm ein Schirm gezeigt 
„Was ist das?“ 

„Das macht man auf, wenn der Wind geht.“ 

„Ist es ein Stiefel?“ 

„Stiefel; Licht.“ 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE; WOCHENSCHRIFT. 167 


„Ist es ein Regenschirm?“ 

„Ja, ja, ein Regenschirm, den macht man auf, 
wenn es regnet.“ 

„Ist es ein Stuhl?“ 

„Schirm, Schirm!“ 

Ein Stück weisses Papier bezeichnet er als Wasser ; 
Schirm verwechselt er wieder mit Licht, vielleicht spielt 
hier bei der Paraphasie der gleiche Vokal eine Rolle, 
der ihm für Papier Wasser sagen lässt und für Schirm 
Licht. Man hält ihm Blumen vor und fragt ihn: 

„Was ist das ?“ 

„Schöne . . . Strumpf.“ 

Man fragt ihn: 

„Sind es Trauben? Fische? Aepfel ? Blumen?“ 

Sofort fällt er ein: 

„Blumen, schone Blumen.“ 

Nach l j i Stunde hält man dem Kranken noch¬ 
mals die gleichen Blumen vor mit der Frage: 

„Was ist das?“ 

„Das ist ein Strumpf.“ 

Das spontane Singen und Pfeifen ist sehr gut. 
Der Kranke singt viele Volkslieder nach Melodie und 
Inhalt richtig. 

17. Nachts ruhiger Schlaf. Morgens 7 Uhr Anfall; 
y 4 12 mittags Anfall. Tagsüber viel Müdigkeit. 
Wörter, die Patient in den vergangenen Tagen öfter 
gehört hat, sind ihm heute geläufig zur richtigen 
Bezeichnung von Gegenständen. 

Wenn ich einen Gegenstand, z. B. einen Knopf, 
zeige und frage, was ist das ? Ist noch so etwas im 
Zimmer ?, so kann der Kranke das Wort Knopf nicht 
aussprechen, deutet jedoch genau und rasch nach 
anderen vorhandenen Knöpfen. Ich zeige einen Löffel 
und frage: 

„Was ist das ?“ er bezeichnet es als Brot; die 
Function des Löffels kennt er; unter vorgeschriebenen 
Wörtern findet er richtig das Wort „Löffel* 1 heraus, 
spricht aber „Böffel“ aus, so dass er zweifelt, ob das 
von ihm richtig als „Löffel bezeichnete“ Wort wirklich 
das richtige ist; schliesslich erkennt er es deutlich als 
richtig. 

Wird ein Gegenstand vorgehalten, so kann er das 
denselben bezeichnende Wort unter mehreren vorge- 
schricbenen Wörtern angeben. 

18. Unruhige Nacht. 11 Uhr vormittags Anfall 
von 1 Minute Dauer. 

19. 8 / 4 5 Uhr morgens Anfall, der schwer war und 
10 Minuten anhielt; darnach Sopor. */, 12 Anfall von 
einer Minute Dauer. Einzelne Buchstaben giebt 
Patient richtig an; wird er aufgefordert, unter mehreren 
Buchstaben einen bestimmten zu bezeichnen, so braucht 
er sehr lange Zeit dazu, erkennt aber die ihm ange¬ 
gebenen Buchstaben richtig. 

Aufgefordert das Wort „Messer“ zu schreiben, 
macht er den Buchstaben M nur zu 2 Dritttheilen; 
soll er gleich darauf das Wort „Löffel“ schreiben, so 
beginnt er wieder mit dem ersten Zug des M und 
fährt dann weiter „lebel“ zu schreiben, dann „Bebel“. 
Ejt liest auch das von ihm geschriebene Wort Bebel, 
das Löffel heissen sollte, als Bebel und buchstabiert 
auch Bebel. Schreibe ich ihm: „Löffel“ vor, so er- 

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kennt er es als „Löffel“. Abschreiben, von Gedrucktem 
sowie Geschriebenem bringt Patient sehr gut zustande. 

20. 8 Uhr 1 Anfall von 1 l / t Minuten Dauer. 
Vormittags: Ich zeige einen Schlüssel. 

„Was ist das?“ 

Patient schaut sofort auf das Thürschloss und 
dann wieder auf den Schlüssel abwechselnd. 

„Aufschliessen, Schlosser“ sagt er; nach längerem 
Betrachten und Befühlen sagt er: 

„Schlüssel“. . j 

Eine ihm vorgehaltene und von ihm befühlte 
Scheere bezeichnet er als „Schlüssel, Aufschliesser“. - 
2 Uhr Nachmittags Anfall von 1 Minute Dauer, 
Abends 1,25 gr. Bromsalz. 

2 ij. Morgens 8 Uhr 1 Anfall von 1 Minute Dauer. 
3 gr. Bromsalz. Prüfung mit Farbentäfelchen, die 
nach einander vorgelegt werden: 

Roth wird bezeichnet als roth, 

dunkelgrün — gelb (nach längerem, wiederholten 
Fragen) — grün, 

blau — schwarz, 

gelb — (nach langer Zeit) weiss, 

hellgrün — (da keine Antwort erfolgt, wird vorge¬ 

sprochen: blau) — blau; 

auf vorsagen „grün“, antwortet er „grün“; auf die 
Frage: „ist es wirklich grün ?“ entgegnet er; „nein, es 
ist roth“, schüttelt aber dabei mit dem Kopfe. 

Es werden alle 5 Farbentäfeichen vorgelegt. Er 
giebt auf Verlangen roth. sofort, ebenso blau und 
hellgrün, beim Verlangen gelb greift er sofort nach 
dunkelgrün, was er auch bei dem vorigen Farben ver¬ 
such als gelb bezeichnet hatte; gelb bleibt übrig, er 
weiss nicht zu sagen, was es ist. 

Ich lege Bildchen vor: 

Apfel — er sagt Apfel, 

Kamm — „ich weiss das Zeug alles nimmer“: er 
deutet es jedoch an, indem er mit gespreizten 
Fingern durch die Haare streicht. 

Uhr — (nach 1 Minute) Uhr, aber keine richtige. 
Vogel (Rothkehlchen) — er deutet in den Garten nach 
den Bäumen; ich sage „Fuchs“; „nein“ erwidert 
er; ich frage wieder, was es sei, er antwortet 
„Fuchs“. 

Goldfisch — ich sage ihm vor „Katze“; „nein es ist 
im Wasser, aber ich weiss nicht, wie es heisst“ | 
ich: „es ist ein Fisch“. „Fisch, Fisch“; er bleibt 
dabei, es ist ein Fisch. 

Hahn — „das ist aber kein richtiger; der kann nicht 
schreien, der ist nur darauf gemacht“; ich: „es 
ist ein Storch“, er: „Storch“; ich: „es ist ein Hahn, 
ein Göcker“; er: „ein Göckerhahn“; er entscheidet 
sich schliesslich für den „Göcker“. 

3 Tannenbäume — er schaut gleich zum Garten hin¬ 
aus. und deutet mit dem Finger: „da draussen 
stehen sie“; ich: „ein Apfelbaum“; er: „ein Baum, 
kein Apfelbaum, ein anderer Baum, es sind 3 
Apfel, es sind 3 Bäume.“ 

Nachmittags 1 Anfall von */, Minute Dauer. Abends 
3 gr. Bromsalz. 

22. Ziemlich ruhige Nacht; unverständliches 
Sprechen im Schlafe. 

Farbenprüfung: 

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i68 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


Blau — er besinnt sich lange: „weiss, bald schwarz“; 
die Bettdecke erkennt er als weiss. 

Roth — roth, er ist jedoch seiner Sache nicht sicher. 
Gelb — er schweigt. 

Dunkelgrün — „das ist doch nicht gelb“; ich: „grün“, 
er nickt und sagt: „so habe ich sagen wollen“; nach 
1 Minute wieder gefragt: „welche Farbe ist es?“ sagt 
er : „gelb“. 

„Gieb mir die blaue Farbe“ — er giebt dunkelgrün, 

die rothe — roth, 

hellgrün — hellgrün, 

gelbe — dunkelgrün; später die gelbe, 

blaue — blau; zieht jedoch das Farbcntäfelchen 

wieder zurück und giebt hellgrün. 

Ich halte das Bildchen vor, das einen Fisch dar¬ 
stellt: „die sind im Wasser.“ 

Hahn — „solche haben die Leut“; ich: „Es ist ein 
Storch“; er: „Storch“; ich: „ein Göcker“; er bleibt 
bei dem Worte „Göcker“. 

Werden Bildchen als Duplikate vorgelegt, so legt 
er rasch und richtig die gleichen zu einander. 

Nach einer Aura ohne Anfall Vergessen der Be¬ 
zeichnung der einzelnen Bildchen, die er vorher be¬ 
nannte „jetzt kenne ich das Zeug wieder nicht mehr.“ 
Der Kranke liest langsam, jedoch korrekt einige 
Worte aus einem Buche vor; er buchstabiert dieselben 
korrekt und schreibt sie richtig, jedoch sehr langsam. 
Nachmittags 2 Uhr 1 Anfall */ 2 Minute lang. 

23. 3 / 4 11 Uhr vormittags 1 Anfall 1 Minute lang; 
Schaum auf den Lippen. 

Vor dem Anfalle zeige ich eine Uhr und frage: 
„was ist das?“ Er weiss anfänglich nichts zu sagen; 
nach einiger Zeit: „wie viel Uhr?“ in der stereotypen 
gcwohnheitsmässigen Redensart findet er das Wort 
„Uhr“. Einige Zeit nach dem Anfalle frage ich den 
Kranken: „Was ist das, das heult und pfeift und den 
Hut vom Kopfe rcisst?“ Patient schweigt. Ich blase; 
er sagt: „Wasser“. Ich sage ihm „es ist der Wind“. 
„Ja, wenn cs heult und recht kalt ist und da geht 
ein rechter Wind“, dabei imitiert er blasend den 
Wind. 

Ich: „wenn man recht brav und fromm ist, kommt 
man in die Hölle!“ Er: „nein, nein, nicht in die 
Hölle“, er ist jedoch nicht im Stande, das Wort 
„Himmel“ zu finden. „Nein“, fährt er fort, da kommt 
man doch hinauf zum lieben Gott.“ 

Ich: „Wie heisst das?“ 

Er: „Man kommt in die Sonne.“ 

Ich: „Wenn man recht böse ist, kommt man in 
den Himmel.“ 

Er: „Da kommt man in die Hölle.“ 

Nun wiederhole ich den Satz: „Wenn man recht 
brav und fromm ist, kommt man in die Hölle.“ Patient 
kann auch jetzt, obwohl er das Wort Himmel kurz 
vorher von mir gehört hat, dasselbe nicht aussprechen ; 
er sagt: „man kommt zum lieben Gott; früher habe 
ich es gewusst, wie cs heisst.“ — 

Dieser epileptische Kranke hatte Sinnestäuschungen 
(Gehürshallucinationen, Gesichtsillusionen), war nicht 
orientiert in Raum und Zeit und hatte Vergessenheit 

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nach seinen ziemlich häufig wiederkehrenden An¬ 
fällen; kaum hatte sich der Kranke von einem Er¬ 
schöpfungszustände, der die Folge der Anfälle war, 
erholt, bekam er wieder einen neuen Anfall, der wieder 
neue Erschöpfungen brachte; so wurde Patient schwer 
besinnlich für Dinge sowohl, die in seiner Erinnerung 
weiter zurück lagen als auch für solche, mit welchen 
sich sein augenblickliches Gedächtniss zu beschäftigen 
hatte. 

Die verschiedenen postepileptischen psychischen 
Störungen wechselten je nach dem Befinden. 

Bei seiner Aphasie hatte Patient gleich nach seinem 
Anfalle anfänglich Sopor mit völligem Mutismus; hier¬ 
auf Echolalie bei verlangsamter Wortklangpcrception 
ohne Wortverständniss; zuletzt Wortverständniss (Pa¬ 
tient idendifiziert bei einem vorgesprochenen Worte 
dasselbe mit dem räumlichen Gegenstände), w r enn auch 
der Kranke das einen Gegenstand bezeichnende Wort 
noch nicht spontan finden kann und paraphasisch 
spricht; die Wörter, welche Gegenstände bezeichnen, 
kann Patient spontan aussprechen, jedoch die Gegen¬ 
stände selbst nicht in Beziehung bringen zu dem Be¬ 
griff, der diesen Gegenständen entspricht, und kann 
sie nicht sprachlich mit dem sie deckenden Worte 
benennen. 

Die Assoziationen der durch den augenblicklichen 
(optischen) Empfindungsreiz erzeugten Vorstellung 
zum begrifflichen Erinnerungsbild dieses (optischen) 
Eindruckes sind funktionell geschwächt. So fehlt die 
richtige Anwcndungsw-cisc der Wörter für Sinne.sein- 
driieke; erst unterstützt durch das Schriftbild oder 
das Klangbild (eine Gcschmackserinnerung genügte 
nicht) oder auch durch das Nennen der einem Ge¬ 
genstand zukommenden Funktion kann Patient mit 
Wortverständniss die Gegenstände richtig bezeichnen. 
Der Kranke ist sich in diesem letzten Stadium be¬ 
wusst, dass er falsche Worte ausspricht, er wird sogar 
ärgerlich darüber und beklagt sich, weil er es doch 
früher gewusst habe; allerdings lässt sich der Kranke 
leicht wieder irre machen; seine Erinnerungsbilder 
haben noch nicht die Kraft, unrichtigen Einwänden 
in richtiger Weise gegenüberzutreten. 

Die Re-Evolution (die Wiederherstellung der psy¬ 
chischen Funktion) nach dem epileptischen Sopor ging 
in regelmässiger sich lösender Weise vor sich, ähnlich 
wie in dem Falle, den Pick im Archiv für Psychiatrie 
und Nervenkrankheiten ausführlich beschrieben hat. 

Die Aphasie erstrec kt sich auf Bezeichnung von 
Gegenständen, die Patient ihrer Funktion nach wohl 
kennt; diese Funktion kann er sprachlich bezeichnen, 
wie ihm auch einfache Redensarten geläufig sind, so- 

Original from 

HARVARD UNiVERSITY 



1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 169 


wie das Hersagen von früher auswendig gelernten 
Liedern, die er auch melodisch singt und pfeift 

Die Benennung der vorgelegten Farbentäfelchen 
fällt fast bei jeder Prüfung negativ aus. Ob der Kranke 
vor Beginn seiner Krankheit die Fähigkeit besass, 
hierin richtig zu erkennen und benennen, ist mir nicht 
bekannt. 

Das weiter hierüber angestellte Examen deutet je¬ 
doch darauf hin, dass die durch die Gehirnerschöpf¬ 
ung hervorgebrachte Aphasie (mit Worttaubheit und 
Echolalie) Ursache ist an der unrichtigen sprachlichen 
Bezeichnung der vorgelegten Farben. 

Ganz ähnlich wie mit der Aphasie, verhält es sich 
bei diesem Kranken mit der Agraphie. 

Der Kranke soll ein vorgesprochenes Wort schreiben, 
er schreibt, wie er auch spricht, langsam und schwer¬ 
fällig; er beginnt mit dem ersten Buchstaben des 
Wortes richtig, macht ihn aber nur zu */ 8 fertig, er 
zweifelt, ob er richtig geschrieben hat. Soll er gleich 
nach diesem ersten Worte ein zweites schreiben, dann 
fängt er wieder mit dem Zug an, mit dem er das 
erste Wort angefangen hatte; hierauf Paragraphie, die 
Patient als solche erkennt, wie das Lesen und Buch¬ 
stabieren seines geschriebenen Wortes bekundet sowie 
die Beobachtung, dass er das vorgesprochene Wort, 
wie es geschrieben sein soll, unter verschiedenen vor¬ 
geschriebenen Wörtern richtig herausfindet; der Kranke 
sieht seinen paragraphischen Irrthum mit dem Aus¬ 
druck des Unwillens über diese Thatsache ein. 

Das Abschreiben gelingt dem Kranken so gut, wie 
auch das Nachsprechen von Wörtern und Sätzen. 

Diese partielle Aphasie und Agraphie, die der Pa¬ 
tient infolge seiner epileptischen Anfälle daibot, be¬ 
ruhte aller Wahrscheinlichkeit nach auf Erschöpfungen 
der Rindenzellen. 

Die Re-Evolution der psychischen Symptome spricht 
dafür, wenn dieselbe auch öfter nicht vollständig sein 
konnte wegen der Häufigkeit der Anfälle, die immer 
wieder neue psychische Erschöpfungszustände brachten 
und mit denselben die Amnesien. — 

Im nachfolgenden Falle könnte man an organische 
Läsionen im Gehirn nach den epileptischen Anfällen 
denken, da die Schreibstörung noch 1 Jahr lang, 
nachdem gar keine epileptischen Anfälle mehr vor¬ 
handen waren, andauerte. 

Die funktionellen Störungen der Gehirnzellen je¬ 
doch können bekanntermaassen sehr lange Zeit bestehen, 
indem aus der pathologischen Funktion eine Gewohn¬ 
heit wird, und es wäre aus diesem Grunde keine An¬ 
nahme für eine organische Gehimläsion. 

Ein iojähriges Mädchen stammte von einem Vater, 
der mehrere Schlaganfälle hatte und nach denselben 

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Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen in den 
Extremitäten, und von einer Mutter, die in der Ehe 
mit dem Vater dieses Mädchens mehrere Male abor¬ 
tiert hatte und von den 5 am Leben gebliebenen 
Kindern ein völlig idiotisches zur Welt brachte, das 
im 7. Lebensjahre starb, und ein hochgradig nervöses 
Kind. Das Mädchen selbst hatte zur ersten Zahn¬ 
zeit schwere Zahnkrämpfe durchzumachen; im 4. Le¬ 
bensjahre traten vereinzelt epileptische Krämpfe auf, 
bis im 8. Lebensjahre die Krämpfe an Häufigkeit 
und Intensität immer mehr Zunahmen. Schwere Er¬ 
schöpfungszustände folgten den Anfällen; die Kranke 
konnte nicht mehr gehen, sie hatte eine schlaffe 
Lähmung der Extremitäten und war auch sprach¬ 
motorisch gelähmt. Sie verstand stets, wenn man 
zu ihr sprach, aber sie konnte nicht antworten; 
die Kniereflexe waren stark herabgesetzt. Dieser Zu¬ 
stand dauerte Monate lang. Die Anfälle sistierten. 
Dann erst erholte sich die Kranke von selbst wieder, 
begann, wenn auch schwerfällig und unbeholfen, Geh¬ 
versuche zu machen und zu sprechen. Nachdem 
ein Jahr lang sich kein Anfall mehr eingestellt hatte, 
die Kranke wieder gehen und sprechen gelernt hatte, 
und die Zeit herannahte, dass sie wieder zur Schule 
geschickt werden sollte, wurde sie von mir einer 
Prüfung hinsichtlich ihrer Schreibfähigkeit unterzogen. 

Es ergab sich folgendes Resultat: 

Vorgesprochene Wörter kann Patientin schreiben, 
wenn sie dieselben früher schon häufig geschrieben 
hatte und ihr dieselben deshalb geläufig in der Er¬ 
innerung sind. Wörter, die sie früher noch nicht 
oder nicht oft geschrieben hatte, schreibt sie nur, 
w'enn sie das Schriftbild oder das gedruckte Wort¬ 
bild gesehen hat. 

Beim Vorzeigen von Gegenständen, um das die¬ 
selben bezeichnende Wort zu schreiben (ohne Unter¬ 
stützung des Klangbildes) verhält sich Patientin agra- 
phisch, wenn es nicht wieder ein Wort ist, das ihr 
von früher her sehr geläufig w*ar. 

Angefangene Wörter ergänzen lassen mit Unter¬ 
stützung des vollständigen Klangbildes: 


Weing . 

. . wird zu Weinglas ergänzt, 

Zan . . 

. . zu Zange, 

St . . . 

. . agraphisches Verhalten, 

Sta . . 

. . agraphisches Verhalten, 

Stach 

, . zu Stachelbeere; 


ohne Unterstützung des Wortklanggebildes: 

Patientin ergänzt in gleicher Weise wie vorher: 
es wurden in beiden Fällen Wörter gewühlt, denen 
gegenüber sie sich vorher agraphiseh verhielt. 

Das Abschreiben von Wörtern, die mit deutschen 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 







170 


Buchstaben geschrieben oder gedruckt sind, gelingt 
sehr gut. 

Bei lateinischen Buchstaben etwas langsam, da¬ 
bei zeichnet sie mehr ab und kommt so zu einer 
scheinbaren Paragraphie. Der jugendlichen Patientin 
sind lateinische Buchstaben nicht geläufig genug; es 
hat das mit der partiellen Agraphie nichts zu thun. 

Beim Diktatschreiben lässt sie die Wörter, die ihr 
nicht geläufig sind, aus; sie kann sie nicht schreiben. 
Man dictiert: „die Gewichte machen, dass das Räder¬ 
werk geht.“ Sie schreibt: „Die machen, dass das 
geht.“ 

Einzelne vorgesprochene Buchstaben schreibt sie 
völlig richtig. 

Früher auswendig Gelerntes schreibt sie gut. 

Buchstaben, die in ihrer Zusammenstellung keinen 
Sinn haben, werden richtig abgeschrieben. 

Auch das Zahlenschreiben ist gut, soweit Patientin 
es von früher her gelernt hat und es ihr zu jener Zeit 


[Nr. 14. 


geläufig war. Das Nachzeichnen ist richtig und geht 
rasch. 

Sprachstörungen sind in keiner Weise vorhanden; 
nur spricht Patientin etwas langsam. 

In diesem Falle erhielt sich eine amnestische par¬ 
tielle Agraphie noch ein Jahr nacli den epileptischen 
Anfällen; die Kranke konnte Wörter, die ihr dem 
Schriftbilde nach noch fest in der Erinnerung waren, 
nicht schreiben; sie schrieb nur Wörter, (abgesehen 
vom Copieren) die ihr von früher her sehr geläufig 
waren, vergleiclisweise wie bei der partiellen amne¬ 
stischen Aphasie, wo Redewendungen oder Wörter, 
welche durch oftes Einüben eine feststehende Er¬ 
innerung ausmachen, der functioneilen Aphasie nicht 
zum Opfer fallen. 

Als Patientin */, Jahr nach dieser Prüfung wieder 
von mir hinsichtlich der partiellen Agraphie geprüft 
wurde, zeigte sich gar nichts Abnormes mehr. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


M i t t h e i 

— Die Epileptiker und Idioten in dem zu¬ 
künftigen *) Reichs-„Irren“-Gesetz. Unter diesem 
Titel veröffentlicht das „Berliner Tageblatt“ vom 14. 
Juni Folgendes: 

Der Name des im vorstehenden Titel bezeich¬ 
nten Gesetzes ist zweifelsohne geeignet, die öffent¬ 
liche Meinung über Umfang und Ziele desselben irre¬ 
zuführen, wie sich aus nachfolgenden Erwägungen er- 
giebt. Das Strafgesetz wie das Bürgerliche Gesetz¬ 
buch haben, die durc h unsichere Nomenklaturverhält¬ 
nisse gebotenen Schwierigkeiten umgehend, es ver¬ 
mieden, für die Definition der Aufhebung der freien 
Willensbestimmung und der Geschäftsfähigkeit durch 
pathologische Geisteszustände die letzteren etwa aus 
Rücksicht auf medicinische Detailfragen noch einer 
besonderen Gruppirung zu unterziehen. Sie begnügen 
sich mit den durch die allgemeine Psychopathologie 
gegebenen Definitionen. So spricht das Strafgesetz 
von „Bewusstlosigkeit“, „krankhafte Störung der Gei- 
stesthätigkeit“, das Civilgesetz von „Geisteskrankheit“, 
„Geistesschwäche“, welche beiden letzteren Begriffe be¬ 
kanntlich — im Interesse des zu Entmündigenden 
— nur graduelle Unterschiede bedeuten; auch ein 
Epileptiker, ein Idiot kann danach im Sinne des 
Bürgerlichen Gesetzbuches entweder geisteskrank oder 
geistesschwach sein, ohne Rücksicht darauf, ob das 
Leiden angeboren oder in der früheren oder späteren 
Jugend erworben ist. 

Wie allgemein anerkannt und durch die Erfahrung 
bekräftigt, ist auf diese Weise eine sehr zweckmässige 
Vereinigung des Standpunktes des Rechts mit dem 
der Psychiatrie herbeigeführt worden. Wie ist es 
nun bei dem Reichsirrengesetz? Sollte in dem Aus- 

*) deutschen. 

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1 u n g e n. 

druck „Irren“gesetz schon eine Anspielung auf den 
Umfang des Gesetzes liegen, das letztere sich nur auf 
die Regelung der Verhältnisse der „Irren“ erstrecken, 
so wäre an der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht 
viel geändert, und man könnte sich die ganze legis¬ 
latorische Arbeit ersparen. Für die „Irren“, worunter 
man gewöhnlich die total Verrückten versteht, bedarf 
es nicht so sehr des ganzen Apparates der Gesetz¬ 
gebung wie vielmehr für die überaus zahlreichen 
„Grenzfälle“, die auf der Scheidelinie zwischen gei¬ 
stiger Gesundheit und Krankheit sich bewegen, aus 
deren Reihen sich die „widerrechtlich ins Irrenhaus 
Gesperrten“ rekrutiren. Sehr häufig finden sich nun 
diese Grenzzustände bei den Epileptikern, die ja nur 
zu einem verschwindend geringen Prozentsatz wirk¬ 
lich geistig intakt sind, und den Idioten. Die leichten, 
aber tief wurzelnden seelischen Störungen bei scheinbar 
gesunden Krampfleidenden, die verschiedenen Formen 
des angeborenen oder früh erworbenen Schwachsinns 
(Idiotie) in seinen geringeren Graden bedürfen zu 
ihrer richtigen Beurtheilung einer sorgfältigen Durch¬ 
forschung seitens des Facharztes und bereiten diesem 
oft mehr Schwierigkeit als ausgebildete Fälle einer 
fortschreitenden Gehimlähmung oder Melancholie oder 
Verrücktheit. Sie bereiten aber diese Schwierigkeit 
nicht nur im Civil- und Strafprocessverfahren, in wel¬ 
chem die Zuziehung eines sachverständigen Arztes 
bereits vorgeschrieben ist, sondern ebenso bei der im 
zukünftigen Reichsirrengesetz in Betracht kommenden 
äusserst wichtigen Frage, ob Internirung in der Anstalt, 
das heisst Freiheitsentziehung nothwendig ist oder 
nicht. 

Aus diesem Grunde muss es befremden, dass in 
Preussen der Ministerialerlass vom 25. Januar 1902 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 




i qo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


die ärztliche Thätigkeit in Idioten- und Epileptiker¬ 
anstalten vornehmlich auf „medicinische, hygienische 
und diätetische“, dass heisst also auf die eigentlich 
körperlichen, nicht auch auf die geistigen Angelegen¬ 
heiten, nicht auch auf die Frage der Entlassungs- 
fcihigkeit des Kranken sich erstrecken hisst. Es wäre 
überhaupt dringend zu wünschen, dass das Reichs¬ 
irrengesetz sich nicht auf den Standpunkt jenes und 
des zeitlich voraufgehenden Ministerialerlasses stellt, 
der für Anstalten mit Kranken unter achtzehn Jahren 
andere, gewissermaassen mildere Vorschriften glaubte 
ertheilen zu müssen als für Anstalten, welche er¬ 
wachsene Kranke beherbergen, — entgegen dem all¬ 
gemein herrschenden Empfinden, dass für minder¬ 
jährige Kranke ein weit umfangreicherer Rechtsschutz 
geschaffen werden müsste als für Jene. Aber auch 
der ärztlichen Fürsorge und Behandlung bedürfen 
die Epileptiker und Idioten, wenn ihre Anstaltsver¬ 
pflegung eine rationellere und erfolgreichere sein soll 
als bisher.*) Das aber ist nur erreichbar, wenn der 
Arzt vollständig die Alleinleitung der Anstalt besitzt, 
nicht aber wenn ihm die Verfügung über sein haupt¬ 
sächlichstes Organ, das Pflegepersonal, nur halb oder 
zu einem Viertel zusteht, wie dies in den theologisch 
geleiteten Privatanstalten der Fall ist. 

Uin nur eins anzuführen, wie weit wir hier noch 
zurückstehen, sei darauf hingewiesen, dass die Prügel¬ 
strafe aus den Epileptiker- und Idiotenanstalten bis¬ 
her durch keine Verfügung offiziell ausgemerzt ist. — 
Die Schwachbefähigten gehören in die jetzt in allen 
grösseren Orten**) errichteten Hilfsschulen, das heisst 
in das Regime des Pädagogen, die Schwachsinnigen, 
auch die jugendlichen, soweit sic der Aastaltspflege 
und -Erziehung bedürfenin die Anstalt, das heisst 
in das Regime des Arztes, der auch den Unterricht 
zu regeln und zu überwachen hat. Nur wer die 
körperlichen Grundlagen des Schwachsinns kennt, 
w’eiss auch die Anforderungen des Unterrichts richtig 
abzumessen, das heisst ohne Schaden für den Kran¬ 
ken. Die pädagogischen Kräfte einer solchen An¬ 
stalt sind daher nicht minder als die eigentlichen 
Pflegekräfte dem Arzte unterzuordnen. 

Die theologisch geleiteten Anstalten haben hier 
unbegreiflicherweise ein durch nichts begründetes, 
aber in vieler Hinsicht bedenklich scheinendes Privi¬ 
legium. Wo Theologen und Mediciner dauernd Zu¬ 
sammenarbeiten müssen, kommt es immer zu Kon¬ 
flikten , am meisten aber und zum Nachtheil der 
ihnen an vertrauten Personen, wenn die Frage der 
Willensfreiheit an diesen unglücklichen Gehirnkranken 
zum Austrag gebracht wird; hierüber herrschen bei 
unseren Theologen geradezu rückständige, mit der 
Naturwissenschaft überhaupt nie vereinbare Ansichten. 
Es ist wirklich an der Zeit, dass die Theologen von 
diesem Schauplatz abtreten, von dem für sie immer 

*) Die theologisch geleiteten Epileptiker- und Idiotenan¬ 
stalten verstehen es allerdings gut, eine fromme Reclame tu 
treibeu, die staatlichen beziehungsweise ärztlich geleiteten dürfen 
keine Reclame treiben, das verbieten schon die ärztlichen Ehren¬ 
gerichte. 

**) Auch die Landarmenverbände sollten solche Hilfsschulen 
begründen, damit die Volksschulen in Dörfern und kleinen 
Städten von den Schwachbcfähigten entlastet würden. 

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eine Brücke zum Gesundbeten und zu anderem Un¬ 
fug geführt hat und führen wird. 

Um endlich auf unseren Ausgangspunkt zurück¬ 
zukommen: Der Name Reichs-,,Irren“gesetz ist durch¬ 
aus irreleitend und geeignet, selbst bei den legislato¬ 
rischen Faktoren von vornherein über die wahren 
Aufgaben eines solchen Gesetzes falsche Vorstellungen 
aufkommen zu lassen. Es empfiehlt sich dafür die 
allgemeine Bezeichnung: Reichsgesetz über die Für¬ 
sorge für Gehirnkranke zu wählen. Durch diesen 
Namen*) würde: i. das ganze Wirkungsgebiet des 
Gesetzes wirklich umfassend definirt, 2. von einer 
angesehenen Volksvertretung der naturwissenschaft¬ 
lichen Lehre beigetreten, dass Geistesstörung, Epi¬ 
lepsie und Idiotie Gehirn-, das heisst körperliche 
Krankheiten sind, und dem Eindringen anachro¬ 
nistischer Sonderbestrebungen metaphysischer, spiri¬ 
tistischer, theologischer etc. Natur in die praktische 
Fürsorge für diese Unglücklichen vorgebeugt, was in 
der Gegenwart dringend nöthig ist, 3. demjenigen 
Menschen, welchen das Schicksal unter dieses Gesetz 
fallen lässt, das Odium erspart, für „verrückt“, „irre“, 
als „Narr“ und Aehnliches gelten zu müssen. 

Zum Schlüsse sei noch auf eins hingewiesen: Die 
Einführung des Reichsgesetzes über Gehimkranke 
wird zur logischen Folge haben, dass dem Reichsge¬ 
sundheitsamt das Concessionsrecht für Gehirnkranken¬ 
anstalten zusteht. —- 

— Spiritismus. Fnpi Rothe — geisteskrank? Das 
„berühmte“ Blumenmedium, die Monteursfrau Anna 
Rothe, ist am Sonnabend vom Untersuchungsge- 
fängniss nach der Charite (Berlin) gebracht worden, 
um auf ihren Geisteszustand beobachtet zu werden. Die 
Untersuchungshaft hat der fast 52 Jahre alten Fraü, 
die ein ruhiges, grübelndes Wesen zeigt, nichts an¬ 
gehabt. Die Spiritisten scheinen sich für ihr be¬ 
deutendstes Medium noch sehr zu interessiren. Be¬ 
vor noch Frau Rothe in der Charite w’ar, kamen 
schon Leute dorthin, die ihre Aerzte sprechen wollten. 

— Russland. Nach einer Berechnung des Medicinal- 
Departements sind für die einer Specialbehandlung be¬ 
dürftigen Geisteskranken in Russland nur 
15000 Betten vorhanden, während 35000 Betten er¬ 
forderlich wären. Auf Grund klinischer Forschungen 
werden die 185000 Geisteskranken Russlands in drei 
Gruppen eingetheilt: Kranke mit schärferen Geistes¬ 
störungen, gefährliche Kranke und chronisch Kranke. 
Von den beiden ersteren Gruppen beanspruchen 
62 000 Personen eine Specialbehandlung und für 
diese würen eben die 35000 Betten, deren Einrich¬ 
tung ca. 35 Millionen Rubel nebst 10 Millionen 
jährlicher Unterhaltskosten erfordern würde. 


Referate. 

— Leitfaden für Krankenpflege i m 
Krankenhaus und in der Familie. Von Dr. 
med. Witthauer, Oberarzt am Diakonissenhaus in 

*) Zum Beispiel gehören Leute, die nach Schlaganfall oder 
infolge einer Gehirngeschwulst oder einer sonstigen organischen 
Erkrankung des Gehirns blöde, gewöhnlich aber schonung^voll 
nicht als geisteskrank oder -schwach betrachtet werden, doch 
auch unter das neue Gesetz. 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 



172 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


Halle a. S. Zweite, neu bearbeitete Auflage mit 76 
Abbildungen. Halle a. S„ Carl Marhold, 1902. Preis 

Mk. 3 —- 

In Form von 18 Vorlesungen hat Verf. alles für 
die Krankenpflege Wissenswerthe mit Einschluss der 
Wöchnerinnenpflege und der Behandlung der Säug¬ 
linge in kurzer prägnanter Form besprochen und da¬ 
bei nicht nur die Verhältnisse eines gut eingerichteten 
Krankenhauses berücksichtigt, sondern auch die ein¬ 
fachen Verhältnisse in der Familie mit ihren noth- 
wendig werdenden Improvisationen. Der Werth des 
Buches ist durch zahlreiche, leicht verständliche Ab¬ 
bildungen erhöht. Das in der zweiten Auflage hin¬ 
zugekommene Capitel über Irrenpflege enthält das 
Nothwendigste, es ist nach dem bekannten Leitfaden 
von Scholz bearbeitet. 

Arnemann, Gross-Schweidnitz. 

— Die Lehre vom Leben. Von Dr. Alfons 
Bilharz. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1902. Gr. 
8°, XIV und 502 S., 22 Abbildungen. 

Die Redaction hat mich gebeten, das Buch von 
Bilharz zu besprechen. Ich habe es vorgenommen, 
aber — ich habe es nicht verstanden. Da müsste 
ich es eigentlich der Redaction zurückgeben. Jedoch, 
ich bin davon überzeugt, dass damit weder der Re¬ 
daktion noch dem Verfasser gedient wäre, denn unter 
den Vorhandenen ist keiner, der das Buch verstehen 
könnte. Auch liegt die Sache ja nicht so, dass ich 
Alles nicht verstanden hätte, sonderh ich habe nur 
nicht Alles verstanden. Es scheint mir, als ob im 
Grunde der Vf. vielfach das Richtige meinte und als 
ob ich in manchen Richtungen mit ihm gehen könnte. 
Die „Lehre vom Leben“ hat drei Theile: 1. Prole- 
gomena (hauptsächlich geschichtlich - kritische Erörte¬ 
rungen), 2. Noo-Biologie oder die Lehre vom thieri- 
schen Verstand, 3. Logo-Biologie oder die Lehre von 
der menschlichen Vernunft. Der 3. Theil zerfällt 
wieder in zwei Abschnitte: Weltaxe des Denkens 
oder Lehre vom vernünftigen Denken und Weltaxe 
des Wollens oder Lehre vom vernünftigen Wollen. 
In der Lehre vom Wollen (Ethik und Gesellschafts¬ 
lehre) findet man unerwarteterweise einen grossen 
Aufsatz über Fr. Nietzsche, der manches Gute enthält 

Wenn Verfasser sich entschliessen könnte, die 
Lehre aus seiner halbmathematischen Sprache in das 
Deutsche zu übertragen, wenn er sich mehr als bis¬ 
her der langen Auseinandersetzungen mit Descartes, 
Kant und anderen historischen Grössen enthielte, 
wenn er sich weniger oft wiederholte, so käme vielleicht 
etwas Gutes heraus. So, wie das Buch jetzt ist, 
wird es keinen Ertolg haben, denn Alle, die der Titel 
angelockt hat, werden bald entfliehen. Und doch 
steckt viel Arbeit und eifriges Nachdenken darin. 
Es wäre also schade, wenn das Ganze an der 
schlimmen Form zu Grunde ginge. Vielleicht wird 
der Vf. sagen: Ja, du musst erst mein früheres Buch 
über „Metaphysik als Lehre vom Vorbewusstsein“ 
lesen. Aber ich weigere mich ganz entschieden und 
Andere werden es ebenso machen 


Trotz aller Bedenken muss man sich freuen, dass 
es in unserer trockenen Zeit noch Collegen giebt, 
die die Metaphysik lieben und ihr ernstlich nach¬ 
stellen, und dass es Verleger giebt, die ihre Bücher 
drucken lassen. Möbius. 

— Pron: Influence de l’estomac et du regime 
alimentaire sur l’6tat mental et les fonctions psychiques. 
Paris, Jules Rousset, 1901. 188 S. 

Das Buch steht auf der Grenze zwischen wissen¬ 
schaftlicher Arbeit und populärer Plauderei. Nach 
einer historischen Einleitung, die bis Hippokrates 
zurückgreift und auch die Ansichten der Philosophen 
berücksichtigt, bespricht es die anatomischen und 
physiologischen Beziehungen zwischen Verdauungs¬ 
und Nervensystem. Durchweg wird zu sehr verall¬ 
gemeinert und mit fragwürdigen Gelegenheitsbe¬ 
obachtungen operirt. Es ist mehr feuilletonistische 
Causerie, wenn angeführt wird, der Zucker bringe 
weiche Gefühle, Butter mache apathisch und indolent, 
Eier vermindern die physische und moralische Energie! 
Gradezu bedenklich kann das werden, w'enn dem 
Wein z. B. nachgerühmt wird, er prädisponire zum 
Wohlwollen und zur familiarite. Die klinischen Be¬ 
obachtungen , die dem Buch ein wissenschaftliches 
Gepräge verleihen sollen, sind recht dürftig. So lautet 
Beobachtung 4: „Fräulein S., 32 Jahr, leidet seit 3 
Jahren am Magen. Schwerfälligkeit, Dyspnoe nach 
der Mahlzeit. Traurigkeit, Angst, Schlaflosigkeit“. 
Die 2. Hälfte des Buches bespricht die affektiven 
Störungen, auch Selbstmord im Gefolge von Ver¬ 
dauungsleiden, darauf die intellektuellen und Willens¬ 
störungen, selbst Aphasie, Amnesie, chronisches De¬ 
lirium u. dgl. Vf. hat kaum Ahnung, dass es sich in 
vielen Punkten um Probleme handelt, die dem psy¬ 
chologischen Experiment zugänglich und z. Th. auch 
schon auf diesem Wege gelöst sind. Bei der Gegen¬ 
überstellung der Autointoxikations- und der Reflcx- 
theorie bevorzugt er die letztere. 

Wcygandt - Würzburg. 


Personalnachrichten. 

(Um Mittheilung von Personalnachrichten etc- an <lte Redartion 
wird gebeten.) 

— Schleswig. Als Nachfolger des verst. Herrn 
San.-R. Hansen wurde Herr Director Dr. Kirch¬ 
hof f - Neustadt zum Director und Chefarzt hiesiger 
Anstalt ernannt. 

— Uchtspringe. Herr Dr. Hoppe ist zum 
Oberarzt, die Herren Dr. Ehrke und Dr. Müller 
sind zu ordentlichen Aerzten ernannt 

— Weilmünster. Oberarzt Dr. Lan tzius- 
Beninga von hier ist zum Director hiesiger An¬ 
stalt erwählt werden. 

— Freiburg (Baden). Prof. Dr. Emminghaus 
tritt mit Ende dieses Semesters in den Ruhestand. 
Zu seinem Nachfolger ist Herr Prof. Dr. Hochc, 
unser hochverehrter Mitarbeiter, berufen worden. 


Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brrslcr Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratehannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

HeVnemann’sche Puchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgAgeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. li, Edinger, 

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Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et pliil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 15. i 2 - juii. 1902. 

Die ,.Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 
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Zuschriften fiir die Kedacrmn *ind an Oberarzt Dr. J. Bresier. Kraschnitz (Schlesien), zu richten 

Inhalt. Originale: iirenhilfsvereine. Vortrag gehalten atn 3. Mai 1902 im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und West¬ 
falens von dem Oberarzt der Provinzial-IIeil- und Pflege-Anstalt Dr. Richard Snell -11 ildesheim |S. 173 ) — Uehcr einige 
Neubauten an der Göttinger Anstalt. Von Privatdocent ür. L. W. Weber-Göttingen (S, 17O). — Miltheilungen (S. 181). 


Irrenhilfsvereine. 

Vortrag, gehalten am 3. Mai 1002 im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens 
von dem Oberarzt der Provinzial Heil- und Pflege-Anstalt Dr. Richard Sneü-W ildesheim. 


^^^ohl jedem Irrenarzt sind die Schwierigkeiten be¬ 
kannt, welche sich bei der Entlassung unbe- 
güteter Kranker oder Genesener aus der Irrenanstalt 
zeigen. Das wenige Geld, welches vorhanden war, 
ist für die Unterbringung des Kranken in die Irren¬ 
anstalt verbraucht, die Familie hat sich aufs kümmer¬ 
lichste durchschlagen müssen; wenn der Genesene in 
sein Heim zuri'ickkehrt, sieht er sich der Noth und 
Annuth gegenüber. Nun heisst es, für ihn Arbeit 
suchen. Da hindert ihn aber überall das Vorurtheil 
der grossen Menge gegen Leute, die im Irrenhause 
gewesen sind. Die Arbeitgeber nehmen ihn ungcin 
an und, wenn er eine Stellung gefunden hat, wird er 
von Vorgesetzten und Mitarbeitern mit Misstrauen, 
wenn nicht gar mit Verachtung behandelt. 

Noch schlimmer ist es, wenn der aus der Anstalt 
Entlassene nicht genesen, sondern nur gebessert ist. 


Von allen Seiten tritt ihm dann der Argwohn und 
die Furcht vor dem Geisteskranken entgegen. Kein 
Wunder, dass so häufig das schwache Nervensystem 
den Widerwärtigkeiten der Aussen weit erliegt, der Zu¬ 
stand des Kranken sich verschlimmert und die Ueber- 
fiihrung in eine Irrenanstalt wieder nöthig wird. 

Diese Verhältnisse tragen dazu bei, dass ein sehr 
grosser Theil der als genesen oder gebessert aus der 
Anstalt Entlassenen nach weniger Zeit wieder der An¬ 
stal tspfl ege bedürftig wird. 

Was lässt sich dagegen thun? Man muss den 
Uebergang der entlassenen Pfleglinge in das freie 
Leben möglichst erleichtern, man muss die Schwierig¬ 
keiten, die einerseits in der Zerrüttung der finanziellen 
Verhältnisse des Entlassenen, andererseits in den Vor- 
urthcilen des Volkes gegenüber genesenen oder gebesser¬ 
ten Geisteskranken bestehen, zu heben oder wenigstens 


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174 


zu vermindern suchen. Für ersteren Zweck ist vor 
allen Dingen Geld nöthig, um über die erste schwere 
Zeit nach der Entlassung fort zu helfen, in dem einen 
Fall ist das Handwerkszeug, welches aus Noth verkauft 
oder versetzt ist, wieder zu beschaffen, in dem anderen 
ist dem Verfall einer Lebensversicherungspolice vor¬ 
zubeugen, in einem dritten Fall ist das nöthige Mo¬ 
biliar wieder zu kaufen oder in Stand zu setzen. 

Dass es für die Direction einer Anstalt nicht mög¬ 
lich ist, für jeden solchen vorliegenden Nothstand 
nach Entlassung eines Anstaltsinsassen das nöthige 
Geld zusammenzubringen, liegt auf der Hand und ist 
ja auch jedem längere Zeit in der Irrenpflege Thätigen 
aus eigner Erfahrung bekannt. So viel Mühe man 
sich auch giebt, die häuslichen Verhältnisse des zu 
Entlassenden möglichst günstig zu gestalten, nur zu 
häufig scheitert der Versuch an der Kostenfragc. 

Ein zweiter Punkt, der bei der Entlassung eines 
genesenen oder gebesserten Geisteskranken grosses 
Gewicht hat, ist die Wiedereinführung des Entlassenen 
in das sociale Leben, in einen passenden Beruf. Wie 
gross die Schwierigkeiten sind, für einen Genesenen 
eine geeignete Stellung zu finden, kann man nur bc- 
urthcilen, wenn man selbst diesen Versuch gemacht 
hat. Erst will niemand den ehemaligen Anstalts- 
pfiegling in Dienst nehmen, hat er aber erst einen 
Dienst^ gefunden, so wird er mit Argwohn, wenn nicht 
gar mit Spott empfangen. 

Ist der Kranke aber nicht genesen, sondern nur 
gebessert, so tritt alles das im erhöhten Maass her¬ 
vor. Hie und da gelingt es wohl dem Arzt, für einen 
zu entlassenden Pflegling eine geeignete Stellung aus¬ 
zumachen, in der er vor den Schädigungen der 
Aussenwelt nach Möglichkeit geschützt ist. Aber 
für jeden Fall, in dem ein Kranker entlassen werden 
muss, kann er das nicht. In der Anstalt behalten 
darf er aber die Kranken nicht, sobald sie nicht 
mehr den im Reglement vorgesehenen Krankheits¬ 
zuständen angehören. Es ist daher eine andersweite 
Fürsorge für die Entlassenen dringend nöthig. 

Diese Gesichtspunkte haben an verschiedenen 
Orten zur Bildung von Irrenhilfsvereinen geführt. 

Der älteste deutsche Irrcnhilfsvcrcin wurde im 
Jahre 182p zur Unterstützung der aus dem herzog¬ 
lich nassauischen Irren-, Corrections- und Zuchthaus in 
Eberbach Entlassenen von dem Director Lindpaintncr 
gegründet, konnte aber die nachfolgenden unruhigen 
politischen Zeiten nicht überdauern. 

Lange Zeit geschah dann wenig in Deutschland 
in Bezug auf diesen Zweig der Irrenfürsorge, während 
in Oesterreich 1851 der Wiener und etwas später 
der Steirische Hilfsvercin entstanden und in der 


[Nr. 15. 


Schweiz bes. nach Gründung des St. Gallener Hilfs¬ 
vereins im Jahre 1866 durch Zinn eine Reihe der¬ 
artiger. Vereine emporblühte. Doch will ich mich im 
Interesse der Kürze auf die deutschen Hilfsvereine 
beschränken. Erst 1869 erfolgte in Hamburg die 
Gründung der Unterstützungskasse der Irrenanstalt 
Friedrichsburg, 1872 entstand der badische Hilfs¬ 
verein, hauptsächlich durch Fischers und Rollers Be¬ 
mühungen , und der St. Johannesverein zur allge¬ 
meinen Irrenfürsorge in Westfalen, 1873 auf Anregung 
Laehrs der kurmärkische Verein, der unter Zinns 
Führung seine Thätigkeit 1875 auf die ganze Provinz 
Brandenburg ausdehnte, sodann der Hilfsverein für 
die Geisteskranken in Hessen, welcher, bei seiner 
vortrefflichen Organisation unter Leitung des Geh. 
Medicinalrath Ludwig in Heppenheim und seines 
Nachfolgers Bieberbach, vorbildlich für viele später 
gegründete Hilfsvereine geworden ist. Es exisliren 
jetzt ausser den genannten noch innerhalb Deutsch¬ 
lands Irrenhilfsvereine in Eisass, in Schlesien, im Re¬ 
gierungsbezirk Wiesbaden, in der Rheinprovinz, der 
Pfalz, München, Sachsen-Meiningen, Niedeibayern, 
im Königreich Sachsen und in Württemberg. In der 
Provinz Sachsen ist die Gründung eines Hilfsvereins 
beabsichtigt. 

Die Grenzen der Wirksamkeit sind durch die Ver¬ 
einssatzungen in den einzelnen Vereinen verschieden 
weit aufgefasst. Sehr ausgedehnt sind die in den 
Satzungen gegebenen Aufgaben des Hilfsvcrcins für 
das Königreich Sachsen. Er will das Verständ¬ 
nis für die Geisteskrankheiten und das Interesse für 
die Geisteskranken wecken und fördern und bes. 
die aus den öffentlichen Anstalten für solche Kranke 
entlassenen Personen zur Erleic hterung ihres Wieder¬ 
eintritts in das bürgerliche Leben unterstützen, auch, 
soweit die Mittel des Vereins nach Erfüllung des er¬ 
wähnten Hauptzwecks ausreichen, den in Noth be¬ 
findlichen Familien Geisteskranker Hilfe gewähren. 
Im Sinne der Arbeit des HiIfsVereins werden die 
Epileptischen und Hysterischen den Geisteskranken 
gleichgeachtet. 

Diese sowie die meisten andern Statuten der später 
gegründeten Hilfsvereine, sind den Hilfsvcrcinen für 
die Geisteskranken in Hessen nachgebildet oder dem 
Statut des brandcnburgischen Hilfsvereins für Geistes¬ 
kranke. Letzteres bezeichnet als Zweck des Vereins: 

1. Die Fürsorge für Geisteskranke der Provinz 
Brandenburg und bes. für die aus der Irrenanstalt 
Eberswaldc entlassenen Armen und Hilfsbedürftigen. 

2. Die Hebung der öffentlichen Irrenpflege der 
Provinz Brandenburg und die Beseitigung von Vor- 
urthcilen gegen Irrsinn und Irrenanstalten. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 175 


Etwas enger gefasst ist die Wirksamkeit des Hilfs¬ 
vereins für reconvalescente Geisteskranke in Württem¬ 
berg. In seinen Statuten ist die allgemein aufklärende 
und Vorurtheile gegenüber den Geisteskranken be¬ 
seitigende Thätigkeit nicht mit angeführt, dagegen 
die Fürsorge für die Familie des Erkrankten hcrvor- 
gehuben. 

Gemeinsam ist sümmtlichen Hilfsvereinen das Be¬ 
streben, den Uebergang der Geisteskranken in die 
Aussenwelt möglichst zu erleichtern, und die ersten 
Schwierigkeiten nach der iVnstaltsentlassung zu ver¬ 
mindern. Um die hierfür nöthigen Geldmittel zu er¬ 
halten, werden von den Mitgliedern Beiträge erhoben. 
Ausserdem steuern bei einzelnen Vereinen der Staat 
oder communale Verbände bei, z. B. erhielt der hessisc he 
Hilfsverein im Jahre 1900/01 aus der Grossherzog¬ 
lichen Staatskasse 1000 M. und aus Kreis-, Stadt- 
und öffentlichen Kassen 2755 M. 62 Pf., der branden- 
burgische Hilfsverein erhielt 1809/00 von Staats-und 
ständischen Behörden 840 M., der Hilfsverein in 
Württemberg 1900 vom kgl. Ministerium des Innern 
1000 M. Beitrag. 

Dass die aufgebrachten Summen durchaus nicht 
unbedeutend sind, kann man aus folgenden Zahlen 
ersehen: Die Summe der Einnahmen des Irrcnhilfs- 
vcrcins betrug in Hessen 1900/01 27Ö01 M. 70 Pf., 
in Württemberg 14202 M. 72 Pf., in Sachsen 
4026 M. 72 Pf., in Brandenburg 4574 M. 1 Pf. Für 
die Vercinszw’ecke sind vom hessischen Hilfsvereine 
in den ersten 25 Jahren seines Bestehens rund 240000 M., 
also fast eine Viertelmillion verausgabt. Der St. Jo¬ 
hannesverein zur allgemeinen Irrenfürsorge in West¬ 
falen hat aus eigenen Mitteln eine Idiotenanstalt für 
mehrere Hundert Insassen gebaut. Man sieht, dass 
cs nicht nur Kleinarbeit ist, die von den Ililfsvereinen 
geleistet wird, wenn ja auch die Hilfe und Fürsorge, 
die den einzelnen Kranken bezw. deren Familien ge¬ 
währt ward, immer eine Hauptaufgabe der Hilfsver- 
eine bleibt. Mit ihr verknüpft sich ganz von selbst 
die Aufklärung der grossen Menge über die Irren¬ 
anstalten durch das Institut der Vertrauensmänner* 

Um den einzelnen Kranken den Uebertritt in das 
freie Leben nach der Anstaltsentlassung zn erleichtern 
und die familiären Verhältnisse möglichst günstig zu 
gestalten, genügt eine einfache Geldunterstützung nur 
theilweise. Es kommt ausserdem darauf an, den Ent¬ 
lassenen auch mit Rath und That zur Seite zu stehen, 
drohende Gefahren abzuwenden, durch geeignete 
Maassregeln einer Wiedererkrankung vorzubeugen, bei 
Wiedereintritt einer Erkrankung den Patienten recht¬ 
zeitig in geeignete Pflege zu bringen. Das alles kann 


aber nicht in genügendem Maass von der Direction 
der Irrenanstalt, aus welcher der Kranke entlassen 
ist, geschehen, da ihr die näheren Verhältnisse 
und die Umgebung des Entlassenen nicht hin¬ 
reichend bekannt sind, ausserdem bei der starken 
Arbeitslast eine Anstaltsdirection kaum Zeit hat, sich 
bis ins Einzelne mit dem ferneren Ergehen der Ent¬ 
lassenen zu befassen. Es bedarf daher der Mittels¬ 
personen, vclchc an ()rt und Stelle dem Entlassenen 
und seinen Angehörigen zur Seite stehen. Diese 
Vertrauensmänner müssen einerseits mit den Irren- 
anstaltsdirectionen in Fühlung bleiben, von ihnen be¬ 
raten und mit den Mitteln des Vereins unterstützt 
werden, andererseits den Kranken gegenüber eine 
helfende und fürsorgende Thätigkeit entwickeln. Dass 
zu diesem Ehrenamt vorzüglich Männer sich eignen, 
die kraft ihrer Lebensstellung eine gewisse Autorität 
gemessen, liegt auf der Hand. Sie müssen durch die 
Anstaltsdirectionen bekannt gemacht werden mit dem 
Aufnahme verfahren in die Irrenanstalten, damit sie in 
dieser Beziehung geeigneten Rath ertheilen können, 
und mit der Behandlung, welche für die in ihre Fa¬ 
milie zurückkehrenden Kranken und Genesenen die 
richtige ist. Ausserdem gilt es, bei ihnen den Hebel 
anzusetzen, um die alten verkehrten Anschauungen 
über unsere Anstalten durch der Wahrheit entsprechende 
zu ersetzen. Dass man zu diesem Zweck den Ver¬ 
trauensmännern Einblick in das Irrenanstaltsleben 
nicht gänzlich verweigern darf und dass die Aerzte 
hiervon vielerlei Mühe und Last haben, liegt auf der 
Hand. Es w ürde aber ohne diese Mühewaltung den 
Vertrauensmännern unmöglich sein, ihr Ehrenamt in 
rechter Weise aufzufassen. Nichts trägt, so zur Zer¬ 
streuung und Verminderung der Vorurtheile gegen 
Irrenanstalten und Geisteskranke bei, als wenn man 
Leuten, die nach ihrer ganzen Lebensstellung Gewähr 
bieten, dass sie nicht Neugier sondern wirkliches In¬ 
teresse leitet, nach Möglichkeit Zutritt zu den Irren¬ 
anstalten gewährt und sie über die verkehrten Volks- 
anschauungen den Anstalten und ihren Insassen ge¬ 
genüber aufklärt. Nur so kann die Furcht vor den 
Irrenanstalten, in der auch das gebildete Publikum noch 
immer eine Anhäufung von Zwangs- und Beschrän- 
kungsmittteln sieht, vernichtet und der modernen Irren¬ 
pflege der Platz in der Achtung des Volkes gegeben 
werden, der ihr dank der jetzigen freien Behandlungs¬ 
art gebührt. 

Ausserdem erwachsen aber noch zahlreiche Vor¬ 
theile aus dem Umstand, dass sich angesehene 
Männer in den verschiedenen Orten für die Irren- 
pflcgc interessiren und mit den Irrenärzten in Be¬ 
rührung kommen. Die Ueberführung der Geistcs- 


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i/6 

kranken kann durch die mit dem Aufnahmeverfahren 
bekannten Vertrauensmänner in einem früheren und 
daher mehr Aussicht auf Heilung bietenden Stadium 
der Erkrankung wie bisher veranlasst werden. Ausser¬ 
dem kann durch die Vertrauensmänner, wie es schon 
in einzelnen Vereinen, z. B. dem hessischen, geschieht, 
Erhebliches zur Verbesserung des Wartpersonals bei¬ 
getragen werden, da es ortskundigen angesehenen, mit 
den an die Pfleger zu stellenden Anforderungen ver¬ 
trauten Persönlichkeiten leicht gelingt, geeignete junge 
Leute auf den Beruf als Irrenpflegcr aufmerksam zu 
machen und den Anstaltsdireetionen zu empfehlen. 
Auch für die Prophylaxe der Geisteskrankheiten können 
die Vertrauensmänner nützlich wirken, indem sie ihre 
Umgebung auf die Gefahren des Alkoholmissbrauchs 
und anderer die Entstehung von Psychosen begünsti¬ 
gender Schädlichkeiten aufmerksam machen. 

Steht der Vertrauensmann ausserdem mit Rath 
und That den in seinem Bezirk ansässigen Geistes¬ 
kranken im Einverständnis mit dem betreffenden An- 
stallsdirectionen und gestützt auf die materiellen 
Mittel des Hilfsvereins zur Seite, so sehen wir ihm 
ein so weites und dankbares Feld der Bethätigung 
geboten, dass es wohl die aufgewandte Mühe und 
Arbeit lohnt, und dass sich auch geeignete Persön¬ 
lichkeiten für dieses Amt finden lassen. Die grosse 

- -- • 


[Nr. 15. 

Zahl der Vertrauensmänner der bestehenden Vereine 
bestätigt diese Annahme, z. B. gab es am 1. April 
ic)Oi in Hessen 884 Vertrauensmänner, die über das 
ganze Land vertheilt waren. Die Leitung der Hilfs¬ 
vereine fällt naturgemäss den Aerzten der Landes- 
irrcnanstalten zu, welche sich im Interesse der guten 
Sache der allerdings recht erheblichen Mühewaltung 
nicht entziehen dürfen. 

In den Irrenhilfsvereinen haben wir also ein 
Mittel, die schon so oft beklagte materielle Noth 
der aus der Anstaltspflege entlassenen Geisteskran¬ 
ken zu mildern, ferner den Geist der modernen 
Irrenanstalt dem Volksbewusstsein näher zu bringen 
und die in Betreff der Irrenanstalten bestehenden Vor- 
urthcile zu verringern. Die Hilfsvereine haben sich 
innerhalb und ausserhalb Deutschlands bewährt und 
in einzelnen Staaten, ich nenne hier nur Hessen, eine 
geradezu glänzende Entwicklung gewonnen. Es wäre 
daher wünschenswerth, dass auch dort, wo bisher noch 
kein derartiger Verein existirt, die Gründung eines 
Irrenhilfsvereins ins Auge gefasst würde, und es wäre 
ganz besonders zu begrüssen, wenn die Provinz 
Hannover, in welcher unsere heutige Versammlung 
tagt, sich den von mir genannten Staaten und Pro¬ 
vinzen durch Bildung eines Irrenhilfsvereins anschlösse. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ueber einige Neubauten an der Göttinger Anstalt.*) 

Von Privatdoccnt Dr. L. W. Weber , Oberarzt an der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen. 


J e mehr sich unter dem Einfluss der freien Behand¬ 
lung die gesammte Bauart unserer Anstalten in 
den letzten Jahrzehnten geändert hat, um so schwerer 
war es für die vor dieser Periode entstandenen An¬ 
stalten , diesen geänderten Principien Rechnung zu 
tragen. Die Anlage, namentlich der grösseren der¬ 
selben, in geschlossenen, gefängniss-, schloss- oder 
klosterartigen Räumen erschwert die Anbringung der 
den modernen Bedürfnissen entsprechenden baulichen 
Einrichtungen um so mehr, als zahlreiche alte An¬ 
stalten viel stärker belegt sind, als bei ihrer Gründung 
beabsichtigt war, ohne dass eine entsprechende bau¬ 
liche Erweiterung stattgefunden hat. Leichter ist eine 
Umänderung durchzuführen bei kleineren Verhält¬ 
nissen, wie in unserer Göttinger Anstalt, die ursprüng¬ 
lich nur für 240 Kranke angelegt war. Hier hat 
sich im Laufe der Jahre — die Anstalt wurde 1805 
bis i8öh in einem geschlossenen quadratischen Bau 

*) Nach einem Vortrag auf der Versammlung der Irren¬ 
ärzte Niedersachsens und Westphalens zu Hannover am 3. Mai 
1902. 

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angelegt — an den ursprünglich alten Kern, dem 
jeweils hervortretenden Bedürfniss und den geänder¬ 
ten Anschauungen entsprechend, eine Anzahl neuer 
Gebäude ankrystallisirt. Die alten aber haben durch 
mancherlei Umbauten Acnderungen erfahren, so dass 
die Anstalt in ihrer Gesammtheit jetzt ein recht inter¬ 
essantes Beispiel dafür bietet, wie die geänderte Be¬ 
handlungsmethode allmählich auch eine Umgestaltung 
des äusseren Baues herbeigeführt hat. 

Der alte Theil der Anstalt war nach den Plänen 
und unter Leitung des Oberbauraths Funk in der 
Form eines geschlossenen Quadrats errichtet, dessen 
Vorderseite die Verwaltungsräume und die Pensionär- 
Abtheilungen enthielt, während sich beiderseits die 
Abtheilungen für die Kranken III. Klasse befanden; 
die hintere Seite wird von den Wirthschaftsräumen 
gebildet, zu deren beiden Seiten in Gestalt langer 
Korridorbauten je eine Zellabthcilung liegt. 

Es verdient übrigens darauf hingewiesen zu werden, 
dass L. Meyer gleich bei der Eröffnung der Anstalt 
1860 den unteren Stock der Pensionärabtheilung 

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1902.] 



177 


beiderseits zu sog. klinischen Abtheilungen ausgestaltete, 
in denen die Neuaufnahmen mit Bettruhe behandelt 
wurden und unter permanenter Bewachung standen, 
also Wachstationen in unserem heutigen Sinne. 
Dieselbe Einrichtung hatte L. Meyer schon 1864 an 
der Hamburger Staatsirrenanstalt getroffen. 

Schon bald nach der Eröffnung der Anstalt stellte 
sich das Bedürfniss nach umfassenderer Beschäftigungs¬ 
möglichkeit der Kranken heraus. Dieselbe wurde 
1874 geschaffen durch grössere Landankäufe und 
Errichtung entsprechender Oekonomiegebäude, in 
welchen auch eine Anzahl Kranke unter denkbarst 
freien Verhältnissen untergebracht wurden. Die Ueber- 
füllung der übrigen Provinzialanstalten machte dann 
eine Erhöhung der Belegzahl der Männerabtheilung 
nöthig. Die geforderten 100 Plätze wurden beschafft 
durch Errichtung von zwei völlig freien Villen nach 
dem Muster der kolonialen iVnstalten. Endlich 
machte sich zu Beginn der 90 er Jahre das Bedürf¬ 
niss geltend, die bisherige klinische Station zu beiden 
Seiten des Verwaltungsgebäudes durch einen etwas 
umfangreicheren und den betreffenden Bedürfnissen 
mehr Rechnung tragenden Neubau zu ersetzen. Für 
diesen Zweck wurden auf der Männer- und auf der 
Frauenseite je eine kleine Villa errichtet, welche im 
Erdgeschoss eine Wachabtheilung für ca. 15 Betten 
nebst Zubehör, im Obergeschoss eine Station für 
ebensoviel Rekonvalcscenten enthielt. Die beiden 
Villen sind nach völlig modernen Grundsätzen ohne 
Fenstergitter oder sonstige Zwangseinrichtung erbaut; 
der Grundriss selbst und die dadurch nothwendig 
gewordene Vertheilung der Räume kann allerdings 
nicht als sehr glücklich bezeichnet werden. 

Die Aufnahmeverhältnisse der Göttinger Irrenan¬ 
stalt sind ausserordentlich wechselnde. Im südlichsten 
Zipfel der Provinz gelegen, hat sie nur einen kleinen 
Aufnahmebezirk, da die meisten Kreise der kürzeren 
Reise wegen lieber die anderen Provinzialanstalten 
aufsuchen. Anderseits tritt bei Ueberfüllung der letz¬ 
teren häufig eine Ueberflutung der Göttinger Anstalt 
mit Aufnahmeanträgen ein, die schon aus Rücksicht 
auf die Zwecke der Klinik genehmigt werden müssen. 
So kommt es zu einer zeitweiligen Ueberfüllung na¬ 
mentlich mit pflegebedürftigen, siechen oder unreinen 
Kranken; ferner sind aus denselben Gründen stets 
eine grosse Anzahl krimineller Elemente, sowohl 
geisteskranker Verbrecher als gewaltthätiger, erregbarer 
Kranker vorhanden. Dieser Zustand hatte sich nament¬ 
lich gesteigert in den Jahren vor Eröffnung der Heil- 
und Pflegeanstalt Lüneburg und zu einer dauernden 
Ueberfüllung der Göttinger Anstalt, besonders der 


Männerseite mit siechen und besonderer Aufsicht be¬ 
dürftigen Individuen, geführt. 

Für die „unreinen“ Kranken, namentlich die 
Paralytiker mit Neigung zu Dekubitus, waren bis dahin 
die sog. „Siechenstationen“, welche beiderseits die Seiten¬ 
flügel der Anstalt abschliessen, bestimmt. Diese Ab¬ 
theilungen hatten den Nachtheil einer alten, besonders 
bei stärkerer Kälte ungenügenden I.uftheizung, für 
die starke Belegzahl zu geringen Luftraum und eine 
unglückliche Vertheilung der Räume, welche nament¬ 
lich eine dauernde Aufsicht unmöglich machte. Die 
Einrichtung, durch eine sog. Laufwache alle 1 — 2 
Stunden derartige Kranke herausnehmen zu lassen, 
genügt nicht, da sie in der Zwischenzeit doch nass 
oder schmutzig liegen können; und jeder weiss, dass 
unter Umständen eine auch nur kurze Zeit dauernde 
Maceration der Haut hinreicht, um das Zustande¬ 
kommen eines schweren Dekubitus einzuleiten. Nur 
eine ständige Wache kann dies verhindern bei un¬ 
unterbrochener Beobachtung der betreffenden Kran¬ 
ken, welche in regelmässigen, aber ihrem Zustand 
angemessenen Zwischenräumen herausgenommen wer¬ 
den, in der Zwischenzeit aber auch öfter in ihrer 
Lage verändert werden müssen, also eine ständige 
Aufsicht und Thätigkeit beanspruchen. Diese Um¬ 
stände bestimmten den Direktor, Professor Dr. Cramer, 
die Behandlung sämmtlicher derartiger Kranken in 
eine Wachstation zu verlegen. Die bisherige 
klinische Station erwies sich für die Aufnahme dieser 
Kranken als viel zu klein; auch aus anderen Gründen 
war es unthunlich, chronische sieche und unreine 
Kranke mit heilbaren, frischerkrankten Psychosen zu¬ 
sammenzubringen . 

Es w'urde daher dem Landesdirektorium der Vor¬ 
schlag unterbreitet, mit den einfachsten Mitteln einen 
sog. Barackenbau zu errichten, welcher zur geeigneten 
Unterbringung von ca. 35, hauptsächlich körperlicher 
Pflege bedürftigen Kranken Raum bietet. Der Provin¬ 
zialausschuss ging um so bereitwilliger auf diesen 
Vorschlag ein, als durch die neugeschaffenen 35 Plätze 
eine Entlastung der vor der Eröffnung der Lüne¬ 
burger Anstalt überfüllten Provinzialanstalten ermög¬ 
licht wurde. 

Der als „Lazareth“ bezeichnete und erdge¬ 
schossige Barackenbau ist leichtester Construktion, 
ohne Unterkellerung über Backsteinpfosten errichtet. 
Die Wände bestehen aus einer doppelten Lage von 
Gypsdielen mit Torfmullfüllung, an der Aussenseite 
mit Cementverputz. Das flache mit Dachpappe ein¬ 
gedeckte Dach ist innen verschalt. Der Boden in 
den Schlaf- und Tagesräumen ist auf Stampfbeton 
gelegtes Xylopan, ein angenehmer, warmer und elasti- 


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178 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15. 


scher Fussboden, in den Nebenräumen Terazzo. 
Der Grundriss ist ein ausserordentlich einfacher: An 
den in der Mitte befindlichen Tagesraum schliessen 
sich zu beiden Seiten je ein Schlafsaal an; an der 
hinteren Längsseite des Tageraums befinden sich die 
Nebenräume: Abstellraum, Garderobe, Spülküche, 
Bad, Closett und ein Seitenausgang; der vorderen 
Wand ist eine ungedeckte Veranda vorgelagert. Der 
Tageraum hat auf diese Weise nach Süden 4 grosse 
Fenster, nach Norden über den niedrigeren Neben- 



Grundriss des Lazarethes. 

1. Tagraum. 2. Schlafräume. 3. Veranda. 4. Closet. 5. Bad. 

6. Spülküche. 7. Garderobe. 8. Abstellraum. 9. Oefen. 

räumen noch kleinere Oberfenster zum Lüften. Jeder 
Schlafsaal ist von 3 Seiten durch im Ganzen 8 Fenster 
belichtet. Sämmtliche Fenster sind ohne jede Siche¬ 
rung, mit grossen Scheiben aus gewöhnlichem Glas 
versehen. Auch die sonstige innere Einrichtung ist 
sehr einfach, aber behaglich. Die Heizung wird 
durch im Ganzen 4 Füllöfen besorgt, welche zu je 
zweien in den Wänden zwischen Tageraum und 
Schlafsälen untergebracht und mit einem Mantel aus 
gelochtem Eisenblech versehen sind, so dass sie über 
die Wandfläche beiderseits nur wenig hervorstehen; 
diese Heizung hat sich bis jetzt in zwei strengen 
Wintern bewährt. Obwohl nur bei der heftigsten 
Kälte alle 4 Oefen gleichzeitig im Betrieb sind, ist 
die Temperatur in allen Räumen eine angenehme 
und gleichmässige; auch in der nächsten Nähe der 
Oefen ist die Hitze nicht so strahlend, dass die im 
Tageraum um die Ofenmäntel angebrachten Bänke 
mit Lehnen nicht bequem benutzt werden könnten. 
In den Schlafsälen befinden sich an der Innenwand 
in der Nähe des Ofens Waschtische mit gusseisernen, 
emaillirten Kippbecken. Die Beleuchtung ist elektrisch 

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mit Nernstlampen und einigen Edisonlampen für den 
Nachtbetrieb ; Schaltdosen zur Anbringung von Hand¬ 
lampen für genauere Untersuchungen sind reichlich 
vorhanden. Der Cubikinhalt in der ganzen Abthei¬ 
lung ist nach den neuen Vorschriften für die Privat¬ 
anstalten reichlich bemessen; er beträgt pro Bett in 
den Schlafräumen allein 25 cbm, in den Tageräumen 
mit Schlafräumen pro Kopf 38 cbm. Die Kosten 
für das Lazareth betragen (ohne Grunderwerb) 
35000 M., wovon 8000 auf die innere Einrichtung 
kommen. Der Betrieb der Abtheilung gestaltet sich 
folgendennaassen. Der nach Südosten gelegene 
Schlafsaal ist Wachsaal und mit 16 Betten belegt. 
Dahin werden alle diejenigen Kranken gebracht, 
welche wegen der Neigung zur Unreinlichkeit oder 
Dekubitus oder wegen sonstiger schwerer Erkrankung 
der nächtlichen Ueberwachung bedürfen; ein grosser 
Theil von ihnen liegt auch bei Tag zu Bett oder 
wird im Sommer mit dem Bett auf die Veranda ge¬ 
bracht. Im anderen Schlafsaal sind leichtere Kranke 
untergebracht, welche Nachts keine besondere Für¬ 
sorge brauchen, sondern nur zeitweise zum Befriedigen 
ihrer Bedürfnisse angehalten werden, unter Tags beim 
Essen u. s. w. einer Beaufsichtigung bedürfen und zu 
irgend welcher Beschäftigung ausser leichter Haus¬ 
arbeit nicht mehr im Stande sind.* Für diesen Be¬ 
trieb genügen 3 Wärter, von denen 2 im ruhigen 
Saal schlafen, der dritte, natürlich im entsprechenden 
Turnus, im andern Schlafsaal die Nachtwache hat. 
Die auf dieser Abtheilung untergebrachten Kranken 
sind der Hauptsache nach Paralytiker, dann aber 
auch eine Anzahl Idioten, stark verblödete Epilep¬ 
tiker und katatonische Psychosen. Gelegentlich 
werden auch schwer körperliche Kranke, welche 
dauernder Aufsicht bedürfen, dorthin verlegt; für sie 
ist die Veranda mit Liegestühlen ein ausserordent¬ 
lich angenehmer Aufenthalt. 

Das Lazarett bedeutet eine wesentliche Entlastung 
für unsere klinische Aufnahmestation ; eine grosse An¬ 
zahl entsprechender Fälle passiren jetzt die klinische 
Station überhaupt nicht mehr, sondern werden nach 
kurzer Untersuchung in einem Aufnahmezimmer so¬ 
fort nach dem Lazareth verbracht. Diese Zusammen¬ 
legung ziemlich gleichartiger Krankheitsfälle, die man 
ja sonst vermeidet, hat sich in diesem Falle zweck¬ 
mässig erwiesen. Sie ermöglicht eine Gleichartigkeit 
der Behandlung, welche z. B. auch in der Verpfle¬ 
gungsform ihren Ausdruck findet. Die sämmtlichen 
Kranken dieser Abtheilung erhalten zum Mittagessen 
ihre Fleischportion von Knochen befreit und ge¬ 
mahlen ; ebenso wird das Brod ohne Rinde nach 
dieser Abtheilung geliefert, um Schluckstörungen zu 
verhüten. Auch die Ausrüstung dieser Kranken mit 

Original frum 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Lazarethmänteln soll dazu beitragen, der ganzen Ab¬ 
theilung mehr den Charakter einer Station von körper¬ 
lich Kranken zu geben. 

Die Hauptsache aber [ist ? dass auf diese Weise 
das Vorkommen von Nassliegen, Unreinlichkeit oder 
Dekubitus bei den siechen Kranken fast völlig ver¬ 
mieden wird; kommt es doch einmal vor, so kann 
man das Personal dafür zur Rechenschaft ziehen, 
und braucht keine Ausrede gelten zu lassen. Eine 
finanzielle Erspamiss ist damit auch gegeben, wenn 
man erwägt, dass Matratzen und Bettlaken durch 
das seltene Vorkommen des Einnässens viel mehr ge¬ 
schont werden. Auch Gummieinlagen werden nur 
in geringer Anzahl — fast nur bei einigen Epilep¬ 
tikern gebraucht, Wasser- und Luftkissen für Deku¬ 
bitusverdächtige gar nicht. Der Stationswärter muss 
eben jeden einzelnen Kranken genau kennen und 
wissen, was dieser an Pflege, Umlegen, Herausnehmen 
u. s. w. braucht, und auf diese Punkte auch die 
Nachtwache aufmerksam machen. Man kann sagen, 
dass mit der Einrichtung dieser Wachstation der Be¬ 
griff der unreinen Kranken überhaupt weggefallen ist. 

Die Anstalt hatte in der ersten Zeit ihres Be¬ 
stehens ca. 30 Isolirzimmer zur Verfügung, 15 für 
jede Geschlechtsseite, von denen etwa 10 jederseits 
in der sog. Zellabtheilung, den nach der Nord West¬ 
seite abgehenden Flügelbauten, sich befanden; die 
übrigen waren zwischen den übrigen Abtheilungen 
vertheilt Sehr bald wurden die letzteren nur noch 
als Schlaf- oder auch Wohnzimmer für Kranke 
III. Kl. verwendet, denen man theils wegen ihrer 
Empfindlichkeit, theils aus anderen mehr socialen 
Gründen die Wohlthat einer von dem Gros der 
Kranken getrennten Wohnung erweisen wollte. Zum 
Isoliren wirklich erregter, tobsüchtiger Kranker waren 
diese Räume schon deswegen nicht geeignet, weil 
sie mit keinerlei akustischen Isolirung versehen 
waren. Dagegen machte sich in den Jahren 1880 
bis 1890 ein Bedürfnis nach Vermehrung der Zellen 
geltend. Es wurden daher in dem nördlichen Anbau 
der Zellabtheilung, der bisher zu Beamtenwohnungen 
verwendet war, jederseits noch 6 Zellen eingebaut. 
So stellte bis in die allerletzte Zeit die Zellabtheilung 
ein langgestrecktes Corridorgebäude dar, welches 
ausser einigen Nebenräumen und dem zu Tageräumen 
ausgestalteten Corridor 16 Einzelzimmer verschiedener 
Construktion enthielt. Die zuletzt eingerichteten Isolir¬ 
zimmer besitzen grosse, weit herunterreichende Fenster 
mit festen Scheiben; eine Anzahl anderer Zellen 
haben ein kleineres vergittertes Fenster ca. 3 m über 
dem Fussboden, das durch eine vom Dachboden aus 
zugängige Vorrichtung ventilirbar ist. Endlich enthielt 
ein Ausbau in der Mitte 4 Zellen, von einem ge- 

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meinsamen Vorraum aus zugängig und nur mit 
Deckenoberlichtern versehen, welche durch das Dach 
durchgeführt waren. Diese sog. Tobzellen waren für 
besonders schwer erregte Kranke bestimmt. Die 
Ventilations-, Heizungs- und Bel euch tungs Verhält¬ 
nisse in diesen Zellen waren gleichmässig schlechte. 
Die Kranken aber, selbst die erregtesten, empfanden 
die, wenn auch nur vorübergehende Isolirung in diesen 
düsteren, laut hallenden Zellen als eine entwürdigende 
Strafe, und doch musste bei der Häufung gefährlicher, 
gewaltthätiger und fluchtverdächtiger Kranker meist 
jeder vorhandene Raum auf der Zellabtheilung aus¬ 
genutzt werden. Es wurde daher auf Vorschlag des 
Direktors der ganze Mittelbau, der von den 4 Tob¬ 
zellen und ihrem dunklen Vorraum eingenommen 
war, durch Herausnahme der Wände in einen Schlaf¬ 
saal von 70 qm Grundfläche verwandelt. Die Ober¬ 
lichter wurden zugebaut und dafür an den beiden 
Seiten wänden je ein 2,8 qm grosses Fenster ange¬ 
bracht. Nach dem bekannten Hitzig’schen Modell 
ist der mittlere Teil desselben fest, w'ährend zwei 
schmalere Seitentheile um eine vertikale Achse dreh¬ 
bar sind. Die Scheiben bestehen aus dickem, halb¬ 
matten Spiegelglas. Hier sind mit Bequemlichkeit 
10 Betten zu stellen und dadurch ein geräumiger 
freundlicher Schlafsaal für Kranke geschaffen, welche 
vorher wegen ihrer Neigung zu nächtlicher Unruhe, 
zum Fenstereinschlagen (namentlich auf der Frauen¬ 
seite) in Zellen untergebracht werden mussten. Nachts 
schlafen zwei Wartpersonen in dem Saal, der ausser¬ 
dem von der über die Abtheilung gehenden Nacht¬ 
wache kontrollirt wird; der Stationswärter schläft in 
einem Zimmer in erreichbarer Nähe. Auch hier 
zeigte es sich wieder, dass einzelne Kranke, die, so 
lange sie die Zelle bewohnten, zu den unruhigsten 
Elementen gehörten, durch die Verlegung in den 
Schlafsaal ruhiger und socialer wurden. Die ganze 
Abtheilung macht durch den Wegfall der dunklen 
Zellen und die Einfügung des grossen, freundlichen 
Schlafsaals einen ganz anderen Eindruck. Mit Leich¬ 
tigkeit lässt sich auch dieser Schlafsaal mit dem an- 
stossenden Tageraum zusammen als eine 3. Wach¬ 
station betreiben, wenn das Bcdürfniss nach einer 
derartigen Einrichtung zur dauernden Ueberwachung 
gewaltthätiger und dabei Selbstmord- oder fluchtver- 
dächtiger Elemente hervortreten sollte. 

Die Verminderung der Zahl der Isolirzellen ist, 
wie dies vorauszusehen war, durchaus nicht als stö¬ 
rend empfunden worden, eine weitere Verminderung 
derselben ist vielmehr zu Gunsten noch anderer Ein¬ 
richtungen geplant. Angesichts dieser Thatsache 
seien noch einige allgemeine Bemerkungen zu dem 
neuerdings wieder entbrannten Streit für oder gegen 

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180 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15. 


die absolut zellenlose Behandlung gestattet. Gerade 
die Geschichte unserer Anstalt zeigt ja, dass man 
in der ersten Zeit ihres Bestehens mit einer geringeren 
Zahl von Zellen auskommen zu können glaubte, als 
später, und dass jetzt wieder die Zahl derselben 
wesentlich herabgesetzt wird. Aber der jetzige Kampf 
gegen die Isolirung ist doch mehr als eine augen¬ 
blickliche Modesache; überall, wo man ernstlich den 
Versuch macht, mit weniger Zellen auszukommen, 
zeigt sich, dass es geht und dass die Kranken dabei 
besser fahren. Ich möchte, um nicht missverstanden 
zu werden, ausdrücklich bemerken, dass ich unter 
„Isoliren“ natürlich immer die Unterbringung eines 
Kranken für kürzere oder längere Zeit in einem ver¬ 
schlossenen Zimmer verstehe, das durch seine Ein¬ 
richtung und Ausstattung gewaltthätige Handlungen 
des Kranken verhindert; ob man dem Kranken dabei 
in seiner „Zelle“ mehr oder weniger Möbelstücke, 
Matratzen oder ganze Bettstellen hineingiebt, ist eine 
Frage von untergeordneter Bedeutung und hängt im 
Wesentlichen von der Art des unterzubringenden 
Kranken ab.*) Gar nichts mit dem Begriff des 
„Isolirens“ hat cs zu thun, wenn man einen leicht 
erregbaren oder empfindlichen Kranken ein völlig 
eingerichtetes, unverschlossenes „Einzelzimmer“ zum 
Schlafen, Wohnen oder Arbeiten an weist, damit er 
mit den anderen Elementen möglichst wenig zu¬ 
sammenkommt. Dass eine grosse Anzahl von solchen 
behaglich eingerichteten Einzelzimmern in jeder An¬ 
stalt eine grosse Wohlthat für den Kranken betrieb ist, 
steht bei Allen, die darin Erfahrung haben, fest. Was aber 
das wirkliche Isoliren in Zellen betrifft, so glaube ich doch, 
dass man auch bei weitgehendster Einschränkung diescr 
Maassregel nicht soweit gehen darf, wie Watten- 
berg u. A.; wenigstens in den Provinzialanstalten 
und anderen grösseren Anstalten mit vielen chro¬ 
nischen Kranken wird man die Isolirung nicht völlig 
entbehren können. In den jüngsten Erörterungen 
über diese Frage ist als ein Grund sowohl für als 
gegen die absolut zcllcnlose Behandlung von beiden 
Seiten wiederholt die Zahl der frischen Aufnahmen 
einer Anstalt angeführt worden. Man kommt aber 
doch mehr und mehr davon ab, frisch erkrankte, neu 
aufgenommene Fälle, auch wenn sie sehr erregt sind 
und wenn dieser Zustand 2—4 — 6 Wochen anhält, 
einfach mit Isoliren zu behandeln. Wir können ja 
*) Dass man auch die „Tobzellen“ älterer Anstalten in 
freundliche Krankenräume umgestalten kann, wenn nur die 
Mittel vorhanden sind, beweist das Beispiel von Hildesheim, 
wo Gerstenberg die gänzlich veraltete Zellabtheilung der 
Frauenseite in einer, soweit die Verhältnisse es gestatteten, 
entsprechenden Weise umgeändert hat. 


jetzt, dank der Bettruhe, Dauerbäder, hvdropathischer 
oder medicamentöser Behandlung viel mehr indivi¬ 
dualisieren und lassen solche Fälle ruhig im Wach¬ 
saal liegen, weil wir sie noch nicht genau kennen 
und ausserdem auch weil wir uns bei der frischen 
Erkrankung eher einen Erfolg der aufgewandten 
Mühe versprechen. Auch das Personal verliert bei 
solchen frisch erregten Kranken, auch wenn sie eine 
Zeit lang sehr unangenehm sind, weniger leicht 
Spannkraft und Geduld. Eine Anstalt mit vielen Neu¬ 
aufnahmen hat gewöhnlich überhaupt einen grösseren 
Krankenumsatz und die Möglichkeit, chronisch ge¬ 
wordene Fälle irgendwohin abzuschieben. Das fehlt 
aber den meisten grösseren (Heil- und Pflege-) An¬ 
stalten; sie müssen ihre chronischen Kranken, und 
gerade die unangenehmsten Fälle gewöhnlich Jahre 
lang behalten. Unter diesen finden sich aber die¬ 
jenigen Elemente, für welche mir die Möglichkeit 
einer zeitweiligen Isolirung höchst werthvoll erscheint. 
Es sind Epileptiker, Hysterische, Idioten und Im- 
becille, überhaupt degenerative Psychosen mit Nei¬ 
gung zu häufigen Erregungszuständen, sinnlosen Wuth- 
ausbrüchcn, Kranke, welche das Aeusserste an Auf¬ 
reizung ihrer Leidensgefährten, namentlich neu auf¬ 
genommener Fälle auf der Wachstation, Verdächti¬ 
gungen des Personals leisten und vor häufigen, wenn 
auc h schwächlichen Selbstmordversuchen nicht zurück¬ 
schrecken. In jeder Pflegeanstalt finden sich der¬ 
artige Elemente, welche die Geduld ihrer Mitkranken, 
die Aufopferungsfähigkeit des Personals in ungebühr¬ 
licher Weise in Anspruch nehmen. Dabei erreicht 
man mit aller auf sie verwendeten Mühe: körperlicher 
Behandlung ihrer wirklichen oder angeblichen Be¬ 
schwerden, Beschäftigungsversuchen, Verlegungen von 
einer Station zur anderen, oft noch nicht einmal so 
viel, dass ihre jeweilige Abtheilung vor ihnen Ruhe 
hat. Für solche Fälle bietet die zeitweilige Isolirung 
oft die einzige Möglichkeit, sie unschädlich zu machen 
und man kann damit in gewissem Sinne auch er¬ 
zieherisch auf sie wirken. Sie verlieren nicht allen 
Halt, wenn sie wissen, dass es ein Mittel giebt, sie 
— für kurze Zeit wenigstens — an Angriffen auf ihre 
Umgebung oder auch auf sich selbst zu verhindern. 
Verfügt man auf der „unruhigen Abtheilung“ auch noch 
über einen Schlafsaal, wie den beschriebenen, der im 
Bezug auf Fenster pp., einigen Schutz bietet, so kann 
man die wirklichen Isolirungen auch derartiger Kranker 
an Häufigkeit und Zeitdauer auf ein Minimum redu- 
ciren. Dass dabei eine erhebliche Verminderung der 
Zahl der Isolirräume stattfinden kann, beweist das 
Beispiel der Göttinger Anstalt. 


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IQ02.] 


PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCIIE WOCHENSCHRIFT. 181 


Mittheilungen. 


— Ueber die Benennung der Irrenanstalten. 

Von verschiedenen Seiten wurde angeregt, das Wort 
„Irrenanstalt“ durch eine andere Bezeichnung zu er¬ 
setzen. Der Name ist nicht ganz zutreffend, er ist 
hart und anstössig; gewiss. Es wurde aber auch ge¬ 
sagt: Es ist heut zu Tage nicht die Irrenanstalt mit 
ihrer modernen Einrichtung, die abschreckend wirkt, 
sondern einzig nur der Name. Das heisst denn 
doch die Motive gar zu sehr an der Oberfläche 
suchen. 

Die Anstalt, in der Schreiber dieser Zeilen arbeitet, 
wird von den Behörden als „Irrenanstalt“ bezeichnet; 
die Kranken wissen das; sie lesen auf manchem Brief 
die Adresse „Privatirrenanstalt“, sie lesen gelegent¬ 
lich in der Zeitung „Privatirrenanstalt etc.“ Sie finden 
es taktlos, dies Wort zu gebrauchen; eben das Wort 
ist ihnen anstössig, wenn es ihnen entgegentritt. Im 
Uebrigen machen sie sich nichts daraus, in einer 
sog. „Irrenanstalt“ zu sein. Warum ? Weil in dieser 
Anstalt im Allgemeinen ausser Nervenkranken nur 
leichtere und heilbare Fälle von Psychosen aufge¬ 
nommen sind. Es ist „eigentlich keine Irrenanstalt“, 
und der Name thut wenig zur Sache. 

Andererseits, eine Anstalt, wie z. B. das Dresdener 
Stadt-Irren- und Siechenhaus, das ausser Geistes¬ 
kranken und Epileptischen auch zahlreiche Fälle 
organischer Nerven- bezw. Rückenmarkskranker, ino¬ 
perable Karcinomkranke u. dgl. aufnimmt, und das 
im Volksmunde allgemein „die Sieche“ heisst, ist 
„eigentlich eine Irrenanstalt“; und „in die Sieche 
kommen“ ist gleichbedeutend mit „in’s Irrenhaus 
kommen“ und „reif für Dalldorf“. 

Also der Name macht nicht viel aus; der 
Umstand, ob eine Anstalt vorwiegend für Geistes¬ 
kranke auch schwerer Art bestimmt ist, ist für die 
Meinung der Leute ausschlaggebend. Wer kann denn 
auch bei ernstlicher Ueberlegung wirklich etwas ande¬ 
res glauben, wo so viele triftige Gründe vorhanden 
sind, sich über die Ueberführung in eine Irrenanstalt 
zu erschrecken. Die Erkenntnis^, dass die Anstalt für 
den Kranken nöthig, für ihn das Beste ist, dass das 
Leben sich dort freundlich und sogar verhältnissmässig 
heiter gestalten kann u. s. w'., mildert die Scheu vor 
der Anstalt; aber es bleiben immer noch viele Gründe 
zu Klagen und zu Besorgnissen, die sich nicht durch 
glatte Worte beseitigen lassen. 

Nun wird vorgeschlagen, die Irrenanstalt als 
Nervenheilanstalt oder Nervcnklinik zu bezeichnen. 
Freilich, wenn eine neue Staats-Anstalt plötzlich unter 
solchem Namen bekannt würde, würden wohl die 
Kranken lieber und eher hineinkommen. Aber was 
wäre das andres als eine Täuschung des Publikums, 
die bald an’s Lieht kommen würde. Wie steht dann 
der Arzt dem Kranken gegenüber, der sich beklagt: 
Man hat mich statt in eine Nervenheilanstalt zu 
Geisteskranken gebracht! 

„Warum den Geisteskranken nicht den Namen 
geben, für was sich die sich selbst Bewussten halten: 
Nervenkrank?“ Man sollte diese Frage nicht für 
möglich halten. Denn so stellt die Sache doch nicht, 


dass die Kranken die Geisteskrankheit schlechthin als 
Nervenkrankheit bezeichnen; sie thun es im Allge¬ 
meinen nur für ihre eigene Person; im Uebrigen 
unterscheiden sie recht w'ohl beide Begriffe. Und da 
sollen wir dem Patienten, der sich aus Mangel an 
Krankheitseinsicht für „nur nervenkrank“ hält, seine 
Meinung bestätigen ? Unsern Pflegern verbieten wir 
es doch, die Kranken ihren verkehrten Ansprüchen 
entsprechend zu tituliren. In garnicht seltenen Fällen 
ist es sogar geboten, dem Kranken zu sagen, dass er 
geisteskrank ist; wie sollten wir das machen, wenn 
Geisteskrankheit und Nervenkrankheit Synonyme 
wären. 

Was endlich die jetzigen Nervenheilanstalten be¬ 
trifft, so werden sie nach wie vor ein Interesse daran 
haben, sich durch eine Bezeichnung von den An¬ 
stalten zu unterscheiden, die Geisteskranke — im 
landläufigen Sinne — aufnehmen. Sie würden für 
sich und ihre Kranken eine neue Bezeichnung suchen 
und alles wäre wieder beim alten. Sie könnten auch 
wegen unlauterem Wettbewerb klagen. 

Von jeher haben die Worte ihre Bedeutung von 
dem, was sie bezeichnen, nicht von ihrem Wortlaut. 
Ein Namenswechsel kann das Urtheil des Publikums 
über Geisteskrankheit nicht beeinflussen; dazu ist 
mehr nöthig. Es kann nur Aufgabe sein, den Kran¬ 
ken und ihren Angehörigen so viel wie möglich ein 
Wort zu ersparen, das sie schmerzlich berührt. Durch 
das Wort „Irrenanstalt“ werden sie oft unnrithig vor 
den Kopf gestossen. 

Die Benennung mit „Gehirnheil- und Pflegeanstalt“ 
hat manches für sich, aber vielleicht noch mehr gegen 
sich; sie ist gar zu materialistisch, um sich allgemein 
einblirgem zu können. Die Privatanstalten, die sich 
ihre Bezeichnung selber geben, sind der Schwierigkeit 
seit lange dadurch begegnet, dass sie sich Anstalten 
„für Nerven- und Gemüthskranke“ nennen. „Ge- 
müthskrank“ ist ja auch nicht ganz zutreffend; aber 
durch die Zusammenstellung mit „nervenkrank“ wird 
cs so verstanden, wie es verstanden werden soll. 
Diese Bezeichnung hat nicht das Anstössige der 
„Irrenanstalt“ und ist seit einem halben Jahrhundert 
dafür im Gebrauch. —f. 

— Aus Baden. Am 27. Juni 1902 stand in 
der badischen II. Kammer die Frage der Errichtung 
zweier neuer Landesirrenanstalten — Heil- und Pflege¬ 
anstalten — zur Verhandlung. 

In einem ausführlichen Referate, das auch ge¬ 
druckt vorliegt und das Interesse jedes Irrenarztes 
durch seine Gründlichkeit und ein tiefes Verständnis** 
für die Aufgaben der Irrenfürsorge wie auch unseres 
irrenärztlichen Berufes zu fesseln geeignet ist, stellte 
sieh der Abg. Wacker im wesentlichen auf den 
Boden der von der Sachverständigenrommis- 
sion ausgearbeiteten und von der Regierung 
anerkannten Denkschrift und redete in ein¬ 
dringlichster Weise den gemachten Anforderungen 
das Wort. Auch von sämmtlichen andern Rednern 
wurde die Bedürfnissfrage durchaus bejaht und den 
Forderungen der Sachverständigen beige- 


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18.2 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15 


stimmt, wie überhaupt für die Irrenfürsorge und die 
Thätigkeit der Anstalten ungeteiltes Interesse und 
Wohlwollen zum Ausdruck kam. 

Die lokalen Wünsche einzelner Bezirke wurden 
zurückgestellt und die allgemein ärztlichen und psychi¬ 
atrischen Gesichtspunkte für die Wahl des Ortes als 
ausschlaggebend anerkannt. 

Schliesslich wurde die Anforderung der Regierung 
auf zunächst 400000 M., davon für Erstellung einer 
neuen Irrenanstalt bei Wiesloch (vorwiegend Pflege¬ 
anstalt für das Unterland) 390000 M. und 10000 M. 
zu Vorarbeiten behufs Erstellung einer neuen Irren¬ 
anstalt bei Reichenau (Heil und Aufnahme- , sowie 
Pflegeanstalt für die Seegegend) — beide mit dem 
Namen Heil- und Pflegeanstalten — vom Landtage 
einstimmig genehmigt. Allgemein war man sich 
klar, dass mit dieser Anfangsbewilligung zugleich 
die Festlegung einer Summe von ca. 8 Millionen zum 
Ausbau der beiden Anstalten für die künftigen Bud¬ 
getperioden ausgesprochen sei. Ebenso allgemein 
wurde auch jetzt schon anerkannt, dass es auf diesem 
Gebiete keinen Stillstand gebe und die unausbleiblichen 
späteren Anforderungen von noch weiteren neuen An¬ 
stalten ebenso bewilligt werden müssten. So hat die 
Verhandlung im badischen Landtage einen für die 
Irrenfürsorge des Landes würdigen Abschluss gefunden 
und eine neue Aera der staatlichen Anstaltsfürsorge 
gleich würdig erschlossen. 

— München. 27. Juni 1902. In der heutigen 
Plenarsitzung der bayerischen Abgeordnetenkammer 
wurde das Postulat für Errichtung einer Irren¬ 
klinik an der Universität München, von 1 200000 
M., einstimmig angenommen. Quod bonum, felix, 
faustumque! 

— Darmstadt, den 30. Juni. Die zweite Kam¬ 
mer beschloss heute die Errichtung zweier neuer 
Irrenanstalten, einer bei Giessen im Anschluss an die 
psychiatrische Klinik und einer bei Alzey. — 

— Eröffnungsfeier der zweiten mittelfränki¬ 
schen Kreisirrenanstalt zu Ansbach.*) Ans¬ 
bach, 28. Juni. Auf Einladung der k. Regierung 
von Mittelfranken hatte sich heute Vormittag 10 Uhr 
im Bet- und Erholungshaus der neuen Irrenanstalt 
eine hochangesehene Gesellschaft eingefunden, em¬ 
pfangen von der Direction und der Bauleitung der 
Anstalt. In dem mit Blumen prächtig geschmückten 
Foyer des Bethauses begrüsste Regierungspräsident 
Dr. v. Schelling Namens der k. Regierung von 
Mittelfranken, sow-ie auch Namens der Staatsregierung, 
ganz speciell aber auch Namens des Ministers Dr. 
Freiherrn von Feilitzsch, der zu seinem eigenen Be¬ 
dauern verhindert sei, der heutigen Feier beiwohnen 
zu können, die Erschienenen und dankte dem mittel¬ 
fränkischen Landrath für sein warmherziges Verständ¬ 
nis für die sociale Aufgabe der Zeit, für das tiefe 
Mitgefühl für die Aermsten unter den Armen ihrer 
Kreisangehörigen und für die im Vaterlande noch 
nicht i'ibertroffene Opferwilligkeit, sowie der Bauleitung 
und ihren Organen für ihre segensreiche Thätigkeit. Er 
sprach die Hoffnung aus, dass die Anstalt den Zweck, 
dem sie dienen soll, voll und ganz erreichen werde. 

*) Siehe Seite 7, Jahrgang II dieser Zeitschrift. 

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Anschliessend hieran ergriff Herr Kreisbaurath 
Förster, der Erbauer des Ganzen, das Wort. Nach 
einem gedrängten Ueberblick über die Entwicklung 
und den Fortgang der Bau thätigkeit, der erkennen 
liess, mit welchen Schwierigkeiten die Bauleitung, die 
Zoll für Zoll die Plätze für die Gebäude dem bergi¬ 
gen, zähen und steinigen Boden abringen musste, zu 
kämpfen hatte, übergab er unter Worten w f armen 
Dankes an die Regierung und den Landrath von 
Mittelfranken, an den Director der Kreisirrenanstalt 
Erlangen, Herrn Medizinalrath Dr. W ü r s ch m i d t, 
an seine Unterbeamten, an die Lieferanten und Ar¬ 
beiter die Anstalt dem Auftraggeber und Bauherrn, 
dem Kreis Mittelfranken, vertreten durch den anwe¬ 
senden Landrath, zu Händen seines Präsidenten, Pro¬ 
fessor Dr. Eheberg, und bat ihn, über die Anstalt 
zu verfügen. Namens des mittelfränkischcn Landraths 
übernahm Professor Dr. Eheberg die Anstalt. Schon 
vor sieben Jahren sei der Gedanke der Errichtung 
einer zweiten mittelfränkischen Kreisirrenanstalt aufge¬ 
taucht, man habe aber den mit diesem Project ver¬ 
bundenen ungeheueren Kosten und der dermaligen 
Unsicherheit auf dem Gebiet des Systems der Irrcn- 
behandlung durch Erweiterung der Erlanger Anstalt 
zu begegnen gesucht; gezwungen durch die wachsende 
Zahl der Erkrankungsfälle sei man dennoch bald da¬ 
rauf zur Errichtung einer zweiten mittelfränkischen 
Kreisirrenanstalt gekommen. Das Project sei in seiner 
Ausführung nun soweit fortgeschritten, dass man heute 
die Anstalt nahezu vollendet der Ocffentlichkeit über¬ 
geben könne. Unter Worten der Mahnung, die An¬ 
stalt zu dem zu machen, was der Landrath von 
Mittelfranken von ihr erhofft, und den Kranken unter 
Berücksichtigung thunlichster Freiheit diejenige Pflege 
und Hilfe angedeihen zu lassen, die ihr bejammems- 
werther Zustand erheischt, übergab Redner die Anstalt 
ihrem ärztlichen Leiter, Herrn Direktor Dr. Herfcldt. 
Anschliessend an die Dankeserstattung an alle Be¬ 
theiligten gab dieser einen interessanten Ueberblick 
über die Entwicklung der Erkenntniss geistiger Er¬ 
krankung und der Irrenpflege vom Alterthum bis zum 
Mittelalter, über den Verfall der Irrenpflege im Mittel- 
alter und die zu dieser Zeit an Stelle der bereits im 
Alterthum bethätigten Fürsorge für Geisteskranke ge¬ 
tretene, durch Aberglauben und Gefühlsroheit genährte, 
geradezu unmenschliche Behandlung der als Zauberer, 
böse Geister, Hexen und dergl. angesehenen Geistes¬ 
kranken mittelst Peitsche, Folter und Feuer, ferner 
über den Aufschwung der Psychiatrie in neuer und 
neuester Zeit und ihren heutigen hocherhabenen 
Standpunkt. Mit dem Versprechen, die übernommene 
Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen zu 
wollen, übernahm Dr. H erfeldt die Anstalt und schloss 
seine Ausführungen mit einem dreifachen Hoch auf 
Se. k. H. den Prinz-Regenten, in das die Anwe¬ 
senden begeistert einstimmten. Ein sich anschliessen¬ 
der Rundgang durch die Anstalt, der die Versiche¬ 
rungen der Bauleitung, sow ie der Direktion, dass hier 
nichts versäumt worden sei, um jenen Unglücklichsten 
untep den Menschen ihre schwere Noth in jeglicher 
Weise zu erleichtern, mehr wie bestätigte, schloss die 
erhebende Feier. (Münch. Neueste Nachrichten.) 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 183 


— Bei dem grossen Interesse, welches der Fall 
v. Münch*) in der Tagespresse in Anspruch nimmt 
und thatsächlich auch geniesst, glauben wir den Lesern 
dieser Fachzeitschrift in extenso die württembergische 
Landtagsverhandlung, welche erneute Anträge des 
Freiherrn v. Münch zum Gegenstand hatte, (nach 
der „Beilage zum Staatsanzeiger von Württemberg“ 
v. 24. 6. 1902) zugänglich machen zu müssen, zumal 
bei dieser Verhandlung psychiatrische Gesichtspunkte 
von allgemeiner Bedeutung zur Sprache kamen. 

Stuttgart, 21. Juni. (114. Sitzung der Kammer 
der Abgeordneten, vormittags 9 Uhr.) 

Den Vorsitz führt Präsident Payer. 

Am Ministertisch: Ministerpräsident Staatsminister 
der Justiz Dr. v. Breitling, der Staatsminister des 
Innern Dr. v. Pischek, Ministerialrath Schwab, 
Ministerialrath H ofman n. 

Antrag der Petitionskommission zu den Eingaben 
des Frhrn. v. Münch auf Hohenmühringen, jetzt 
in Berlin. 

Ref. Nieder theilt mit, dass im ganzen 7 Ein¬ 
gaben vorliegen, davon 2 mit Abschriften von Be¬ 
schwerden an den Bundesrath und an das Reichs¬ 
justizamt; ausserdem hat der Petent 2 umfangreiche 
Broschüren an die einzelnen Mitglieder des Hauses 
gesandt. Bezüglich der 4 Eingaben aus dem Jahre 
iqoi beantragt die Kommission ohne weiteres Ueber- 
gang zur Tagesordnung; die Petitionen (woraus der 
Referent bezeichnende Stellen verliest) beweisen zweifel¬ 
los, dass der Petent, der gegen alle mit ihm amtlich in 
Berührung kommenden Personen die’maasslosesten Be¬ 
schuldigungen erhebt, damals an hochgradiger Ver¬ 
folgungssucht litt. Die drei neuesten Eingaben haben 
die Verfügung der Kreisregierung betr. die (nicht voll¬ 
zogene) vorläufige Einweisung von Münchs als gemein¬ 
gefährlichen Geisteskranken in eine Staatsirrenanstalt 
und die damit zusammenhängenden Maassregeln zum 
Gegenstand. Die letzte Eingabe vom 3. Mai d. J. 
ist veranlasst durch eine Entschließung des Ministeriums 
des Innern vom 13. April d. J., wodurch die Auf¬ 
hebung der vorläufigen Einweisungverfügung neuer¬ 
dings abgelehnt wurde. Demgegenüber bittet der 
Petent um Fassung eines seinen Gesuchen um Auf¬ 
hebung der Zwangseinweisung und jeder Beschränkung 
seines Aufenthaltsrechtes entsprechenden Beschlusses 
durch die Kammer. Wenn ihm nicht volle Bewegungs¬ 
freiheit zur Verwaltung seiner Güter gegeben werde, 
müsse er seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat 
einstellen. Die Kommission hat von der Einsichtnahme 
sämmtlicher über Frhrn. v. Münch erwachsenen Akten 
abgesehen, da das Urtheil des Verwaltungsgerichtshofs 
im Zusammenhalt mit den Eingaben des Petenten 
und den Erklärungen des Staatsministers des Innern 
eine genügende Grundlage für die Entschliessung 
bildet. Eine Nachprüfung der Frage, ob die vor¬ 
läufige Einweisung rechtlich begründet war, steht der 
Kammer nicht zu, da diese Frage durch die zuständigen 
Gerichte ordnungsmässig und rechtskräftig entschieden 
ist. Dagegen ist die Kammer befugt, die Zweck¬ 
mässigkeit und Nothwendigkeit der polizeilichen Ein¬ 
weisungsverfügung zu prüfen, sowie darüber sich aus- 

*) Siehe Seite 410, 430, 458 des vorigen Jahrgangs. 


zusprechen, ob die Aufrechterhaltung dieser polizei¬ 
lichen Verfügung auch jetzt noch geboten ist. Die 
erste Frage, ob die polizeiliche Einweisungsverfügung 
seinerzeit mit Grund ergangen ist, bejaht die Com¬ 
mission. Die Polizeibehörden haben mit Recht so¬ 
wohl die Voraussetzung der Geisteskrankheit als die 
der Gemeingefährlichkeit als gegeben erachtet. Die 
Kammer hat selbst im Jahr 1897 bei der Petition 
einer Frau, worüber seinerzeit der Abg. Kloss Bericht 
erstattete, die Auffassung ausgesprochen, dass fort¬ 
gesetzte unbegründete Ehrenkränkungen von Personen 
und Behörden, gegen die wegen Geisteskrankheit des 
Urhebers bei den Gerichten kein Schutz zu finden 
ist, ein Moment der Gemeingefährlichkeit darstellen, 
das die Einweisung in eine Irrenanstalt rechtfertigt. 
Das war eine arme Frau, deren Injurien lange nicht 
die Bedeutung hatten wie bei Frhr. v. Münch, der 
seine Beschuldigungen bis an die höchsten Stellen zu 
bringen weiss. Referent erörtert ferner die verschie¬ 
denen Fälle von Gewalttätigkeiten v. Münchs, wie 
sie aus dem Erkenntniss des Verwaltungsgerichtshofes 
bekannt sind. Die Neigung des Petenten zu unbegrün¬ 
deten Drohungen und Thätlichkeiten ist unbestreitbar; 
das gewöhnheitsmässige Mitführen von Waffen ist bei 
einem Geisteskranken schon an sich eine Gefahr. Die 
Commission hält es daher nicht für angezeigt, wegen 
der polizeilichen Einweisungsverfügung bei der Staats¬ 
regierung vorstellig zu werden. Aber auch dazu sieht sich 
die Commission nicht veranlasst, für die Wiederaufhebung 
der Einweisungsverfügung bezw. für die Unterlassung 
der Begleitung v. Münchs durch Irrenwärter bei seinen 
Aufenthalten in Württemberg sich zu verwenden. 
Eine wesentliche Aenderung des Geisteszustandes des 
Petenten lassen die neuesten Eingaben nicht erkennen; 
v. Münch fährt fort mit schweren Beschuldigungen 
gegen alle möglichen Behörden, er hält alle seine 
früheren Handlungen noch jetzt für gerechtfertigt, ist 
irgend welcher Belehrung nicht zugänglich. Auch in 
den vielen Eingaben an das Ministerium wiederholen 
sich die schwersten und sonderbarsten Beschuldigungen; 
u. a. bezichtigt er den Staatsmihister des Innern der 
Kuppelei (Grosse Heiterkeit), weil ein ihn be¬ 
gleitender Irrenwärter sich häufig mit der 
Köchin v. Münchs unterhalte und bereits ein- 
maljnit ihr zu Nacht gegessen habe (Heiterkeit). 
Von einer Aufhebung der seitherigen Bewachung haben 
die Medizinalbehörden entschieden abgerathen. Auch 
die Commission möchte die Verantwortung dafür 
nicht übernehmen. Allerdings hat die Commission 
nicht verkannt, dass es ein nicht befriedigender Zu¬ 
stand ist, wenn die Zivilgerichte den Frhrn. v. Münch 
als geschäftsfähig, die Strafgerichte als unzurechnungs¬ 
fähig betrachten, wenn er in Württemberg als gemein¬ 
gefährlich bewacht wird, in Preusscn dagegen unge¬ 
hindert verkehren kann. Allein es ist in Aussicht zu 
nehmen, dass dieser Rechtszustand in nicht zu ferner 
Zeit eine Aenderung erfahren wird, sofern bei einem 
der zahlreichen Prozesse, die Frhr. von Münch jetzt 
noch führt, seine Geschäftsfähigkeit unter Beweis ge¬ 
stellt worden ist. Je nachdem die Entscheidung 
des Gerichts ausfällt, wird das Ministerium zu einer 
neuen Prüfung der Intemierungsfrage veranlasst sein. 


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i«4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 15. 


$« »dann hat der Minister des Innern persönlich wegen 
der Broschüren v. Münchs Strafantrag in Berlin ge¬ 
stellt, so dass jetzt auch die preussischcn Gerichte 
über die Geisteskrankheit v. Münchs sich werden aus¬ 
sprechen müssen. Die Commission gelangt c i n - 
stimmig zu dem Antrag, über sämmtliche Eingaben 
zur Tagesordnung überzugehen. (Referent sprach 
etwa 1 3 / 4 Stunden.) 

Präs. Payer: Es ist wahrend der Verhandlung 
eine weitere telegraphische Eingabe des Petenten ein¬ 
gebauten (Heiterkeit), die ich der Commission zu 
Händen des Berichterstatters übergebe. 

H a u s s m a n n - Balingen : Auf die Rechtsfragen, 
die rechtskräftig entschieden sind, will ich nicht ein- 
gehen, wenn ich auch nicht alle Entscheidungen für 
zutreffend halte. Hicher würden z. B. gewisse Dis¬ 
pensationen von den Bestimmungen des Irrenstatuts 
gehören. Dagegen erhebt sich mir die Frage: Lag 
eine Internierungsnothwendigkeit vor ? Die Thätlich- 
keiten, die Herrn v. Münch vorgeworfen werden, sind 
nach meinem persönlichem Eindruck unbedeutende 
Fälle, im Fall Blatt kann der Gegenbeweis gegen 
das Vorbringen der Nothwehr nicht geführt werden. 
Uebrigcns hat ja die Verwaltung selbst auf Reklamation 
der preussischcn Regierung den Petenten entlassen 
und derselbe hält sich jetzt in anderen deutschen 
Staaten uninternirt auf, ohne Thätlichkeiten zu voll¬ 
führen. Es ist doch ein etwas bedrückendes Gefühl: 
hier muss er eingesperrt werden, wo anders kann man 
ihn frei laufen lassen. Die zweite Frage ist: kann 
man jemand interniren wegen Verbalinjurien in Schrift¬ 
sätzen u. dgl. ? Nach meinem persönlichen Stand¬ 
punkt kann ein so weit gehender Eingriff nicht auf 
blosse Injurien gestützt werden, solange diese Injurien 
nicht den Charakter einer Störung der öffentlichen 
Ordnung annehmen. Jedermann liest dergleichen doch 
mit dem Bewusstsein, einer nicht normalen Persönlich¬ 
keit gegenüberzustehen. Ausserdem liegt ja aber in 
der Internirung gar keine Abhilfe, die Fluth der 
Mtinchschen Eingaben hat sich seit der Intcrnierungs- 
verfügung eher vergrössert, und sogar aus der Anstalt 
heraus könnte er noch seine Eingaben machen. Das 
Abhilfsmittel versagt also vollständig. Ist der Zustand, 
der jetzt besteht, überhaupt gesetzlich richtig und 
haltbar? Er läuft hinaus auf die Exilirung eines 
Geisteskranken ausserhalb Württembergs. Ich finde 
nirgends, dass das Irrenstatut eine Handhabe zu einer 
so abnormen Behandlung giebt. Dieser Zustand ist 
auf die Dauer nicht haltbar, und da ist doch zu er¬ 
wägen, ob es dann nicht viel bequemer für die Re¬ 
gierung ist, wenn wir über die letzte Eingabe — von 
der rede ich allein — nicht unbedingt zur Tagesord¬ 
nung übergehen, sondern der Regierung Anlass geben 
zu einer etwas plausibleren Gestaltung der Verhältnisse. 
Namentlich aber wird man sich vor Parallelactionen 
hüten müssen, an die der Fall Hegelmaier keine glück¬ 
lichen Erinnerungen zurückgelassen hat. Die Voraus¬ 
setzung der Strafverfolgung ist die Zurechnungsfähig¬ 


keit, und nun erhebt dieselbe Verwaltung, die auf dem 
Standpunkt steht, dass bei Herrn v. Münch absolute 
unheilbare Geisteskrankheit vorliegt, Strafklagc in Ber¬ 
lin ! Zu indirecten Feststellungsklagen ist das Straf¬ 
verfahren nicht da. Ucberweiscn wir die letzte Ein¬ 
gabe zur Kenntnissnahme oder Erwägung, so geben 
wir der Verwaltung Anlass, die Angelegenheit auf ein 
weniger unerspriessliches Gleis zu bringen. An sich 
ist ja der Petent ein unglücklicher Mensch, der durch 
die Art seiner Eingaben sich vollends um jeden Rest 
von Sympathie bringt. 

v. Gcss: Der Antrag der Commission ist durch¬ 
aus begründet. Anhaltspunkte für eine unrichtige 
Verfügung der Behörden sind nicht gegeben. Dass 
der Petent in Preussen bis jetzt keine gemeingefähr¬ 
lichen Handlungen begangen hat, beweisst nichts. 
In Württemberg hat er nachgewissenermassen eine Reihe 
von Gewaltthaten begangen und unzweifelhafte Spuren 
von Geisteskrankheit gezeigt. Die württ. Behörden 
waren also berechtigt, die gebotenen Massnahmen 
gegen ihn zu ergreifen. Dass die Zivilgerichte die 
Handlungsfähigkeit des Petenten anerkennen, während 
seine strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint wird, 
ist allerdings ein fataler Zustand, lässt sich aber nicht 
ändern, denn wir können in die Verfügungen der Ge¬ 
richte nicht eingreifen. 

Ref. Nieder regt an, ob nicht behufs Commissions- 
berathung der neuesten Eingabe eine Pause von 10 
Min. gemacht werden sollte. Piäs. Payer bittet, ein¬ 
mal das Nöthige vorzutragen, unter Umständen könne 
man dann immer noch Commissionsberathung cintreten 
lassen. Nieder fortfahrend: Frhr. v. Münch be¬ 
schwert sich in dem Telegramm, dass er beim Be¬ 
richterstatter vergeblich angefragt und keinen Bescheid 
erhalten habe. Frhr. v. Münch hat thatsächlich tele¬ 
graphisch dieser Tage von mir wissen wollen, ob be¬ 
stimmt der Einweissungsbesrhluss gegen ihn aufge¬ 
hoben werde? Rückantwort war bezahlt. Ich habe 
die Antwort gegeben: die Frage könne erst nach der 
betr. Sitzung beantwortet werden. In einem zweiten 
Telegramm hat v. Münch angefragt, ob seine Sache 
gewiss heute verhandelt werde. Darauf habe ich er¬ 
widert, die Antwort darauf sei nicht Sache des Be¬ 
richterstatters. Ich habe Bedenken getragen, bei dem 
Gesundheitszustand dieses Herrn dazu zu verhelfen, 
dass er unserer heutigen Sitzung anwohnt; es wäre 
schon für einen normalen Menschen keine Kleinigkeit, 
all das Unangenehme hier anzuhören und sich nicht 
rühren zu dürfen. Ich habe in dieser Sache auch 
dem Herrn Minister des Innern Mittheilung gemacht. 

(Schluss folgt.) 

y^T"' Den dieser Nummer beiliegenden Prospekt 

von 

J. F. Lehmanns Verlag, München, Heustr. 20, 
halten wir zur Beachtung empfohlen. 


tür den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt L)r. J. liresler Kr.rschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schleus der Inseratenannahme 3 Tage vor der Aukube. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hcvnemann’scbe P.uchdruckerei (Gcbr. "Woiff) in Halle a. S. 


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i86 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 16. 


Verzeichn iss der vorliegenden Berichte. 

Deutschland. 

Premsen. 

Prov. Ostpreussen. 

1. Bericht über die Irrenanstalten Allenberg, 
K o r t a u und T a p i a u für das Jahr 1900. 

2. Bericht über die Idioten-Anstalt zu Rasten - 
bürg für die Zeit vom 1. April 1899 bis 31. März 
1901. 

Prov. W e s t p r e u s s e n. 

3. Bericht über die Verwaltung der westpreussi- 
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Sch wetz für das 
Rechnungsjahr 1. April 1900/01. 

4. Bericht über die Verwaltung der westpreussi- 
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Conrad st ein für 
das Rechnungsjahr 1. April 1900/01. 

5. Bericht über die Verwaltung ‘der wcstpreussi- 
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Neustadt für das 
Rechnungsjahr 1. April 1900/01. 

Prov. Pommern. 

6. IV. Bericht über die Pommersehe Provinzial- 
Irrenanstalt bei U eckermünde für die Zeit vom 
1. April 1895 bis 31. März 1900. 

Prov. Posen. 

7. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu 
Dziekanka für die Zeit vom I. April 1900 bis 
31. März 1901. 

8. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu 
Owinsk für die Zeit vom 1. April 1900 bis 31. 
März 1901. 

Prov. Schlesien. 

9. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu Brieg 
über das Jahr 1900/01. 

10. Aerztlicher Jahresbericht der Provinzial-Irren¬ 
anstalt zu Bunzlau. 1900 01. 

11. Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Frei¬ 
burg, Schlesien. Achter Jahresbericht (Etatsjahr 1900). 

12. Provinzial-Irrenanstalt zu Lcubus. Aus dem 
Jahresbericht 1900/01. 

13. Aus dein ärztlichen Bericht über die Verwal¬ 
tung der Provinzial-Irrenanstalt zu Plagwitz für das 
Etatsjahr 1900. 

14. Aerztlicher Bericht über das Verwaltungsjahr 
1900 01 der Provinzial-Irrenanstalt Rybnik. 

13. Breslau. Bericht über die Verwaltung des 
städtischen Irrenhauses für die Zeit vom 1. April 1900 
bis 31. März 1901. 

Prov. Brandenburg. 

16. Auszug aus dem Verwaltungsbericht des bran- 
denburgischen Provinzial-Ausschusses für 1901. 

17. Venvaltungsbericht der brandenburgischen 


Landesirrenanstalt in Ebersw'alde für das Kalender¬ 
jahr 1901. 

18. Verwaltungsbericht der brandenburgischen 
Landesirrenanstalt in So rau N.-L. für das Kalender¬ 
jahr 1901. 

19. Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin 
für das Etatsjahr 1900. Nr. 19. Bericht der Depu¬ 
tation für die städtische Irrenpflege. 

20. Dritter Bericht des Vereins Heilstätte für 
Nervenkranke „Haus Sch ö n o w “ in Zehlendorf 
bei Berlin. 

Prov. Schleswig-Holste in. 

21. Bericht über das 80. Verwaltungsjahr der 
Provinzial-Irren-Heil- und Pflege-Anstalt bei Schles¬ 
wig für die Zeit vom 1. April 1900 bis ultimo März 
1901. 

Prov. Hannover. 

22. Aerztlicher Bericht über die Provinzial-Heil- 
und Pflege-Anstalt zu Göttingen für das Rechnungs¬ 
jahr 1900. 

23. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalt zu Hildes heim vom 1. April 1900 bis Ende 
März 1901. 

24. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalt zu Osnabrück für das Rechnungsjahr 1900. 

25. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalt für Geistesschwache zu Langenhagen bei 
Hannover vom 1. April 1900 bis 31. März 1901. 

Prov. Sachsen. 

26. XXVIII. Jahresbericht pro 1900 über das Er- 
zichungshaus für schwach- und blödsinnige Mädchen 
„Zum guten Hirten“ zu Hasserode bei Wernigerode. 

Prov. Westphalen. *) 

27. Sechsundzwanzigster Bericht über die Thätig- 
keit des St. Johannes-Vereins, insbesondere über die 
Idioten-Anstalt zu Nied er-Marsberg p r*» 1900. 

Rhein p r o v i n z. 

28. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalten der Rheinprovinz. Rechnungsjahr pro 
1900/01. 

29. 1. Jahresbericht des Hülfsvcreins für Geistes¬ 
kranke in der Rheinprovinz. Jahrgang 1901. 

30. DerTannenhof bei Lüttringhausen. Evan¬ 
gelische Heil- und Pflege-Anstalt für Gcmüths- und 
Geisteskranke. Bericht über die Entstehung und die 
ersten 5 Arbeitsjahre. 

•) Anmerkung beider Correctur. Erst nach Ab¬ 
sendung des Manuscriptes erschien der Bericht über die west- 
phiili sehen Provinzialanstalten Marsberg, Een ge rieh» 
Münster, Aplerbeck, Eickelborn, welcher daher leider 
nicht berücksichtigt werden konnte, obgleich er manches Inter¬ 
essante bringt. Ich will versuchen bei der Correctur einiges 
nachzutragen. 


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Original fr&m 

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1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 187 


31. Dreiundvierzigster Bericht über Hephata, 
evangelische Idioten-Erziehungs- und Pflege-Anstalt 
zu M.-Gladbach vom Jahre 1901. 

Prov. Hessen-Nassau. 

32. Jahresbericht über die Heil- und Pflege-An¬ 
stalt Eichberg im Rheingau vom 1. April 1900 bis 
3 1. März 1901. 

33. Bericht über die Verwaltung der Irrenheil- 
und Pflege-Anstalt Weilmünster für das Rechnungs¬ 
jahr vom 1. April 1900 bis 31. März 1901. 

34. Bericht über die Anstalt für Irre und Epi¬ 
leptische zu Frankfurt a. M. vom 1. April 1898 bis 
3 1. März 1901. 

Bayern. 

35. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Bayreuth 
für das Jahr 1900. 

30. XV. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Ga- 
bersee für das Jahr 1900. 

37. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt München 
über das Jahr 1900. 

Württemberg. 

38. Bericht über die im Königreich Württemberg 
bestehenden Staats- und Privat-Anstalten für Geistes¬ 
kranke, Schwachsinnige und Epileptische auf das Jahr 
1899. I. A. des K. Minist, des Innern herausgeg. 
vom K. Medicinalkollegium. 

39. Vierundfünfzigster Jahresbericht der Heil- und 
Pflcgeanstalt für Schwachsinnige in Mari ab e rg vom 
Jahre 1900—1901. 

40. Dreiundfünfzigster Jahresbericht der Heil- und 
Pf lege-Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische 
in Stetten i. Remsthal 1900/01. 

Sachsen. 

41. Das Irren wesen im Königreich Sachsen im 
Jahre 1900. Sep. -Abdr. a. d. 32. Jahresbericht des 
Königl. Landes-Medicinalkollegiums. 

Mecklenburg. 

4 2. Verwaltungsbericht der grossherzoglich Meck¬ 
lenburgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Gehls- 
heim für 1900. 

43. Verwaltungsbcricht der grossherzogl. Mecklen¬ 
burgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Sachsen- 
berg für 1900. 

Sachsen - A ttenbu rg . 

44. Zweiundvierzigste statistische Nachricht über 
das Genesungshaus zu Roda auf das Jahr 1900. 

Hohenxoüern. 

45. Aerztlicher Jahresbericht über das Fürst Carl- 
Landesspital zu Sigmaringen für das Jahr 1900. 

Eisass - Loth ringen . 

46. Bericht über die Verwaltung der vereinigten 

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Bezirksirrenanstalt Stephansfeld-Hördt für die Ver¬ 
waltungsperiode vom 1. April 1900 bis 31. März 1901. 

47. Verwaltungsbericht der Bezirks-Irrenanstalt bei 
Saargemünd für das Rechnungsjahr 1900. 

Hansestädte. 

48. Bericht der Verwaltung der Irrenanstalt Fried¬ 
richsberg in Hamburg vom Jahre 1900. 

49. Briefe und Bilder aus Alsterdorf. 26. Jahres¬ 
bericht 1901. 

50. Aerztlicher Bericht über die Wirksamkeit der 
Krankenanstalt zu Bremen im Jahre 1900. 

51. Bericht über die Wirksamkeit der Privat-Heil- 
und Pflege-Anstalt für Nervenleidende und Geistes¬ 
kranke des Dr. med. Hermann Engelken zu Rock- 
winkel im Jahre 1900. 

52. Jahresbericht der Vorstcherschaft der Irrenan¬ 
stalt über die Verwaltung im Jahre 1900. Lübeck. 

Oesterreich-Ungam. 

53. Niedernhart. Bericht über die oberöster¬ 
reichische Landes-Irrenanstalt für das Jahr 1900. 

54. Rechenschaftsbericht der Salzburger Lan¬ 
desheilanstalt für Geisteskranke über das Jahr 1900. 

55. Jahresbericht der Landes-Irrenanstalt Valduna 
pro 1900. 

56. Bericht der Landes-Irren-Heil- und Pflege- 
Anstalt Feldhof bei Graz, nebst den Filialen 
Lankowitz, Kainbach und Hartberg über das Jahr 
1900. 

Zugleich Bericht der Landes-Irren-Siechen-An¬ 
stalt Schwanberg. 

57. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1900, ver¬ 
öffentlicht vom k. ung. Minist, d. Innern. 

Schweiz. 

58. Bericht über die kantonale Heil- und Pflege- 
Anstalt Friedmatt 1900. 

59. Evangelische Heilanstalt ,,Sonnenhalde“ für 
weibl. Gemüthskranke bei Riehen. Erster Jahresbe¬ 
richt 15. Okt. 1900 bis 31. Aug. 1901. 

60. Jahresberichte der bernischen kantonalen Irren¬ 
anstalten Waldau, Münsingen und Bellelay für 
das Jahr 1900. 

61. Achter Jahresbericht des kantonalen Asyles 
in Wil vom 1. Jan. bis 31. Dec. 1900. 

62. Dreiundvierzigster Jahresbericht der Heil- und 
Pflege-Anstalt Sit. Pirminsberg pro 1900. 

63. Rechenschaftsbericht über die Züricherische 
kantonale Irrenheilanstalt Burghülzli für das Jahr 
1900. 

64. Jahresbericht der Direction und Verwaltung 
der Pflegeanstalt Rheinau pro 1900. 

Original fram 

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188 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16. 


65. Zwölfter Jahresbericht der Trinker-Heilstätte 
zu Ellicon a. d. Thur über das Jahr 1900. 

66. Jahresbericht der Privat-Heilanstalt „Fried¬ 
heim“, ZihIschlacht (Thurgau) 1900. 

67. Jahresbericht der Thurgauischen Irrenanstalt 
Münsterlingen pro 1900. 

68. Neunter Jahresbericht der kantonalen Irren- 
und Kranken-Anstalt Waldhaus pro 1900. 

69. Rapport annuel. Asile de Cery 1900. 

Statistisches. 

In den meisten Anstaltsberichten nehmen, neben 
dem Kassenbericht und den ökonomischen Ergeb¬ 
nissen, die statistischen Mittheilungen den grössten 
Raum ein. So wichtig und interessant diese für die 
Chronik der einzelnen Anstalt sein mögen, für die 
Beurtheilung allgemeiner Gesichtspunkte lassen sic 
sich nur in recht beschränktem Umfange verwerthen. 
Das liegt hauptsächlich daran, dass die Aufstellungen 
und Berechnungen in den verschiedenen Verwaltungs¬ 
bezirken unter Zugrundelegung ganz verschiedener 
Principien gemacht werden, sodass sie nur wenige 
direkt vergleichbare Ergebnisse liefern. Ich darf da¬ 
her hier wohl auf eine eingehendere Darstellung der 
Verhältnisse verzichten und mich darauf beschränken, 
einige wichtigere Punkte hervorzuheben. 

Die statistischen Mittheilungen über die Kranken¬ 
bewegung gruppiren sich naturgemäss nach Zugang, 
Abgang und Bestand. In' einem zweiten Abschnitte 
werden dann besondere Ereignisse oder Unglücksfalle 
zu berichten sein. 

a) Krankenbewegung. 

Die blosse Zahl der Aufnahmen einer Anstalt 
genügt nicht, um sich über die Morbidität ihres Auf¬ 
nahmebezirkes ein Bild zu machen; man müsste dazu 
mindestens noch die Gesammtzahl und Art der Be¬ 
völkerung des Bezirkes kennen. Und eine eventuelle 
Zu- oder Abnahme der Aufnahmeziffer gegen die 
Vorjahre kann so verschiedenartige Ursachen haben, 
dass auch damit nicht viel anzufangen ist. 

Was das Geschlecht der Aufnahmen angeht, 
so überwiegt in der grossen Mehrzahl der Anstalten 
das männliche an Zahl ganz bedeutend (z. B. Bres¬ 
lau 499 M., 241 F., Eberswalde 151 M., 111 F., 
Eichberg 111 M., 58 F.). An einigen sind die Unter¬ 
schiede geringer oder verschwinden ganz (z. B. Owinsk 
68 M., 62 F., Sachsenberg 58 M., 58 F., Stephans¬ 
feld 156 M., 161 F.). Endlich findet sich an einer 
kleinen xAnzahl von Anstalten das umgekehrte Ver¬ 
halten, ein beträchtliches Ueberwiegen der weiblichen 
Aufnahmen (Freiburg i. Schl. 39 M., 90 F., Niedern¬ 
hart 245 M., 288 F.). Den Ursachen dieser Er¬ 
scheinung nachzugehen, wäre gewiss interessant; doch 

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können natürlich die nackten Zahlen der Berichte 
darüber keine Anhaltspunkte ergeben; es bedürfte dazu 
spezieller Erhebungen. 

Hinsichtlich des Lebensalters, in dem die 
Krankheit zuerst in die Erscheinung tritt, findet sich 
allenthalben die bekannte Thatsache bestätigt, dass 
das rüstigste Aller, etwa vom 20. — 40. Lebensjahre, 
bevorzugt ist. Die Uebereinstiintnung ist so gross, 
dass es überflüssig ist, Zahlen herzusetzen. Viele Be¬ 
richte geben übrigens nicht das Alter zur Zeit der 
Erkrankung, sondern das zur Zeit der Aufnahme an, 
und da reicht denn naturgemäss das bevorzugte Alter 
etwas höher hinauf, etwa bis 50. Das höhere Lebensalter 
(über 70) ist allenthalben nur mit kleinen Zahlen 
vertreten. Das rührt natürlich davon her, dass über¬ 
haupt die Zahl der in diesem Alter Lebenden eine 
geringe ist. Würde man hier Verhältnisszahlen er¬ 
setzen können, so ergäbe sich wohl ein wesentlich 
anderes Bild. 

In einigen Berichten wird die Vertheilung der 
Erkrankten auf die verschiedenen Berufe tabellarisch 
dargestellt. Da es sich um öffentliche Anstalten han¬ 
delt, deren Kranke zum weitaus grössten Theil den 
unbemittelten Bevölkerungsschichten entstammen, so 
ist es natürlich, dass die Arbeiter und kleinen Hand¬ 
werker an Zahl weitaus voranstehen. 

Die Vertheilung der Aufnahmen nach Jahres¬ 
zeiten, über welche viele Berichte ebenfalls Tabellen 
bringen, bietet wenig charakteristisches; die geringen 
Schwankungen scheinen meist auf Zufälligkeiten zu 
beruhen, was sich ja bei der kurzen, meist nur ein¬ 
jährigen Berichtszcit kaum vermeiden lässt. Bayreuth 
bringt eine Zusammenstellung über 30 Jahre, nach 
welcher der Mai die meisten Aufnahmen lieferte, an 
zweiter Stelle Juni und Juli. 

Auf die Krankheitsformen der Aufgenom¬ 
menen, welche natürlich ebenfalls in den meisten Be¬ 
richten eingehende Berücksichtigung finden, hier häher 
cinzugehen, scheint mir ganz nutzlos, solange es uns 
an einer einheitlichen Systematik und Nomenclatur 
fehlt. Da fast jeder Bericht andere Krankheitsnamen 
wählt, und unter den gleichen Namen die verschieden¬ 
sten Dinge verstanden werden, lassen sie einen direkten 
Vergleich miteinander nicht zu. Am ehesten wäre 
es noch da möglich, wo man sich an die Nomen¬ 
clatur der statistischen Zählkarten hält. Aber einmal 
thut dies doch nur ein kleiner Theil der Berichte, 
und dann sind diese Bezeichnungen auch so unwissen¬ 
schaftlich, dass sich nicht viel damit machen lässt. 

Die einzige Thatsache von allgemeinerer Bedeu¬ 
tung, welche sich aus diesen Zusammenstellungen er- 
giebt, ist eine beträchtliche Zunahme der Paralyse 

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1902 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 189 


welche freilich auch nicht allenthalben beobachtet 
worden ist. Eberswalde hatte in den Jahren 77 
bis 83 pro Jahr 18,8 (16,8 M., 2,0 F.) Paralysen, 
84—92 durchschnittlich 30,7 (25,6 M., 5,1 F.), jetzt 
dagegen schon 49 (41 M., 8 F.). Dalldorf hat 
244 paralytische Männer, 96 paralytische Frauen auf¬ 
genommen, im Ganzen 28,8 °/ 0 seiner Aufnahmen. 
In Frankfurt ist keine Zunahme, auf dem Sonnen¬ 
stein sogar wieder eine geringe Abnahme konstatirt 
worden; immerhin haben beide eine recht hohe Pro- 
centzahl. In Zschadrass ist dagegen wieder die 
Zunahme sehr stark, unter den männl. Aufnahmen 
waren dort 44,44% Paralytiker. In Stephansfeld 
betrug diese Procentzahl bei den Männern 25,0 °/,„ 
bei den Frauen 6,2%, während vorher in 28 jähri¬ 
gem Durchschnitt 16,8 °/ 0 M. und 4,5 % F. Para¬ 
lytiker waren. Der ungarische Bericht hebt beson¬ 
ders die erschreckende Zunahme der weiblichen Pa¬ 
ralyse hervor. Auch in der Friedmatt ist das gleiche 
beobachtet worden. 

Eine alte Klage ist es, dass so selten die Kranken 
frühzeitig in die Anstalt gebracht werden, 
dass man sie vielfach solange wie möglich draussen 
hält, erst alles mögliche andere mit ihnen versucht, 
und die Anstalt schliesslich als ultimum refugium 
dienen muss, wenn es gar nicht mehr anders geht. 
Nach der vergleichenden Zusammenstellung im Würt- 
tembergischen Bericht hat es den Anschein, als 
wenn hierin eine allmähliche Besserung zu verzeichnen 
wäre. Die im ersten Monat der Erkrankung zur 
Anstalt Gebrachten betrugen dort in den Jahren 77 
bis 94 durchschnittlich 16,9% der gesammten Auf¬ 
nahmen, und nach mehrfachen Schwankungen in den 
nächsten Jahren hob sich diese Zahl im Jahre 99 auf 
29,5 %. Im ersten Vierteljahr der Erkrankung kamen 
in den Württemberger Anstalten sogar 47,0% des 
Zugangs zur Aufnahme. 

In anderen Anstalten sind aber die Zahlen keines¬ 
wegs immer so günstig. In Ueckermünde ergiebt 
die Zusammenstellung über die 5 jährige Berichtszeit 
unregelmässige Schwankungen, aber keine Tendenz 
zur fortschreitenden Besserung. Ferner kamen, um 
nur wenige Beispiele zu nennen, inGabersee 29,8% 
der Aufnahmen im 1. Monat, und das scheint ein ver- 
hältnissmässig schon recht hoher Procentsatz zu sein ; in 
München waren es nur 1 8 Ö n or in Rybnik unter 192 
Aufnahmen nur 17, in Stephansfeld-Hördt 40 unter 
315. Eine Vermehrung der Beispiele ist wohl nicht 
mehr nöthig; man sieht, es sind wenige, die frühzeitig 
kommen. In den Grossstädten verschiebt sich das 
Verhältniss wesentlich durch die grosse Zahl der Alkohol- 
deliranten, welche dort sehr frühzeitig zur Anstalt 

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gebracht werden. Als Beispiel sei nur Frankfurt ge¬ 
nannt, wo für das Jahr 1900/01 allein 68 Fälle von 
„Intoxications-Psychosen“ aufgeführt werden, die in 
den ersten 7 Tagen zur Aufnahme kamen. 

Ob eine frühzeitige Aufnahme wirklich die Prog¬ 
nose verbessert, bezweifelt Ueckermünde: „Im Inter¬ 
esse der Kranken ist der Mangel rechtzeitiger sach¬ 
verständiger Behandlung immer zu beklagen; die Frage 
aber, ob wirklich die Prognose sich um so mehr 
bessert, je früher die Aufnahme erfolgt, darf, obwohl 
die Bejahung als ständige Phrase in den meisten 
Jahresberichten wiederkehrt, nach dem Studium der 
Ursachen und des Verlaufs der Seelenstörungen, in 
der Kraepelin’schen Darstellung, keineswegs als ent¬ 
schieden angesehen werden“. 

Eberswalde dagegen vertritt energisch den 
entgegengesetzten Standpunkt: „Je frühzeitiger die 
Aufnahme der Geisteskranken in die Anstalt erfolgt, 
desto grösser die Aussichten auf Genesung und Besse¬ 
rung, ist ein altbewährter Erfahrungssatz, der sich 
immer von neuem bewahrheitet“. 

Das ist leider wieder nur eine Behauptung; so gern 
wir deren Richtigkeit anerkennen möchten, es fehlt der 
Beweis, der auch wohl kaum mit Sicherheit zu erbringen 
ist; denn das dürfte einleuchten, dass er kein aus¬ 
schliesslich statistischer sein darf. Wie oft erleben wir 
es, dass frisch Erkrankte ganz früh zur Anstalt gebracht 
werden, dass wir nach der Krankheitsform eine gün¬ 
stige Prognose stellen, und die Kranken dann doch 
verblöden. Und umgekehrt, w'ie viele Kranke werden 
gegen unsern dringenden Rath aus der Anstalt fort¬ 
genommen und w erden zu Hause unter den ungünstig¬ 
sten Verhältnissen doch gesund. Solche Erfahrungen be¬ 
weisen zw'ar noch nichts, sprechen aber doch zu Gunsten 
der Ueckermünder Auffassung. 

Bei Gelegenheit der Besprechung der Aufnahmen 
bringen die meisten Berichte auch tabellarische Zu¬ 
sammenstellung über das Vorkommen von erblicher 
Belastung. So interessant und wichtig dies Kapitel 
ist, es scheint mir richtiger, hier gar nicht darauf 
einzugehen. Es sind eben auch hier wieder so ver¬ 
schiedene Eintheilungsprincipien und Nomenclaturcn 
zu Grunde gelegt, dass die Angaben sich nicht unter 
einen Hut bringen lassen. Das einzige, allgemein 
gültige Resultat, das sich gewinnen liessc, wäre pro- 
centuale Berechnung, bei wie vielen von den Aufge¬ 
nommenen überhaupt erbliche Belastung nachgewiesen 
ist Und das ist werthlos; denn wenn irgendwo, so 
erheischen in dieser Frage die verschiedenen Krank¬ 
heitsgruppen gesonderte Betrachtung. 

Zudem wäre eine solche Besprechung sehr un¬ 
genau. In fast allen Berichten findet sich eine nicht 

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IQO 

geringe Zahl von zweifelhaften Fällen, und Uecker- 
mtinde illustrirt die Mangelhaftigkeit der gelieferten 
anamnestischen Angaben recht drastisch durch die 
Beobachtung, dass die Eltern von Kranken bei Be¬ 
suchen als schwachsinnig oder verrückt erkannt wurden, 
obwohl im Fragebogen ihre geistige Gesundheit ver¬ 
sichert worden war. Als hübsches Curiosum wird 
von dort auch mitgetheilt, dass einmal als erbliche 


[Nr. 16. 

Belastung die Geisteskrankheit der Schwiegermutter 
angeführt wurde! 

Ehe wir die Besprechung der Aufnahmen verlassen, 
sei noch erwähnt, dass die Anstalten Weissenau und 
Zwiefalten ihres Charakters als reine Pflegeanstalten 
entkleidet und mit Aufnahmebezirken bedacht worden 
sind. (Fortsetzung folgt.) 


PSYCHIATR 1 SCU-N EUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT. 


Schutz des Publikums vor den Psychiatern. 

Einige Worte zu Dr. Pfausler’s Artikel. 

Von Dr. J. Salgo , Primararzt und Docent in Budapest (Lipotmezö). 


Jch bin mir voll bewusst, dass ich mich dem Vor¬ 
wurfe, ein Reactionär zu sein, aussetze, und möchte 
doch die wenigen Bemerkungen nicht unterdrücken, 
die der Artikel des Collegen Dr. Pfausler in Nr. 7 
vom 1 . J. dieser Zeitschrift vielleicht nicht nur bei mir 
auslöst. Die Frage des Schutzes der Geisteskranken 
oder sagen wir: „des Schutzes des Publikums vor den 
Psychiatern“ ist wichtig genug, dass sie auch von uns 
Fachärzten sine ira et Studio verhandelt werde, vor 
allem aber ohne Voreingenommenheit und ganz be¬ 
sonders ohne Empfindlichkeit. Denn es handelt sich 
nicht nur um den Schutz des Publikums vor den 
Psychiatern, sondern auch umgekehrt, um den Schutz 
der Psychiater vor dem Publikum. 

Ich gehöre, was das Urtheil der sog. „öffentlichen 
Meinung“ Über Irrenärzte betrifft, nicht gerade zu den 
Aengstlichen. Im Allgemeinen haben wir ja vielen 
Grund, damit unzufrieden zu sein. Und wenn wir 
auch wissen, dass dieses nicht eben günstige Urtheil 
über Irrenärzte im Allgemeinen, und über Irrenan¬ 
staltsärzte im Besonderen ein Vorurtheil ist, welches 
zum grösseren Theil aus Unwissenheit, zum kleineren 
aber sicher aus Misstrauen und Bosheit entspringt, so 
besteht dieses Urtheil doch nicht minder und bedarf 
deshalb einer erhöhten und ganz objectiven Aufmerk¬ 
samkeit. Mit der einfachen sittlichen Entrüstung und 
dem Stolz der Ehrlichkeit ist dem Vorurtheile sicher 
nicht beizukommen. 

Worum handelt es sich eigentlich? 

Es handelt sich im Wesen darum, das Urtheil 
über ein Individuum, das in eine Irrenanstalt wiegen 
Geisteskrankheit gebracht wurde, pro foro extemo von 
den Anstaltsärzten je unabhängiger zu gestalten. 
College Pfausler meint nun: wer könnte darüber, ob 
ein Anstaltspflegling krank oder gesund ist, richtiger 
urtheilen als der „erprobte und vollkommen befähigte“ 
Anstaltsarzt, dem ausser seiner Erfahrung auch noch 

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die fortgesetzte Beobachtung des betreffenden Individu¬ 
ums zur Verfügung steht ? Er meint mit Recht, dass das 
Urtheil von fallsweise zugezogenen Aerzten, denen über¬ 
dies etwa noch die nöthige psychiatrische Vorbildung 
fehlt, nicht zuverlässiger sein könne, ob mit oder ohne 
unterlegte Krankengeschichte. Ich gehe noch weiter 
und sage: selbst das Urtheil fachmännisch voigebil- 
deter Gerichtsärzte, denen die Kranken zur kurzen 
Untersuchung vorgestellt w-erden, kann nicht so zu¬ 
treffend sein, wie das der behandelnden Anstaltsärzte. 
Und doch komme ich zu ganz entgegengesetztem 
Schlüsse — im Interesse der Anstaltsärzte und in dem 
der Kranken. 

Ich kenne aus eigenem Dienstverhältnisse den Vor¬ 
gang der Untersuchung in den niederösterreichischen 
Anstalten, wo psychiatrisch geschulte Gerichtsärzte 
die Kranken behufs Feststellung ihres Geisteszustandes 
zum Zwecke der Curatelsverhängung untersuchen. Ich 
kenne ihn an der Stätte meiner derzeitigen Wirksam¬ 
keit, wo der Director der staatlichen Anstalt ganz 
selbständig das Gutachten abgiebt, auf Grund dessen 
das Curatelsverfahren eingeleitet wird. In beiden 
Fällen sind es demnach amtlich geaichte Irrenärzte, 
die das Gutachten abgeben. Ich muss gestehen, 
dass weder das eine noch das andere Verfahren mich 
selbst befriedigt, noch weniger kann es die grosse 
Oeffentlichkeit befriedigen. Womit ich nicht behaupten 
will, dass psychiatrisch ungeschulte Exploratoren Grund 
zu grösserer Befriedigung geben würden. 

Dass das Gutachten des Anstalts-Directors allein 
und für sich zur Curatelsverhängung genüge, wird, 
die grösste Befähigung und die bindendsten Eide vor¬ 
ausgesetzt, wohl Niemand behaupten. Besehen wir 
doch die Angelegenheit näher. Die Entziehung aller 
bürgerlichen Rechte, wie es die Curatelsverhängung 
ist, ist ein Gerichtsverfahren mit den schwersten Fol¬ 
gen für das Individuum. Jedes andere Verfahren 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 191 


gegend irgend Jemand von so schwerwiegenden oder 
auch geringeren Consequenzen ist von zahlreichen 
Cautelen umgeben; das Recht der freien Entschliess- 
ung und Verfügung, das Recht der persönlichen Frei- 
heit gegen etwaige richterliche Ueberhebung, gegen 
Irrtümer der Justiz ist von Schutzwällen verschiedener 
Instanzen geschützt. Und das mit vollem Rechte. 
Denn im Allgemeinen sind alle gesetzlichen Verfüg¬ 
ungen besser ausgedacht als ausgeführt. Das liegt 
in allen menschlichen Institutionen, deren Feststellung 
und noch mehr deren Ausführung niemals frei sein 
kann von den Fehlem, die den Menschen anhaften. 

Wir wollen hier gar nicht an die mala fides denken, 
obwohl es auch schlechte Menschen geben kann. Und 
es wäre im höchsten Grade zu verwundern, wenn ge¬ 
rade das grosse Corps der Psychiater keinen fehler¬ 
haften Menschen in historischer Zeit besessen hätte. 
Wir wollen aber annehmen, dass ein solcher nie 
exislirte. Wir müssen aber das Gleiche von den Ge¬ 
richtspersonen voraussetzen; denn was dem einen 
recht, ist dem Andern billig. Haben wir noch nie¬ 
mals von Rechtsirrthümern gehört ? Ist es wirklich nie 
vorgekommen, dass in einer einzigen Rechtssache 
viele Gerichtspersonen und Instanzen grob geirrt 
haben? Es ist vorgekommen und wird immer Vor¬ 
kommen. 

Und nun entsteht die Frage: Ist es vorge¬ 
kommen, dass ein Irrenarzt oder ihrer mehrere in 
zweifellos gutem Glauben und ohne denkbares per¬ 
sönliches Interesse jemanden für unheilbar geistes¬ 
krank erklärt haben, der im weiteren Verlaufe völlig 
geheilt erschien? Jeder erfahrene Irrenarzt wird 
solche Fälle kennen. Und ist es weiter vorgekommen, 
dass sehr erfahrene Fachmänner über den gleichen 
Fall völlig verschiedener Meinung waren; so ver¬ 
schieden, dass die einen denselben für unheilbar krank, 
die andern für vollständig gesund hielten und er¬ 
klärten ? Es ist vorgekommen. Es geht nun gewiss 
nicht an zu sagen, dass, nur die Krankheitserklärung 
in allen Fällen die richtige und wahrheitsgemässe sei. 
Denn wir setzen von beiden Gutachten die fachge- 
mässe Begründung und die bona fides voraus. 

Wenn dem nun so ist, hat man wohl Grund zu 
sagen, dass das Gutachten des Anstaltsdirectors zur 
Verhängung der Curatel, d. h. zur Vernichtung einer 
Individualität ganz ungenügend sein muss. 

Aber die Untersuchung durch gerichtlich bestellte 
und geschulte Aerzte macht die Sache keineswegs 
besser oder doch nicht einwandsfrei. Wer den Her¬ 
gang in seinem ganzen summarischen und durch die 
Gewohnheit stumpf und oberflächlich gewordenen Ver- 

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laufe kennt, wird mir beistimmen. Zunächst ist es 
die Kürze der Untersuchungszeit, die dem einzelnen 
Kranken zugestanden werden kann, die ein zweifel¬ 
loses und unanfechtbares Urtheil über den Geistes¬ 
zustand eines Individuums wenig wahrscheinlich macht. 
Der Einwurf, dass den Gerichtsärzten eine Wieder¬ 
holung der Untersuchung freisteht, ist kaum stich¬ 
haltig. Mehrere kurze Untersuchungen wiegen eine 
langdauemde an Genauigkeit und Verlässlichkeit nicht 
auf, speciell nicht in Fällen psychiatrischer Natur. 
Diese lange fortgesetzte Untersuchung kann aber von 
den Gerichtsärzten nicht geleistet werden und sind 
diese deshalb auf das Beobachtungsergebniss des An¬ 
staltsarztes angewiesen. Und so sind wir wieder dort, 
dass eigentlich die Anstaltsbeobachtung das Substrat 
für das gerichtliche Urtheil giebt, und die gerichts¬ 
ärztliche Untersuchung giebt nur die Flagge ab, unter 
welcher das Verfahren weiter fortgeführt wird. Die 
denkbaren Fälle sind nun die, dass entweder die Ge¬ 
richtsärzte vertrauensvoll sich auf die Angaben der 
Anstaltsärzte stützen und deren Urtheil sich zu 
eigen machen —, dass also wieder nur die Meinung 
der Anstalt die Curatelsverhängung herbeiführt, oder 
dass die Meinungen der Anstalt und die der Gerichts¬ 
ärzte einander diametral gegenüber stehen, und der 
Kranke es ist, auf dessen Rücken diese Meinungs- 
differenz ausgefochten wird. 

Es bedarf natürlich keiner weiteren Beweisfüh¬ 
rung, dass psychiatrisch ungeschulte, vom Gerichte 
bestellte sog. Sachverständige die Sache nicht besser 
machen können. Es ist gewiss nicht anzunehmen, dass 
sie, w'as Gewissenhaftigkeit und Fachkundigkeit betrifft, 
ein richtigeres und verlässlicheres Urtheil abgeben 
werden. Und es entsteht nun die Frage, was denn 
wohl zu veranlassen wäre, um ein nach jeder Rich¬ 
tung einwandfreies Verfahren zu ermöglichen? Und 
hier angelangt, muss ich gestehen, dass ich seit Langem 
nicht begreife, wie und warum diese Frage eine psy¬ 
chiatrische werden konnte ? Es bleibt mir unerfindlich, 
warum gerade die Psychiatrie diejenige medizinische 
Disciplin sein soll, welche sich den Kopf der Juris¬ 
prudenz zerbricht ? Man muss es an und für sich als 
ein Unglück oder doch mindestens als eine fatale 
Complication bezeichnen, dass mit der Frage der 
Geisteskrankheit die der zwangsweisen Detenirung des 
Kranken und seiner Entmündigung so unlösbar ver¬ 
knüpft erscheint. Und mir will es scheinen, dass 
diese Verknüpfung nicht für alle Fälle nothwendig 
und unerlässlich ist. Sie wird auch, soweit die neu¬ 
eren Bestrebungen der Behandlung und Verpflegung 
der Geisteskranken erkennen lassen, nicht aufrecht zu 
halten sein, — und das wird der Entwicklung der 

Original frnm 

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IQ 


psychiatrischen Disciplin und den Kranken in gleicher 
Weise zu statten kommen. 

Aber heute schon kann gesagt werden, dass es dem 
Arzte, der Geisteskranke zu behandeln und nur zu 
behandeln hat, doch völlig gleichgültig sein kann, in 
welcher Form ein zuständiges Gericht die Frage der 
Entmündigung im gegebenen Falle zu entscheiden für 
gut und ausreichend befindet. Denn endlich sind 
diese Entscheidungen doch rein juristischer Natur und 
können und sollen nur von Juristen geleistet werden. 
Und wenn eine Gesetzgebung fände, dass zur Entmün¬ 
digung eines Menschen die einfache richterliche Ueber- 
zeugung genüge, die der Richter sich etwa durch 
Zeugenaussagen oder durch eigenen Augenschein 
verschaffen könne, so wäre es gewiss nicht Sache der 
Psychiatrie, sich gegen das Gesetz aufzulehnen. Das 
Entmündigungsverfahren müsste nur ein ordentliches 
Prozessverfahren werden, in welchem die Meinung 
des Psychiaters einfach den Werth einer Zeugenaus¬ 
sage bcsässe. Im Wesen ist dies ja auch heutzutage 
der Fall. Der Richter ist ja avich derzeit nicht an 
das psychiatrische Gutachten gebunden und es werden 
vielen Collegen Fälle bekannt sein, in welchen für 
die richterliche Entscheidung nicht die Meinung der 
designirten Gerichtsärzte, sondern die des bei der Un¬ 
tersuchung anwesenden Landesgerichtsraths-Secretärs 
massgebend war. Ich sehe darin keine Kränkung oder 
Herabsetzung des einzelnen Irrenarztes oder des ganzen 
Standes. Für die richterliche Entscheidung trägt aus¬ 
schliesslich der Richter die volle Verantwortung; es 
geht deshalb nicht an, ihm den Weg und die Mittel 
vorzuschreiben, den er gehen und die er benützen 
muss, um zur Decision zu gelangen. 

Es ist ebenso bezeichnend wie bedauerlich, dass 
einzig und allein die Psychiatrie sich eine eigene 
forensische Nebendisciplin geschaffen hat und von 
einer „forensischen Psychiatrie“ spricht, während es 
doch weder eine solche Chirurgie, Gynäcologie oder 
eine andere medizinische Wissenschaft giebt. Dadurch 
hat man der Irrenheilkunde viel mehr an Ernst und 
Concentration genommen, als sie an Ansehen und 
Achtung gewinnen konnte. Die meisten Angriffe und 
herabsetzenden Vorurtheile, denen die Psychiatrie 
überall ausgesetzt ist, stammen aus der Verballhorn¬ 
ung der rein ärztlichen Wissenschaft mit juristischen 
Begriffen, die in Verkennung der wirklichen Aufgaben 
der Irrenheilkunde hie und da geübt wird. Schon 
zeigt sich auf psychiatrischem Gebiete eine wünschens- 


[Nr. 16. 


werthe Umkehr zum mindesten in strafrechtlichen 
Fällen. Es mehren sich die Psychiater, die die Be¬ 
antwortung der Frage nach Zurechnungsfähigkeit und 
freier Willensentschliessung bei criminellen Handlungen 
Geisteskranker ablehnen. Denn endlich muss es 
doch einleuchten, dass weder die Zurechnungsfähig¬ 
keit, noch die freie Willensentschliessung einer medi¬ 
zinischen Untersuchungsmethode zugänglich sind, und 
daher vernünftigerweise nicht Gegenstand eines ärzt¬ 
lichen Urthcils sein kann. Der Fall ist ja denkbar, 
dass eine metaphysische oder juridische Zurechnungs¬ 
fähigkeit und freie Willensentschliessung auch einem 
Geisteskranken zugestanden wird, ohne dass die Psy¬ 
chiatrie, so weit sie sich mit diesen Begriffen pro foro 
intemo beschäftigen will, ein solches Urtheil als rich¬ 
tig anerkennen müsste. Und ebenso kann es mit 
dem Begriffe der Dispositionsfähigkeit geschehen. 
Für die Psychiatrie resp. für die Irrenärzte würde sich 
aus alledem ergeben, dass sie unbeschadet ihres An¬ 
sehens und ohne jede Empfindlichkeit ruhig Zusehen 
könnte, wie das richterliche Forum die ihm obliegen¬ 
den Pflichten gegenüber den Geisteskranken erfüllt. 
Für den „Schutz der Psychiater gegen das Publikum“ 
wäre völlige Leidenschaftslosigkeit in diesen Dingen 
sicherlich vortheilhafter. Denn selbst in einer viel 
weiter fortgeschrittenen Disciplin, als es die Psychiatrie 
heute noch ist, und bei viel durchdringenderer Kennt- 
niss der beobachteten Krankheitsprozesse ginge ein be¬ 
absichtigter Schutz der Kranken in allen um sie herum 
aultauchenden Rechtsfragen weit über die zulässigen 
Grenzen der Aufgaben eines behandelnden Arztes 
und überschritte um ein Bedeutendes jene Humanität, 
die vernunftsgemäss vom Arzte verlangt werden kann 
und die der Arzt selbst sich als Richtschnur seines 
Handelns ausstecken darf. Der Psychiater leistet seinen 
Kranken vollkommen ausreichende Dienste, und er 
erfüllt die ihm zugemessenen Pflichten vollauf, wenn 
er, soweit es an ihm liegt, den Kranken der Heilung 
zuführt oder doch seinen Zustand, soweit es geht, 
erträglich gestaltet; er dient seiner Wissenschaft am 
besten, wenn er die Resultate seiner Erfahrungen und 
die Ergebnisse der Forschung wieder zur Herstellung 
der Kranken verwendet. Die Erledigung der an die 
Geistesstörungen ohne unser Hinzuthun und ohne 
unsere Stimme geknüpften juridischen Fragen aber 
überlassen wir ohne jede Minderung unseres Selbstge¬ 
fühls den Kreisen, die es angeht. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCI1 ENSCH RIFT. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 193 


Mittheilungen. 


— Douziöme congrfcs des m£decins alie- 
nistes et neurologistes. Session de Grenoble. 

Programm. 

Vendredi I er aoüt. — 9 heures: Seance solen¬ 
neile d’ouverture du Congres, ä 1 *Hotel de ville. — 
10 h. 12: Visite du Musee-Bibliotheque. — 2 heu¬ 
res: Seance ä l’Ecole de medecine. Installation du 
bureau. — Discussion de la i ro question du Pro¬ 
gramme: Des etats anxieux dans les maladies men¬ 
tales. Rapporteur: M. Lalanne, de Bordeaux. — 8 
heures: Reception ä l’Hotel de ville. 

Samedi 2. — Seance ä l’Ecole de medecine. — 
Discussion de la 2 U question: Les tics en general. 
Rapporteur: M. Nogues, de Toulouse. — 2 heures: 
Continuation de la discussion; Communications diver¬ 
ses; designation du siege du prochain Congres et 
election du president. — Le soir, banquet du Con¬ 
gres par souscription. 

Diraanche 3. — Excursion ä La Mure. Retour 
en voiture par les lacs de Laffrey. 

Lundi 4. — Visite de lasile de Saint-Robert. — 
8 h. 1 : 2 : Visite de la ferme. — 10 heures: Visite 
de l’asile. — Dejeuner offert par le Conseil general. 

— 2 heures: Seance ä lasile: Communications di¬ 
verses. 

Mardi 5. — 9 heures: Seance ä l’Ecole de me¬ 
decine. — Discussion de la 3° question: Les auto- 
accusateurs au point de vue medico-legal. Rapporteur: 
M. Emest Dupre, de Paris. — 2 heures: Communi¬ 
cations diverses. 

Mercredi 6. — Depart de Grenoble en ehern in 
de fer pour la Grande-Chartreusc par Voiron et 
Saint-Laurent-du-Pont. — Visite de la fabrique de 
liqueurs ä Fourvoirie, — Dejeuner a Saint-Pierre-de- 
Chartreuse. — 2 heures: Depart pour le couvent. 

— Visite du couvent et seance: Communications di¬ 
verses. — (Les dames ne sont pas admises ä l’inte- 
rieur du monastere.) — Excursion tres facile et facul- 
tative a Notre-Dame-de-Casalibus et chapelle de Saint- 
Bruno. — Retour et coucher a Saint-Pierre-de-Char- 
treuse. 

Jeudi 7. — Excursions au choix: i° Ascension 
au Grand-Som (2,033 metres d’altitude). Se inunir 
de bonnes chaussures ferrees; 2 Excursion facile au 
habert de Malamille. Vu les nombreux sous-bois et 
lointains, MM. les ainateurs photographes feront bien 
de se munir de plaques orthochromatiques. — De¬ 
jeuner general ä Saint-Pierre-de-Chartreuse. — Ein 
du Congres. — Retour en voiture ä Grenoble par 
le Sappey. — (Si un certain nombre de congressistcs 
le desirent, une excursion aura lieu le vendredi 8 ä 
Bourg-d’Oisans, point de depart de nombreuses ex¬ 
cursions dans la haute montagne). Ant. Ritti. 

— Die neue Landes-Irrenanstalt in Wien. 
Wie bekannt, stand der Landesausschuss über Auf¬ 
trag des Landtages mit dem Aerar, dem Wiener 
Krankcnanstaltsfonds und der Gemeinde Wien in 
Unterhandlungen bezüglich der Abtretung der Landes¬ 
irrenanstaltsrealität im 9. Beziik zum Zwecke des 
Neubaues von mechanischen Unterrichtskliniken ; die 


Verhandlungen zur Erlangung von Gründen für den 
Bau der neuen Irrenanstalt sind abgeschlossen und 
die Vertragsbestimmungen bereits stipulirt. Die neue 
Irrenanstalt wird auf einer gegen den Galitzynbcrg 
sanft ansteigenden Höhe liegen. Um den modernen 
Anforderungen der Irrenpflege einer Grossstadt zu ent¬ 
sprechen, werden auf dem vom Lande erworbenen 
Grundcomplex drei Anstalten zu errichten sein, und 
zwar: eine Heilanstalt mit 800 Betten, eine Pflege¬ 
anstalt mit 900 Betten und ein Pensionat mit 300 
Betten, also insgesammt Unterkunft für 2000 Kranke. 
Die Direction der niederösterreichischen Landes-Irren¬ 
anstalt, welche beauftragt wurde, ein Programm für 
die neue Anstalt auszuarbeiten, hat dasselbe bereits 
fertiggestellt und ein sechsgliedriges Comite, bestehend 
aus den Herren Landesinspector Gerenyi, Landesbau¬ 
rath v. Boog, Rechnungsrath Bertgen, den Directoren 
Dr. Tilkowsky und Dr. Krayatsch und Primararzt 
Dr. Starlinger, stellte die Organisation der neuen An¬ 
stalt fest. Bereits in den nächsten Tagen wird sich 
der niederösterreichische Landtag mit der diesbezüg¬ 
lichen Vorlage zu beschäftigen haben. 

— Württembergische Landtagsverhandlung 
über den Fall v. Münch. (Fortsetzung.) 

Frhr. v. Münch beklagt sich weiter, dass ihm vom 
Ministerium die Hieherkunft bei Androhung der Ein¬ 
weisung verboten worden sei; infolge dessen sei er 
nicht im Stande, etwaigen sieh interessirenclen Abgg. 
weitere Mittheilungen und Acten zu geben. Schliess¬ 
lich theilt er mit, dass er soeben von der Staatsan¬ 
waltschaft Berlin eine Zuschrift erhalten, dass die Vor¬ 
untersuchung gegen ihn in Sachen der Klage des 
Herrn Ministers des Innern keinen Beweis für seine 
(v. Münchs) Unzurechnungsfähigkeit ergeben habe, 
der Prozess werde also seinen Lauf nehmen. — Re¬ 
ferent glaubt, es genüge, dass er das zur Kenntniss 
des Hauses bringe. 

Staatsminister des Innern Dr. v. Pisehek : Fürchten 
Sie nicht, dass ich auf alle die Eingaben des Frhr. 
v. Münch im Detail eingehe. Es liegt mir nur ob, 
kurz zu antworten auf die Bemängelungen, die der 
Herr Abg. von Balingen gegenüber dem von dem 
Ministerium eingehaltcnen Verfahren vorgebracht hat. 

Er hat die Dispensation von der Erstattung des 
oberamtsärztlichen Gutachtens, welche das Ministerium 
ausgesprochen hat, angefochten, aber erklärt, er wolle 
selbst nicht auf diese rechtliche Frage sich einlassen, 
nachdem der Verwaltungsgerichtshof erkannt habe. 
Auch ich möchte bezüglich der Voraussetzungen und 
Grenzen der Befugniss zu Dispensationen von all¬ 
gemeinen Vorschriften nur kurz bemerken, dass 
meines Erachtens zweifellos jede Behörde eine Dis¬ 
pensationsgewalt insoweit hat, als sie zur Erlassung 
der Anordnungen, von welchen dispensirt werden soll, 
berufen ist. Das Ministerium kann also von einem 
Gesetz nicht dispensiren, weil das Ministerium ein 
Gesetz nicht erlassen kann; aber es kann von einer 
Verfügung, die es selbst erlassen hat, nach der, wie 
ich glaube, übereinstimmenden Anschauung der Rechts¬ 
lehrer im einzelnen Fall dispensiren, es kann eine 


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Original frnm 

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u»4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16. 


von ihm erlassene Verfügung ad hoc ausser Wirkung 
setzen, wenn hiezu ein genügender Anlass vorliegt. 
Dass ein solcher liier Vorgelegen ist, da es gar keinen 
Sinn gehabt hätte, den Oberamtsarzt von Horb, der 
den Frhr. v. Münch nicht kannte und nicht beob¬ 
achtet hatte, zu einem Gutachten zu veranlassen, 
nachdem die bewährtesten Psychiater und das Medi¬ 
zinalkollegium sich über seinen Geisteszustand auf 
Grund eingehender Beobachtung ausgesprochen hatten, 
scheint mir wenigstens einleuchtend zu sein. — Der 
Herr Abg. von Balingen ist dann auf die Frage der 
Gemeingefährlichkeit eingegangen. Dass Frhr. v. Münch 
ein Kranker ist, wird von keiner Seite in Frage ge¬ 
stellt, und ich kann in dieser Richtung sagen, dass 
auch die preussische Regierung davon ausgeht, dass 
Frhr. v. Münch geisteskrank oder wenigstens nicht 
normal veranlagt ist. Eine besondere Frage ist aber 
die, ob er gemeingefährlich ist. Diese Frage ist in 
der That weniger zweifellos, wie ich ohne weiteres 
zugebe. Der Herr Abg. Haussmann betont, wenn 
der Kranke nicht zu Gewaltthätigkeiten vorgehe, son¬ 
dern sich nur in Verbal-Injurien ergehe, sei die Ein¬ 
sprech ung in eine Anstalt nicht anzuerkennen. Ich stehe 
mcinestheils auf einem andern Boden; ich glaube, dass 
es ein durchaus unbefriedigender und unhaltbarer Zu¬ 
stand wäre, wenn selbst masslosen und unausgesetzten 
Beleidigungen gegenüber, welche ein Geisteskranker 
verübt, keine Remedur möglich sein sollte. Entweder 
muss ein solcher Mann bestraft werden können; wenn 
aber die Gerichte ihrerseits ihn für unzurechnungs¬ 
fähig erklären und damit aussprechen, dass er nicht 
bestraft werden könne, so muss nach meinem Rechts¬ 
gefühl der Angegriffene ein anderes Mittel haben, sich 
dagegen zu wehren. Auf diesen Standpunkt hat sich 
auch die Kammer gestellt in dem Fall einer Frau 
von Gablenberg, wie der Herr Berichterstatter verlesen 
hat. Hier ist ausdrücklich ausgesprochen worden, dass 
dem Angegriffenen ein Schutz gegen solche Beleidig¬ 
ungen und Beschimpfungen zu Gebot stehen muss. 
Im vorliegenden Fall kommt überdies in Betracht, 
dass es sich nicht ausschliesslich um Verbal-Injurien 
gehandelt hat, sondern — und das ist wesentlich mit 
der Grund, warum Frhr. v. Münch als gemeingefähr¬ 
lich eingewiesen worden ist — es liegt ja eine ganze 
Reihe von Gewaltthätigkeiten gegen Personen seitens 
desselben vor. Allerdings ist ja in dem Fall Blatt 
die Frage, ob sich Frhr. v. Münch in Nothwehr be¬ 
funden habe, durch ein gerichtliches Erkenntniss nicht 
entschieden worden, aber gerade im Fall Blatt hat 
das Gericht seinerseits den Frhr. v. Münch den Ver¬ 
waltungsbehörden als gemeingefährlich übergeben mit 
dem Ansinnen, die Verwaltungsbehörden sollen die 
polizeilich geeigneten Massnahmen treffen. Aber es 
ist das ja nicht die einzige Gewaltthätigkeit, die dem 
Frhr. v. Münch zur Last fällt, es liegt vielmehr auch 
der Fall vor mit dem Metzger Thoma, der zufällig, 
aus durchaus erlaubter Ursache, sich in dem Stall des 
Frhr. v. Münch befand, als ein Pferd des Frhr. v. 
Münch verendete, weil es, wie die Section ergeben 
hat, Taxusblätter (Eibennadcln) gefressen hatte, die 
giftig waren. Diesen Mann hat Frhr. v. Münch ohne 
alles Weitere beschuldigt, er habe ihm sein Pferd 

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vergiftet, und hat ihn, als er den Stall nicht sofort 
verliess, mit Faustschlägen tractiert. Ein weiterer Fall 
von Gewaltthätigkeiten liegt darin, dass er dem Pächter 
Treiber gedroht hat, es gehöre ihm eine Kugel durch 
den Leib. Endlich sind ja bereits angeführt worden 
der Fall des Mannes, den er mit der Peitsche be¬ 
handelt hat, und die Thatsache, dass er dem Bau¬ 
führer Häcker einen Revolver zur eventuellen Be¬ 
nutzung gegen die Bauarbeiter übergeben hat; hiezu 
kommt noch, dass v. Münch nach seiner eigenen An¬ 
gabe gewöhnt ist, nicht ohne Revolver auf Reisen 
zu gehen. Es sind also Thätlichkeiten des Frhr. v. 
Münch genügend Vorgelegen und weiterhin zu be¬ 
fürchten. — Das Medizinalkollegium stellt sich in 
einer, wie mir scheint, durchaus einleuchtenden Weise 
auf den Boden, dass die Frage der Gemeingefährlich¬ 
keit überhaupt nicht ausschliesslich oder hauptsächlich 
nach bestimmten einzelnen Handlungen eines Kranken 
beurtheilt werden kann, sondern aus der Gesammtheit 
seiner Handlungen. Und von diesem Gesichtspunkt 
aus ist das Medizinalkollegium und das Ministerium 
des Innern zu der Ueberzeugung gelangt, dass bei 
dem Frhm. v. Münch die Frage der Gemeingefähr¬ 
lichkeit zu bejahen ist. — Der Herr Abg. v. Balingen 
hat nun weiter geltend gemacht, der bisherige 
Zustand, wonach der Frhr. v. Münch von den Straf¬ 
gerichten für unzurechnungsfähig, von den Zivilgerichten 
für handlungsfähig und von den Polizeibehörden für 
gemeingefährlich geisteskrank erklärt werde, sei unhalt¬ 
bar. Ja, das Unbefriedigende dieses Zustandes fühle 
ich auch. Aber ich kann ihn meinerseits nicht ändern. 
Wenn der Herr Abg. von Balingen gemeint hat, das 
Ministerium müsse konsequent handeln, so wäre die 
Konsequenz, dass das Ministerium des Innern anordnet, 
sobald der Herr v. Münch in seine Polizeigewalt 
kommt, sei er in die Irrenanstalt einzusperren. (Zu¬ 
stimmung.) Mit Rücksicht darauf aber, dass auch 
von psychiatrischer Seite geltend gemacht wurde, es 
lasse sich, wenn Herr v. Münch aus den bisherigen 
Verhältnissen herauskommc, hoffen, dass er sich in 
gemeingefährlicher Weise weiterhin nicht bethätigen 
werde, glaubte das Ministerium ihm gestatten zu können, 
dass er nach Preussen geht, nachdem die preussische 
Regierung ihrerseits sich bereit erklärt hatte, ihn zu 
übernehmen. Das geschah in einer gewissen Berück¬ 
sichtigung und Milde, nachdem die psychiatrischen 
Behörden erklärt hatten, es sei das zulässig. — Der 
Herr Abg. von Balingen hat schliesslich mit Bezug 
auf die von mir in Berlin gegen v. Münch erhobene 
Strafklage geltend gemacht, das sei nicht konsequent 
und es empfehle sich nicht, eine solche Parallelaction 
einzuleiten. Wenn der Mann in Württemberg für 
geisteskrank und für gemeingefährlich erachtet werde, 
so könne nicht gleichzeitig in Preussen gegen ihn ge¬ 
klagt werden. Als auf Grund von vorausgegangenen 
Verhandlungen Herr v. Münch an das Polizeipräsidium 
in Frankfurt übergeben wurde, hat die Iv. preussische 
Regierung initgetheilt, auc h sie gehe davon aus, dass 
die gemeingefährliche Bethätigung der Geisteskrank¬ 
heit des Herrn v. Münch im wesentlichen mit den 
Verhältnissen, in denen er bisher lebte, Zusammen¬ 
hänge. Sollte v. Münch auch auf preussischem Ge- 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 195 


biet Verletzungen der Strafgesetze begehen, ohne dass 
er strafrechtlich dafür verantwortlich gemacht werden 
könne, so werde selbstverständlich auch dort ein 
polizeiliches Einschreiten gegen ihn in Frage kommen. 
Er hat nun von Preussen aus seine masslos beleidi¬ 
genden und beschimpfenden Eingaben fortgesetzt und 
ich war daher in die Notlvwendigkeit versetzt, durch 
eine Klage, die in Berlin erhoben wurde, eine Ent¬ 
scheidung darüber herbeizuführen, entweder dass der 
Mann als nicht geisteskrank in Preussen angesehen 
wird, gut, dann soll er bestraft werden, oder dass er 
auch in Preussen als geisteskrank gilt. — Schliesslich 
habe ich noch auf die neueste telegraphische Eingabe 
des Herrn v. Münch mit ein paar Worten einzugehen. 
Der Herr Berichterstatter w'ar gestern bei mir und 
hat mir mitgetheilt, dass Herr v. Münch beabsichtige, 
in die heutige Verhandlung zu kommen. Er hätte 
das nur in der Weise thun können, dass er in Be¬ 
gleitung seines Wärters hier oben auf der Galerie 
erschienen wäre. Ich habe mich nun zunächst durch 
Vernehmung des Landespsychiaters darüber zu infor- 
miren gesucht, ob es seiner Gesundheit nicht schäd¬ 
lich sein werde, wenn er hier die grosse Verhandlung 
mit anhöre, und cs wurde mir bejaht, dass durch das 
Anwohnen bei einer derartigen Verhandlung sein Auf¬ 
regungszustand voraussichtlich eine erhebliche Steige¬ 
rung erfahren werde. Ich habe mir aber auch weiter 
gesagt, dass es ein für dieses hohe Haus nicht ganz 
w'ürdiger Zustand wäre (allgemeines sehr richtig!), 
wenn ich einen Geisteskranken von einem Wärter 
hieher führen liesse, um den Verhandlungen hier oben 
anzuwohnen und eventuell durch Auf- und Abgehen 
mit einzelnen Herren Abgeordneten zu verhandeln 
(sehr richtig!), und ich habe ihm daher telegraphiren 
lassen, er dürfe nicht hieher kommen, und w'enn er 
doch komme, w-erde ich ihn in eine Irrenanstalt ab- 
führen lassen. (Lebhafter Beifall.) 

Keil: Die psychiatrische Frage zu beantworten, 
fühle ich mich nicht berufen. Ich glaube aber, der 
ganze Fall hätte das Aufsehen nicht erregt, wenn 
nicht verschiedene Handlungen der Verwaltungsbe¬ 
hörden zu Bedenken Anlass gegeben hätten. Man 
hat mir von juristischer Seite gesagt, es sei unzulässig, 
dass eine einmal allgemein gegebene Vorschrift (betr. 
das Gutachten des Öberamtsarzts) von der Verwal¬ 
tung in einem bestimmten Fall ausser Kraft gesetzt 
werde; ganz unstichhaltig sei die Rechtfertigung dieser 
Handlung im Urtheil des Verw’altungsgerichtshofes. 
Der Instanzengang hätte eingehalten werden müssen, 
geradeso wie bei den Gerichten. Es kommt hinzu, 
dass man hörte, der betreffende Oberamtsarzt hätte 
anders begutachtet, als die Oberbehörde wünschte; 
das gab der Sache in der öffentlic hen Meinung eine 
ungute Seite. Aufgefallen ist ferner, dass die württ. 
Behörde keinen ausserwürtt. Psychiater gehört, dass 
aber die von Herrn v. Münch selbst aufgerufenen 
Psychiater ihn für nicht anstaltsbedürftig erklärt haben. 
Die komische Rcvolvergcschichtc hat dann dazu ge¬ 
führt, dass man Herrn v. Münch den Tag über an¬ 
strengenden Verhandlungen anwohnen liess und ihn 
abends nach Winnenthal transportirte. Das hat auch 
keinen guten Eindruck gemacht. Endlich die ver¬ 


schiedene Behandlung v. Münchs hier und in Preussen. 
Das ist auf die Dauer nicht haltbar, wir brauchen 
eine reichsgesetzliche Regelung des Irrenw’esens. Der 
Herr Minister verklagt v. Münch in Preussen, bei uns 
verfolgt er nur den Redacteur der „Tagwacht“, der 
v. Münchs Angriffe in seinem Blatt veröffentlicht hat 
an der Stelle, wo auch Wurst und Fleisch angepriesen 
werden. Ich will die Handlungen v. Münchs nicht 
beschönigen und nicht behaupten, dass sie mit dem 
gesunden Menschenverstand vereinbart wären, aber 
die Massnahmen der Behörden, deren wichtigste ich 
ausgeführt habe, haben eben Stimmung für ihn beim 
Publikum gemacht 

Staatsminister des Innern Dr. v. Pischek: Die 
„grosse Bedeutung“, welche der Fall des Frhm. v. Münch 
in der Oeffentlichkeit angenommen hat, ist, wie ich 
glaube, im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass 
es dem Herrn v. Münch infolge des Besitzes sehr 
grosser Mittel gelungen ist, in den Zeitungen, in der 
Presse, in der Oeffentlichkeit (sehr richtig!) in einem 
ganz anderen Masse zu agitiren, als das sonst einem 
gewöhnlichen Manne möglich ist. (Lebh. Zustimmung.) 
Und insbesondere haben die verschiedenen Inserate 
in der „Schwäbischen Tagwacht“ dazu beigetragen. 
(Sehr richtig!) Der Herr Abg. Keil hat wiederum 
bemängelt die Eintheilung der Dispensation von dem 
oberamtsärztlichen Zeugniss und hat sich für die be¬ 
hauptete Unzulässigkeit derselben auf Juristen berufen. 
Es mag ja sein, dass es auch Juristen giebt, die die 
Eintheilung der Dispensation für unzulässig erklären, 
aber der Verwaltungsgerichtshof hat gesprochen. Wenn 
aber der Herr Abg. Keil vorhin erwähnt hat, es sei 
um so auffallender, dass das Ministerium die Dispen¬ 
sation von dem oberamtsärztlichen Gutachten erthcilt 
habe, w'eil der Oberamtsarzt vorher schon einmal ein 
Gutachten abgegeben habe, welches den Absichten 
des Ministeriums nicht entsprochen habe, so weise ich 
den hierin liegenden Vorwurf, als habe das Ministe¬ 
rium das oberamtsärztliche Gutachten wegön seines 
vorausgesehenen Inhalts abgeschnitten oder es habe 
jemals irgend ein Gutachten beeinflussen wollen, mit 
Entschiedenheit zurück. (Beifall.) Ich weiss davon 
gar nichts, dass der Oberamtsarzt in Horb früher 
schon ein Gutachten für das Ministerium abgegeben 
hätte; im Aufträge des Ministeriums ist es meines 
Wissens nicht geschehen. Der Oberamtsarzt selbst 
hat im vorliegenden Falle erklärt, er kenne den Herrn 
v. Münch gar nicht, er habe ihn kaum gesehen. Der 
Herr Abg. Keil hat weiter ausgestellt, das Ministerium 
habe versäumt, nichtwürttembergische Psychiater über 
den Fall zu hören. Es sind aber verschiedene nicht¬ 
württembergische Psychiater, zwar nicht von dem Mi¬ 
nisterium, aber von den Gerichten gehört worden; 
es liegen im ganzen 10 psychiatrische Gutachten bei 
den Acten. Aber es lag ausserdem für das Ministe¬ 
rium des Innern in der That kein Grund vor, aus¬ 
wärtige Psychiater beizuziehen. Das Land Württem¬ 
berg verfügt über eine Reihe von Psychiatern, deren 
Befähigung nicht bezweifelt werden kann und selbst 
im Auslande durchaus anerkannt ist; und cs liegt gar 
kein Grund vor, in die Gutachten, die von diesen 
w ürttembcrgischcn Psychiatern, einschliesslich des Pro- 


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196 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16. 


fessors Siemerling in Tübingen, der ja kein Württem- 
berger ist, abgegeben worden sind, einen Zweifel zu 
setzen und ein Obergutachten von auswärtigen Psy¬ 
chiatern einzuverlangen. — Der Herr Abg. Keil hat 
erklärt, es habe die infolge des Revolverbesitzes an¬ 
geordnete Wärterbegleitung „komisch“ gewirkt. Ich 
weiss nicht, warum das komisch gewirkt haben soll. 
Dem Frhm. v. Münch war die Betheiligung an den 
Verhandlungen dos Verwaltungsgericlitshofs nur unter 
der Bedingung gestattet worden, dass er keine Waffe 
bei sich führe, es war ihm angedroht, dass er, wenn 
er dieser Bestimmung zuwiderhandle, des freien Ge¬ 
leites verlustig sei und nach Winnenthal komme. 
Gleichwohl wurde ein Revolver bei ihm gefunden 
und er infolgedessen unter Bewachung gestellt. Was 
daran Komisches sein soll, weiss ich nicht; hätte 
v. Münch die Bedingungen eingehalten, unter welchen 
er zugelassen war, so wäre sein freies Geleit nicht 
verwirkt worden. — Der Herr Abg. Keil ist sodann 
auf die verschiedenartige Behandlung in Württemberg 
und Preussen eingegangen und hat erklärt, es sei 
wünschenswerth, dass man an die Erlassung eines 
Reichs-Irrengesetzes gehe. Die Frage gehört ja nicht 
hierher, aber ich kann mittheilen: die württ. Regierung 
hat in Berlin erklärt, dass sie gegen die Erlassung 
eines Reichs-Irrengesetzes nichts einzuwenden habe, 
im Gegentheil befürworte sie die Erlassung eines solchen, 
wenn es auch wahrscheinlich grosse Schwierigkeiten 
bieten werde. 

ländlich ist der Herr Abg. Keil zu sprechen ge* 
kommen darauf, dass es nicht am Platze sei, dass ich 
in Berlin gegen den Frhrn. v. Münch, in Württem¬ 
berg aber unter Ausschaltung des Frhrn. v. Münch 
nur gegen die „Sehwäb. Tagwacht“ geklagt habe. 
Warum ich in Berlin geklagt habe, das habe ich schon 
vorhin mitgetheilt. Dass ich aber hier in Württem¬ 
berg nicht gegen ihn klagen konnte, versteht sich von 
selbst, da ja der Frhr. v. Münch von den Strafge¬ 
richten für unzurechnungsfähig erklärt worden ist, es 
wäre der reinste Schlag ins Wasser gewesen, wenn 
ich diese Klage erhoben hätte. Dagegen habe ich 
gegen die „Sehwäb. Tagwacht“ Klage erhoben, weil 
ich es meiner Person und meiner Stellung schuldig 
zu sein glaubte (Zustimmung), dass ich mir nicht in 
den Zeitungen die Begehung entehrender und ver¬ 
brecherischer Handlungen vorwerfen lasse, wie das in 
der „Sehwäb. Tagwacht“ geschehen ist. Nun hat der 
Herr Abg. Keil gesagt, die Annonce, welche diese Be¬ 
schuldigung enthielt, sei in die „Tagwacht“ aufge¬ 
nommen worden, wie eine beliebige Fleisch- und Wurst- 
anzcigc auch. Das ist nicht wahr. Diese Anzeige 
ist zwar im Annonccntheil der „Sehwäb. Tagwacht“ 
erschienen, aber im redaclionellen Thcil kam in der¬ 
selben Nummer, in welcher die Anzeige erschien, ein 
redactioneller Artikel, welcher auf diese famose An¬ 
zeige als besonders beachtenwerth hingewiesen hat. 
(Zustimmung und Heitcrkeit.C Mir liegt an der Be¬ 


strafung der Redacteure der Sehwäb. Tagw-acht gar 
nichts. Wenn die Redacteure ihrerseits öffentlich er¬ 
klären, dass sie sich dem Vonvurf, den der Frhr. v. 
Münch gegen mich erhoben hat, als habe ich ent¬ 
ehrende oder verbrecherische Handlungen begangen, 
nicht anschHessen und dass sie diesen Vorwurf für 
durchaus unbegründet erkennen, dann bin ich bereit, 
die Klage zurückzuziehen; wenn nicht, nicht. (Leb¬ 
hafter Beifall.) 

Keil: Eine Verdächtigung dahin, dass das Mini¬ 
sterium auf ärztliche Gutachten einwirke u. s. w\, habe 
ich meinerseits nicht erhoben, ich habe nur gesagt, 
die öffentliche Meinung habe sich mit solchen Ge¬ 
danken beschäftigt. Redner verliest einen Artikel, der 
seinerzeit im „Beobachter“ gekommen sei und der für 
Herrn v. Münch entschieden Partei genommen habe, 
ein Beweis, dass in der Oeffentlichkeit thatsächlich 
solche Anschauungen vorhanden gewesen seien. Red¬ 
ner will schliesslich darthun, dass der redactionellc 
Hinweis auf eine grössere Annonce nichts Ungewöhn¬ 
liches sei. (Heiterkeit.) 

Die Debatte ward geschlossen. — Der Commissions¬ 
antrag wird zunächst angenommen zu den Ziffern 
1—ö, über die Ziffer 7 wird gesondert abgestimmt, 
weil hier ein Einwand aus dem Hause gemacht worden 
ist. Auch über Ziffer 7 wird zur Tagesordnung über¬ 
gegangen, ebenso über die heutige telegraphische Ein¬ 
gabe des Frhrn. v. Münch. 

Schluss der Sitzung l/ 2 i Uhr. 


• Personalnachricht. 

(Um Mittheilung von Personalnachrichten etc. an die Rednotion 
wird gebeten.) 

— Wormditt, Ostpr. Als leitender Arzt der 
am hiesigen Orte Mitte April d. J. cröffneten Prival- 
anstalt für katholische Epileptische, w'elche den Namen 
„Heilstätte St. Andreasberg“ erhalten hat, ist 
Dr. H a n k e 1 n angcstellt worden. 


Herr A. Grohmann (Zürich, V, Forchstrasse 138) hat 
eine Brochlire: „Geisteskrank. Bilder aus dem Verkehr mit 
Geisteskranken und ihren Angehörigen“ —veröffentlicht, durch 
welche er zur Bekämpfung des Vorurtheils gegen die 
Irrenanstalten beitragen will. Wir empfehlen dies Schriftchen 
wärmstens der Beachtung seitens der Anstaltsleitungen; es 
eignet sich besonders zur gesehenkweisen Vertheilung an die 
Angehörigen der Kranken. Herr Grohmann giebt bis spätestens 
1. August 1902 gegen Postnachnahme oder vorherige Ein¬ 
sendung des Betrages (auch in Briefmarken) die Schrift zu 
folgenden Sätzen ab: 

Anzahl: 10 25 50 100 200 500 1000 Stück 

Preis: 0,60 1,25 2,25 4,25 8,25 20 38 Frcs. 


Für den re daetionullcn Thcil verantwortlich : Oberarzt I)r. J. Iireslrr Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannnhme 3 Tage vor der Ausgabe.. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S 

Hevnemann’sche I’.nehdrnckerei ((lehr. Wulff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

hnrausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtapnng* (Altmaxk). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geb. M«d.-Ratb, Berlin Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G, Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland). 

Dr. metl. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Wür/.burg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
reefigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr. 17. . 2 b. juii. 1902. 

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Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle m.S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäzrigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenvvesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters, 
Andernach (S. 107). — Wahrendorfl'denkmal in Ilten (S. 201). — Mittheilungen (S. 203). — Personalnachricht (S. 208). 


Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets 

im Jahre 1900/01. 

Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Z)**/V<»rr-Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Die Entlassungen bieten weit weniger An¬ 
lass zu allgemeinen Erörterungen. Es interessirt da 
hauptsächlich nur die Frage, wie viele von* den Ent¬ 
lassenen als geheilt und gebessert zu bezeichnen 
waren. Aus der Zahl der so Bczeichneten Rück¬ 
schlüsse zu ziehen, ist aber recht misslich ; jeder weiss, 
wie viel Subjcctives in diesen Bezeichnungen liegt. 
Thatsächlich sind dann auch die Zahlen ausserordent¬ 
lich verschieden. Häufige Mittelzahlen für die Ge¬ 
heilten sind etwa 15—18 0 0 , auf den Gesammtab- 
gang berechnet, doch kommen auch geringere und 
stellenweise beträchtlich höhere Zahlen vor. Wo die 
letzteren nicht durch lokale Verhältnisse bedingt sind, 
wie etwa in den grossen Städten, denen die grosse 
Zahl der Alkoholdeliranten die Statistik verbessert, 
da wird man aus einer grossen Zahl von Geheilten 


wohl auf einen entsprechenden, vielleicht nicht immer 
unbewussten Optimismus des Berichterstatters schliessen 
dürfen. 

Constantere Werthe erhält man, w r enn man die 
Geheilten und Gebesserten zusammenfasst, also die 
Zahl derjenigen berechnet, bei denen überhaupt ein 
Kurerfolg zu verzeichnen war. Da liegen die häufig¬ 
sten Durchschnittswerthe zwischen 40 und 50 °/ 0 des 
Gesammtabganges. Natürlich kommen auch hier 
Ueberschreitungen dieser Mittelwerthe nach unten 
und nach oben vor, doch sind die Differenzen bei 
weitem nicht so erheblich wie bei den Geheilten. — 
Uebrigcns enthalten nur wenige Berichte die Procent¬ 
berechnung in der Form, wie sie hier wiedergegeben 
ist; vielmehr habe ich, um vergleichbare Zahlen zu 
gewinnen, die meisten umrechnen müssen. Viele be- 


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Gck gle 


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ic>8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17. 


schränken sich darauf, nur die absoluten Zahlen an¬ 
zugeben, andere berechnen sie in Procenten der Auf¬ 
nahmen, wieder andere in Procenten des Normal¬ 
bestandes. Zur Umrechnung auf einheitlicher Grund¬ 
lage schien es mir am korrektesten , den Gesammt- 
abgang zu Grunde zu legen. 

Der dritte Punkt, auf den die Statistik sich er- 

‘ I . * * 

streckt, ist der Bestand an Pfleglingen, der natür¬ 
lich einem beständigen Wechsel unterworfen ist. 
Eine recht charakteristische Erscheinung ist es, dass 
in sehr vielen Anstalten der thatsächlich vorhandene 
Bestand den festgesetzten Normalbestand dauernd 
um ein Beträchtliches übersteigt. In der That wird 
in sehr vielen Berichten über Ueberfüllung geklagt. 
Selbst in neuen Anstalten oder solchen, die durch 
Neubauten vermehrten Platz geschaffen haben, dauert 
die Erleichterung meist nicht lange; bald ist die alte 
Ueberfüllung wieder da. Manche helfen sich durch 
stärkere Belegung; z. B. ist Göttingen unter das 
durch ministerielle Verfügung geforderte Mindestmaass 
an Luftraum ganz bedeutend heruntergegangen und 
hat stellenweise nur 15, selbst 13 cbm Luftraum pro 
Kopf, hebt aber selbst hervor, dass dies seine grossen 
Bedenken hat. 

Bayreuth giebt eine anschauliche Schilderung 
der Entwicklung seiner Ueberfüllung. I111 Decennium 
76—85 betrug die jährliche Zunahme des Kranken¬ 
bestandes etwa 10, stieg im nächsten Jahrzehnt auf 
18, weiter auf 20, im Jahre 99 sogar auf 25, sodass 
nun die „Ueberfüllung der Anstalt sowohl vom psy¬ 
chiatrischen als vom sanitären Standpunkt aus als 
geradezu gefährlich und bedenklich“ bezeichnet werden 
musste. Durch die Eröffnung der 2 neuen Pavillons 
!: 50 Kranke wurde nur dem dringendsten Bedürf- 
niss abgeholfen; der Bau einer zweiten Anstalt für 
Oberfranken wird als dringend erforderlich bezeichnet. 

Dziekanka hat durch Entfernung von Zwischen¬ 
wänden aus 2 Zellen und einem Corridor Schlaf- 
rüume für 10 Kranke geschaffen, hat ferner eine 
Pensionärabtheilung mit Normalkranken belegt und 
endlich in mehreren Räumen eine dichtere Belegung 
vorgenommen und so im Ganzen für 113 Kranke 
über den Normaletat hinaus Platz geschaffen. Doch 
soll diese Einrichtung nur provisorisch sein und mit 
Eröffnung der im Bau begriffenen neuen Anstalt 
aufhören. Sonnenstein hat dank seiner Aussen- 
abtheilungen in der Unterbringung der ruhigen und 
halbruhigen chronisch Kranken keine Schwierigkeiten, 
während die Abtheilungen für unruhige und über¬ 
wachungsbedürftige ständig überfüllt sind. Abhilfe 
wird von den Neubauten erwartet. 

Ueberaus unerquicklich scheinen die Verhältnisse 


ira Burghölzh zu sein. Die Anstalt, ursprünglich 
auf 300 Plätze berechnet, beherbergt allein 351 Un¬ 
heilbare und hat zum Wechseln für neu Hinzukommende 
noch ca. 20—40 Betten zur Verfügung, während die 
Anmeldungen des Jahres die Zahl 409 erreichten. 
Den Hauptgrund für die Ueberfüllung erblickt der 
Bericht nicht in der Zunahme der Geisteskranken, 
sondern darin, dass von vomeherein zu wenig Plätze 
vorgesehen waren. Die üblen Folgen der Ueberfül¬ 
lung hebt Burghölzli scharf hervor: „Ich glaube zwar 
nicht, dass dieselbe (nämlich die schlechte Unter¬ 
bringung) auf die eigentlich heilbaren Kranken grossen 
Einfluss ausübe. Die meisten derselben werden ge¬ 
sund unter guten wie unter schlimmen Umständen, 
wenn ihnen auch die Unruhe überfüllter Abtheilungen 
die Kur zu einer Qual werden lässt. Einen enormen 
Unterschied aber macht die Behandlungsart bei den 
Unheilbaren, die ja leider die Mehrzahl unserer Kran¬ 
ken bilden. Manche unserer Unruhigen sind nur 
deshalb so störend und so gewaltthätig, weil sie vor 
dem Lärm und den Insulten der Mitpatienten nicht 
genügend geschützt werden können. Vielleicht die 
Hälfte der „Unheilbaren“ ist aber, wenn einmal das 
eigentliche Erregungsstadium abgelaufen ist, fähig, 
draussen zu leben, oft sogar ihr Brod zu verdienen, 
ja manche, die wir als im strengen medicinischen 
Sinne ungeheilt entlassen mussten, werden von ihren 
Verwandten als ganz gesund angesehen. Sind einmal 
unsere unruhigen Abtheilungen nicht mehr überfüllt, 
sodass die Kranken nicht einander selbst den gröss¬ 
ten Schaden zufügen, so werden viel mehr Aufge¬ 
regte zu Ruhigen, und von diesen können mehr ent¬ 
lassen werden“. Man wird diese Darstellung kaum 
übertrieben finden, wenn man beobachtet, wie auch 
in nicht überfüllten Anstalten manche Kranke nur 
durch ihre Umgebung erregt werden und durch Ver¬ 
setzung in andere Umgebung sich alsbald beruhigen. 
Dass aber bei Heilbaren die Art der Unterbringung 
für den Kurerfolg so gleichgültig sein soll, ist doch 
zunächst nur eine subjective Meinung. 

Momentane Abhilfsmittel gegen Ueber¬ 
füllung giebt es zwei: entweder werden keine neuen 
Kranken aufgenommen, bevor Plätze frei werden,' 
oder es werden Kranke entlassen, um für neue Platz 
zu machen. 

Ersterer Modus hat grosse Härten in seinem Ge¬ 
folge und führt in systematischer Ausbildung zu den 
berüchtigten Exspectantenlisten. Doch sind viele An¬ 
stalten einfach gezwungen so zu verfahren.*) So hat 

*) Anmerkung bei der Correctur. Auch die west- 
phiilischen Anstalten leiden unter diesem System. Obgleich 
gegen das Vorjahr 99 Plätze mehr geschaffen worden sind, 


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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


z. B. Osnabrück eine grosse Zahl frischer, heil¬ 
barer Fälle abweisen müssen; H i l d e s h e i m hat von 
439 Aufnahme-Anträgen 149 abgelehnt, in den würt- 
tembergischen Anstalten konnten von dem insge- 
sammt 798 Aufnahmegesuchen nur 492 berücksichtigt 
werden, „obwohl die hygienischen Anforderungen an 
den Luftraum dringlichen Aufnahmegesuchen gegen¬ 
über stets erst in zweiter Linie berücksichtigt“ wurden. 
Waldau hat 1 3 aller weiblichen Aufnahmegesuche 
ablehnen müssen. W i 1 war nach Eröffnung der 
neuen Häuser im Stande, alle Aufnahmegesuche, 
darunter 69 rückständige aus dem Vorjahre, zu be¬ 
willigen. 

Die Bekämpfung der Ueberfüllung durch Ent¬ 
lassungen wird immer nur in beschränktem Umfange 
möglich sein. Württemberg berichtet, dass im Vor¬ 
jahre dieser Versuch in grossem Umfange gemacht 
worden sei, indem alle entlassen wurden, die nicht 
mehr unbedingt anstaltsbedürftig waren, dass aber 
eine weitere Steigerung nicht mehr möglich war, im 
Gegentheil wieder ein gewisser Rückschlag sich geltend 
machte, da die Zahl der Entlassungen von 471 auf 
428 gefallen ist. 

Von manchen Anstalten wird geklagt, wie schwierig 
es oft ist, Kranke, die nicht mehr für anstaltsbedürftig 
zu halten sind, wieder herauszubringen.' Ebers¬ 
walde erläutert dies an einigen charakteristischen 
Fällen. Eine Frau war nach mehrjährigem Anstalts¬ 
aufenthalt wesentlich gebessert und sollte entlassen 
werden ; erst nach langen Mühen gelang es mit Hülfe 
des Ortsgeistlichen, den Ehemann aufzufinden, und 
dann musste die Familie erst wieder rekonstruirt 
werden, denn die Kinder waren auswärts in Pflege 
gegeben. Der Ehemann einer andern Frau hatte 
sich, während diese in der Anstalt war, an der eige¬ 
nen Tochter vergangen, was natürlich die Kranke bei 
ihrer Rückkehr in grosse Erregung versetzte; erst die 
alsbald erfolgte Verhaftung des Mannes ermöglichte 
das Zuhausebleiben der Frau. In einem andern 
Falle hatten die Angehörigen das beliebte Verfahren 
eingeschlagen, der Kranken immer wieder zu ver¬ 
sprechen, dass sie sie sogleich nach Hause nehmen 
würden, sobald nur die Aerzte es gestatteten; als 

mussten von im Ganzen 1024 Aufnahmeanträgen 331 abgelehnt 
werden. Am stärksten ist Münster betroffen, wo von 222 An¬ 
trägen 112 abgelehnt wurden, am schwächsten Lengerich. das 
von 204 Anträgen 30 ablehnte. — In Wahrheit liegen die 
Verhältnisse noch ungünstiger, als es nach diesen Zahlen scheint; 
denn auch von den Kranken, welche schliesslich zur Aufnahme 
gekommen sind, hat ein grosser Theil monatelang auf das Frei¬ 
werden eines Platzes warten müssen. Ob die begonnenen Er¬ 
weiterungsbauten ausreichen werden, um Abhülfe zu schaffen, 
ist noch fraglich. 

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das aber geschah, versagten alle und es kostete 
wochenlange Bemühungen eine passende Unterkunft 
für sie zu finden. 

Aehnliche Erfahrungen dürften in den meisten 
Anstalten gemacht werden. Wenn R y b n i k schreibt; 
„wir haben noch keine Ueberfüllung gehabt, wir haben 
derselben aber auch beständig dadurch entgegenzu* 
arbeiten gesucht, dass wir immer in liberalster Weise 
solche Leute, die irgend wieder einigermaassen geordnet 
und arbeitsfähig erschienen, mit Urlaub in die eigene 
Familie zurückschickten“, so hat man dort eben in 
dieser Hinsicht mehr Glück gehabt als anderswo; 
freilich hat R y b n i k auch auf der vorhergehenden 
Seite zugegeben, dass die „schlimme Anwärterliste“ 
noch nicht ganz überwunden, vielmehr wieder „auf 
eine recht bedenkliche Höhe angeschwollen“ sei. 

Möglichste Liberalität im Entlassen empfiehlt auch 
So rau, weil „nicht selten, namentlich bei sehr leb¬ 
haft nach Hause drängenden Kranken, wenn eine 
Besserung eingetreten ist, die Heilung in der Heimath 
beschleunigt wird“. Zschadrass ' äussert sich viel 
vorsichtiger; die Vorschrift des Regulativs, „ungefähr¬ 
liche Unheilbare“ in Gemeindepflege abzugeben, stösst 
dort auf Schwierigkeiten, weil der Begriff der Unge¬ 
fährlichkeit ein sehr unbestimmter, subjectiver sei, 
und man jede Verantwortung dafür ablehnen müsse, 
dass die Kranken wieder gefährlich werden und 
schweres Unglück veranlassen könnten. Sicher sind 
viele Psychiater in dieser Hinsicht noch viel zu ängst¬ 
lich, und mancherorts könnte wohl durch mehr Nach 1 
giebigkeit gegen solche Wünsche noch eine Entlastung 
erzielt werden. 

Zur Entlastung der Heilanstalten bleibt noch das 
Auskunftsmittel, für Unheilbare anderweit Unter* 
kommen zu schaffen. Manche Provinzen geben ihre 
Unheilbaren an Privatanstalten, andere haben eigene 
Pflegeanstalten. Die diesjährigen Berichte enthalten 
darüber nicht viel. Der Brandenburger Bericht hebt 
hervor, dass man dort nur noch eine ganz geringe 
Zahl von Kranken in Privatanstalten habe, „denn an 
und für sich halten wir nach wie vor an dem Grund¬ 
satz fest, dass die schwierige und verantwortungs¬ 
reiche öffentlich-rechtliche Pflicht der eigentlichen 
Irrenfürsorge grundsätzlich nicht durch Ueberweisung 
Kranker an Privatanstalten erfüllt werden darf“. Das 
ist eine Auffassung, der wohl die Mehrzahl der Psy¬ 
chiater zustimmen wird. 

Manche Anstalten haben eigene auswärtige Pflege¬ 
stationen, die von der Anstalt aus controllirt werden; 
z. B. giebt R y b n i k eine nicht unbedeutende Zahl 
Unheilbarer an solche ab. Conrad st ein berichtet, 
dass man eine grössere Zahl ungefährlicher Verblö- 

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HARVARD UN1VERSITY 



200 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17. 


deter ins Landarmenhaus abgegeben habe, immerhin 
ein bedenklicher Nothbehelf. 

Im Allgemeinen laufen allenthalben die Erörte¬ 
rungen über die Ueberfüllung schliesslich darauf hinaus, 
dass durch Neubauten, sei es neue Anstalten, oder 
Vergrösserung der bestehenden, mehr Plätze geschaffen 
werden müssen. 

b) Besondere Ereignisse und Unglücksfälle. 

Eine natürliche Folge der freieren Behandlung ist 
die grössere Häufigkeit der Entweichungen. An¬ 
stalten, in denen gar keine Entweichungen in einem 
Jahre vorgekommen sind, giebt es kaum; Zahlen von 
mehr als 20 pro Jahr sind keine Seltenheit; aus 
Dalldorf sind allein 124 Männer und 3 Frauen 
im Berichtsjahr entwichen. 

Gegen die grossen Vorth eile der freien Behand¬ 
lung gehalten, ist dieser Nachtheil sicher gering und 
kann wohl in Kauf genommen werden. Man gewöhnt 
sich mehr und mehr daran, in einer Entweichung ein 
gar so schlimmes Ereigniss nicht mehr zu sehen, da sie 
im Verhältniss zu der grossen Häufigkeit ihres Vor¬ 
kommens doch recht selten zu üblen Folgen führt. 
Die Mehrzahl der Entweichungen geschieht von der 
Feldarbeit aus, von Spaziergängen oder aus offenen 
Abtheilungen und betrifft somit Kranke, bei denen 
man ohnehin schon die Aufsicht vermindern zu dürfen 
glaubte; sie erledigen sich meist dadurch, dass die 
Kranken zu Hause ankommen und versuchsweise 
dort belassen werden, oder dass sie nach kurzer Zeit 
der Anstalt wieder zugeführt werden. Nur selten 
liest man einmal die Mittheilung, dass ein Entwichener 
nachher dauernd verschollen blieb. 

Ernstere Bedeutung hat schon die Entweichung 
aus einer geschlossenen Abtheilung; einmal, weil es 
da doch meist möglich sein sollte, die Entweichung zu 
verhindern, also in der Regel irgend eine Nachlässig¬ 
keit Vorgelegen hat, vor allem aber, weil sie in dubio 
einen Kranken betrifft, der noch der Aufsicht bedarf 
und draussen für sich oder andere gefährlich werden 
könnte. Letzteres kann freilich auch bei Kranken 
Vorkommen, die schon grössere Freiheit genossen, 
und die entweder ihre Umgebung über ihren wahren 
Zustand zu täuschen wussten, oder die eine nicht 
rechtzeitig bemerkte Verschlimmerung ihres Zustandes 
erlitten haben. So berichtet Ueckermünde über 
einen älteren Mann, der von der Arbeit aus entwich, 
längere Zeit verschollen blieb, und nach Monaten als 
Leiche in einem benachbarten Teich gefunden wurde; 
es blieb unsicher, ob er absichtlich ins Wasser ge¬ 
gangen oder verunglückt war. Ein ähnliches Ereigniss 
hat Kor tau zu verzeichnen. 

Gefürchtet sind Entweichungen von geisteskranken 

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Verbrechern. Das sind oft geriebene Subjecte, an 
deren Ausdauer, Unternehmungslust und Schlauheit 
jede Vorsicht scheitert. Eine ganze Anzahl von An¬ 
stalten hat über solche Erfahrungen zu klagen. In 
Plagwitz sind 2 Verbrecher von der geschlossenen 
Abtheilung entwichen, nachdem sie das Feuergitter 
geöffnet hatten; wie sie letzteres fertiggebracht haben, 
blieb unaufgeklärt. Noch drastischer ist der von 
Rybnik mitgetheilte Fall, wo zwei Verbrecher Nachts 
im Oberstock der unruhigen Abtheilung das Fenster¬ 
gitter demolirten, mit Hülfe eines aus der Bettwäsche 
gedrehten Strickes hinausstiegen, dann, da sie nicht 
im Hemde gehen wollten, in dasselbe Haus durch 
den Keller wieder einbrachen, aus der Garderobe 
nach Aufbrechen eines Kleiderschrankes Kleider ent¬ 
nahmen und dann entflohen, und alles dies so leise, 
dass niemand sie hörte! Der Frankfurter Bericht 
bringt anlässlich solcher Erfahrungen eine eingehen¬ 
dere Würdigung der Schwierigkeiten und Unzuträg¬ 
lichkeiten, w'elche die Unterbringung von Verbrechern 
in Irrenanstalten zur Folge hat, und kommt zu dem 
Schluss: „wir können nicht den wenigen verbreche¬ 
rischen Kranken zu Liebe den glücklicherweise abge¬ 
streiften Gefängnisscharakter der älteren Irrenanstalten 
zum offenbaren Nachtheil der anderen Kranken wieder 
einführen“, und betont weiter das Bedürfnis, „für die 
Verwahrung der verbrecherischen Geisteskranken in 
anderer Weise zu sorgen, sei es jetzt durch eine 
Unterbringung in Adnexen zu den Strafanstalten, die 
unter einer psychiatrischen Leitung stehen, oder in für 
die besonderen Zwecke besonders eingerichteten Ab¬ 
theilungen der Irrenpflegeanstalten“. 

Selbstmorde gehören zu den aufregendsten 
und betrübendsten Ereignissen im Anstaltsleben. Zgm 
Glück sind sie nicht gar so häufig; aber trotz aller 
Vorsicht und Aufsicht werden sie sich doch nie ganz 
aus der Welt schaffen lassen. Kranke, die Suicid 
planen und dabei eine gewisse Besonnenheit bewahrt 
haben, verstehen es oft ausgezeichnet, ihre Absichten 
vor ihrer Umgebung zu verheimlichen. Von einigen 
derartigen Fällen, die aus Ueckermünde mitgotheilt 
werden, sei einer hier erwähnt: Ein älterer Herr, der 
von seinen melancholischen VerSündigungsideeh an¬ 
scheinend ganz zurückgekommen war, und bereits 
völlig freie Bewegung genoss, erhängte sich eines 
Tages in seinem Zimmer. Göttingen berichtet 
den Selbstmord eines Paranoikers, der bei der Feld¬ 
arbeit beschäftigt war und ein solches Vorkominniss 
durch nichts vermuthen liess. E b e r s \v aide knüpft an 
die Mittheilung eines ganz unerwarteten Selbstmordes 
die Bemerkung: „So unheimlich solche Fälle sind, 
so schwer dürften sie auch, namentlich bei so plötz- 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 201 


lieh auftretenden, triebartigen Neigungen, überhaupt 
zu verhindern sein“. 

Etwas anders lag ein weiterer Fall aus Uecker- 
münde. Eine ältere Frau, die wegen ihres gewöhn - 
heitsmässigen Jammems keiner Wachsaalbehandlung 
mehr bedürftig zu sein schien, benutzte einen unbe¬ 
wachten Moment, sich zu erhängen. Der Bericht äussert 
dazu: „Der Arzt steht solchen Kranken gegenüber, die 
an jahrelang anhaltender innerer Beängstigung leiden, 
vor einer schwierigen Wahl. Es wäre ja sicher mög¬ 
lich sie bei dauernder Bettbehandlung auf der Wach- 
abtheilung vor der Gefahr des Selbstmordes zu 
schützen, aber andererseits führt die dauernde Bett¬ 
behandlung schliesslich zu körperlichem Siechthum, 
und ausserdem macht eine solche Abschliessung dieser 
in der Regel geistig noch nicht ganz abgestumpften 
Kranken von jeder körperlichen und geistigen An¬ 
regung und Ablenkung ihnen ihr ohnehin qualvolles 
Leben ganz unerträglich“. — Die Grausamkeit einer 
dauernden Wachsaalbehandlung bei solchen Kranken 
hat wohl jeder von uns schon empfunden. 

Dass übrigens die Ueberwachung auch nicht immer 
im Stande ist, Selbstmorde zu verhüten, lehrt der Fall 
aus dem Tannenhof, wo ein Kranker im Wachsaal 
sich unter der Decke erdrosselte; bemerkenswerth ist 
auch ein Fall aus Göttin gen, wo ein Kranker sich 
selbst die Zunge abbiss, eine Verletzung, von der er 
wieder genas. 

Eine charakteristische Meinungsäusserung aus dem 
Osnabrücker Bericht, die an .die Mittheilung eines 
unerwarteten Selbstmordes angeschlossen wird, möchte 
ich noch wörtlich hier hersetzen: „Man kann meiner 
Ansicht nach vernünftigerweise keine Vorkehrungen 
treffen, um derartige Unglücksfälle mit Sicherheit zu 
vermeiden. — Vielleicht ist der Ausdruck Unglücks¬ 
fall nicht einmal ganz richtig. Ich bin überzeugt, 
dass, wenn sich geistig Gesunde in solcher Lage be¬ 
fänden, in der sich viele Geisteskranke theils ver¬ 
meintlich, theils wirklich befinden, bei ihnen Selbst¬ 
mord viel häufiger als bei den Kranken Vorkommen 
würde. Mag den Voraussetzungen der Kranken noch 


so viel Krankhaftes ankleben, der Schluss und der 
Entschluss, dass es dann besser sei, aus dem Leben 
freiwillig zu scheiden, scheint mir an und für sich 
betrachtet nicht so ungesund. Nach meinem Gefühle 
ist es geradezu eine Härte, ihnen diesen Erlösung 
bringenden Ausweg gewissermaassen mit Gewalt zu 
verlegen. Dazu kommt, dass die einzige Maassnahme, 
mit der man einigermaassen sicher dieses Ziel er¬ 
reichen kann, — die dauernde Ueberwachung — 
von dem Betreffenden ungemein peinlich empfunden 
wird, dass sie fast immer den Lebensüberdruss pro¬ 
gressiv steigert und das an sich schon so klägliche 
Dasein immer noch unerträglicher macht“. — Sollte 
nicht Mancher schon in seinem verschwiegenen Innern 
Aehnliches gedacht haben? Und es nur nicht aus¬ 
sprechen mögen, um nicht für frivol gehalten zu 
werden? Gewiss wird kein Anstaltsarzt nach solchen 
Grundsätzen handeln, auch Schneider-Osnabrück nicht. 
Aber der Muth, solchen Erwägungen einmal Worte 
zu leihen, ist selten. 

Auch sonstige Unglücksfälle werden von 
verschiedenen Anstalten berichtet, die aber meist 
wenig Bemerkenswerth es bieten. Von Interesse ist 
vielleicht eine aus Hubertusburg gemeldete Saprol- 
vergiftung; die Kranke war durch Uebersteigen einer 
Scheidewand in einen abgeschlossenen Raum gelangt, 
wo ein Eimer mit der Flüssigkeit stand; der Tod 
erfolgte am nächsten Tage unter den Erscheinungen 
des Lungenödems. Sonst handelte es sich um Fall 
aus dem Fenster oder die Treppe hinab (Branden¬ 
burg), Ertrinken beim Baden (Schwerin) und Aehn¬ 
liches. Der Fall aus Hcphata, wo ein schwachsinniger 
Knabe einen andern in einen tiefen Schacht gestossen 
hat, weil er ihm mehrfach fortgelaufen war, als er ihn 
zum Abort führen sollte, dann angab, er sei fortge¬ 
laufen, und Schweigen beobachtete, bis nach fast 2 
Monaten die Leiche gefunden wurde, ist ja durch 
die Zeitungen hinlänglich bekannt geworden. Der 
Bericht giebt eine ausführliche Darstellung des Falles 
und der Gerichtsverhandlung darüber, welche nach¬ 
wies, dass keinerlei Verschulden vorlag. (Forts, folgt.) 


Wahrendorffdenkmal in Ilten. 


F reunde und Verehrer des menschenfreundlichen 
Schöpfers der bedeutenden Privat-Pflegeanstalt für 
Geisteskranke in Ilten, des berühmten Arztes Dr. 
Ferdinand Wahrendorff, haben ihm hier zum 
ehrenden Gedächtniss seines Wirkens ein Denkmal ge¬ 
setzt, das am 25. Mai d. J. enthüllt wurde. Aus Ilten 
und den benachbarten Gemeinden, aus Hannover u. s. w. 
hatten sich die Theilnehmer an dem feierlichen Akte 

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in grosser Zahl eingefunden. Nach einem einleitenden 
Musikstücke hielt der Vorsitzende des Denkmals¬ 
komitees, Amtsgerichtsrath Freydank -Burgdorf, die 
Festrede. Redner wies einleitend darauf hin, dass 
ein derartiges Ereigniss, die Enthüllung eines Denk¬ 
mals, in dem uralten Gau des Grossen Freien seit 
Menschengedenken nicht vorgekommen sei. Dieses 
erste Denkmal im Gau solle reden von den Tugenden 

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202 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 17. 


Ferdinand Wahrendorffs und seiner treuen Gattin 
Julie Wahrendorff, deren Bildnisse es trage. Redner 
schilderte dann die Begründung der Iltener Anstalt 
und ihr Heranwachsen zu einer Musteranstalt, die 
eine Quelle reichen Segens für die Leidenden ge¬ 
worden sei, sowie Wahrendorffs herrliche Charakter¬ 


versprach, das Denkmal in treue Hut nehmen zu wollen. 
— Der Denkmalsentwurf ist aus einer Preiskonkurrenz 
hervorgegangen, das Denkmal ist vom Bildhauer Roland 
Engclhard-IIannover modellirt und aus Ostcrwalder 
Sandstein ausgeführt. Es lehnt sich in einem sockel¬ 
artigen halbkreisförmigen Unterbau an die den Wahren- 



eigenschaften. In einem Leben voll Mühe und Arbeit 
habe ihm seine treue Gattin helfend zur Seite gestanden. 
Das Denkmal sei begründet mit Hilfe von Hunderten 
von Beiträgen aus allen Teilen des Vaterlandes; 
grosse und kleine Gaben seien von treuen und dank¬ 
baren Freunden gespendet worden. Als die Hülle 
des Denkmals gefallen war, stimmte ein Sängerchor 
Wahrendorffs Lieblingslied „Lobe den Herren“ an, 
nach dessen Beendigung der Redner das Denkmal 
im Namen des Komitees dem Sohne und Nachfolger 
Wahrendorffs und dem Gemeindevorsteher von Ilten 
übergab. Dr. Wahrendorff dankte herzlich für das 
Denkmal und die schöne Aufgabe, die ihm als Sohn 
übertragen sei. Auch Gemeindevorsteher Weh ler 

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dörfischen Garten nach der Strasse zu abschliessende 
Mauer an. In der Mitte des Bogens erhebt sich cin r 
sechs Meter hoher Obelisk. In einer Nische ist die 
Büste Wahrendorffs angebracht, darüber das Reliefpor¬ 
trät seiner Gattin. An der Innenseite der Seitenflügel 
befinden sich Reliefs, die auf dieThätigkeit Wahrendorffs, 
die Pflege der Geisteskranken in den Familien 
und deren Beschäftigung in der Landwirtschaft 
hinweisen. Reliefs, Porträt und Büste sind aus Bronze 
hergestellt. — Den Schluss der Enthüllungsfeier bildete 
die Niederlegung einer grossen Zahl prächtiger Kränze 
an den Denkmalstufen. Dem Enthüllungsakte folgte 
ein Festmahl im Schaperschen Gasthause. 


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1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 203 


Mittheilungen. 


— Regelung des Irrenwesens. Wie jetzt be¬ 
kannt wird, hat das Reichsamt des Innern eine Um¬ 
frage veranstaltet bei sämmtlichen Bundesstaaten wegen 
ihrer Stellung zu dem Beschluss des Reichstags, der 
eine reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens be¬ 
fürwortet. 

— Schlesien. Der Provinzialausschuss der 
Prov. Schlesien hat in seiner Sitzung vom I, Juli 
1902 folgenden bemerkenswerthen Beschluss gefasst: 

„1. Die Gewährung von Uilaubsunterstützungen 
an solche Geisteskranke des Provinzialverbandes, welche 
nach dem Urtheil der Anstaltsdirection nur bei Ge¬ 
währung einer Unterstützung aus der Anstalt beurlaubt 
werden können, sowie die Verrechnung dieser Unter¬ 
stützungen bei Titel „Insgemein“ des Anstaltsetats 
wird genehmigt. 

2. Für die dadurch etwa bedingte Etatsüberschreit¬ 
ung wird dem Provinziallandtage gegenüber die Ver¬ 
antwortung übernommen.“ 

(An die Landarmenverbandskranken dürfen schon 
seit längerer Zeit derartige Beihilfen seitens der An¬ 
staltsleitungen gezahlt werden. S. Seite 258, Jahrg. 
II, dieser Wochenschrift.) 

— Berlin. Die Vossische Ztg. vom 12. 7. 02. 
schreibt: „Während noch die dritte städtische Irren¬ 
heilanstalt in Buch im Bau ist, hat sich gezeigt, dass 
noch zwei weitere städtische Irrenanstalten er¬ 
forderlich sind, um den Erfordernissen der.Irrenpflege 
in Berlin zu genügen. Es ist von Interesse, 1 zu prüfen, 
worauf diese in einem Gutachten Sachkundiger aus¬ 
führlich begründete Forderung von zwei neuen Irren¬ 
anstalten für Berlin beruht. Wie viele andere Com- 
munalverbände hat die Stadt Berlin darauf verzichtet, 
für alle Geisteskranken, die der Anstaltspflege be¬ 
dürfen, eigene städtische Anstalten zu errichten. Es 
ist immer ein verhältnissmässig beträchtlicher Theil 
von Geisteskranken, welche die Anstaltspflege nöthig 
haben und für welche die Stadtgemeindc zu sorgen 
hat, Privatanstaltcn fürGeisteskranke zugewiesen worden. 
In den Privatirrenanstalten um Berlin, in den kleineren 
und grösseren, giebt es Abtheilungen für Communal- 
kranke, d. h. für Kranke, für welche die Stadt Berlin 
die Pflegekosten trägt. Dass sich solche privaten 
Pflegestellen für Geisteskranke leicht finden, entspricht 
einem besonderen Umstande: Durch die Zuweisung 
von Communalkranken in private Heilanstalten wird 
deren Betrieb in einem bestimmten Umfange gesichert. 
Das gemischte System der geschlossenen Irrenfürsorge, 
wie es die Stadt Berlin übt (ein Theil der Kranken 
wird in den städtischen Irrenanstalten, der andere Theil 
in privaten Heilanstalten verpflegt), ist aber von Fach¬ 
männern vielfach beanstandet worden. Wiederholt 
ist in der medizinischen und in der politischen Presse 
eindringlich gefordert worden, dass die Stadt Berlin 
das gemischte System aufgebe und aus Stadtmitteln 
so viele und so grosse Anstalten errichte, dass alle 
Geisteskranken in Irrenanstalten der Stadt Berlin ver¬ 
pflegt werden können. Es ist nicht zu verkennen — 
von der Erörterung der Ursachen* sei hier abgesehen 


— dass die Stadtgemeinde Berlin mit dem Bau eigener 
Irrenanstalten langsam vorgegangen ist. Sie bat erst 
verhältnissmässig spät einen Anfang gemacht. Die 
grosse Anlage der städtischen Irrenheilanstalten Dall¬ 
dorf und Herzberge darf nicht darüber hinwegtäuschen, 
dass trotz der hohen Belegziffern der beiden Anstalten 
den wirklichen Forderungen der Irrenpflege noch 
nicht genügt ist. Man kann getrost sagen, dass ehe 
noch ein städtisches Irrenhaus baulich fertig gestellt 
war, unzweifelhaft das Bedürfniss nach einer weiteren 
neuen Anstalt zu Tage trat. Woher kommt das ? 

. . . . (Folgt Erörterung bekannter Dinge.) .... 
Diese Organe (sc. der öffentlichen Krankenfürsorge) 
werden sich Dank erwerben, wenn sie in einem der 
Hauptzweige ihrer Thätigkeit, in der Irrenpflege, wie 
jetzt beabsichtigt wird, je schneller um so besser gründ¬ 
lichen Wandel schaffen. Erst dann kann von 
einem solchen Wandel die Rede sein, wenn 
alle Kranken, für welche die Stadt Berlin zu 
sorgen hat, in städtischen Anstalten unterge¬ 
bracht sind. “ 

— Norddeutscher psychiatrischer Verein. 

Neunte Sitzung in Danzig am 11. Juli 1902. 

Anwesend: 3 3 Theilnehmer. Vorsitzender: S i e m e n s- 
Lauenburg. Zum Versammlungsort für 1903 wurde 
wieder Danzig gewählt, als Geschäftsführer Frey- 
m u t h - Danzig und Rabbas-N eustadt W.-Pr. 

1. G1 uszczewskv-Conradstein: Die acute hal¬ 
luzinatorische Verwirrtheit als Initial¬ 
stadium bei Melancholie. (Autoreferat). 

Vortragender bespricht zunächst die Amentia als 
selbständiges Krankheitsbild, das heute allgemein an¬ 
erkannt sei. Ihr Symptomencomplex, wie ihn Mevnert 
aufstellt, besteht in der tiefen Bewusstseinstrübung, 
dem rath- und hilflosen Wesen der Kranken, der 
illusionären Verfälschung der Wirklichkeit und in Hallu¬ 
zinationen, welch’ letztere indessen keinen wesentlichen 
Bestandteil dieser Erkrankung bilden. Ihr Vorkom¬ 
men betrifft vorwiegend das weibliche Geschlecht, 
was sich zwanglos aus der Aetiologie — grossen Er¬ 
schöpfungszuständen, wie sie Geburt, Wochenbett etc. 
setzen — ergiebt. Sie nimmt 2 Verlaufsrichtungen, 
eine manische und eine stuporöse, kann auch unter 
dem Bilde des Kollapsdelirs auftreten, der acutesten 
Form der puerperalen Verwirrtheit, während das 
delirium acutum wohl in die Reihe der fieberhaften 
Erkrankungen zu rechnen ist oder als Symptomen- 
complex bei der progressiven Paralyse auftritt. 

Die Prognose der Amentia ist günstig, Genesung 
in 6— 9 Monaten, in seltenen Fällen Exitus letalis, 
seeundäre Verwirrtheit, Verrücktheit oder Demenz. 

Die Therapie besteht in ausgiebiger Ernährung, 
nebenbei in Bädern, Morphium, Alkohol. Medicamente 
sind möglichst zu vermeiden. 

In zweiter Hinsicht wird die Amentia als Symp- 
tomencomplex bei verschiedenen andern Seelenstö¬ 
rungen besprochen. 

Bei der Syphilis des Centralnervensystems tritt 
sic relativ häufig auf und ist für diese Erkrankung 


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Original fram 

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204 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17 


geradezu charakteristisch. Man suche frühzeitig die 
wahre Natur des Leidens zu erkennen, um eine spe¬ 
zifische Behandlung einleiten zu können. 

Im Verlauf der progressiven Paralyse ist sie nicht 
selten; der somatische Befund, die Grössenideen in 
den ideenflüchtigen Reden, der einförmige Bewegungs¬ 
drang etc. geben Aufklärung. Bei der foudroyanten 
Form der Paralyse ist die Unterscheidung zwischen 
dieser und der Amentia sehr schwierig. 

Ebenso bekannt sind die Zustände von Amentia, 
die sog. Dämmerzustände, vor, nach und statt epilep¬ 
tischer und hysterischer Anfälle. 

Im Beginn und auf der Höhe der Manie ist die 
Amentia nicht selten, episodisch tritt sie auch bei 
der chronischen Verrücktheit auf. 

Ausführlich wird dann die Abgrenzung der Amentia 
gegenüber der acuten Verrücktheit und der Katatonie 
besprochen und darauf hingewiesen, dass man sich 
hüten müsse vor Fehldiagnosen zu Gunsten der 
Katatonie, da das Vorkommen katatoner Symptome 
gerade bei der Amentia ein recht häufiges ist. 

Kurz werden dann noch die Verwirrtheitsprocesse 
bei den jugendlichen Irreseinsformen und bei den 
senilen Involutionspsychosen besprochen und die 
Kriterien für die Differentialdiagnose angegeben. 

Erwähnt wird auch das Vorkommen einer Amentia 
beim chronischen Alkoholismus, und die Schwierig¬ 
keit betont, sie von der acuten Alkoholverrücktheit 
zu sondern. 

Vortragender bespricht dann an der Hand von 
5 Fällen, wie die Amentia in ihren charakteristischen 
Merkmalen und in dem ihr eigenartigen Verlauf eine 
Melancholie einleitet. 

In allen Fällen musste die Diagnose zunächst auf 
Amentia gestellt werden; der Entstehung der Seelen¬ 
störung sind greifbare somatische Schädigungen vor¬ 
ausgegangen. 

Im Fall I gehäufte Wochenbetten und beginnende 
Gravidität, im F^ill II Influenza und Ueberanstrengung 
im Dienst, im Fall III Chlorose, Nachtwachten, Alko- 
holabusus und schlechte hygienische Verhältnisse, im 
Fall IV Abort, im Fall V Puerperium. 

Alle erkranken mit hochgradiger Verwirrtheit und 
Desorientirtheit, sowie Illusionen und Halluzinationen. 
In einigen Fällen nimmt die Erkrankung einen furi- 
bunden Charakter an. Bei allen bahnt sich nach 
mehreren Wochen bis Monaten Genesung oft mit 
einem moriaartigen Stadium als Vorläufer an. Die 
Erkrankten zeigen Krankheitseinsicht, suchen sich zu 
orientiren, benehmen sich leidlich geordnet und be¬ 
schäftigen sich. Dieses auf die Amentia folgende 
Intervall dauert bis zu einer Woche. 

Erst dann setzt in allen Fällen eine Melancholie 
ein, die ihren gesetzmässigen Verlauf nimmt und nach 
Monaten in Genesung oder Besserung übergeht. 

In den Schlussfolgerungen wird hervorgehoben, 
dass zunächst in Folge schwerer Erschöpfung eine 
Amentia, diese Erschöpfungskrankheit xar' 
auftritt, um späterhin einer Melancholie Platz zu 
machen. Es folgt daraus, dass, wie es auch Meyer 
in Tübingen hervorhebt, Erschöpfungszuständen Psy¬ 
chosen von verschiedenartigem Gepräge nachfolgen 


können, und dass der ätiologische Faktor nicht allzu 
hoch bewerthet werden darf. 

In der Diagnose und Prognose lehren die Fälle 
vorsichtig zu sein. Bei allzu rasch sich anbahnenden 
Heilungen soll man sich keinen trügerischen Hoff¬ 
nungen hingeben und erwägen, wie häufig die Amentia 
bei den verschiedenartigsten Psychosen als Svnip- 
tomenkomplex vorkomint. 

Auch in praktischer Beziehung sind die Fälle eine 
Mahnung, mit der Entlassung der Kranken, die eine 
Amentia überstanden haben, recht vorsichtig zu sein, 
bis man sieht, dass die Amentia die Grunderkrankung 
und nicht eine komplicirende Psychose ist, da sonst, w ie 
bei nachfolgenden Melancholien, recht unangenehme 
Ereignisse durch gewaltthätige Akte der Patienten 
gegen sich und andere eintreten könnten. 

Zum Schluss wird noch kurz der Gesammtverlauf 
der einzelnen Fälle hervorgehoben, der sich durchweg 
günstig zu gestalten scheint. 

Discussion. Meschede bekundet sein Einver¬ 
ständnis mit den Anschauungen des Vortragenden 
bezüglich der Begriffsbestimmungen der Melancholie 
und der Amentia, entgegen den Lehren der Krae- 
pelin’schen Schule. 

Freymuth und Siemens vertreten den Stand¬ 
punkt der Kraepelin’schen Lehren. Angst, Verwirrt¬ 
heit, Halluzinationen und Illusionen seien Symptome, 
die bei jeder Psychose Vorkommen können. Ent¬ 
stehung und Gesammt-Verlauf entscheiden. — 

2. Wickel -Dziekanka: Ueber Gehirnsection 
mit Demonstrationen. 

Die Ausführungen Siemerlings: „Ueber die zweck - 
mässigste Art der Hirnsection“ (Jahresversammlung 
des Vereins deutscher Irrenärzte; Frankfurt 1893) 
sind auch heute noch maassgebend, sofern man nicht 
auf eine macroscopische Betrachtung des frischen 
Hirns verzichten will und die microscopische Unter¬ 
suchung des Hirns an ganzen Schnitten nicht anstrebt. 

In Anlehnung an ein ähnliches Vorgehen Siemer- 
ling’s (cfr. auch: Ueber Technik und Härtung grosser 
Hirnschnitte; Berl. klin. Wochenschr. 1899, Nr. 32) 
nimmt W. von einer Section des frischen Hirns 
überhaupt Abstand. 

Die Hirne kommen ohne Ausnahme gleich nach 
Herausnahme aus der Schädelhöhle in io°/ 0 Formol 
und werden nach 8— 14 Tagen bezw. 4 — 6 Wochen 
in Frontal-, Sagittal- oder Horizontal-Schnitte zerlegt 
— je nach der Eigenart des Einzel falls. 

In der Regel genügen Frontal-Schnitte von der 
Basis zur Convexität. 

Dieses Verfahren hat sich bewährt. 

W. empfiehlt es besonders für Irren-Anstalten, 
da hier bei nicht allzu grosser Zahl der Sectionen 
gutes pathologisch-anatomisches Hirnmaterial. 

Es werden 12 Gehirne demonstrirt, bei welchen 
das geschilderte Verfahren in Anwendung kam. (Tu¬ 
moren, Apoplexien, haemorrhag. Cysten, traumatische 
Veränderungen, Meningitis, Paralyse, Idiotie). 

W. zeigt im Anschluss Photogramme von einigen 
der demonstrirten Hirnpräparate (angefertigt von 
Herrn Dr. Knust-Dziekanka). 

Die Photogramme sind ein wesentliches Hilfs- 


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ir,o2.] PSYCHIATRISCH-NEUR< ILOGISCIIE WOCHENSCHRIFT. 205 


mittel bei dem Studium der Präparate. Manches tritt 
auf ihnen deutlicher hervor, wie am Präparat selbst. 

Discussion. Wallen borg fragt, wie nach E'or- 
mnlhärtung die Weigertfärbung ausfiele. Der Vortragende 
erwidert, dass Müll er-Formel bessere Weigert bilder 
gäbe. Sander fragt wegen Nisslfärbung. Nach 
Verf. sind die Ansichten darüber getheilt. 

3. N e ug c b a 11 c r-Conrndstein: Die Familien- 
p fl ege Geisteskranker bei d er Pro v.-Irren - 
Anstalt Co n ra d s t e i n. 

Dr. Neugebauer berichtet über die Entwicklung 
und den Stand der kolonialen und der Familienpflege 
zu Conradstein. In Familienpflege sind Kranke seit 
dem 1. April iqoi theils in dem nahen Dorfe Saaben, 
theils in der benachbarten Stadt, Pr. Stargard, unter¬ 
gebracht. Die Vcrpflogungsbedingungen sind im 
Ganzen die allgemein üblichen, bis auf gewisse Ab¬ 
weichungen, welche die dürftige wirtschaftliche Lage 
der Bevölkerung dortiger Gegend notwendig machte; 
so kann den Pfleglingen nur in Ausnahmefällen ein 
eigenes Schlafzimmer gewährt werden. Zunächst 
wurden 19 Kranke, darunter 12 Männer und 7 Frauen 
untergebracht. Allmählich stieg ihre Anzahl, doch 
mussten manche auch wieder zurückgenommen werden. 
Es geschah das theils wegen körperlicher Erkrankung, 
theils in Folge von Erregungszuständen und ühnl.; 
entwichen sind 3 Kranke. Zwei Pflegestellen wurden 
wegen des ungeeigneten Verhaltens der Pfleger auf¬ 
gehoben. Ain Ende des Etatsjahrs 1900 01 befanden 
sich noch 21 Kranke in Pflege, davon 8 Männerund 
13 Frauen. Dieselben vertheilen sich auf primäre 
und secundürc Geistesschwäche in folgender Weise: 

Sccundärc Imbecille 
Demenz u. Idioten L d * 



M. F. 

M. 

F. 

M. 

F. 

In Pflege gegeben . . 

. 10 4 

10 

16 

20 

20 

Zurückgent mimen . . 

7 2 

5 

5 

I 2 

7 

In Pflege am Ent 1 e desJ ahres 3 2 

5 

1 i 

8 

US 

Die Pflegerfamilien 

verthcilen 

sich 

dem 

Be; 

rufe 


nach folgendermaassen: 

4 Handwerker, 

2 Arbeiter, 

1 Gärtner, 

5 Krankenwärter. 

Von den Kranken befanden sich 8 bei den Wärter- 
familien, 13 bei Handwerkern u. s. \v\, 6 waren im 

Dorfe Saaben, 13 in Pr. Stargard untergebracht. 
Unter den primär Schwachsinnigen bestand die 
grössere Anzahl aus jugendlichen Kranken. 

Seither sind noch mehrere Frauen in Pflege ge¬ 
geben worden; bei diesen erhöht sich die Zahl der 
Idioten um 4, die der seeundären Dementen um 5. 
Die Gesam int zahl der in Familien verpflegten Kranken 
betrug bis zum 30. Juni d. J. 30. Drei Pflegestellen 
waren neu hinzugekommen, davon zwei I landwerker¬ 
und eine Wärterfamilie. 

Die Erfahrungen, die hier gemacht wurden, sind 
im Allgemeinen als befriedigende zu bezeichnen. 
Günstig in Bezug auf äussere Umgebung, und auf 
Behandlung erscheinen die Kranken namentlich in 
den Wärterfamilien untergebracht. Um nach dieser 
Richtung noch weiter vorzugehen, besteht die Absicht, 

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bei dem projcctirten Bau von Wärterwohnungen diese 
zugleich den Bedürfnissen der Familienpflegc ent¬ 
sprechend ein zurichten. 

Discussion: Stoltenhoff fragt nach den Be¬ 
stimmungen der Verträge mit den Pflegern. Krömer 
theilt mit, dass die Verträge vom Direktor abgeschlossen 
und täglich aufgehoben werden können. — 

4. S a nder - Graudenz : Die neu errichtete 
I r r e n a b 1 1 1 e i 1 u n g an der Strafanstalt zu 
Graudenz. 

Seit dem 1. April d. J. ist an der Strafanstalt zu 
Graudenz eine besondere Abtheilung für geisteskranke 
Gefangene eingerichtet , die letzte von 5 ähnlichen 
Abtheilungen, welche im Laufe der letzten Jahre in 
Preusscn errichtet wurden. Die Graudenzer Anstalt 
besteht aus einem 2 stockigen Bau, welcher von dem 
eigentlichen Strafanstaltsgebiet durch eine besondere 
Umfassungsmauer getrennt ist. Im Erdgeschoss be¬ 
findet sich die Abtheilung für unruhige Kranke, im 
I. Stock die Aufnahme und Wachabtheilung, im II. 
Stock zwei Abtheilungen für ruhige und arbeitsfähige 
Kranke und Reconvalescenten. Die Belegzahl beträgt 
50 Kranke, die Zahl der Einzelzimmer 9, davon 4 
als Isolirzellen eingerichtet. Die Fanrichtung der 
Wachsäle und Einzelzimmer entspricht psychiatrischen 
Anforderungen, Thüren und Fenster sind mit den 
in Strafanstalten üblichen Sicherheitsvorrichtungen ver¬ 
sehen, um ein Entweichen zu verhindern. Die Kran¬ 
ken tragen besondere Kleidung, die sie von den 
übrigen Gefangenen unterscheidet, die Aufseher sind 
in Irrenanstalten vorgebildet. Die Kranken werden 
mit Stuhl- und Mattenflechten, ein Theil mit Garten¬ 
arbeit beschäftigt. Die Abtheilung ist telephonisch 
mit der Hauptanstalt und der Wohnung des Arztes 
verbunden, ausserdem führen von allen Abtheilungen 
elektrische Klingelzüge nach einem Zimmer im Erd¬ 
geschoss, von dem aus bei Tag und Nacht sofort 
Hülfe herbeigeholt werden kann. 

Die Graudenzer Abtheilung nimmt alle Gefange¬ 
nen aus den Strafanstalten und Gefängnissen der 
Verwaltung des Innern innerhalb der Provinzen Ost- 
preussen, Westpreussen, Posen und Poinmern auf, 
sofern sic in Folge ihres Geisteszustandes einem Heil¬ 
oder Bcobachtungsverfahren unterzogen weiden sollen, 
ferner die gleiche Kategorie von Gefangenen aus den 
Justizgefüngnissen der Oberlandcsgcrichtsbezirke Königs¬ 
berg, Marienwerder und Posen. Die Aufenthalts¬ 
dauer in der Anstalt soll in der Regel nicht mehr 
als 0 Monate betragen, man nimmt an, dass dieser 
Zeitraum genügt, um eine endgültige Feststellung des 
Geisteszustandes herbeizuführen. Ueber diese Zeit 
hinaus können Kranke nur dann in der Irrenabthei¬ 
lung verpflegt werden, wenn mit Sicherheit vorauszu¬ 
sehen ist, dass im Laufe der nächsten 9 Monate 
durch die Weiterbehandlung eine Besserung bis zur 
Strafet »llzugsfäliigkeit eintreten wird. 

Die Graudenzer Abtheilung bietet somit ebenso 
wie die anderen derartigen Irrenabtheilungen eine 
erhebliche Entlastung: der Irrenanstalten von den ge¬ 
fährlichsten und unangenehmsten Elementen. Auf 
der andern Seite steigt aber mit der erleichterten 

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206 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17. 


Aufnahme aus den Strafanstalten die Zahl der unheil¬ 
baren geisteskranken Verbrecher, die nach wie vor 
in den Irrenanstalten Aufnahme finden müssen. 
Ueberall da, wo keine besonderen Abtheilungen für 
derartige Kranke existiren, ist deren Aufnahme er¬ 
schwert, sodass hierdurch bereits eine Ueberfiillung 
einzelner Irrenabtheilungen eingetreten ist. Es giebt 
2 Wege zur Abhilfe hierfür, entweder, dass die grösse¬ 
ren Communalverbände gesetzlich genöthigt werden, 
besondere Abtheilungen zur Internirung unheilbarer 
geisteskranker Verbrecher einzurichten, wie dies an ein¬ 
zelnen Orten bereits geschehen ist,- oder die Errich¬ 
tung besonderer Centialanstalten für derartige Kranke, 
wie in England, Amerika, Italien. Das letztere würde 
bei uns nur durch einen besonderen gesetzlichen Akt 
ermöglicht werden. 

Discussion. Krömer fragt, ob auch Untersuchungs¬ 
gefangene nach § 81 Str. P. O. aufgenommen würden 
und wie viel Aufseher bei Tage nöthig seien. S. er¬ 
widert, dass nur besonders schwer zu behandelnde 
Untersuchungsgefangene kämen und dass 1 Aufseher 
auf 5 Kranke komme. Der Arzt der Irrenabtheilung 
sei auc h Arzt der Strafanstalt überhaupt Auf eine 
Frage Encke’s erwiedert S., dass Disciplinarstrafen 
angewendet werden könnten, dass sie aber im Allge¬ 
meinen mit denselben Mitteln wie in andern An¬ 
stalten auskämen. K a y s e r und Stoltenhoff 
wünschen, dass die Insassen möglichst lange zurück¬ 
gehalten und dass nur die Verblödeten in die Pro- 
vinzial-Irren-Anstalten übergeführt werden möchten. 
S. macht aufmerksam, dass, wenn die Unheilbarkeit 
festgestellt sei, die Insassen nicht mehr Gegenstand 
des Strafvollzugs sein könnten und daher entlassen 
werden müssten. Siemens hat stets betont, dass 
die Provinzial-Anstalten durch diese, an sich segens¬ 
reichen Abtheilungen nur noch mehr mit geisteskran¬ 
ken Verbrechern beglückt werden, als früher. — 

5. Krö m e r-Con radstein: Körperverletz¬ 
ungen, k ö r p erliche Misshandlungen als 
Ursache von Gei st e sst ü rungen. (Autoreferat). 

An der Hand seiner Erfahrung als gerichtlicher 
Sachverständiger trägt Kr. zehn Fälle von Geistes¬ 
störung vor, die in Folge erlittener körperlicher Miss¬ 
handlung zum Ausbruche gekommen sein soll. 
Fälle, in denen es sich um direkte Kopfverletzungen 
handelt, werden bei der Betrachtung ausgeschlossen. 
An sich solle die Möglichkeit, dass körperliche Miss¬ 
handlungen eine Geistesstörung zur Folge haben 
können, nicht geleugnet werden. Nach Analogie 
der Reflexcpilepsie könne durch anhaltende und 
schwere Misshandlung peripherer Körpertheile even¬ 
tuell ebensogut einmal eine Geistesstörung hervorge¬ 
rufen werden, zumal dann, wenn cs sich um Ver¬ 
letzung von grösseren Nervei »Stämmen handle, um 
Narben an ungünstiger Kürperstelle, die häufigen 
neuen Reizen ausgesetzt seien. In gewisser Bezieh¬ 
ung käme es hierbei auf die Art des Gegenstandes 
an, mit welchem die Misshandlung erfolgt sei, inso¬ 
fern als ein weicher und nachgiebiger w eniger gefähr¬ 
lich sei, als ein harter und fester. Reizungen, Drücken, 
Schlagen ungünstig gelegener Narben bezw. Verletz¬ 
ungen können wüthetide Schmerzanfälle (Wuthpa- 

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roxvsmen) auslösen. Kommt es zu einer Betheiligung 
des Gehirns, zum Ausbruche einer Geistesstörung, so 
müssen sich die Zeichen einer Hirnerschütterung be¬ 
merkbar machen, es müssen in der Regel nachzu¬ 
weisen sein, Hyperästhesieen, Paraesthesieen, vaso-. 
motorische Störungen, Pulsverlangsamung, Kälte 
oder Hitze der getroffenen Glieder, ausstrahlende 
Schmerzen derselben, Pupillenveränderungen, denen 
sich Lähmungserscheinungen, Erbrechen, Schwindel, 
Ohnmächten und ataktische Störungen anschliessen 
können. Psychisch macht sich eine erhöhte Reizbar¬ 
keit, Intoleranz gegen Alkohol, Energielosigkeit, Mat¬ 
tigkeit, Herabsetzung der rohen Kraft, Kopfweh, 
Abnahme des Gedächtnisses, Aenderung der Stim¬ 
mung und des Charakters, auch Störungen der Sensi¬ 
bilität und der Sinnesthätigkeit bemerkbar. 

Pathologisch-anatomisch findet man eine geringe 
Färbbarkeit der Zellen, Umwandlung derselben in 
eine stark gefärbte granulirte Masse, Ausdehnung der 
Gefässscheiden, die sich abheben, kleinzellige Infiltra¬ 
tion ihrer Umgebung und eine abnorme starke Fül¬ 
lung der Gefässe selber. (Apelt, Kronthal, Schmauss, 
Kirchgaesser, Koeppen, Sperling, Edel, Friedinann u. A.). 
Scaliosi fand an Nisslpräparatcn die Gliazellen schon 
nach einer Stunde, die Ganglienzellen etwas später ver¬ 
ändert, er sah variköse Atrophie oder Entartungshyper¬ 
trophie der Zellen, Chromatolvse, Vacuolenbildung im 
Zellleib, Homogenisirung des Kerns bis fast zum völligen 
Schwund der Gestalt des Zellkörpers. Parascandolo 
fand nach Körpererschütterungen ähnliche Deforma¬ 
tionen des Zellkörpers, Fragmentation der Dendriten, 
variköse Anschwellung derselben und sonst Befunde 
wie Scaliosi. 

Je mehr die feineren hirnanatomischen Unter¬ 
suchungen bei Erschütterungen des Gehirns, bezw. 
des Körpers positive Befunde ergeben haben, um so 
weniger wird man behaupten können, dass es krank¬ 
hafte Himsymptome ohne solche und ähnliche Be¬ 
funde gäbe. 

Der Vorgang bei solchen Erschütterungen sei 
etwa ebenso zu deuten, wie bei den hierauf bezüg¬ 
lichen Experimenten von Kocher, die die vorzugs¬ 
weise Betheiligung des Blutgefässsystems erklären. 

Gesunde Personen können selbst schweren Er¬ 
schütterungen und Verletzungen ausgesetzt werden, 
ohne dass sie von seiten des centralen Nervensystems 
irgendwelche Erscheinungen zeigen. Anders ist es 
bei Personen, die Erkrankungen des Gefässsystems 
darbieten, bei Trinkern und Luetikern und Personen 
die aus disponirten Familien stammen. Bei diesen 
könne eine geringfügige Erschütterung grössere Er¬ 
scheinungen * machen, als eine erhebliche Erschütte¬ 
rung bei sonst Gesunden. Die verschiedenen Lebens¬ 
phasen, die Zeit der körperlichen und geistigen Ent¬ 
wickelung in der Jugend, die Zeit der Geschlechts¬ 
reife, der Reconvalcscenz, überstandene Krankheiten 
können disponirend wirken. 

In Fällen, in denen eine solche Erschütterung des 
centralen Nervensystems zunächst nicht nachgewiesen 
sei, könne es sich um ungünstige psychische Einflüsse, 
um psychischen Sliok, vorzugsweise um Schreck han- 

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i 9 o2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 207 


dein, welche gleichfalls heftige Blutdmckschwankungen, 
Anämieen und Hyperämieen, ev. capillare Blutungen 
herbeiführen und darnach plötzliche Hemmungen 
aller geistigen Functionen, besonders auf psychomoto¬ 
rischem Gebiete bis zum Stupor und zur Aufhebung 
des Bewusstseins nach sich ziehen können. — 

Die anatomischen und klinischen Erscheinungen 
seien vorzugsweise von fortschreitendem Charakter, 
könnten klein und kaum merkbar beginnen und mit 
den gröbsten Störungen enden. — 

In der Praxis habe man nach solchen anatomischen 
und psychischen Krankheitserscheinungen zu suchen; 
der Erfahrene wird sie oftmals entdecken, wo ein Un¬ 
erfahrener Nichts sieht. Immer sei eine genaue 
Anamnese aufzunehmen, die Persönlichkeit in körper¬ 
licher und psychischer Hinsicht vor der erlittenen 
Misshandlung festzustellen; eine gewisse Skepsis zu 
üben sei zweckmässig, da das Publikum nur zu ge¬ 
neigt sei, alle nachfolgenden Krankheitszustände auf 
einen Unfall, auf eine Verletzung bezw. Misshandlung 
zurückzuführen und vorausgegangene Schäden zu ver¬ 
schweigen. 

Nach Anführung einiger Fälle aus der Literatur 
(von Bühr, Köster, Blcncke u. A.) berichtete Vor¬ 
tragender cursorisch über seine eigenen Fälle, die 
zum Theil strafrechtlich zum Austrag gebracht worden 
seien. 

1. i6j. Dienstjunge wurde Dccember 1890 von 
seinem Dienstherrn mit einem Stock gezüchtigt, sehr 
bald darauf soll er geisteskrank geworden sein. 
Maniakalische Erregung, die mehrere Wochen anhält 
und Anstaltsbehandlung erforderlich machte, aber in 
Genesung überging. 

Die Untersuchung ergab ausser einigen Striemen 
auf dem Rücken und dem r. Schulterblatt keine der 
oben angeführten Störungen, dass der Geschlagene 
bereits Wochen lang vor der Prügel psychisch ver¬ 
ändert war. Die seitens der kgl. Staatsanwaltschaft 
eingeleitete strafrechtliche Untersuchung gegen den 
Dienstherrn wurde niedergeschlagen, da nach dies¬ 
seitigem Gutachten ein direkter Zusammenhang zwischen 
Misshandlung und Geistesstörung nicht mit Klarheit 
nachgewiesen sei. 

2. 2öjähr. jung verheirathete Frau — Mutter 
geisteskrank — war von einer Flurnachbarin nach 
vorausgegangenen längeren Plänkeleien überfallen und 
durchgeprügelt worden. Darnach erst erregt, dann 
depriinirt, theilweise stuporös. Zustand von kurzer 
Dauer, von wenigen Tagen. Anstaltsbehandlung nicht 
nöthig. Der Ehemann der Misshandelten erhebt An¬ 
klage gegen die Schlägerin. Die Untersuchung ergab, 
dass die Misshandelte seit Jahren neurasthenisch sei, 
in der Jugend wiederholt an Ohrenentzündung ge¬ 
litten, noch im Alter von 22Jahren nach kurzer Ent¬ 
fernung von der Heimath von schwerem krankhaften 
Heimweh überfallen wurde, das erst nach ihrer Rück¬ 
kehr nachliess. — Im Gutachten wurde hervorgehoben, 
dass eine derartig beschaffene Person durch den er¬ 
littenen plötzlichen Ueberfall hätte aus dem psychi¬ 
schen Gleichgewicht gebracht werden können, um so 
eher, als sie durch ihre eben erst erfolgte Verhei- 
rathung und die damit verbundene Erregung, sowie 


durch erneutes starkes Heimweh und unbefriedigende 
äussere Verhältnisse psychisch sich nicht mehr in ge¬ 
ordnetem Gleichgewicht befunden habe: eine gesunde 
Frau würde durch die erlittenen Schläge voraussicht¬ 
lich nicht geisteskrank geworden sein. — Die Be¬ 
klagte wurde wegen Misshandlung mit einer Geldstrafe 
belegt. 

3. I2jühr. Schulknabe, gesunde Abstammung, 
war von seinem Lehrer mit einem Stock gezüchtigt 
und am Ohre gerissen worden. Der Vater erhob 
Strafantrag gegen den Lehrer, weil sein Sohn dar¬ 
nach körperlich und geistig erkrankt sei. Er zeige 
Krampferscheinungen, sei rechtsseitig gelähmt, geistes¬ 
abwesend, starre vor sich hin, lasse den Speichel aus 
dem Munde laufen. Ein beamteter Arzt diagnosti- 
zirte zunächst Hirnhautentzündung, dann Hirnabsccss, 
und als der Junge nicht, wie erwartet, starb, sondern 
sich erholte, hysterisch-traumatische Lähmung. Ein 
anderer Arzt konnte in nichrwöchentlicher Krankcn- 
hausbehandlung weder Krämpfe noch Lähmungser¬ 
scheinungen beobachten. 

Mit Abgabe eines Obergutachtens betraut, konnte 
ich auf Grund der Untersuchungsakten fcststellen, dass 
der Knabe schon seit mehreren Jahren ein chroni¬ 
sches Ohrenleiden habe, dass er seit ebensolänger 
Zeit träge w r ar, nichts mehr lernte und in der Schule 
nicht mehr mit fortkam. Die vorliegenden ärztlichen 
Untersuchungen seien ungenau und lückenhaft; jeden¬ 
falls habe der Knabe weder an Hirnhautentzündung, 
noch an einem Hirnabsccss, noch an hysterisch-trau¬ 
matischer Lähmung gelitten. Es sei unmöglich, den 
Beweis zu liefern, dass die Krankheit durch die er¬ 
littenen Misshandlungen hervorgerufen sei. — Der 
Lehrer w'urde wegen Ueberschreitung seines Züch¬ 
tigungsrechts unter Annahme mildernder Umstände 
mit einer Geldstrafe belegt. 

4. 2ojähr. Dienstjunge, Vater Vagabond, der 
seinen Sohn gleichfalls dazu erzog, sodass er keine 
Schule besuchte und geistig beschränkt blieb. Als 
Dienstjunge vermiethet, bekam er von einem Mitknecht 
Stockprügel wegen Trägheit, von denen er nur einige 
blutunterlaufene Stellen auf dem Rücken zeigte. Er 
bekam epileptische Krämpfe darnach, zeigte ein blöd¬ 
sinniges Verhalten, die ersteren häuften sich sehr stark, 
Status cpilepticus, T<xi. — Anklage wegen Körper¬ 
verletzung mit tödtlichem Ausgange. — Die Unter¬ 
suchung ergab, dass der Geprügelte schon von Jugend 
auf epileptisch war, dass er deshalb die Schule nicht 
besuchen konnte, dass er durch die zahlreichen epi¬ 
leptischen Anfälle verblödet war. — Gutachten : es 
sei nicht zu erweisen, dass die gehäuften epileptischen 
Anfälle und der nachfolgende Tod mit Sicherheit 
auf die erlittenen Prügel zuiückzuführen sei. — Unter¬ 
suchung niedergeschlagen. 

5. 2ijähr. Soldat, in der Familie mehrfach Epi¬ 
lepsie, in der Jugend und während der Schulzeit 
selbst epileptisch, deshalb geistig beschränkt. — Seit 
Jahren frei von Krämpfen, wurde er zum Militär 
ausgehoben, wurde dort wegen Trägheit und seinem 
sonst etwas auffälligen Wesen von seinen Kameraden 
öfters geprügelt und mit Fussspitzen an die Knie 


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208 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


gestosscn. Wegen dieser Behandlung desertirte er 
zweimal. Als er das zweite Mal zurückgebracht 
wurde, erschien er verwirrt, dann tobsüchtig, weshalb 
er in das Garnisonlazareth, später in die Irrenanstalt 
gebracht wurde. In letzterer war er erst stuporös, 
später leicht maniakalisch, dann reizbar, mürrisc'h, un¬ 
zufrieden, witterte überall Zurücksetzung und Benach- 
theiligung. Gebessert entlassen, mac hte er beim Militär 
Versorgungsansprüclie, da er durch die Misshand¬ 
lungen aufgeregt und in Geistesstörung versetzt worden 
sei; gegen eine Anzahl von Soldaten wurde Anklage 
wegen schwerer Körperverletzung erhoben. Die* be¬ 
gutachtenden Aerzte erkannten an, dass das Hirn 
durch Epilepsie invalide sei, dass indessen die er¬ 
littenen Misshandlungen für sich allein im Stande 
gewesen wären, die Geistesstörung hervorzurufen. 
Diesem Urtheil wurde diesseits widersprochen, da 
sich herausstellte, dass der Geisteszustand des Ge¬ 
schlagenen von Jugend auf invalide und durch Epi¬ 
lepsie beeinträchtigt war und dass er beim Eintritt 
in’s Militär bereits geistig abnorm war. Die Beklagten 
wurden wegen Misshandlung bestraft, wobei nicht an¬ 
genommen wurde, dass die Misshandlung die Geistes¬ 
störung erzeugt habe. 

b. 32jähr. Kutscher, Fall eines mit Iläksel ge¬ 
füllten Sackes von einer schicfstehenclen Leiter herab 
auf Schulter und Nacken. 

Familie und Betroffener gesund. Nach dem Fall 
kurze Zeit bewusstlos, darnac h Schmerz- und Schwin¬ 
delanfälle, neurasthenischc Zustände, hvporhondrisch- 
melancholische Depression. — 40% Invalidenrente 
zuerkannt. 

7. ca. äojähr. Arbeiter aus gesunder Familie, 
beim Ausschachten eines Kanals mit Erde befallen, 
Quetschung des Brustkorbes. Darnach nervöse Er¬ 
regbarkeit, Selbstmordversuche, Vergiftungs- und Ver¬ 
folgungsideen, hystcro-cpileptisehe Krampfanfälle nach 
ca. 1 l / 2 Jahren. — 75 0 0 Rente. — Noch in der 
Anstalt. 

8. ca. ^ojähr. Mann, Hilfsbremser aus gesunder 
Familie; erlitt vor 9 und 8 Jahren zweimal Eisen- 
bahnunfälle, wobei er das eine Mal einen Bruch der 
Kniescheibe, das andere Mal durch Schleifung auf 
einer Strecke von 10 m Länge eine Körperersclüitte- 
rung erfuhr; nach 1 Jahr epileptische Krämpfe, nach 
b Jahren geisteskrank, maniakalisch, Verfolgungsideen. 
Nach halbjährigem Anstaltsaufenthalt genesen entlassen. 

9. 2 5jähr. Eisenbahnarbeiter, gesunde Familie, 
Soldat gewesen. Eine mit Schienen beladene Hand¬ 
le »wrv ging über seinen linken Fuss und zerquetschte 
die ersten Zehen desselben. Amputation derselben, 
3 monatliches Krankenlager. Ungünstig liegende straffe 
Narben von grosser Schmerzhaftigkeit. Darnach starke 
Erregung, Wahnideen religiösen Inhalts, noch in der 
Irrenanstalt. — 

10. gojähr. Frau, gesunde Famlie; geistig gering 
veranlagt, 14 mal geboren, jedes Jahr einmal. Ehe 
anfangs glücklich, später sehr unglücklich, da der 
Mann sich dem Trünke ergab — und seine Frau in 


[Nr. 17. 

der Trunkenheit häufig schlug. Wurde abwechselnd 
traurig und erregt. Wegen Tobsucht nach der Irren¬ 
anstalt, in der sie sich rasch erholte. Neben vielen 
Geburten und häuslichem Elend wurden die Prügel 
als vorzugsweise Krankheitsursache beschuldigt. 

Die Discussion wird auf die nächste Sitzung ver¬ 
tagt. S. 

— Irren rechtliches. Wenn man auf dem 

Gebiete des Irrenrechts so häufig Unsicherheiten 
und Unklarheiten begegnet, so trägt daran z. Th. 
der Umstand Schuld, dass der Begriff der Geistes¬ 
störung sich nicht willkürlich umschreiben lässt, 
sondern dass es sich liier um ein medicinisch-natur- 
wissenschaftliches Object handelt, dessen Unter¬ 
suchung und Beurtheilung auf naturwissenschaftlic hem 
Wege zu erfolgen hat. Aber „die Natur macht keine 
Sprünge“ und so lange man die geistige Gesundheit, 
die Zurechnungsfähigkeit nicht mit Mass und Wage 
prüfen kann, etwa wie die Tauglichkeit für den Militär¬ 
dienst nach Brust- und Längcnmass, so lange werden 
immer Fälle zweifelhafter geistiger Gesundheit bezw. 
Krankheit den Köpfen der Mediciner und Juristen 
zu schaffen machen und sensationelle Geisteskrank¬ 
erklärungen die Presse in Athcm erhalten. Eine andere 
Sache aber ist es, wenn in rein formellen Rechts¬ 
bestimmungen Unklarheiten fortgesetzt ihr Dasein 
fristen und zur Benachtheiligung der betreffenden 
geisteskranken Personen führen. Ein solcher Fall 
liegt vor, wenn, wie es thatsächlich zu geschehen pflegt, 
einem während der Strafhaft in Geisteskrankheit ver¬ 
fallenen Gefangenen die in der Irrenanstalt verbrachte 
Zeit nicht auf die Strafzeit abgerechnet wird, obgleich 
der $$ 490 der deutschen Strafprozessordnung vor¬ 
schreibt: „Ist der Ycrurthcilte nach Beginn der Strat- 
vollstrcckung wegen Krankheit in eine von der Straf¬ 
anstalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so 
ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt 
in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Ver- 
urtheilte mit der Absicht, die Strafvollstreckung zu 
unterbrechen, die Krankheit herbeigeführt hat“. Es 
kann doch für diese Anrechnung keinen Unterschied 
ausmachen, ob ein Gefangener an einem Lungen-, 
Herz- u. s. w. oder einem Gehirnleiden erkrankt ist; der 
äussere Unterschied, dass der geisteskranke Strafge¬ 
fangene in der Anstalt ohnehin seine Freiheit mehr 
weniger entbehrt, lässt es gerecht erscheinen, dass 
gerade ihm eine solche angerechnet werde. Es ist 
unverständlich, aus welchen Gründen und mit welchem 
Rechte sich bei Staatsanwälten die entgegengesetzte 
Praxis eingebürgert hat. Mögen diese Zeilen dazu 
beitragen, dass Remcdur geschaffen werde. Br. 


Personalnachricht. 

lUm Mitlheilung von Personalnachrichtcn etc. an die Redartion 
wird gebeten.) 

— Baden. Dr. Pfister, der bisher Prof. Ernming- 
haus in Freiburg vertreten hat, ist zum außerordent¬ 
lichen Professor ernannt worden. 


Für den redaktionellen Tlieil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Hresler K rasch nitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Insei atenannahme 3 Tage vor der Au-.^abe. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S 

Ilevnoraann’sche Euchdruckerei (Ciebr. Woiff) in Halle a. S. 


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Budapest. St. Maurice iSeine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et jpbil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572. 

Nr718. 2. August. “ 1902: 

Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung rin. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Brerler, KrasChnit« (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters, 
Andernach (S. 209). — Nochmals zur Benennung der öffentlichen Irren Heilanstalten (S. 216). — Mittheilungen (S. 216). 
Referate (S. 218). — Bibliographie (S. 219). 


Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets 

im Jahre igoo/oi. 

Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. i>/'/<?rr-Andernacli. 

(Fortsetzung.) 


Um- und Neubauten. 

Die kleineren baulichen Veränderungen, welche 
in den meisten Anstalten fast alljährlich vorgenommen 
werden und in den Berichten mehr oder weniger aus¬ 
führliche Besprechung finden, haben wenig allgemeines 
Interesse und können hier füglich übergangen werden. 
Ueber eigentliche Neubauten, sowie über Um¬ 
bauten von principieller Bedeutung haben nur wenige 
Anstalten zu berichten. 

Folgen wir der Reihenfolge des obigen Verzeich¬ 
nisses, so wäre zunächst die Idioten-Anstalt zu Rasten¬ 
burg zu erwähnen, welche ein auf ioo Insassen be¬ 
rechnetes Haus gebaut hat. Däs Haus ist einflügelig, 
doch so eingerichtet, dass bei Bedarf leicht ein 
zweiter Flügel angebaut werden kann. Im Erdge¬ 
schoss sind 2 Tagesräume und 2 Schlafsäle für Kna¬ 


ben, im 1. Stock die 'gleichen Räume für Mädchen; 
im 2. Stock einige Pensionärzimmer; das Souterrain 
enthält den Speisesaal und Wirthschaftsräume. 

Ueber umfangreiche Erweiterungsbauten berichtet 
Ueckermünde. Es sind dort in der 5jährigen 
Periode., auf welche der Bericht sich erstreckt, ge¬ 
baut worden: je ein Beobachtungs- und je ein Isolir- 
gebäude für Männerr und Frauen-Abtheilung; ein 
Wirthschaftsgebäude; ein Kesselhaus; eine Leichen¬ 
halle mit Sektions- und Microscopirzimmer; ein Be¬ 
amtenwohnhaus. Ferner ist dort 300 m von den 
Krankenhäusern entfernt und durch Wald von ihnen 
getrennt ein Wirthschaftshof angelegt worden, mit 
Wohnung für 8 Kranke und 1 Wärter. 

Die Beobachtungshäuser enthalten im Erdgeschoss, 
ausser einem geräumigen Tagesraum, einem Schlaf- 


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2 10 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. iS. 


saal und den nöthigen Nebenräumen, die beiden 
durch eine grosse Schiebethür mit einander verbun¬ 
denen Wachsäle, jeder auf 14 Betten berechnet; 
eine vorgebaute Veranda ist von beiden Wachsälen 
aus zugänglich. — Es wird besonders hervorgehoben, 
dass alle Fenster unvergittert sind, und dass die Lüf¬ 


tung durch aufklappbaren Oberflügel erfolgt. — Das 
Weglassen der Gitter ist, wenn man dafür die Fenster 
nicht öffnet, immerhin nur ein bedingter Fortschritt in 
der freiheitlichen Behandlung. 

Die Häuser der Unruhigen sind nach dem Corri- 
dorsystem gebaut, wobei der Corridor als Tagesraum 



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Original fram 

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1902.] 


PSVCHIATRISCH-NEUROLOGISCH E WOCHENSCH RIFT. 


21 I 


dient. Diese Art der Unterbringung der reizbaren 
und ungeselligen Kranken wird für zweckmässiger ge¬ 
halten, als das Zusammensein in kleinen, mehr qua¬ 
dratischen Tagesräumen, weil sie mehr die Möglich¬ 
keit räumlicher Zerstreuung bietet; man wird dieser 
Ansicht wohl zustimmen. 

Der Beschreibung der Neubauten sind mehrere 
Abbildungen beigefügt, von denen 2 in Nr. 5 des 
vorig. Jahrgangs dieser Wochenschrift wiedergegeben 
sind. Die Häuser sind bereits seit 97 im Gebrauch 
und haben sich bewährt. 


wachungszimmer. In der Mitte des Gebäudes liegt 
ein Tagesraum mit vorgebauter Veranda, an dessen 
anderer Seite noch Schlafräume. Bäder, Aborte, Spül¬ 
küchen, Garderobezimmer sind zweckmässig angeord¬ 
net. Ein Besuchszimmer hat direkten Zugang von 
aussen. 

Das Obergeschoss enthält Dienstwohnung für den 
Oberwärter (resp. -Wärterin), Heim und Krankenzimmer 
für Wartpersonal und den Schlafraum für die Nacht¬ 
wache; im Mittelbau ist oben noch eine kleine Kran¬ 
kenstation vorgesehen. 





»In tc 




Raum No. 1 Operationszimmer. 

„ „ 2 Verbamlzimmer. 

„ „ 3 Abort. 

„ „ 4—6 Einzel- und Isolir- 

zirnmer. 

>. 1, 7 Flurgang. 

„ „ 8 Bade-u. Waschraum. 

„ „ 9/10 Wachs, f. Unruhige. 

„ „ 11 Garderobe und 

Wärterzimmer. 

„ „ 12 Tagesaufenthaltsraum. 


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Eb e rs w a 1 d e. 


Raum No. 13 Liegehalle. 

„ 14 Spülküche. 

„ 15 Abort. 

„ 16 Wachsaal für Ruhige. 

„ 17 Wachzimmer für 

Pensionäre. 

„ 18 Ueberwachungszimmcr. 
„ 19 Bade- und Waschraum. 

„ 20 Vor-und Besuchszimmer. 
„ 21 Abort. 

„ 22 Eingangsflur. 


Ebersw'aide hat den Bau von zwei Aufnahme¬ 
häusern begonnen, je eins für Männer- und Frauen¬ 
seite. Das Project wird unter Beifügung von Grund¬ 
risszeichnungen im Anstaltsbericht durch den Landes¬ 
baurath beschrieben. 

Das Erdgeschoss enthält auf der einen Seite 3 
Isolirzimmer, durch einen Corridor von den übrigen 
Räumen geschieden, ferner, mit besonderem Eingang 
von aussen her, ein Operationszimmer und ein Ver¬ 
bandzimmer; auf der anderen Seite die Ueberwach- 
ungsräume: einen grossen Wachsaal, der mir im 
Interesse einer zuverlässigen Uebcrwachung schon 
fast zu gross erscheint, mit ihm verbunden einen 
besonderen Pensionärwachraum und ein Einzel-Ueber- 


Die Heizungsanlage ist mit Niederdruckdampf ein¬ 
gerichtet, die Heizkörper sind in Mauernischen ange¬ 
bracht. Die Fussböden der Aborte, Bade- und Spül¬ 
räume, erhalten Fliesenbelag, in den anderen Räumen 
Linoleum. Die Fenster werden mit Drehflügeln ver¬ 
sehen. Warum ? Die Gefährlichkeit der einfachen 
Stubenfenster für Krankenräume wird von vielen Irren¬ 
ärzten noch sehr überschätzt. Wenn man aber glaubt, 
es damit nicht w r agen zu dürfen, dann soll man lieber 
auch consequent sein und Gitter vorsetzen; dann 
kann man wenigstens ausgiebig lüften. 

In So rau wird ein neues Frauenhaus für 100 
Kranke gebaut. Auch im Sorauer Bericht giebt der 
Landesbaurath die Beschreibung des Neubaus unter 



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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18. 


Beifügung von Grundrissen. Das Haus ist 2 stockig 
und hat in jedem’ Stockwerk 2 Abtheilungen, von 
2 gesonderten Treppenhäusern zugänglich, in der 
Mitte durch den gemeinsamen Bade- und Waschraum 
verbunden. Den Tagesräumen des Erdgeschosses 
sind Liegehallen vorgebaut. Die beiden Abtheilungen 
des Erdgeschosses sind für tobsüchtige und unrein¬ 
liche Kranke bestimmt, darum sind hier 2 Wachsäle 
a 14 Betten und nicht weniger als 8 feste Zellen. 
Die Zellenflügel enthalten noch besondere Badezimmer. 

— Die Abtheilungen des Obergeschosses sind für 
ruhigere Kranke bestimmt und sollen darum enger 
belegt werden. Hier werden in den Schlafräumen 
2 5 cbm auf den Kopf gerechnet, während unten mit 
Rücksicht auf die Bettlägerigen' 30 cbm angenommen 
werden. Auch oben ist noch eine Anzahl Einzel¬ 
räume, wenn auch nicht in Form fester Zellen, vor¬ 
handen. — Der Mittelbau enthält noch ein Dachge¬ 
schoss, welches als Tuberkulose-Station gedacht .ist. 
Dieses ist an die Niederdruckdampfheizung der Bade¬ 
räume angeschlossen, während die übrigen Räume 
Luftheizung haben. Abfuhr nach dem Tonnensystem. 

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Art der 
Umzäunung des Gartens. „Um das gefängnissartige 
Aussehen einer Umwährungsmauer zu vermeiden“, 
soll der Garten eine Umzäunung aus Drahtgeflecht 
erhalten, diese aber „von besonders starker Construc- 
tion“ sein und zudem auf einen 1 m hohen Sockel 
gesetzt werden. Letzterer wird von aussen durch 
eine zu bepflanzende Erdböschung verdeckt. —- Also 
auch hier das Bestreben, nach aussen hin einen an¬ 
deren Anschein zu erwecken, als den Thatsacheh 
entspricht. 

Ich sehe hierin ein Symptom eines Uebels, das 
sich vielfach bemerkbar macht. Die moderne Irren¬ 
pflege scheint mir in manchen Punkten auf Ab¬ 
wege zu gerathen; es wird ein in bedenklicher Weise 
sich steigernder Werth auf den äusseren Schein ge¬ 
legt. Es liegt mir fern, speciell der Anstalt Sorau 
hieraus einen Vorwurf zu machen; ich benutze nur 
diesen Anlass, um die überall vorhandene Tendenz 
festzunageln. — Wir haben doch sonst das bewährte 
Princip, den Kranken immer offen die Wahrheit zu 
sagen: warum also sollen wir in den äusseren Ein¬ 
richtungen der Anstalt unsere wahren Absichten ver¬ 
schleiern, den Kranken — und auch dem Publikum 

— Sand in die Augen streuen? Das Vertrauen, so¬ 
wohl des Publikums wie der Kranken, gewinnt man 
nur durch rückhaltlose Offenheit. — Ich für meinen 
Theil habe die Ueberzeugung, dass wir keine Mauern 
brauchen, dass eine lebende Hecke oder ein gut ge¬ 
arbeiteter Lattenzaun überall ausreicht. Wenn aber 


eine Anstalt festere Umschliessung nöthig zu haben 
glaubt, ist es nöthig, das zu verbergen? Dass die 
Kranken durch den Anblick einer Umschliessungs¬ 
mauer unangenehm berührt werden, ist doch nicht 
so häufig, wie man behauptet; man geht in solchen 
Sentimentalitäten heutzutage viel zu weit. Kranke, die 
überhaupt für solche Eindrücke empfänglich sind, wissen 
auch ohne Mauer, dass sie eingesperrt sind und em¬ 
pfinden es vor allem. Eher käme schon in Betracht, 
dass das Publikum lieber seine Kranken in die Anstalt 
bringt, wenn diese einen freieren Eindruck macht. 
Aber auch da ist es gefährlich, mit äusserem Schein 
zu arbeiten; wenn der Schein dem Innern nicht 
entspricht, wird dies nicht lange verborgen bleiben. 
Mache man es sich lieber zum Princip, die Kenntniss 
der Anstalts-Einrichtungen möglichst zu verbreiten, 
jedem, der sich dafür interessirt, die ganze Anstalt zu 
zeigen und zu beweisen, dass die Anstalt nichts zu ver¬ 
bergen hat; dann wird man besser dem Misstrauen 
entgegenarbeiten und braucht keinen äusseren Schein. 

Der Berliner Bericht führt nur .wenig Neubauten 
auf. In Dalldorf soll dai Haus für Unruhige einen 
besonders festen Anbau für die Allergefährlichsten 
mit 10 Einzelzimmern, darunter 5 festen Zellen, er¬ 
halten. In Herzberge wird für Unterbeamte ein 
Wohnhaus mit 4 Dienstwohnungen gebaut Ferner 
müssen die Stallungen etc. vergrössert werden. Der 
Bau der neuen Anstalt in Buch ist begonnen werden, 
nachdem die Versuchsbohrungen die erforderliche 
Wassermenge (120 cbm p. Stunde) ergeben haben.*) 

Württemberg berichtet über den Umbau von 
überflüssig gewordenen Zellen-Abtheilungen in Schlaf¬ 
säle in Winnenthal, Zw r iefalten und Weisse- 
nau. Ausserdem wurde in Winnenthal der Neubau 
einer Wachabtheilung für unruhige Frauen im Rohbau 
vollendet. Eine Beschreibung dieser Bauten wird nicht 
gegeben. 

Sonnenstein hat ein Gebäude für Paralytiker 
und unsociale Kranke im Rohbau vollendet, ferner 
den Bau einer Kirche begonnen und plant weitere 
Neubauten. Eine Beschreibung dieser Gebäude wird 
nicht gegeben. 

Hochweitzschen hat in der „Ansiedlung“ 2 
Kinderhäuser, je eins für Knaben und Mädchen, 

*) Aumerkung bei der Correctur. Von den west- 
phäiischen Provinzialanstalten berichtet Lenge rieh über den 
Beginn wichtiger Erweiterungsbauten, welche theils im Rohbau 
vollendet, theils eben begonnen sind. Auf eine Beschreibung 
werden wir wohl erst nach Fertigstellung der Gebäude rechnen 
dürfen. — Die Anstalt Aplerbeck wird im Berichte ausführlich 
beschrieben; näheres Eingehen hierauf ist jetzt leider nicht mehr 
möglich. Auch in Aplerbeck sind noch Erweiterungsbauten 
geplant. 


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i 9 o 2 ) PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 213 

jedes für 40 Kinder nebst dem nöthigen Personal, Sie ist für 316 Kranke beiderlei Geschlechts berech- 

gebaut. Das Mädchenhaus enthält ausserdem Schul- net und wurde „unter Benutzung aller modernen 

räume und die Wohnung des Lehrers. Warmwasser- technischen Errungenschaften, und unter Berücksich- 

heizung; Tonnenaborte; Fussböden: Asphalt mit tigung aller Anforderungen der Irrenpflege aufgebaut“. 

Linoleum. Im Keller Baderäume mit je 4 Wannen. Eine genauere Beschreibung wird nicht gegeben; doch 

Ferner ist dort ein Krankenhaus gebaut, das ist eine Photographie und ein Grundriss dem Bc- 

Erdgeschoss für 38 Frauen und Kinder, das Ober- rieht beigegeben. 



W i 1 . 


geschoss für 42 Männer. In jedem Geschoss ist 
eine überdachte Loggia für Freiluftbehandlung einge¬ 
baut. Auch ist in jedem Geschoss ein Besuchs¬ 
zimmer, ein Operations- und Verbandzimmer, ein 
Wartezimmer für ambulante Kranke, ein Badezimmer 
mit 4 Wannen vorhanden; im Erdgeschoss ist auch 
die Hausapotheke untergebracht. 

Von ausserdeutschen Berichten ist zunächst 
Ungarn zu erwähnen, welches die Eröffnung einer 
Irrenabtheilung beim Staatsspital zu Pozsonv meldet. 

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Endlich hat noch W i I über die Eröffnung zweier 
neuer Häuser zu berichten, welche ausführlich be¬ 
schrieben und durch Beifügung von zwei Ansichten 
und 3 Grundrissen veranschaulicht werden. Die 
Häuser sind ganz symmetrisch gebaut, je eins für 
Männer und Frauen. Sie sind einstöckig; nur der 
mediale Flügel hat einen Oberstock, der eine Privat¬ 
wohnung enthält. Der mittlere Theil des Erdge¬ 
schosses umfasst 4 grosse Räume, deren grösster als 
Wachsaal gedacht und für im Ganzen 15 Botten be- 


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2 14 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18. 


stimmt ist. Der Wachsaal hat einen eigenen Abort; 
seitlich stossen an den Wachsaal 3 Isolirzimmer. Die 
3 andern grossen Räume des Mittelbaues sind noch 
ein Schlafsaal, der mit dem Wachsaal in direkter 
Verbindung steht, und 2 Tagesräume, von denen 
einer als Speisesaal eingerichtet ist. Die Nebenräume 
sind zweckmässig angeordnet. Als Wandbekleidung 
ist sogenannte Salubratapete verwendet worden, ein 
auf Leinwand gedrucktes Oelfarbenmuster, die wie 
Oelfarbenanstrich gereinigt werden kann. Für den 
Fussboden der Isolirzimmer ist Xylolith-Belag ver¬ 
wendet worden. Niederdruckdampfheizung. — Zur 
Einfriedigung des Gartens dient ein 1,7 m hoher 
Staketzaun. 

Ausser diesen beiden schon bezogenen Häusern 
waren zur Berichtszeit noch 2 weitere, für Halbruhige 
bestimmte Häuser im Bau. 

Hygieni sch es. 

Ueber sanitäre Einrichtungen pflegen die Anstalts¬ 
berichte sich nur dann zu äussern, wenn über Neue¬ 
rungen oder Verbesserungen zu berichten ist, 
oder wenn besondere Nothstände im Berichtsjahr 
zu verzeichnen waren. Die Ausbeute an interessi- 
renden Mittheilungen über solche Dinge ist daher in 
unsern Berichten gering. 

Zu den wichtigsten solcher Einrichtungen gehört 
natürlich die Wasserversorgung. Göttin gen 
hat im Berichtsjahr sich an die städtische Wasser¬ 
leitung angeschlossen. G e h 1 sh ei m hat einen dritten 
Tiefbrunnen angelegt, nachdem Bohrungen in 42 m 
Tiefe ein an Menge und Qualität befriedigendes 
Wasser ergeben hatten, und hat dadurch den Wasser¬ 
mangel der früheren Jahre beseitigt. In Rvbnik 
hat man auf dem sog. Josefshof erst nach langen 
Bohrversuchen geeignetes Wasser gefunden, sodass 
nun erst der Bau einer Krankenvilla dort in Aussicht 
genommen werden konnte. In W e i s s e n a u war 
durch anhaltende Trockenheit die vorhandene Wasser¬ 
menge auf 75 Liter pro Kopf gesunken, so dass man 
genöthigt war, zeitweilig die Bäder ganz auszusetzen 
und sonst aufs äusserste zu sparen; es soll deshalb 
nun eine neue Wasserleitung gebaut werden. Auch 
Untergöltzsch hatte über Wassemoth zu klagen 
und will darum Sammelbassins anlegen, in denen in 
wasserreicher Zeit Wasser angesammelt wird. 

Ueber Ventilationseinrichtungen finde 
ich gar keine Angaben, über den auf den Kopf der 
Insassen zu berechnenden Luftcubus nur wenige An¬ 
deutungen. G ö 11 i ng en ist, wie anderwärts schon 
erw'ähnt wurde, unter das durch die Ministerialver- 

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fügung für Privatanstalten vorgeschriebene Mindest- 
maass beträchtlich herunteigegangen, weil eben mehr 
Kranke untergebracht werden mussten. Zschadrass 
rechnet für ruhige 14 — 17, für unruhige 22 — 23, 
für die Bcttbehandlung 26 — 33 cbm pro Kopf. 

Ueber Heizung und Beleuchtung ist fast 
nur bei den Neubauten die Rede, sonst wird kaum 
etwas Bemerkenswerthes mitgetheilt. 

Hinsichtlich der Abfuhr ist wieder Göttingen 
zu erwähnen, welches seine Rieselfelder gegen den 
Vorwurf in Schutz nimmt, dass sie durch ihre un¬ 
genügende Grösse die Anwohner gefährden. 

An dieser Stelle mag erwähnt werden, dass von 
einer Brandenburgischen Anstalt dem Kreisärzte, wel¬ 
cher revidiren wollte, der Zutritt verweigert wmrde 
mit der Begründung, dass nur der Aufsichtsbehörde 
des Provinzialverbandes das Recht der Revision zu¬ 
stehe. Ob diese Auffassung richtig ist, fragt sich; es 
ist mir zufällig bekannt geworden, dass eine andere 
Provinzialbehörde in anderm Sinne entschieden hat. 
Nach dem Wortlaute des § 100 des Kreisarztgesetzes 
könnte man vermuthen, dass Brandenburg Recht hat. 
Denn dort wird der Kreisarzt ausdrücklich nur zur 
Revision der Anstalten angewiesen, die der Aufsicht 
des Regierungspräsidenten unterstehen; und das trifft 
auf die Provinzialanstalten nicht zu; diese unterstehen 
nach der Provinzialordnung der Oberaufsicht des Ober¬ 
präsidenten. Andererseits dürfte der Kreisarzt das 
Recht haben, aus bestimmten Anlässen, z. B. beim 
Ausbruch einer Epidemie, die Anstalt zu besuchen; 
leider ist im Brandenburger Bericht nicht mitgetheilt, 
welcher Anlass den Kreisarzt in die' Anstalt geführt 
hat. 

In den Mittheilungen über den Gesundheits¬ 
zustand nehmen die Zusammenstellungen über die 
Todesfälle nach Zahl undUrsachen einen breiten 
Raum ein, ohne dass sonderlich wichtige Ergebnisse 
dabei zu verzeichnen wären. Von allgemeinerem In¬ 
teresse sind eigentlich nur die Mittheilungen über 
Infectionskrankheiten. 

Die Hauptrolle spielt da natürlich die Tuber¬ 
kulose. Ueckermttnde ist in der Lage, durch 
Zusammenstellung aus den letzten 5 Jahren nach- 
zuw'eisen, dass, entsprechend den Ergebnissen des 
Noetel’schen Referates, die Zahl der Erkrankungen 
an Tuberkulose von der Dichtigkeit der Belegung der 
Anstalt abhängig ist. Vielleicht beruhen hierauf die 
grossen Verschiedenheiten in den Zahlen der einzel¬ 
nen Anstalten. Nur wenige Beispiele mögen diese Ver¬ 
schiedenheit illustriren: in Leubus war bei der Hälfte 
aller Gestorbenen Tuberkulose die Todesursache, in 

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1902J 

Brieg bei 25° 0 , in Conradstein bei 12 : 77; 
in den rheinischen Anstalten schwankte die Zahl 
von 7°/ 0 in Grafenberg bis 24°/ 0 in Ander¬ 
nach; Sorau hat auf der Frauenseite viel Tuber¬ 
kulose und vermuthet die Ursache in der Ueber- 
ftillung. E i c h b e r g berichtet, dass dort die Tuber¬ 
kulose auffallend häufig zur Ausheilung gelangt, und 
sieht in der günstigen klimatischen Lage die Ursache 
für diese Erscheinung. Sehr viel Tuberkulose haben 
die Idiotenanstalten aufzuweisen, z. B. waren in 
Rastenburg unter 17 Gestorbenen 16 tuberkulös. 

Eine eingehende Untersuchung über das Vor¬ 
kommen der Tuberkulose in der Anstalt theilt im 
Bericht der Friedmatt Dr. Fankhauser mit Er 
fand, dass die Sterblichkeit an Tuberkulose in der 
86 eröffneten neuen Anstalt bedeutend geringer ist 
als sie in der alten war, und dass sie in der Anstalt auf die 
Zahl der Todesfälle berechnet 3 1 j 2 mal kleiner, auf 
die Zahl der lebenden Bewohner berechnet 2 l / 2 mal 
grösser ist, als bei der Bevölkerung der Stadt Basel. 
Die durchschnittliche Phthisemortalität in den 4 An¬ 
stalten Friedmatt, Waldau, Burghölzli und Königs- 
felden zusammen betrug 12,4 °/ 0 der Gestorbenen 
und 1 °/ 0 der Insassen; in der Friedmatt allein nur 
7,08 ° 0 resp. 0,9%. Ferner fand er, dass mehr 
geisteskranke Frauen an Phthise sterben als Männer; 
dass die Phthisiker in der Anstalt durchschnittlich 
ein höheres Alter erreichen ; und dass bei mehr als 
der Hälfte der Fälle die Geisteskrankheit der Tuber¬ 
kulose vorangeht. Die Ergebnisse stützen sich auf 
ein umfangreiches statistisches Material, welches in 
der Arbeit mitgetheilt wird. 

Von anderen Infectionskrankheiten wird in den 
meisten Berichten die Influenza erwähnt; doch 
handelt es sich in der Regel nur um einzelne Fälle, 
nur wenige Anstalten berichten über umfangreiche 
Epidemien. 

Der Typhus ist in diesem Berichtsjahr nur spora¬ 
disch aufgetreten. Einige Anstalten, z. B. W eil m ün s t e r, 
Hördt berichten über eine auffällige Bevorzugung des 
Pflegepersonals durch den Typhus. 


215 

Vermehrtes Interesse finden, seit Kruse’s Mit¬ 
theilungen (Psychiatrische Wochenschrift 1901, Nr. 
41) die Ruhr und ruhrähnliche Erkran¬ 
kungen. In Sorau fand man bei der Section von 
2 Kranken, die an ruhrartigen Durchfällen gelitten 
hatten, eine Pseudodiphtherie des Darmes, „wie diese 
besonders bei alten verblödeten Kranken nicht allzu 
selten vorkommt“. In Stephansfeld kamen in 
den heissen Sommermonaten Fälle von „Pseudodysen¬ 
terie“ vor, der 2 70jährige erlagen. Sonnenstein 
berichtet über eine ruhrartige Erkrankung, die schon 
im Voijahr beobachtet wurde, und sich in einzelnen 
Fällen das ganze Jahr hindurch fortgeschleppt hat. 
Der Berichterstatter hält die Erkrankung nicht für echte 
Ruhr, sondern für identisch mit der von Kruse be¬ 
schriebenen Krankheit, welche auf einen dem Ruhr¬ 
bazillus zwar ähnlichen, aber doch von ihm ver¬ 
schiedenen Erreger zurückzuführen ist. Der rhei¬ 
nische Bericht erwähnt die Bonner Epidemie, an 
der Kruse seine Studien gemacht hat, und die 100 
Männer und 200 Frauen, meist Schwache und Sieche, 
betraf. Die im Berichtsjahr in Düren aufgetretenen 
Fälle wurden dagegen als Magendarmkatarrh bezeich¬ 
net, und die Grafenberger Fälle (n Männer, 10 
Frauen) waren echte Ruhr, deren Einschleppung von 
aussen nachgewiesen werden konnte. Echte Ruhr 
ist ausserdem in Saargemünd in 6 Fällen be¬ 
obachtet worden. 

Behandlung und Pflege der Kranken, 
a) In der Anstalt. 

Der erbitterte Kampf zwischen den begeisterten 
Vorkämpfern des Fortschritts und den konservativen 
Anhängern der alten Tradition in Sachen der Irren¬ 
behandlung lenkt mehr und mehr in ruhigere Bahnen 
ein, und die ersteren sind bald unbestritten Herren 
des Schlachtfeldes. Das musste ja so kommen; denn 
die Zukunft gehört immer der Jugend, und die alten 
Machthaber können wohl eine Zeit lang hemmen, 
verzögern, aber endlich schreitet die Zeit über sie 
hinweg. (Fortsetzung folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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216 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18. 


Nochmals zur Benennung der öffentlichen Irrenheilanstalten. 


TTnter den Mittheilungen der Nummer 15 dieser 
Wochenschrift wurde die hie und da rege wer¬ 
dende Strömung gegen die Bezeichnung „Irre“ glussirt 
und unter anderem gefunden, dass die von mir auf¬ 
geworfene Frage: „Warum den sich selbst bewussten 
Geisteskranken nicht den Namen belassen, für was 
sich die meisten halten, — nervenkrank!“ überhaupt 
nicht zu stellen sei. Ich kann nicht umhin dieser 
Kritik Einiges zur Berichtigung entgegen zu stellen. 
Schreiber jener Mittheilung findet, dass die Belassung 
der psychisch Kranken in dem Glauben, sie seien 
nervenkrank, eine Irreführung derselben und mit jenem 
Missgriff gleich zu stellen sei, wenn Kranke ihren 
Wahnideen gemäss titulirt werden. Da muss ich denn 
doch bitten: Der Vergleich stimmt nicht. „In gar 
nicht seltenen Fällen — sagt Herr .... f. — ist 
es sogar geboten dem Kranken zu sagen, dass er 
geisteskrank sei.“ Gewiss ist solches manchmal ge¬ 
boten, gelegentlich um Krankheitseinsicht zu erwecken, 
Zwangsideen als solche im Bewusstsein des Kranken 
zu objcctiviren u. s. w. Doch geschieht dies zumeist 
mit Umschreibung und mit eventueller Geltendlassung 
der Nervenkrankheit. Das Vorhalten des Wortes 
Geisteskrank oder Irrenanstalt ist psychiatrisch niemals 
geboten. In einer weit grösseren Zahl der Fälle ge¬ 
bieten es irrenärztlicher Takt und psychotherapeutische 
Rücksichten den psychisch Kranken im Glauben zu 
belassen, er sei nervenkrank. Geschieht denn das 
nicht tagtäglich in gemischten Privatanstalten, wo der 
Kranke unter diesem Titel sich willig jeder Anordnung 
fügt? Ist es durchaus nothwendig, dem Kranken vor¬ 
zuhalten: „Sie befinden sich im Irrthum, Sie sind hier 
als Geisteskranker“. In gewissen leichten Fällen — 
ich erinnere nur an die auf dem Boden neuropathischer 
und psychopathischer Diathese entstandenen Zustands¬ 


bilder — ist die Benennung Nervenkrank schonender 
und ist auch pathologisch nicht widersinnig, anderer¬ 
seits dient sie bei vielen schwer Gestörten als er¬ 
wünschtes Beruhigungsmittel. 

Nervenkrank oder Gehirnkrank istzwar nicht synonym 
mit Geisteskrank. Aber der landläufige Sinn dieses 
letzteren Wortes ist so ziemlich synonym mit „Ver¬ 
rückt“, „Narr“ und entspricht durchaus nicht jenen 
vielen leichteren Fällen ohne augenfällige Bewusstseins¬ 
störung, die einer öffentlichen Irrenheilanstalt Zuströmen. 

Es handelt sich hier weniger um Präcision als um 
einen Modus, die sich bew'ussten Kranken vor einer 
höchst beunruhigenden Erkenntniss zu schonen, ande¬ 
rerseits die Heilstätte für psychisch Kranke denselben 
ohne die Gefahr ihrer socialen Schädigung zugänglicher 
zu machen. 

Gegen die Zusammenstellung „Nerven- und Ge- 
müthskranke“ lässt sich nichts einwenden. Hauptsache 
bleibt, dass das Wort „Nervenkrank“ mit darin ist, 
was ja auch den pathologisch-anatomischen Beziehungen 
entspricht. Sind doch die Geisteskrankheiten nichts 
anderes als specifische Erkrankungen des Nerven¬ 
systems mit mehr oder weniger vorwiegenden psycho¬ 
tischen Symptomen. Wir können die Benennung 
Nervenkrank als wichtiges psychotherapeutisches Hülfs- 
mittel in der Anstaltspraxis kaum entbehren, weil das 
Bewusstsein der körperlichen Krankheit eine oft sehr 
erwünschte Basis zur weiteren Behandlung liefert 

Was den „unlauteren Wettbewerb“ anlangt, dar¬ 
über kann ich mir kein Urtheil bilden, weil ich nur 
Heilanstalten für die grossen Volksklassen als Organe 
der staatlichen Irrenfürsorge im Auge halte und über 
den geschäftlichen Theil der Frage nicht nachdachte. 

Olah. 


Mittheilungen. 


— Ueber krankhafte Furcht schreibt ein 
medicinischer Mitarbeiter des „Matin“: Die Krankheit 
des Königs von England hat unter anderen Folgen 
die gehabt, bei unseren Neuropathen ein besonderes 
Leiden, das man „die Furcht vor der Blinddarm¬ 
entzündung“ nennen kann, zu entwickeln oder viel¬ 
mehr zu erwecken. Seit vierzehn Tagen legen sich 
viele Leute Abends nicht schlafen, ohne sich angst¬ 
voll zu fragen, ob sie nicht am nächsten Morgen mit 
einer Blinddarmentzündung aufwachen werden. Sic 
befühlen sich ihren Unterleib oder lassen sich ihn von 
Aerzten befühlen, um wenn möglich genaue Auskunft 
über den Zustand ihres Blinddarms zu erhalten. Sie 
haben, wenn man sich so ausdrücken darf, ihren 
Blinddarm mindestens ebenso im Kopf wie im Leib. 
Die geringste Bewegung im Innern ihrer Organe ist 
für sie ein Zeichen von Blinddarmentzündung, und 

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wenn sie unglücklicherweise in ihrer Jugend einen 
Kirschkern verschluckt haben, gidjt es überhaupt 
keinen Zweifel mehr. (Hamburger Nachrichten.) 

— Ungarn. Ende Oktober d. J. findet in Bu¬ 
dapest die zweite irrenärztliche Landesconferenz statt. 

— Berlin. Am physiologischen Institut der hiesigen 
Universität ist eine neurobiologische Abtheilung 
neu eingerichtet. Sie wird sich im Wesentlichen mit 
der Ge hi rn forsch ung zu befassen haben, und ihre Er¬ 
richtung erfolgte in der Erwägung, dass die Erforschung 
des menschlichen Gehirns bisher sehr langsame Fort¬ 
schritte gemacht hat, weil die Pflege dieses Wissens¬ 
zweiges nach der anatomischen und physiologischen, 
der psychiatrischen und psychologischen Richtung 
bisher in getrennten Instituten und unter Zerreissung 
natürlicher Zusammenhänge verfolgt wurde. Der Be- 

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HARVARD UN1VERSITY 




igo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 217 


deutung dieses wichtigsten, alle sonstigen Theile be¬ 
einflussenden Organs des menschlichen Körpers ent¬ 
sprach es daher, dafür ein besonderes Laboratorium 
einzurichten, welches, an das physiologische Institut 
angegliedert, die verschiedenen Seiten der neurobio- 
logischen Forschung zusammenzufassen und so die 
Erkenntniss auf diesem Gebiete zu vertiefen und zu 
fördern im Stande ist. Die Aufgabe dieser Anstalt 
für Gehirnforschung soll darin bestehen, die Leistungen 
anderer wissenschaftlicher Institute ergänzend, auf dem 
Gebiete der Nervenanatomie, Nervenphysiologie und 
Psychologie solche Erscheinungen des einen dieser 
Wissensgebiete, welche gerade von specieller Bedeutung 
für die anderen sind, sowie ärztlich wichtige normale 
Erscheinungen vom Standpunkt des Arztes und um¬ 
gekehrt für die Wissenschaft des Normalen werthvolle 
pathologische Phänomene mit Rücksicht auf diese be¬ 
sondere Bedeutung systematisch durchzuarbeiten. Im 
Kreise dieses Arbeitsprogrammes soll die neue Anstalt 
auch soweit lehren und anderweitiges Lehren und 
Forschen fördern, als es bisher in anderen Instituten 
noch nicht geschieht. Diese Forschungen hat bisher 
der Dr. Oskar Vogt in seinem Privatinstitut auf eigene 
Kosten betrieben und eine sehr instruktive Sammlung 
von neurobiologischen Präparaten zusammengebracht, 
die in Fachkreisen gerechte Anerkennung gefunden 
hat. Die Regierung hat daher diese Sammlung für 
50000 M. angekauft und sie als Grundstock für die 
neurobiologische Abtheilung dem physiologischen In¬ 
stitut überwiesen. Zum Vorsteher dieser Abtheilung 
ist nunmehr, der „Nat.-Z.“ zufolge, Dr. Vogt ernannt 
worden, der dadurch in die erwünschte Lage versetzt 
wird, sein specielles Forschungsgebiet weiteren wissen¬ 
schaftlichen Kreisen zugänglich zu machen. 

— Hildburghausen. Der Hilfsverein für 
Geisteskranke im Herzogthum Meiningen hat sich 
zu Massnahmen entschlossen, die verdienen, weiteren 
Kreisen bekannt zu werden. Es ist eine tausendfach 
bewiesene und von sachverständiger Seite allgemein 
anerkannte Thatsache, dass Nerven- und Gemüthsleiden 
um so schneller und günstiger verlaufen, je frühzeitiger 
sie sachverständig behandelt werden. Mit Rücksicht 
hierauf erbietet sich der Hilfsverein für Geisteskranke 
im Herzogthum für derartig Leidende, welche nach¬ 
gewiesen mittellos, aber nicht gemeingefährlich und 
nicht länger als vier Wochen krank sind, die Kosten 
eines Aufenthaltes in der Heilanstalt zu Hildburg¬ 
hausen auf die Dauer von drei Monaten je nach 
Umständen ganz oder theilweise zu übernehmen. 
Zur Aufnahme solcher Kranken in die Anstalt er¬ 
forderlich ist also der Nachweis: a) der Staatsange¬ 
hörigkeit als S.-Meininger, b) der Mittellosigkeit, c) 
der Krankheit und ihrer bisherigen, vier Wochen 
nicht überschreitenden Dauer (von einem approbierten 
Arzt zu erbringen).' Gleichzeitig wird darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass allen solchen Kranken ohne 
Ausnahme im Hauptgebäude der genannten Anstalt 
jeden Mittwoch und Sonnabend nachmittags von 2 
bis 4 Uhr ärztlicher Rath und ärztliche Hilfe unent¬ 
geltlich zur Verfügung stehen. 

— Gewerbesteuerfreiheit der Heilanstalten 
für Nervenkranke. Nach einer Entscheidung 

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des Oberverwaltungsgerichts sind Irren- und Nerven - 
Heilanstalten, deren Betrieb vorzugsweise als Mittel 
zürn Zweck der irrenärztlichen Thätigkeit dient, der 
Gewerbesteuerpflicht nach § 4 Nr. 7 des Gewerbe¬ 
steuergesetzes nicht unterworfen. Im übrigen ist der 
Betrieb einer vom Arzte betriebenen und geleiteten 
Irren- oder Nervenheilanstalt regelmässig gewerbe¬ 
steuerpflichtig. Im vorliegenden Streitfälle waren aber 
keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass die Anstalt 
anderen Zwecken dienen soll, als der Ausübung des 
ärztlichen Berufes des Leiters. Eine erfolgreiche Be¬ 
handlung zur Heilung von Geistes- und Nervenkranken 
könne regelmässig nur in einer solchen Anstalt ge¬ 
schehen und diese wiederum diene erfahrungsmässig 
am besten ihrem Zwecke, wenn sie unter der obersten 
Leitung eines Special-Irrenarztes stehe. 

— Irrenrechtliches. Die „Nation“ vom 12. Juli 
schreibt: „Von einem Freunde der „Nation“ werden wir 
auf eine Prozessverhandlung aufmerksam gemacht, die 
sich in Greifswald abgespielt hat. Es stand ein Mann 
vor Gericht, der des Mordes mehrerer Knaben angeklagt 
war und der daher, wenn er bei Begehung der Thaten 
zurechnungsfähig gewesen, nicht das geringste Mitleid 
verdient. Und um die Frage der Zurechnungsfähig¬ 
keit handelte es sich vor allem bei der Verhandlung. 
Der eine Sachverständige war der Ansicht, dass das 
„Bewusstsein des Angeklagten in gewissem Grade 
getrübt gewesen sei; die anderen vier Sachverständigen 
halten es für ausgeschlossen, dass der Angeklagte mit 
Ueberlegung gehandelt hat“. Wie nahm nun gegen¬ 
über diesen Ausführungen der Erste Staatsanwalt Herr 
Hübschmann Stellung ? Er führte aus, dass in dieser 
Verhandlung wieder die „Ohnmacht des Rechtsschutzes 
gegenüber der Wissenschaft“ gezeigt werden solle, und 
er wendete sich an die Geschworenen besonders nach¬ 
drücklich mit folgenden Worten: 

„Wenn Sie hinter die Frage die vier Buchstaben 
nein schreiben, wird der Mann freigesprochen, und 
w’enn Sie dann einmal wieder von einem Lustmord 
hören, dann werden Sie die Verantwortung fühlen“. 

Solche Aeusserungen verdienen vor allem auch 
darum Beachtung, w f eil sie vielfach für den Geist, der 
in der Staatsanwaltschaft herrscht, typisch sind. 

Eine derartige Geringschätzung der Gutachten 
medicinischer Sachverständiger lässt sich nur daraus 
erklären, dass der Vertreter der Anklage über die 
Zusammenhänge zwischen Verbrechen und geistiger 
Erkrankung nicht genügend unterrichtet ist, und eine 
Apostrophe so gewagter Art wird nur jener an die 
Geschworenen richten, der für eine Verurtheilung 
nicht nur das kühle, objective Räsonnement, sondern 
selbst das Mittel moralischer Pression glaubt einsetzen 
zu sollen. 

Mit einem Mörder hat niemand Mitgefühl; aber 
ein Vorgehen w'ie das des Staatsanwalts Hübschmann in 
Greifswald birgt freilich die Gefahr, dass statt der Ver¬ 
brecher auch kranke Unglückliche dem Arm der Gerech¬ 
tigkeit verfallen. Dieses absprechende Selbstbewusstsein 
der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gutachten medi¬ 
cinischer Sachverständiger kann zu Verurtheilungen 
führen, die der Nachwelt als eben so grosse Miss- 

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218 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18 


griffe wie die Verurtheilung von Hexen erscheinen 
werden.“ 


Referate. 

— Die Stellung der Aerzte an den öffent¬ 
lichen Irrenanstalten, von Dr. Hugo Hoppe- 
Königsberg. (158 S.) Verlag von Carl Marhold- 
Halle a. S. Preis 4 M. 

Hugo Hoppe hat sich — man kann es ruhig 
sagen — den Dank aller Irrenärzte dadurch verdient, 
dass er, der Aufforderung des rührigen Verlags von 
C. Marhold folgend, sein ungemein wichtiges und 
sorgfältig gesammeltes Material, das zum Th eil schon 
in seinen früheren Aufsätzen über die Stellung der 
Irrenärzte erschienen ist, nun in erweiterter Form und 
mit der Fülle seiner Erfahrungen auf diesem Gebiete 
bereichert in einem besonderen Buche herausgegeben 
hat. 

Es ist dieses warme Eintreten für unsre Interessen 
um so anerkennens- und dankenswerther, als er selbst 
von der Anstaltsthätigkeit sich zurückgezogen hat. 

Als Motto wird dem Werke der Satz von 
Fr. Paulsen vorausgestellt, den Jeder von uns sich 
gründliche einprägen möge: 

„Jeder Stand ist es sich selbst und seiner Aufgabe 
schuldig, auf der ihm zukommenden Stellung und 
Ehre unter den übrigen zu bestehen: seine Leistungs¬ 
fähigkeit wird durch das Ansehen, in dem er steht, 
bedingt.“ 

Der Verf. bringt dann auf 57 Seiten zunächst seine 
umfangreichen und bis auf die letzte Zeit ergänzten 
statistischen Zusammenstellungen über die Gehalts¬ 
und Beförderungsverhältnisse der Directoren und 
Aerzte der Irrenanstalten nicht nur der einzelnen 
Staaten Deutschlands, sondern auch der meisten 
Staaten ganz Europas und Nordamerikas in Tabellen¬ 
form zur übersichtlichen Darstellung. 

Die daran sich anreihenden Vergleiche sind sehr 
interessant, freilich auch durch die offenkundige Un¬ 
zulänglichkeit und Ungleichheit, man möchte beinahe 
sagen, Willkürlichkeit sowohl im Anfangsgehalt, wie 
in den Zulagen, im Höchstgehalt, in der Zeit des 
Aufrückens und den sog. Emolumenten bei Directoren 
und Aerzten mehr als betrübend. Besser konnte die 
Nothwendigkeit einer durchgreifenden Reform nach 
einheitlichen Gesichtspunkten gar nicht erwiesen werden. 

Im Anschluss daran wird dann noch besonders 
das Dienstalter der Aerzte, die Möglichkeit und Dauer 
des Aufrückens vom Assistenzarzt zum staatlich an- 
gestellten Arzt und zum Director (unter gleichzeitiger 
Vergleichung der Gehaltsbezüge) abgehandelt und 
auch hiernach höchst ungünstige Chancen für uns 
festgestellt. 

Als ein Missstand wird cs betrachtet, dass die 
Bewerbung um erledigte Stellen gewöhnlich nicht zu 
einer allgemeinen gemacht wird, sondern die Be¬ 
setzung meist zum voraus schon feststeht. 

Die Assistenzärzte sind meist auf Kündigung an¬ 
gestellt und haben keine Pensionsberechtigung, was 
übrigens auch nicht selten für Oberärzte zutreffe. 
Bestimmte Einzelfällc zeigen das Entwürdigende 
dieser Lage. 

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Drastisch wirkt auch der Vergleich der Einkommens¬ 
verhältnisse von höheren Subalternbeamten gegenüber 
denen der Irrenärzte; wir kommen dabei sehr schlecht 
weg; die Lebensarbeit eines MilitäranWärters wird Im 
allgemeinen höher bezahlt als die eines Irrenarztes. 

Auch bei einem Vergleich mit Militärärzten und 
Beamten des Richterstandes verlieren wir bedeutend, 
ebenso gegenüber dem Lehrerstande, wenigstens in 
dessen höheren Dienstjahren. 

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den 
andern Kulturstaaten gestalten sich, von Ausnahmen 
abgesehen, die BesoldungsVerhältnisse der Irrenärzte 
äusserst unbefriedigend. 

Des weiteren geht Hoppe auf das Thema der 
Ueberbürdung der Irrenärzte im Dienste, auf das 
Zahlenverhältniss der Aerzte zu den Kranken und zu 
der Gesammtarbeit, die ihnen obliegt, ein. Ueberall 
ist hier die Aerztezahl bedeutend zu gering, und zwar 
um 11 bis 25 bis 37, bis 86 und sogar 2 OO°' 0 des 
Bestandes. Für ganz Deutschland beträgt das Deficit 
40 °/ 0 ; noch ungünstiger ist es in andern Ländern. 

Im Anschluss daran werden die grossen Miss¬ 
stände, die sich daraus für den Arzt selbst, für den 
Anstaltsdienst und für die Behandlung der Kranken 
ergaben, ferner die Schwierigkeiten, die Schädigungen 
und das Aufreibende unseres Berufs („Anstaltsneu¬ 
rasthenie“) in treffenden Ausführungen klargelegt. 
Manchmal scheint uns der Verf. allerdings etwas zu 
schwarz zu sehen; jedenfalls treffen seine Betrach¬ 
tungen z. B. über die fehlende geistige Anregung 
und Ausbildung der jungen Aerzte u. s. w. nicht all¬ 
gemein auf alle Anstalten zu, wie übrigens auch der 
Verf. selbst einräumt. 

Die geringe wissenschaftliche Bethätigung der Aerzte 
an den Anstalten, meist dem Zwang der Verhältnisse, 
dem Mangel an Zeit und Müsse entspringend, wird 
mit Recht bedauert, wie nicht minder das vielfache 
Fehlen eines starken geistigen Bandes und regen Ver¬ 
kehrs unter dem Aerztekollegium und mit dem Director, 
dessen ganze Kraft gewöhnlich von der Administration 
der Anstalt absorbirt ist. Die grosse Wichtigkeit ge¬ 
rade der geistigen und wissenschaftlichen Thätigkeit 
für den Beruf und das Interesse der ganzen Anstalt 
wird klar beleuchtet. 

Auf den immer fühlbarer werdenden Mangel an 
Zugang von jungen Irrenärzten wird als eine der ernste¬ 
sten Gefahren für unser Anstaltswesen hingewiesen. 

Zum Schlüsse kommt der Verf. auf die Wege der 
Abhilfe, die dringend an der Zeit sei. 

Eine bedeutende materielle und ideelle Besser¬ 
stellung der Aerzte von den jüngsten bis zu den 
Directoren mit dem Recht auf lebenslängliche An¬ 
stellung und auf Pension, auf Wittwen und Waisen¬ 
versorgung wird in eingehenden Erörterungen und Be¬ 
gründungen als unentbehrlich und dringend gefordert, 
während die Anstellung auf Kündigung nach einer 
2 — 3 jährigen Probedienstzeit aufhören soll. 

Für richtig halten wir Hoppes Anregung, dass 
der Irrenarzt, bevor er seinem Beruf sich widmet, eine 
1—2 jährige Assistenzarztthätigkcit an einem allge¬ 
meinen Krankenhause durchmachen soll. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 219 


Die Aufstellung von Landespsychiatern, denen das 
ganze Irren- und Anstaltswesen unterstellt wird, hält 
Verf. für eine innere Nothwendigkeit, eine einheitliche 
staatliche Leitung aller Anstalten für in erster Linie 
erstrebenswerth. 

Für jede grössere Anstalt befürwortet Hoppe 
einen Prosector, welcher den pathologisch-anatomischen 
Arbeiten vorstehen soll, während die übrigen Aerzte 
mehr den wichtigeren, klinischen Arbeiten sich widmen 
sollen. 

Dem Director soll die wissenschaftliche und fach¬ 
liche Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses eine 
erste und angelegentliche Aufgabe sein. Dazu muss 
er selbst natürlich in hohem Masse in der Wissen¬ 
schaft tüchtig sein. 

Damit der Director nicht durch die Geschäfte 
der Administration der Anstalt erdrückt werde, hält 
Hoppe eine Grösse der Anstalten höchstens bis zu 
(>oo Plätzen für zulässig. Wir stimmen ihm auch 
hierin, besonders angesichts des kürzlich erfolgten 
Eintretens für Monstreanstalten von anderer Seite, 
durchaus zu. 

Ferner tritt er für Vermehrung der Aerztestellen, 
für Gewährung regelmässiger Dienstfreiheit und reich¬ 
lichen Urlaubs ein. Alle 3—4 Jahre soll der An¬ 
staltsarzt einen practischen Fortbildungs-Kurs an einer 
Universität mitmachen, um sich den Zusammenhang 
mit den andern Zweigen der medizinischen Wissen¬ 
schaft zu bewahren. Reisestipendien zum Besuch 
von Irrenanstalten und medizinischen Congressen 
werden verlangt. 

Im höheren Interesse seiner Berufstüchtigkeit liegt 
aber auch die eigene ununterbrochene Weiterarbeit 
des Irrenarztes an seiner allgemeinen Bildung: in den 
schönen Wissenschaften, in Kunst, Litteratur, Philo¬ 
sophie und Psychologie; kein Gebiet geistigen Lebens 
darf ihm fremd sein. 

Mit vollem Recht tritt darum Hoppe dafür ein, 
dass die Irrenanstalten nicht mehr in abgeschiedenei 
Lage auf dem Lande, sondern nahe den Centren 
geistiger Bildung und Anregung errichtet werden 
sollen. 

Ueber die Stellung des Directors zu seinen Aerzten 
und dein Personal, und der Aerzte unter sich werden 
beherzigungswerthe Worte gesprochen. 

Mit dem Danke, den wir schon eingangs dem 
Verf. gewidmet haben, müssen wir auch schliessen. 
Er hat nicht nur ein werthvolles, umfassendes Material, 
allgemein zugänglich gemacht, sondern auch wichtige 
eigene Ansichten und Anregungen zum Ausdruck ge¬ 
bracht. Den meisten von uns hat er aus der Seele 
gesprochen. Möge seine, in warmem Eifer für unsere 
Sache unternommene Arbeit an den zuständigen 
Stellen volle Beachtung finden und damit auch unserer 
Lage und unserem Berufe die dringend notlnvendige 
Besserstellung bringen! Ein solcher Erfolg würde 
auch dem Verf. wohl die grösste Befriedigung sein. 

Max Fischer. 


Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und 
Verwandtes. 

2. Quartal 1902. Zusammengestellt von Med.-Rath 
Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

Antonini e M. Falciola: Sopra 4 cranf di alienati 
criminali. Riv. mens, di psich. for. etc. 1902, p. 37. 

Penta: Manicoinii criminali e sezioni per folli nelle 
case di pena. Ibidem, p. 46. 

v. K ad ich: Amerikanische Lynchjustiz. Die Woche, 
1902, No. 13. 

Klatt: Die Körpermessung der Verbrecher nach 
Bertillon etc. Heine, Berlin 1902. 

Fritsch: Ueber Exhibitionismus. Jahrbücher f. Psvch. 
u. Neurol. 22. Bd. 1902, p. 492. 

Gumplowicz: Die soziologische Staatsidee. 2. Aufl., 
Innsbruck 1902. 

Ferrier: La vie en prison. Lyon, Storck. 1902. 70 S. 

W e 11 e n b e rg h: De zorg voor gevaarlijke krankzinnige, 
mede naar aanleiding van „Die Unterbringung 
geisteskranker Verbrecher“ von Medicinalrath Dr. 
P. Näcke zu Hubertusburg. Halle a. S. Marhold. 
1902. Psychiatrische en Neurologische Bladen, 
1902, Nr. 2. 

Brouwer: De actueele questie der Grens gevallen. 
Ibidem. 

P e r i t z: Psychopathische Minderwerthigkeit. Die 
Medicinischc Woche, 1902, Nr. 19. 

C. Lombroso: Delitti vecchi e delitti nuovi. Torino, 
Bocca, 1902. 335 Seiten. 

Die wichtigste Litteratur über das Problem der 
gleichgeschlechtlichen Liebe. Berlin, Brandt. 

Herbert: Dede. Aus dem Französischen übersetzt. 
(Urning-Roman). Berlin. Brand & Co. 

„Der Eigene“. Ein Blatt für männliche Kultur, Kunst 
u. Litteratur, herausgegeben von Ed. Brand, Berlin. 

Elisarion v. Kuppfer: Die ethisch-politische Be¬ 
deutung der Lieblingsminne. Ibidem. 

Elisarion v. Kuppfer: Lieblingsminne u. Freundes¬ 
liebe in der Weltliteratur. Ibidem. 

Aurelius: Rubi. Eine Novelle. Ibidem. (Urning- 
Novelle). 

Lombroso: Enrico Baller, detto „il martellatore“. 
Archivio di psich. etc. 1902, fase. II—III. 

Belloni: II compasso indice. Ibidem. 

Portigliotti: Un grande monomane: Fra Girolamo 
Savonarola. Ibidem. 

Lombroso e Andenino: Midriasi voluntaria ed 
epilessia in uomo geniale. Ibidem. 

Laschi: II „reato“ di sciopero. Ibidem. 

de Blas io: Anomalie multiple in un cranio di pro- 
stituta. Ibidem. 

Neri: Tatuaggio osceno in fratelli criminali. Ibidem. 

AIy-Beifadel: Delinquenza italiana a La Plata nel 
1899 e nel 1900. Ibidem. 

Neri: Un caso notivole di pervertimento scssuale, 
Ibidem. 

Andenino: Ragazza pazza morale. Ibidem. 

Agostini: Su di un caso tipico di delinquente-nato 
fratricida e sulla co-e.\sistenza della epilessia e della 
pazzia morale nci casi di vera delinquenza con¬ 
genita. Ibidem. 

Gina Lombroso: Pazzia morale da nefrite. Ibidem. 


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Original from 

HARVARD UNiVERSITY 



2 20 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18. 


de Blasio: Gli zingari di Napoli. Rivista mensile 
di psich. for. et(\. 1902, Nr. 3 u. 4, 5. 

Saporito: Sulla delinquenza militare. Ibidem. 

Moll: Wann dürfen Homosexuelle heirathen ? 
Deutsche medicinische Presse, 1902, Nr. (x 

Prince de Carde et Roubinovitch: Contribution 
a l’etude mental des Jansenistes convulsiomaires. 
France Medical, 1902, No. 5. 

Voroliov: On the so-called occipital type of cranial 
construction in the mentally degenerate. Journal 
of Mental Pathology, 1902, Nr. 1. 

Zuccarelli: Caratteri di confonnazione dei delinquenti. 
Istituzioni di antropologia eriminale illustrate. 1902, 
5. e (x lezione. 

Zuccarelli: Delinquente imbecillesco etc. Ibidem. 

Havelock Ellis: The sexual impulse in woman. 
American Journal of Dermatology. 1902, March. 

Cognetti: Emicenturia di epilettici. Annali di Medi- 
cina Navale. 1901, ottobre. 

Saint-Paul: L’instinct sexuel. Archives d’anthro- 
pologie criminelle. 1902, 15. avril. 

Saint-Vincent: Tableau synoptique des depe<;ages 
criminels cominis depuis 1888 jusqu’en 1902. Ibid. 

Infanticides commis de 1882 ä 1902. Ibidem. 

Sante de Sanctis: Le impronte digitali dei fanciulli 
normali, frenastenici e sordomuti. Atti della 
Societa di Antropologia, vol. VIII, fase. II, 1902. 

Gei 11: Identification par le tatouage. Archives d’ 
Anthropologie criminelle etc. 1902, p. 267. 

Thomas: Une famille d’alienes et d’alienes criminels. 
Ibidem, p. 278. 

Laurent ^t Nagour: L’Occultisme et l’Amour. 
1902, Paris. 

Hegar: Die Untauglichkeit zum Geschlechtsverkehr 
und zur Fortpflanzung. Politisch-Anthropol. Revue. 
1902, Nr. 2. 

Psychiater und Richter. Eine Umfrage. Der Lotse, 
17. Mai 1902. 

Loh sing: Abschaffung der Todesstrafe. Archiv für 
Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. 9. Bd. 
1. Heft, 1902. 

Marcus: Versicherungswucher. Ibidem, p. 17. 

Stern: Ueber positivistische Begründung des philo¬ 
sophischen Strafrechtes. Ibidem, p. 23. 

Gross: Die Autobiographie eines „Rückfälligen“. 
Ibidem, p. 86. * 

Otto Gross: Zur Phylogenese der Ethik. Ibid., p, 104. 

Näcke: Ueber Variationen in den 5 innem Haupt¬ 
organen : Lunge, Herz, Leber, Milz und Nieren. 
Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie, 1902, 
Bd. 4, H. 1. 

Wolff: Die physiologische Grundlage der Lehre von 
den Degenerationszeichen. Ref., Neurol. Central¬ 
blatt, 1902, p. 429. 

Portern er: Les erotomanes etc. Paris, Rousset, 4 fr. 

Kekule von Stradonitz: Ueber die Untersuchung 
von Vererbungsfragen und die Degeneration der 
spanischen Habsburger. Archiv für Psych. etc., 
1902, 35. Bd., p. 787. 


W i 1 s e r: Zuchtwahl beim Menschen. Politisch-an- 
thropol. Revue, 1902, Nr. 3. 

Rüther: Erbliche Entartung und Sozialpolitik. Ibid. 

Böge: Zur Anatomie der Stirnhöhlen (Sinus frontales). 
In.-Diss. Königsberg 1902. 

Neugebauer: Interessante Beobachtungen aus dem 
Gebiete des Scheinzwitterthumes. Jahrbuch für 
sexuelle Zwischenstufen etc. IV. Jahrg., Leipzig, 
Spohra, 1902. 

Fuchs: Therapeutische Bestrebungen auf dem Ge¬ 
biete sexueller Perversionen. Ibidem, p. 177. 

Merzbach: Homosexualität und Beruf. Ibid., p. 187. 

Homosexualität und Bibel. Ibidem, p. 199. 

Spuren von Kontrasexualität bei den alten Skandi¬ 
naviern. Ibidem, p. 244. 

Nan sho k’ (Die Päderastie in Japan). Ibidem, p. 265. 

Katte: Der Daseinszweck der Homosexuellen. Ibid., 
p. 272. 

Karsch: Quellenmaterial zur Beurtheilung angeblicher 
und wirklicher Uranier. Ibidem, p. 281. 

v. Römer: Heinrich III, König von Frankreich und 
Polen. Ibidem, p. 572. 

Numa Praetorius: Die Bibliographie der Homo¬ 
sexualität für das Jahr 1901. Ibidem, p. 775. 

Marandon de Montyel: L’affaire Louis Pare. 
Archives d’anthropol. criminelle etc. 1902, p. 35Ö. 

Petit: Condamnation d’un degenere epileptique. Ibi¬ 
dem, p. 378. 

Laudati: La giustizia e la morale secondo i filosofi ed 
i giuristi. Trani 1902. 

Trenel: Figurations et jeux masochistes. Nach Ref. 
in Revue de psychiatrie etc. 1902, p. 186. 

Pitres etRegis: Les impulsions. Ibidem, p. 208. 

Papi 11ault: Quelques considerations anatomiques de 
la sociabilite chez les primates et chez l’homme. 
Revue de l’Ecole d’Anthropologie. 1902, Nr. 3. 

Dantec: L’heredite. Revue Scientifique, 1902, Nr. 10. 

Bourneville: Condamnation d’un degenere epilep¬ 
tique. Progres Medical, 1902, Nr. 17. 

Garnier: La Criminalite juvenile. Revue Scientifique, 
1902, Nr. 15. 

N i c e f o r o : The transformation of crime and the 
modern civilisation. Journal of ment. Pathology, 
1902, Nr. 2. 

Rollet: L’homme droit et l’homme gauche. Arch. 
d’anthropol. crim. etc., 1902, p. 177. 

Proal: Napoleon I etait-il epileptique? Ibid., p. 261. 

Rouby: Le delire transitoire aleoolique. Le crime 
de Corancez. Ibidem, p. 307. 

Nina-Rodriguez: Atavisme psvehique et paranoia. 
Ibidem, p. 325. 

Tirelli: L’isotonia dei sanguc degli alienati, contiibuto 
medico-legale alla diagnosi di siinulazionc di speciali 
stati psicopatici. Annali di freniatria etc. 1902, 
P- 35 * 

Curry: Criminals and their treatment. American law 
review, New-York 1902. 

Florian: Dei reati e delle pene in generale. Milano, 
Vallardi, 1902. 


Kür den redactionellrn Tlu-il verantwortlich: Oberarzt Dr. J. liresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Puchdruckerei (Gebr. WolfT) in Halle a S. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19. 


Eberswalde berichtet über einen Kranken, der 
wegen hartnäckiger Neigung, mit dem Kopf gegen 
die Wand zu rennen, oft stundenlang festgehalten 
werden musste. Das ist moderner als festbinden am 
Bett, aber mechanischer Zwang ist es schliesslich 
auch. 

Andere Berichte enthalten über Zwangsmittel so 
gut wie gar nichts. Nur Bayreuth schreibt, dass 
3 Frauen die Zwangsjacke angelegt wurde, und stellt 
für diese drei Indicationen auf: Transport, chirurgische 
Fälle mit Erregung, und unmittelbare Gefahr für Leib 
und Leben. Burghölzli theilt mit, dass dort noch 
Bettgurt, Handschuhe und Deckelbäder in vereinzel¬ 
ten Fällen angewendet werden. 

Widerspruch fordert es heraus, wenn Frankfurt, 
wie es auch sonst schon geschehen ist, die Ernährung 
mit der Schlundsonde zu den Zwangsmitteln 
rechnet. Freilich scheint man sie dort nicht für sehr 
verwerflich zu halten, denn sie ist in relativ zahl¬ 
reichen Fällen zur Anwendung gelangt. Aber schon 
die blosse Hinzurechnung zu den Zwangsmitteln ist 
geeignet, diese so wichtige und in manchen Fällen 
direkt lebensrettend wirkende therapeutische Maass- 
nahme zu discreditiren. Gewiss ist ohne weiteres zu¬ 
zugeben, dass man in weitaus den meisten Fällen 
von Nahrungsverweigerung ohne Sonde auskommt, 
und dass man früher in vielen Fällen die Sonde an- 
w’andte, wo sie nach den heutigen Erfahrungen ent¬ 
behrlich ist. Wie aber in jenen Fällen akutester 
Delirien, die sich ohne künstliche Ernährung in weni¬ 
gen Tagen zu Tode rasen, durch Sondenemährung 
aber mit einiger Wahrscheinlichkeit gerettet werden 
können? In solchen Fällen dem Princip zu Liebe 
die Sondenfütterung unterlassen, wäre fahrlässige Tö¬ 
tung; sie ist da ebenso zwingend indicirt, wie bei 
Larynxstenose die Tracheotomie. — Soweit die Be¬ 
richte überhaupt von Sondenfütterung reden, erwähnen 
sie sie als etw’as selbstverständlich Nothw f endiges. Mit 
den oben angedeuteten Einschränkungen wird man 
das wohl billigen. 

Ueber das Isoliren gehen die Meinungen 
immer noch sehr auseinander. Anstalten, die über¬ 
haupt nicht mehr isoliren, scheinen noch ziemlich 
selten zu sein. Unter den vorliegenden Berichten 
wird dies nur von einigen rheinischen Anstalten (An¬ 
dern ach, Galkhausen) und von Weissenau 
erwühnt. Die meisten erklären es für ihr Ziel, die 
Isolirungen auf ein Minimum einzuschränken, glauben 
sie aber doch nicht ganz entbehren zu können. 
Göttingen, wo bei den Männern 1,17 n 0 , bei den 
Frauen 2,42 0 ü Isolirungen vorgekommen sind, immer¬ 
hin noch ziemlich hohe Zahlen, bemerkt dazu: „es 


ist das ein Beweis dafür, dass die Zahl der Isolir- 
räume an den meisten Anstalten . . . noch erheblich 
verringert w’erden kann.“ Zwiefalten hat dies in 
die That umgesetzt, indem es die überflüssig gewor¬ 
denen Zellen zu Räumen für die Bettbehandlung um¬ 
baute. Iiti Asile de Cery hat man einen Wachsaal 
für Unruhige eingerichtet und ist seit dessen Eröff¬ 
nung nicht mehr in der Lage gewesen, neuaufgenom- 
mene Unruhige isoliren zu müssen. 

In Saargemünd haben Bett- und Bäderbehand¬ 
lung „die längeren Einschliessungen in Zellen, w r ie sie 
früher in schwierigen Fällen wohl nothwendig worden, 
fast ganz entbehrlich gemacht“. Frankfurt hat 
die Isolirungen bei Tage auf 0,5 ° 0 eingeschränkt, 
und ist nur durch die starke Ueberfüllung an noch 
weiterer Reduction verhindert worden. Weilmünster 
klagt, dass es genöthigt sei, der Frankfurter Anstalt 
die unsocialen Pfleglinge abzunehmen, wodurch sich 
Elemente anhäufen, die solche Fortschritte unmöglich 
machen. 

Sora 11 bricht eine Lanze für das Isoliren, hält 
es in vielen Fällen für nothw'endig und segensreich 
und meint, dass im Interesse individualisirender Be¬ 
handlung die Anstalt über möglichst viele, verschie¬ 
denartig abgestufte Einzelräume verfügen müsse. Zur 
Erläuterung werden einige Fälle beschrieben. 

An die Stelle dieser alten Zwangsmaassregeln ist 
jetzt in immer noch steigendem Umfange die Behand¬ 
lung mit Bettruhe und Bädern getreten. Die guten 
Erfolge der Bäderbchandlung werden von allen 
Seiten hervorgehoben. Aber auch da giebt es noch 
Zweifler. Zschadrass schreibt: „Von den Dauer¬ 
bädern haben wir keine besonders hervorragenden 
Erfolge gesehen“. „Nur in einem Falle schien eine 
schwere Erregung wirklich günstig beeinflusst zu 
werden. Dasselbe wäre aber auf anderm Wege viel¬ 
leicht auch erreicht worden“. 

Derartige vermeintlich schlechte Erfahrungen be¬ 
ruhen wohl stets darauf, dass man mehr oder anderes 
von den Bädern erwartet, als sie leisten können und 
sollen. Setzen wir dagegen einen Passus aus dem 
überhaupt sehr inhaltreichen Frankfurter Bericht: 
„Es gelang durch die Dauerbäder eine ganze An¬ 
zahl der erregtesten, schwierigsten, melancholischen, 
manischen, katatonischen und paralytischen Erregungs¬ 
zustände ohne Anwendung von narkotischen Mitteln 
am Tage im Bad, und dann in der Nacht oft im 
Bett oder in einem Einzelzimmer mit offener Thür 
zu halten, bei welchen man ohne das Bad kaum 
um eine Isolirung oder den Gebrauch schwerer Nar- 
kotica herumgekommen wäre. Dabei nahmen die 
Kranken im Bade meist erheblich an Gewacht zu 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 223 


und zeigten viel weniger eine Neigung, jene dege- 
nerativen Züge anzunehmen, welche man so oft 
als Folgen längerer Isolirung beobachtet Zwangs¬ 
mittel zum Festhalten im Bad wurden nicht noth- 
wendig. Hin und wieder gelang es, bei den 
ersten Malen den Kranken nicht oder nur kurze 
Zeit im Bad zu halten, schon nach wenigen Tagen 
aber gewöhnten sich die allermeisten Patienten daran, 
im Wasser zu bleiben und schienen sich darin, auch 
bei längerer Dauer, wohl zu befinden. Sie sind im 
Gegensatz zu den Isolirten unter ständiger Aufsicht, 
namentlich auch während der Mahlzeiten“. — Das 
ist es, was die Bäder leisten sollen und auch that- 
sächlich leisten. 

Auch die Bettbehandlung hat sich allgemei¬ 
nes Bürgerrecht erworben. Dass frisch Erkrankte 
für’s erste in’s Bett gehören, ist heute allgemein an¬ 
erkannt; aber auch bei chronischen Fällen, sofern 
Beschäftigung nicht gelingt, erfreut sich zur Bekämpf¬ 
ung von Erregungen und sonst störendem Verhalten 
die Bettruhe steigender Beliebtheit. 

Die in manchen Berichten beliebte procentuale 
Berechnung der im Bette Liegenden scheint mir aber 
wenig Werth zu haben. Was soll das beweisen? 
Soll es etwa einen Maassstab für die fortgeschrittene 
Behandlungsmethode einer Anstalt abgeben, wie viele 
Kranke sie im Bette liegen hat ? — Die Bettläge¬ 
rigen setzen sich aus 4 Gruppen zusammen: 1. den 
frisch Erkrankten, 2. solchen chronischen Fällen, 
welche wegen ihres psychischen Verhaltens mit Bett¬ 
ruhe behandelt werden, 3. den Siechen und Ge¬ 
lähmten, 4. den körperlich Kranken. Nr. 1, 3 und 4 
werden wohl überall zu Bette liegen, geben also kein 
Unterscheidungsmerkmal ab; einen Rückschluss auf 
die Behandlungsmethode in einer Anstalt gestattet also 
nur Nr. 2, der im Bett behandelte Bruchtheil der 
chronisch Kranken. Und auch da darf man wohl 
nicht ohne weiteres eine hohe Zahl zu Gunsten der 
betreffenden Anstalt deuten. Ein böswilliger Beur- 
theiler könnte sogar aus einer hohen Zahl schliessen 
wollen, dass die Anstalt recht viele verwahrloste 
Fälle hat, auf deren Erziehung zur Beschäftigung 
nicht die nöthige Mühe verwandt worden ist. 

Zwiefalten schreibt: „Es wurde daran festge¬ 
halten, alle neuaufgenommenen Kranken, sowie vom 
Bestand die chronisch aufgeregten, zur Unreinlich¬ 
keit und ungeordneten und unsauberen Gewohnheiten 
und Manieren neigenden Kranken möglichst unter 
permanenter Ueberwachung mit Bettruhe zu behan¬ 
deln. Mit eintretender Besserung sollte der richtige 
Zeitpunkt wahrgenommen w-erden, in welchem an 

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die Stelle der Bettbehandlung die Arbeit treten 
sollte.“ 

Eine eigenartige Indication zur Bettbehandlung 
hat Osnabrück aufgestellt. Dort wird ein zu be¬ 
ständigen Entweichungen neigender Verbrecher dau¬ 
ernd zu Bett gehalten, in der Hoffnung, „eine Ent¬ 
weichung dadurch möglichst zu erschweren, und eine 
Verblödung möglichst zu beschleunigen“. 

Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Bett- und 
Bäder-Behandlung geht der Verbrauch an Narco- 
ticis zurück. Frankfurt berichtet über die Ver¬ 
ordnung von Schlafmitteln und giebt Zahlen an, die 
im Verhältniss zur Krankenzahl wohl nicht über¬ 
mässig hoch genannt werden können. Dazu wird 
bemerkt: „Bei dem grossen Zugang und dem steten 
Bestreben, dafür Sorge zu tragen, dass in den Wach¬ 
sälen ruhige Kranke nicht durch Unruhe anderer im 
Schlafe gestört werden, hat sich die Anwendung der 
Schlafmittel nicht weiter herabsetzen lassen.“ Aehn- 
liches wird von Bayreuth berichtet, w r o besonders 
in frischen Fällen darauf gesehen wurde, dass die 
Narcotica „nicht durch zu häufige und zu intensive 
Anwendung als Zwangsjacke ums Gehirn mehr Scha¬ 
den als Nutzen stiften“. 

Letzteres Bedenken ist gewiss berechtigt. Narco¬ 
tica sollten bei frischen Fällen möglichst vermieden 
werden. Ein frisch erkranktes Gehirn braucht Ruhe; 
durch Darreichung von Narcoticis fügt man der schon 
vorhandenen Schädigung des Gehirns noch eine neue 
hinzu. Die momentane Unruhe kann dadurch be¬ 
seitigt werden; die Genesung wird sicher nicht da¬ 
durch gefördert. Wenigstens an sich nicht; natürlich 
giebt es Fälle, wo die Unruhe, ein sofortiges Ein¬ 
schreiten erheischt, z. B. wo der Kräftezustand so 
reducirt ist, dass die Unruhe Lebensgefahr in sich 
schliesst. Bei Erregungen chronischer Kranker wird 
man in der Darreichung der Narcotica weniger zu¬ 
rückhaltend sein dürfen. 

Ein wesentlicher Bestandtheil der freien Behand¬ 
lung ist die Gewährung von freiem Ausgang 
an alle Kranke, deren Zustand es irgend verträgt. 
Man ist darin heutzutage recht freigebig. 

Die Berichte enthalten hierüber wenig. Das hat 
wohl seinen Grund darin, dass man hierin etwas 
Selbstverständliches sieht, was einer besonderen Her¬ 
vorhebung nicht mehr bedarf. Rheinau theilt mit, 
dass dort 107 M. und 79 F. freien Ausgang haben, 
bei einem Bestand von 325 M. und 403 F. gewiss 
eine recht hohe Ziffer. Sonnenstein giebt an, 
dass Bewegungsfreiheit in möglichst grossem Umfange 
gewährt wurde und dass ein Missbrauch dieser Frei¬ 
heit nur bei Alkoholikern vorkam. Frankfurt 

Original frnm 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. ig. 


theilt mit, dass die Zahl der sich frei bewegenden 
Kranken von 12°' ft im Jahre 97 98 während der Be¬ 
richtsjahre auf 34°/ e der Anstaltsinsassen gestiegen ist. 

Weiter berichtet Frankfurt über die Einfüh¬ 
rung des Offenthür-Systems, das ja wohl in 
dasselbe Kapitel gehört, und das dort in den meisten 
Abtheilungen eingefiihrt werden konnte. Auf der 
männlichen Aufnahmestation stellte sich die Noth- 
wendigkeit heraus, die Thür wieder zu schliessen, 
weil die Alkoholiker und manche ethisch degenerirte 
Imbecille die Freiheit missbrauchten. Sonst hat sich 
das System überall bewährt. 

Jeder wird solche Erfolge mit Befriedigung lesen. 
Was hat es aber für einen Zweck, in den Wach¬ 
sälen die Thür offen zu lassen ? und die offene Thür 
durch das Pflegepersonal überwachen zu lassen ? Man 
erschwert dadurch dem Pfleger doch nur in zweck¬ 
loser Weise den ohnehin schon überaus verantwort¬ 
lichen Wachdienst. Dass ein im Wachsaal unterge¬ 
brachter Kranker den Saal nicht nach Belieben ver¬ 
lassen darf, ist doch wohl selbstverständlich. Also ge¬ 
hört die Thür geschlossen. 

Auch in der Zulassung von Besuchen der 
Angehörigen bei den Kranken ist man heute sehr 
liberal geworden. Contraindicationen giebt es nur 
noch wenige. Viele Anstalten geben ' die Zahl der 
stattgehabten Besuche an, die an manchen recht 
hoch ist. Auch die Sitte, die Besuche nicht mehr 
in besonderen Besuchszimmern, sondern auf den Ab¬ 
theilungen selbst stattfinden zu lassen, verbreitet sich 
immer mehr. Diese Gewährung ungehinderten Ein¬ 
blicks in die Art der Unterbringung der Kranken 
zerstreut am wirksamsten etwa vorhandenes Miss¬ 
trauen, mit dem wir ja leider immer noch rechnen 
müssen. 

Zu den ältesten und bewährtesten Hilfsmitteln 
unserer Therapie gehört die regelmässige Beschäf¬ 
tigung der Geisteskranken, und zugleich ist sie 
einer der wenigen Punkte, über deren Werth Mei¬ 
nungsverschiedenheiten kaum existiren. So werden 
wir es ganz natürlich finden, dass Mittheilungen 
hierüber in manchen Berichten einen beträchtlichen 
Raum einnehmen. 

Leider nur in manchen, bei weitem nicht in 
Allen. Viele erwähnen sie überhaupt nicht, andere 
gehen mit wenigen Worten darüber hinweg. Wer 
aus Erfahrung weiss, wie schwierig es oft ist, für einen 
Kraüken die richtige Beschäftigung zu finden, wie 
wünschenswerth es oft ist, möglichst viele verschiedene 
Arten von Beschäftigung zur Auswahl zu haben, der 
wird dies Schweigen bedauern; hier ist ein Gebiet, 
in dem Jeder noch vom Andern lernen kann, in dem 


Jeder, der seine Erfahrungen möglichst ausgiebig mit¬ 
theilt, auf den Dank Vieler rechnen kann. 

Es ist wohl nicht nur Zufall, dass die ausführ¬ 
lichsten Mittheilungen über Beschäftigung sich in den 
Berichten der Anstalten für Schwachsinnige und 
Idioten finden. Dort steht eben die Beschäftigungs¬ 
therapie im Mittelpunkt der ganzen Behandlung, 
während bei den Geisteskranken im engeren Sinne die 
grössere Differenzirung der ärztlichen Maassnahmen 
jene leicht zu sehr in den Hintergrund drängt, um¬ 
somehr, als sie gerade bei den frisch Erkrankten, die 
doch das ärztliche Interesse in erster Linie in An¬ 
spruch nehmen, nur selten angezeigt ist. 

Viele Berichte machen ihre Mittheilungen mehr 
vom Verwaltungsstandpunkte aus und führen die ge¬ 
leisteten Arbeitsresultate oder die Zahl der Arbeits¬ 
tage auf. Solche Angaben haben für Andere natür¬ 
lich wenig Interesse. Andere geben die Zahl der 
beschäftigten Kranken in Procenten des Bestandes 
an. Das ist schon interessanter, gjebt aber auch ein 
unsicheres Bild. Der Bericht von Rheinau weist 
mit Recht auf die kaum vermeidbare Willkürlichkeit 
solcher Zahlenangaben hin. Bei manchen Kranken, 
die nicht den ganzen Tag arbeiten, sondern nur 
einen grösseren oder kleineren Bruchtheil desselben, 
ist es ziemlich willkürlich, wo man die Grenzen fest¬ 
setzen will, von der an man den Kranken als arbei¬ 
tend mitzählt. Die auffallend grossen Differenzen 
in den Zahlenangaben der verschiedenen Anstalten 
beruhen sicher zum grossen Theil auf solchen Ver¬ 
schiedenheiten des Zählungsmodus. 

Von grösserem Interesse sind nur solche Mitthei¬ 
lungen, die auf die Arten der Beschäftigung näher 
eingehen. Leider ist die Ausbeute gering. 

Dass überall für die männlichen Kranken land- 
wirthschaftliche Arbeiten im Vordergründe stehen, 
ausserdem Einzelne in den gebräuchlichsten Hand¬ 
werken und mit Schreibarbeiten beschäftigt werden, 
ist selbstverständlich. Ebenso die Beschäftigung der 
Frauen in Koch- und Waschküche und mit Hand¬ 
arbeiten. 

In So rau hat man auf der Frauenseite im Hause 
der Unruhigen eine Nähstube eingerichtet. Leider 
wird über die Erfahrungen hiermit nichts Näheres 
mitgethcilt. 

Versuche mit neuen oder doch ungewöhnlichen 
Arten von Beschäftigung werden nur wenige be¬ 
richtet. Untergöltzsch hat Schnitz- und Papp- 
arbeiten, Laubsägen und Brandmalerei eingeführt und 
eine relativ beträchtliche Zahl von Kranken darin 
beschäftigt. Eberswalde will für Kranke besserer 
Stände Zeichnen, Modelliren und Cartonnagearbeiten 


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1902.] 

einführen. Im Winter, wenn es an landwirtschaft¬ 
lichen Arbeiten fehlt, werden dort Männer in grossem 
Umfang mit Strohflechten beschäftigt. 

Hier sei mitgetheilt, obgleich es im Bericht nicht 
steht, dass einige rheinische Anstalten für männliche 
Kranke Bambusarbeiten eingeführt haben und gute 
Erfahrungen damit machen. 

H aus Schönau mit seinem ganz anders gearte¬ 
ten Krankenmaterial kann natürlich hierin mehr 
Auswahl bieten. Der Bericht giebt an, dass dort 
auch feinere Eisenarbeiten gemacht werden, ferner 
Buchbinderei, Kerbschnitzerei, Brandmalerei, Papier¬ 
arbeiten aller Art. 

Für einen Theil unserer Kranken eine passende 
Beschäftigung zu finden, ist immer noch ein unge¬ 
löstes Problem. 

Noch einiger Worte bedarf die Alkoholfrage, 
die ja in steigendem Maasse die Gennither erhitzt. 
In den Berichten tritt ihre Aktualität freilich wenig 
hervor, und wenige sprechen überhaupt davon. 

In Frankfurt werden in der Abtheilung, die 
vorzugsweise für die Behandlung der Trinker be¬ 
stimmt ist, keine alkoholischen Getränke gegeben; 
auch die Epileptiker werden abstinent gehalten. „Von 
einer Einführung der absoluten Abstinenz in der An¬ 
stalt haben wir deshalb Abstand genommen, weil wir 
in einem mässigen Genuss von leichtem Bier und 
Wein für viele Kranke eine Schädigung nicht 


225 

erblicken können. Wir müssen die Entziehung eines 
volksthümlichen unschädlichen Genussmittels als eine 
Form einer Zwangsmaassregel ansehen, zu deren An¬ 
wendung nur in medicinisch gebotenen Fällen ein 
Grund vorliegt.“ Wenn man den Alkohol für einen 
Theil der Kranken für unschädlich hält, so ist das 
eine Ansicht, die von vielen getheilt ward. In der 
Einführung der Abstinenz aber eine Zvvangsmaassregcl 
zu erblicken, scheint mir etwas gesucht. 

IIochweitzschen berichtet über die Aufstel¬ 
lung eines Kohlensäureapparates, mit welchem Limo¬ 
naden und dgl. als Ersatzmittel für Alcoholica herge¬ 
stellt werden, und bemerkt: „Um die alkoholischen 
Getränke möglichst ganz aus der Epileptikeranstalt zu 
verdrängen, sowohl aus ärztlichen, wie aus erzieheri¬ 
schen Gründen, bedarf es eines derartigen Ersatzes.“ 

Salzburg theilt mit, dass es im Berichtsjahr die 
vollständige Alkoholabstinenz für die Kranken durch¬ 
geführt habe. „Die Abstinenz wurde nicht nur des¬ 
halb durchgeführt, weil der Alkohol für geistig Kranke 
oder Belastete als schädlich anerkannt werden muss, 
sondern auch, weil die Anstalt ihren Pflegebefohlenen 
zeigen soll, wie leicht man dieses für nicht gefestigte 
Charaktere gefährliche Reizmittel entbehren kann.“ 
Dieses letztere Argument ist gewiss beachtenswcrth, 
wobei noch darauf hinzuweisen wäre, dass bei erziehe¬ 
rischen Einflüssen ein gewisser „Zwang“ in der Regel 
nicht entbehrt werden kann. (Fortsetzung folgt). 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wachabtheilung 

Von Director Dr. Wcichelt , 

|~^ie günstigen Erfahrungen, die in Göttingen mit 
der Einrichtung einer Wachabtheilung für un¬ 
reinliche und sieche Kranke gemacht wurden (cf. Weber: 
Ueber einige Neubauten an der Göttinger Anstalt, Heft 
15,1902 dieser Wochenschrift) können durch eine gleiche 
Einrichtung auf der Frauenseite der Pflegeanstalt St. 
Thomas bestätigt werden. Seit etwa 1 1 2 Jahren ist 
hier ein Neubau in Benutzung genommen wurden, 
welcher die Belegzahl der Anstalt um 120 Plätze — 
60 für jedes Geschlecht — erhöhte. Ursprünglich 
war er bestimmt für nicht der Bettruhe bedürftige 
Kranke. Die schönen, luftigen Räume veranlassten 
mich aber, es bei der Vorgesetzten Behörde — der 
Kgl. Regierung in Coblenz — zu erwirken, dass der 
ganze Neubau zu Bettstationen eingerichtet wurde. 
Es stand nicht zu erwarten, dass unter den 120 
Kranken, welche aus anderen Anstalten hierher über¬ 
wiesen wurden, viele noch brauchbare Leute sich 
finden Hessen; das Loos der Pllegeanstaltcn. Die 
Voraussicht war richtig, die 120 Bettplätze waren 
l)ald besetzt. Während sie aber auf der Männerscitc 
vorwiegend eingenommen wurden durch Kranke, für 


für Unreinliche. 

St. Thomas bei Andernach. 

die aus psychischen Gründen Bettbehandlung und 
Ueberwachung nüthig erschien, und die Zahl der Un¬ 
reinlichen und Siet hen verhältnissmässig gering war, 
stellte sich dies Verhältnis« bei den Frauen wesentlich 
anders. Die Zahl der mit Bettruhe behandelten Frauen 
beläuft sich jetzt auf 110 bei einer Gesammtzahl von 
200. Von diesen 110 sind nicht weniger als 50 un¬ 
reinlich und siech. 

Für 3b derartige kranke Frauen ist nun seit über 
1 Jahr im Erdgeschoss des Frauenneubaues eine Wach¬ 
abtheilung eingerichtet, bestehend aus einem grossen 
Saal von 15 Betten und 2 kleineren von 11 resp. 10 
Betten. Zwischen ersterem und den beiden letzteren 
befindet sich ein kleiner Tagesraum. Der Luftraum 
pro Bett beträgt in den Sälen 30 cbm. An jeden 
der beiden kleineren Säle schliesst sich ein Bade¬ 
zimmer an für 3 und 2 Wannen. Der grosse Saal 
hat an 2 Seiten Fenster, die kleineren nur an einer 
Seite, sie sind durch eine Thür mit einander ver¬ 
bunden. 

Sümmtliche 3b Kranke stehen Tag und Nacht 
unter Ueberwachung. <> Pflegerinnen sind während 


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Original fram 

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226 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19. 


des Tages hier thätig, sie schlafen Nachts ausserhalb 
dieser Station — der Dienst während des Tages ist 
anstrengend genug — und werden Nachts durch 2 
Pflegerinnen ersetzt. Diese genügen für die Nacht¬ 
wache, da während der Zeit Bäderbetrieb, Beaufsich¬ 
tigung während der Mahlzeiten und deren Verabreich¬ 
ung wegfallen. 

Wie schon gesagt, sind die Erfahrungen mit dieser 
Wachabtheilung recht gute. Es gelang seither bei 
den meisten Kranken Unreinlichkeit und Nassliegen 
zu vermeiden. Ganz zum Verschwinden wird die 
Unreinlichkeit in einer derartigen Abtheilung nicht zu 
bringen sein, da es Fälle giebt, bei denen alle Pünkt¬ 
lichkeit und Sorgsamkeit versagt, wie wir hier bei einigen 
Kranken mit Altersblödsinn wiederholt erfahren mussten. 
Für eine Unreinlichkeit in solchen Fällen kann natür¬ 
lich das Personal nicht verantwortlich gemacht werden. 
Für diese Art von Kranken wurde hier auf Matratzen 
und Gummiunterlage verzichtet, da bei dieser Lager¬ 
ung die meist zusammengekauert in der Mitte des 
Bettes liegenden Kranken im Falle einer Verunreinig¬ 
ung einfach schwimmen. Sie liegen auf Sägemehl, 
über welches ein Betttuch gebreitet ist. Dieses Ma¬ 
terial hat den Vorzug der Billigkeit und thut die¬ 


selben Dienste, wie Moos und Holzwolle. Für Er¬ 
neuerung des Sägemehls muss im Falle einer Verun¬ 
reinigung natürlich sofort gesorgt werden. 

Seit Einrichtung dieser Wache wurden nur 2 Fälle 
von Decubitus behandelt, und zwar mit Dauerbädern 
am Tage, Nachts Lagerung auf Wasserkissen. Die 
eine Frau, schon in hohem Alter stehend, lebte hier 
überhaupt nur noch 3 Tage und brachte den Decu¬ 
bitus mit; bei der anderen konnte gleich im Anfangs¬ 
stadium mit der oben erwähnten Behandlung einge- 
griflen werden, es trat Heilung ein, die Kranke lebt 
heute noch. — Die Bäder in dieser Wachabtheilung 
werden meist gebraucht zur Behandlung der bei Blöd¬ 
sinnigen nicht seltenen Erregungszustände, und ge¬ 
legentlich geben auch Eiterungen und Verletzungen, 
wenn der Verband nicht liegen gelassen wird, Grund 
für die Bäderbehandlung ab. 

Leider muss ein Theil der hier verpflegten unrein¬ 
lichen Frauen des Nachts noch ohne Ueberwachung 
schlafen. Natürlich sind es diejenigen, bei denen die 
Unrein liehkeit nichts Regelmässiges ist Wünschens- 
werth wäre ja auch die nächtliche Ueberwachung, sie 
lässt sich aber zur Zeit noch nicht durchführen. 


M i t t h e i 

— München. Erbauung einer psychiatrischen 
Klinik. Der Localbaucoinmission lagen die Pläne über 
den Neubau einer psychiatrischen Klinik vor, die das 
Kultusministerium der Localbaucommission mit der 
Weisung zugeleitet hat, die Entscheidung darüber 
mit Rücksicht darauf zu beschleunigen, dass die 
Pläne noch der Reichsrathskammer vorzulegen sind. 
Das Gebäude kommt auf das zum Areal des Kranken¬ 
hauses links der Isar gehörende Grundstück an der 
Nussbaum- und Goethestrasse zu stehen; es soll ab¬ 
seits von den Baulinien errichtet werden und den 
Haupteingang an der Nussbaumstrasse erhalten. Die 
Hauptfront wird auch an diese Strasse zu stehen 
kommen. Der Gebäudetrakt an der Nussbaumstrasse 
wird drei Stockwerke, der Haupttrakt an der Goethe¬ 
strasse zwei Stockwerke über dem Erdgeschoss erhalten. 
Zum Trakte an der Goethestrasse sind zwei parallele 
Flügelbauten vorgesehen, von denen der mittlere die 
Oekonomieiäume aufnehmen soll. Nur jener Trakt, 
der diese Räumlichkeiten enthält, wird unterkellert, 
die übrigen Gebäudetheile jedoch nicht. An die 
Strassenseite sind die Gänge verlegt, während alle 
Unterrichts- und Krankenräumc so liegen, dass sie 
auf die Höfe münden. Im Mitteltrakt an der Nuss¬ 
baumstrasse sind jene Räume untergebracht, in welchen 
der Hauptverkehr sich abwickcln wird. Die Architektur 
des Gebäudes ist einfach, aber würdig. Die bau¬ 
polizeiliche Beurthcilung der Pläne durch die Local¬ 
baucoinmission hatte das Ergcbniss, dass gegen die 
Pläne keine Erinnerung besteht, wenn Dispens ertheilt 
wird wegen Nichteinhaltung der Baulinien und wegen 
der zu geringen Grenzabstände, sowie wenn die Nach¬ 
barschaft die Zustimmung ertheilt. Dispens wird ge- 

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1 u n g e n. 

währt wegen der Längenausdehnung der Gebäude 
und wegen der ungenügend grossen Pavillonabstände. 
Zur Sache ist noch der Stadtmagistrat als Communal- 
und Feuerpolizeibehördc zu hören. 

— Göttingen, Juli 1902. Im Laufe des Sommer¬ 
semesters sind eine Anzahl praktischer Juristen und 
Aerzte, sowie Angehörige der juristischen, philoso¬ 
phischen und mcdicinischen Fakultät unserer Hoch¬ 
schule zu einer „Göttinger psychologisch-foren¬ 
sisch e n V e r ei n i gu n g“ zusammengetreten, welche sich 
die Erörterung der Grenzgebiete zwischen Philosophie, 
Medicin und Jurisprudenz zur Aufgabe gestellt hat, 
d. h. die Besprechung solcher wissenschaftlicher und 
praktischer Fragen, welche für mindestens zwei der 
bezeichneten Gebiete von Interesse sind. 

Es sollen in jedem Semester ca. 2 Versammlungen 
stattfinden, bei denen aus einem der erwähnten Ge¬ 
biete ein Vortrag gehalten wird, dem sich freie, zwang¬ 
lose Diskussionen anschliessen. — 

Bei der am 1. Juli stattgehabten erstmaligen Ver¬ 
sammlung fanden sich eine grosse Anzahl wissen¬ 
schaftlicher und praktischer Vertreter der erwähnten 
Berufe ein. Zum Vorsitzenden wurde Landgerichts¬ 
präsident Iieinroth, zu seinen Vertretern Prof. Dr. 
E. Müller (Psychologie) und Prof. Dr. Cramer 
(Psychiatrie) gewählt. Die Kassenführung besorgt 
Prof. Dr. jur. v. Hippel, die Schriftführung Privat- 
docent Dr. med. Weber. 

Sodann hielt Prof. Cramer den angekündigten 
Vortrag über: „Die sog. Degeneration im Zu¬ 
sammenhang mit dem Straf- und Civilrecht“ 
Vortr. versteht unter „Degeneration“ eine ange¬ 
borene, minderwerthige Veranlagung des Individuums 

Original frnm 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


in körperlicher und dadurch auch in psychischer 
Beziehung. Die durch die Beobachtung festzustellenden 
Zeichen der Degeneration sind die als körperliche 
„Stigmata“ bezeichneten bekannten Entwickelungs- 
hemmungen einzelner Organe, wie Gesichts-, Schädel-, 
Ohrbildung u. s. w Für sich allein haben die körper¬ 
lichen Degenerationszeichen keine besondere patho¬ 
logische Bedeutung, wie ihr Vorkommen bei vielen 
völlig normalen und leistungsfälligen Menschen beweist. 
Viel wichtiger sind die „psychischen Stigmata“, wo¬ 
runter Vortr. alle Formen von Neurasthenie, gewisse mit 
Angst einhergehende Zwangszustände (auch conträr- 
sexuelle Empfindungen), endlich Defekte auf einzelnen 
Gebieten des geistigen Lebens zusammenfasst. Zu 
den letzteren gehören namentlich ausgesprochene 
ethische Defekte bei erhaltener oder sogar hochent¬ 
wickelter Intelligenz, besondere Begabung für einen 
bestimmten Wissenszweig bei ausgesprochener Unfähig¬ 
keit auf anderen Gebieten des Allgemeinwissens, dann 
eine gewisse Disharmonie in der ganzen Lebensführung, 
eine stark hervortretende Impulsivität des Handelns. 
Züge, welche namentlich die sog. Degen eres supe- 
rieurs (Instables, Desequilibres) der Franzosen kenn¬ 
zeichnen. Das Vorhandensein eines oder des andern, 
namentlich der körperlichen Degenerationszeichen, 
rechtfertigt es noch nicht, ein Individuum als „Degene¬ 
rierten“ zu bezeichnen. Es bedarf dazu der Häufung 
einer Anzahl von körperlichen und psychischen 
Degenerationszeichen. Ein derartiger Degenerierter 
ist aber noch nicht geisteskrank im medicinischcn 
oder juristischen Sinne. Jedoch wird der Strafrichter 
nicht selten dazu kommen, einem derartigen Menschen 
mildernde Umstände zuzubilligen, wenn der Sachver¬ 
ständige eine Häufung solcher Degenerationszeichen, 
namentlich auch psychischer, bei ihm nachweist. 

Dagegen können auf dem Boden der Degeneration 
leicht Geisteskrankheiten entstehen, welche in ihrem 
Verlauf, ihren Symptomen mancherlei für ihre Ent¬ 
stehung characteristische Zeichen aufweisen. Diese 
Kranken unterliegen natürlich in civil- und strafrecht¬ 
licher Hinsicht denselben Bestimmungen wie die 
übrigen aus einer andern Ursache geisteskrank Ge¬ 
wordenen. Ferner haben die Degenerierten die Eigen¬ 
tümlichkeit, dass sie unter besonderen Verhältnissen, 
namentlich unter der Einwirkung schädlicher Reize 
den Anforderungen, welche an ihre geistige Leistungs¬ 
fähigkeit gestellt werden, eher versagen, als nicht 
degenerirte Individuen. Solche besondere Reize sind: 
hochgradige Affekte, Alkoholgenuss (bes. bei den 
Intoleranten) und bei Frauen die Zeiten der Men¬ 
struation und Schwangerschaft. 

In solchen Fällen wird der Sachverständige häufig 
dazu kommen, bei einer Abwägung aller in Betracht 
kommenden Uebelstände einen vorübergehenden Zu¬ 
stand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit im 
Sinne des § 51 Str. Ges. anzunehmen, worauf die 
Freisprechung erfolgen kann. An den einzelnen Formen 
zeigt Vortr. sodann, wie es gerade bei der Würdigung 
dieser Zustände auf ein möglichst individualisirendes 
Vorgehen ankomme, wie aber auf dem .Boden der be¬ 
stehenden Gesetzgebung bei entsprechender Begutach- 
tung es möglich ist, jedem einzelnen Fall gerecht zu werden. 

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Dem Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion, an 
der sich namentlich die Herren Präsident Hein rot h, 
Prof. v. Hippel, Exc. v. Planck, Prof. Detmold 
u. A. betheiligten. (Weber-Göttingen.) 

— Ueber die Irrenfürsorge in Belgien schreibt 
die Kölnische Ztg. vom 30. 7. 02: „Im Jahre 1893 
äussertc sich der belgische Justizminister in seinem 
Bericht über die belgischen Irrenanstalten folgender- 
maassen: „Diese Einrichtung, die eine in so vielen 
Punkten die wichtigsten Interessen der Gesellschaft 
streifende Angelegenheit in die Hände von Privat¬ 
leuten legt, ist in ihrer ganzen Anlage verfehlt, weil 
sie einerseits der Ausbeutung und dem Geschäft zu 
sehr Vorschub leistet, anderseits den Umfang des 
behördlichen Eingreifens unvermeidlich einschränkt“. 
Trotz dieser entschiedenen Sprache der obersten Be¬ 
hörde ist bisher eine Aenderung auf dem Gebiete 
der Irrenpflege in Belgien nicht erfolgt; die vor¬ 
handenen Mängel dauern fort: äusserste Ueberfüllung 
der kasemenartigen Anstalten mit unordentlich unter- 
gebiachten Kranken, ungenügende Beschäftigungsge¬ 
legenheiten, mangelhafte ärztliche Versorgung; prak¬ 
tische Aerzte besuchen ab und zu die Kranken, soweit 
ihnen die Praxis dazu Zeit lässt und die Anstalts¬ 
leitung einen ärztlichen Besuch für nöthig erachtet. 
Mechanische Zwangsmittel, die anderwärts nur noch 
ausnahmsweise Anwendung finden, kommen in den 
belgischen Anstalten immer mehr in Brauch. Jeder¬ 
mann kann in Belgien, wenn er nur einige gesetzliche 
Formen erfüllt, eine Irrenanstalt errichten, leiten und 
ein Gewerbe daraus machen. Es giebt dort nur drei 
Staatsanstalten bei 12 000 Geisteskranken im Lande, 
um die es zum Tlieil allerdings besser bestellt ist, 
obgleich z. B. die theihveise Verwendung von 
kirchlichem Ordenspersonal auch ein über¬ 
wundener Standpunkt sein sollte. Man sieht, 
dass auch in Belgien eine gesetzliche Neuregelung 
der Verhältnisse der Irren, wie sie bei uns im 
Gange ist, sehr vonnöth en wäre. Die obige Aeusse- 
rung des belgischen Justizministers über die Unter¬ 
bringung von Geisteskranken in Privatanstalten verdient 
auch ausserhalb Belgiens besondere Beachtung.“ 

— Am 28. Juli traten zu München auf Anregung 
der Directoren Vock e -München und Dees -Gabersee 
eine Reihe bayerischerlrrenärzte, darunter fast sämmt- 
liche Directoren der k. Kreisirrenanstalten, sowie Ange¬ 
hörige der medicinischen Facultäten, zusammen und 
gründeten einen „Verein bayerischer Psychiater“. 
Vocke-München wurde zum 1., Dr. Rehm-Neufrieden- 
heim zum 2. Vorsitzenden gewählt. Es werden jährlich 
Versammlungen abgehalten, deren erste Pfingsten 1903 
in München stattfindet. Der Zweck des Vereins ist 
die Pflege und Förderung der theoretischen und prac- 
tischen Psychiatrie mit besonderer Berücksichtigung 
der öffentlichen Fürsorge für psychisch Kranke. 

— Die „Vossische Ztg.“ vom 19. Juli d. J. schreibt: 

„Es ist hier darauf hingewiesen worden, mit welchen 
Missständen der vielfach geübte Brauch der Communal- 
verbände verknüpft ist, Geisteskranke, für welche diese 
Verbände zu sorgen haben, in privaten Heilanstalten 
unterzubringen. Im Sinne unserer Darlegungen ist 
eine Zuschrift gehalten, die uns von einem Irrenarzt 

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228 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19. 


in leitender Stellung zugeht. Es heisst darin: Es sei 
noch auf zweierlei Schaden die Aufmerksamkeit ge¬ 
lenkt, welche mit der Einweisung von Communal- 
und Provinzial-Pfleglingen in private Anstalten 
verknüpft sind. Da kommen zunächst die Verhältnisse 
in den Anstalten religiöser Gemeinschaften in Betracht. 
Hier haben Nichtmedicincr die bestimmende Macht, 
während bei den weltlichen Privatanstalten Aerzte die 
Oberleitung haben. Dazu kommt aber noch, dass 
diese Nichtmediciner, die den kirchlichen Irrenheil¬ 
anstalten vorstchen, noch andere Interessen haben 
als diejenigen, ihre Arbeit den Kranken zu widmen. 
Die Thätigkeit in den Heilanstalten ist nur ein Teil 
ihrer Berufsthütigkeit. Ihr Hauptstreben bleibt immer, 
ihre Ordensgemeinschaft zu fördern. Sie unterstehen 
an erster Stelle ihren Ordensoberen; erst an zweiter 
Stelle sind sic den Aerzten untergeordnet. Ueber 
das Pflegepersonal hat in Wirklichkeit nicht die ärzt¬ 
liche Anstaltsleitung, geschweige denn eine öffentliche 
Behörde, wie bei öffentlichen Anstalten, sondern der 
Ordensobere die Disziplinargewalt. Es liegt auf der 
Hand, dass unter solchen Bedingungen die Kranken¬ 
pflege leiden muss. Es fehlt an der Wirkung des 
unmittelbaren Einflusses, den der Arzt auf das Pflege¬ 
personal hat. Ein anderer Schaden, welcher der 
Unterbringung von Communalkranken in Privatan¬ 
stalten anhaftet, entspringt aus der Art der Geistes¬ 
kranken, die aus den öffentlichen Anstalten in die 
privaten Anstalten übergeführt werden. Die Ver¬ 
waltungen geben an die Privatanstalten vorwiegend oder 
ausschliesslich ruhige Kranke ab. Unruhige Kranke, 
deren Wartung schwer ist, verbleiben hingegen in den 
öffentlichen Irrcnhcilanstalten. Das bringt den privaten 
Anstalten wesentlichen Nutzen. Sic sind in der 
Lage, dem einzelnen Kranken mehr Freiheit zu be¬ 
lassen ohne befürchten zu müssen, dass er sich oder 
anderen Schaden zufügt. Das Leben in der Anstalt 
kann insgesammt einen etw'as freieren Ton annehmen. 
Kirchliche Anstalten haben aus diesem Sachverhalt 
für sich Kapital zu schlagen versucht. Ihre Leiter 
haben die freiere Verpflegungsform auf die Rechnung 
ihrer vom religiösen Sinn getragenen Liebesthätigkeit 
gesetzt. Aber mit Unrecht. Die grössere Freiheit 
ist .<las natürliche Ergebniss der Bedingungen, welche 
für die privaten Anstalten günstiger sind. Der Um¬ 
stand, dass die öffentlichen Anstalten mehr unruhige, 
die privaten Anstalten mehr ruhige Kommunalkranke 
haben, beeinflusst die Pflegearbeit in jeder der beiden 
Gruppen von Anstalten. Das Pflegepersonal in den 
öffentlichen Anstalten hat cs viel schwerer als das¬ 
jenige in den Privatanstalten. Hier würde alsbald 
eine Besserung cintretcn können, sobald die Verbände, 
die Provinzen und die Kommunen alle ihre Kranken 
aus den Privatanstaltcn herausnehmen und in eigenen 
Anstalten unterbringen würden. Es wäre dann näm¬ 
lich möglich, neben den schon bestehenden Anstalten 
eine zweite Kategorie von Heilanstalten einzurichten, 
nämlich Pflegeanstalten für ruhige Kranke. Sobald 
es derlei giebt, die öffentlichen Character haben, 


könnten Pfleger und Pflegerinnen, nachdem sie eine 
Zeit lang den schweren Dienst in den Hauptanstalten 
mit den vielen unruhigen Kranken versehen haben, 
zeitweilig zu dem leichteren Dienst in den Pflegean¬ 
stalten abgeordnet werden. Man sieht, wie vielerlei 
im Grossen und Kleinen für die Unterbringung aller 
Kommunalkranken in eigenen Anstalten der Verbände 
spricht.“ 

— Aus Württemberg, 28. Juli. Dem früheren 
demokratischen Reichstagsabgeordneten Frhrn. Oskar 
v. Münch, der inzwischen bekanntlich die preussische 
Staatsangehörigkeit erworben hat, ist, wie der „Staats¬ 
anzeiger“ mittheilt, vom Ministerium des Innern der 
Aufenthalt in Württemberg ohne die bisher angeord¬ 
nete besondere Schutzmaassregel der Begleitung durch 
einen Irrenwärter versuchsweise unter bestimmten Be¬ 
dingungen gestattet worden, nachdem die Direktion 
der Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal einen Versuch 
in dieser Richtung nunmehr für zulässig erklärt hat. 
Auch ist dem Frhrn. v. Münch, der vorerst in ein 
ähnliches Verhältniss tritt, wie ein aus einer Irrenanstalt 
beurlaubter Kranker, die Aufhebung der vorläufigen 
polizeilichen EinweisungsVerfügung vom 2. Mai v. J. 
nach Ablauf von 3 bis 4 Monaten in Aussicht ge¬ 
stellt worden, wofern nicht etwa in der Zwischenzeit 
besondere, seine Gemeingefährlichkeit erneut dar- 
thuende Vorkommnisse eintreten sollten, welche die 
Aufrechterhaltung der Einweisung nothwendig erschei¬ 
nen lassen. 

Referate. 

- A. Meinong: Ueber Annahmen. Leipzig 
1902. J. A. Barth. XV und 298 S. 8 M. 

Da zweifellos von Seiten der Psychiater und Neu¬ 
rologen immer mehr Rücksicht auf die Fortschritte 
der normalen Psychologie genommen wird, dürfte sich 
auch wohl mancher Leser dieser Zeitschrift finden, 
den ein Buch interessirt, das gew issermaassen auf der 
Grenze von Psychologie und Logik steht. Es will 
ein bisher brachliegendes Thatsachengebiet behandeln, 
das w’ir zwischen Vorstellen und Urtheilen zu suchen 
haben. Das Urtheil grenzt nicht direkt an das Be¬ 
reich des Vorstellens an, dazwischen liegt vielmehr 
die Sphäre der Annahme. Als Beispiel einer „offe¬ 
nen Annahme“ führt M. z. B. an: Es sei gegeben 
ein rechtwinkliges Dreieck, dessen eine Kathete halb 
so lang ist wie die andere. Die Annahme spielt 
eine wesentliche Rolle in der Kunst, im Spiel, in der 
Lüge u. s. w. Hinsichtlich der Detailerörtemngen 
über Annahmeschlüssc, über die Gegenständlichkeit 
des Psychischen, über das Erfassen von Gegenständen 
höherer Ordnung, über das „Objektiv“, worunter Ver¬ 
fasser das Gegenstandartige des Urtheils versteht, 
muss auf das Buch selbst verwiesen werden. Es will 
nichts Abgeschlossenes bieten, sondern vorzugsweise 
anregen. W eygandt - Würzburg. 


Personalnachricht. 

— Nietleben. Dr. Demohn und Dr. Hoff¬ 
man n sind zu „ordentlichen“ Aerzten ernannt. 


Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Krasehnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hcvnomann’scbe Buchdruckerei (Gebr. WoilT) in Halle a- S. 


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PsycMatrisch'Neuroloflische 

Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. 1 $. Eidinger, 

Uchtspnnge (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M, 

Prof. Dr. A. Guttata dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice i Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 20. 16 . August. 1902. 

Die ,,Psychiatrisch-Neurologische W’ochenschrift erscheint jed^n Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Uberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters, 
Andernach (Fortsetzung) (S. 229). — Die Ueberwachungsabtheilungen der Heilanstalt Dösen. Von Obermedicinalrath Dr. 
Lehmann (S. 233). — Mittheilungen (S. 235). — Referate (S. 236). 


Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets 

im Jahre 1900/01. 

Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Dsitrrs- Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Die Berichte anderer Anstalten enthalten über 
diese Frage nichts, wohl ein Zeichen, dass man ihr 
an den meisten noch gar nicht näher getreten ist. — 
Mir scheint, dass die Gründe, welche etwa gegen die 
Einführung der Abstinenz angeführt werden können, 
sehr überschätzt werden. Für die grosse Mehrzahl 
der Kranken ist es gar keine so grosse Entbehrung, 
auf die alkoholischen Getränke verzichten zu müssen; 
sie gewöhnen sich daran in kürzester Zeit, und nur 
sehr wenige sehen eine Härte in der Entziehung. 
Hält man dagegen die grossen Vortheile, welche die 
Entziehung für die Mehrzahl mit sich bringt, — denn 
es sind keineswegs nur die Alkoholiker und Epilep¬ 
tiker, welche durch regelmässigen Alkoholgenuss ge¬ 
schädigt werden, sondern wohl noch ein recht grosser 
Theil aller anderen, — so wird man die Unzufrieden¬ 


heit der wenigen wohl in den Kauf nehmen. Wenn 
Frankfurt meint, dass für manche Formen von 
Schlaflosigkeit Bier ein schätzbares Schlafmittel ist, so 
steht ja, auch wenn die Abstinenz durchgeführt ist, 
nichts im Wege, es auf ärztliche Indication hin im 
einzelnen Falle zu geben. Hier ist nur vom Alko¬ 
hol als allgemeinem Genussmittel die Rede. Und 
man braucht keineswegs im Leben ein principieller 
Gegner jeglichen Alkoholgenusses zu sein, um die 
Meinung zu vertreten, dass es zu erstreben ist, aus 
der Irrenanstalt den Alkohol als Genussmittel zu ver¬ 
bannen. 

Einige Anstalten geben die Zahl der Trinker 
in Procenten der Aufnahmen an. Eberswalde 
zählte unter den Männern 16,6%. Stephansfeld 
konnte bei 14" 0 der Männer Trunksucht nachweisen; 


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230 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20. 


bei Hinzuziehung der Fälle, wo in der Ascendenz 
Trunksucht vorlag, ergaben sich 23 °/ 0 , bei denen Trunk¬ 
sucht als Krankheitsursache genannt wird. Burg- 
hülzli constatirte Alkoholpsychosen bei 23,6°/ 0 der 
Männer und 5 °/ 0 der Frauen. 

Dass die Trinkerbehandlung quoad Dauer des Er¬ 
folges keineswegs so aussichtslos ist, wie man im all¬ 
gemeinen geneigt ist zu glauben, ergeben die Mitthei¬ 
lungen der Trinkerheilstätte Ellikon, wo von den 
während der Jahre 89 — 95 Entlassenen (261) im 
Berichtsjahre — also nach 5 bis 11 Jahren — 106 
= 40,6 °/ 0 abstinent geblieben sind, während noch 
weitere 33 = 12,6% zwar nicht abstinent, aber doch 
wesentlich gebessert blieben; also war immerhin bei 
mehr als der Hälfte der Fälle die Behandlung er¬ 
folgreich, gewiss ein ermuthigendes Resultat. 

b) Coloniale und familiale Verpflegung. 

Von Colonien ist nur in wenigen Berichten 
die Rede, obgleich, w r ie bekannt, solche bei vielen 
Anstalten vorhanden sind. Sie werden eben im All¬ 
gemeinen nur dann erwähnt, wenn über irgend welche 
Veränderungen zu berichten ist. 

R y b n i k hat auf einem sein m früher angekauften 
Gut, nachdem es gelungen ist, die Wasserfrage zu 
lösen, zunächst 30 Kranke im alten Gutshause unter¬ 
gebracht und plant einen Neubau für 35 Kranke 
daselbst. Eichbcrg. hat jetzt 75 männliche Kranke 
in der Colonie Wachholderhof untergebracht, das 
sind 26 °/ 0 aller männlichen Kranken. In Würt¬ 
temberg legt man anscheinend grossen Werth auf 
die coloniale Verpflegung. Schussenried, Zwie¬ 
falten und Weissenau hatten ihre Colonien stets 
voll besetzt; letzteres beabsichtigt Vergrösserung durch 
Neubau eines Wohnhauses und rühmt den w*ohlthä- 
tigen Einfluss der Beschäftigung im colonialen Betrieb 
auf das Befinden der Kranken. Winnenthal, 
das bisher keine Colonie hatte, beabsichtigt, eine 
solche für vorläufig 20 Kranke zu gründen. 

Principiell Neues über coloniale Verpflegung ent¬ 
halten die diesjährigen Berichte nicht. 

Mehr ist über die F a m i 1 i en pflege zu sagen. 
Sie erfreut sich einer steigenden Beliebtheit, und von 
vielen Seiten wird über Neueinrichtung einer solchen 
und über günstige Resultate berichtet. Nicht in 
letzter Linie scheinen sich die Verwaltungsbehörden 
für diese Art der Irrenfürsorge zu interessiren, w'as 
bei ihren handgreiflichen ökonomischen Vortheilcn 
nicht Wunder nehmen kann. 

Der Württembergischc Bericht spricht es aus¬ 
drücklich aus, dass die Weiterentwicklung der Familien¬ 
pflege zum Zwecke der Entlastung der Anstalten 


angestrebt wird. Nach der Mittheilung, dass nunmehr 
im Ganzen 65 Kranke aus wairttembergischen An¬ 
stalten in Familienpflege untergebracht sind, consta- 
tirt er, „dass diese Zahl eine nicht zu unterschätzende 
Entlastung der öffentlichen Irrenfürsorge bedeutet“. 
In Zwiefalten sind 38 Pfleglinge in 11 verschie¬ 
denen Ortschaften untergebracht und zwar meist bei 
Leuten mit landwirtschaftlichen Betrieben. Weisse- 
n a u hat am Schluss des Berichtsjahres 18 Kranke 
— 3,7 °/ 0 des Gesammtbestandes in Familienpflege 
untergebracht und ist mit dem Resultat zufrieden. 
Allerdings war häufiger Wechsel nothw r endig. 

In Brandenburg hat zur Neueinrichtung der 
Familienpflege die Provinzialbehörde die Initiative er¬ 
griffen und Zinn-Eberswalde’ zum Referat auf¬ 
gefordert. Dieses Referat liegt mir leider nicht vor, 
doch giebt Zinn in seinem Bericht eine ausführliche 
Schilderung der Familienpflege in Eber sw* aide. 
Es wurde der Anfang bei verheirateten Pflegern ge¬ 
macht, welche zunächst durch einen einleitenden Vor¬ 
trag über den Zweck der Sache belehrt wurden. 
Dann wurden ihre Wohnungen besichtigt, und bei 
dieser Gelegenheit auch ihre Frauen instruirt. Nun 
wurden zunächst einige weibliche Kranke dort in 
Pflege gegeben, denen bald andere folgten. Anmel¬ 
dungen von Pflegestellen kamen bald sehr zahlreich. 
Die Kranken, die zum Theil schon viele Jahre in 
der Anstalt w*aren, gingen zunächst ungern fort, lebten 
sich aber bald ein und sind zufrieden. Zinn glaubt, 
dass die Aussichten für die Familienpflege dort gün¬ 
stig sind, und dass es in verhältnissmässig kurzer Zeit 
gelingen u*ird, sie weiter auszudehnen. Es w*urden 
in Eberswalde pro Kopf und Tag 75 Pfg., im 
Dorf Corinchen 67 Pfg. gezahlt; doch glaubt Zinn, 
dass bei Kranken, die nicht mehr arbeiten, der Satz 
auf 80 Pfg. erhöht werden muss. Die Kranken 
werden jede Woche ärztlich besucht und kommen 
einmal im Monat in die Anstalt zum Baden und zur 
körperlichen Untersuchung. Mit den Behörden er¬ 
gaben sich keine Schwierigkeiten, da die Kranken 
natürlich als zur Anstalt gehörig weiter geführt werden. 

Auch Uecker münde berichtet über einen Er¬ 
folg versprechenden Versuch in dem 2 km von der 
Anstalt entfernt gelegenen Dorf Liepgarten. Dort wurde 
ebenfalls mit einer geringen Zahl weiblicher Kran¬ 
ker begonnen, die zur Berichtszeit zum Theil schon 
über ein Jahr dort waren, und, obgleich in der An¬ 
stalt zum Theil Jahre lang unthätig, sich jetzt nütz¬ 
lich beschäftigten. Es wird ein monatliches Pflegegeld 
von 20 M. gezahlt; die Anstalt liefert Bett, Kleidung 
und Wäsche. 

Sehr günstig scheinen die Verhältnisse in Göt- 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 231 


t i n g e n zu liegen. Die Bevölkerung wird als ausser¬ 
ordentlich geeignet geschildert, und Cramer glaubt, 
dass es mit der Zeit gelingen wird, 400—500 Kranke 
in solcher Weise in der Umgebung der Anstalt unter¬ 
zubringen. Das wäre allerdings eine sehr ins Gewicht 
fallende Entlastung der öffentlichen Irrenfürsorge! 
Der Neubau einer ganzen Anstalt würde damit er¬ 
spart. Vorläufig sind 17 Kranke in 4 verschiedenen 
Dörfern untergebracht. Der mit den Pflegern abge¬ 
schlossene Vertrag sowie genaue Anweisungen für diese 
werden in der Anlage mitgetheilt. Einige Sätze aus 
dem Bericht seien wörtlich citirt: „Die oft geäusserte 
Befürchtung, dass die Anstalten durch Einrichtung 
der Familienpflege sich ihrer zur Arbeit geeigneten 
Kräfte beraubten, hat sich auch bei uns wieder als 
unbegründet erwiesen. Es hat sich die bekannte 
Thatsache wieder bewahrheitet, dass sich das Personal, 
wenn ein paar tüchtige Arbeitskräfte ausfallen, viel 
mehr Mühe giebt, andere Kranke, die sonst vielleicht 
beschäftigungslos dahingedämmert hätten, zur Arbeit 
heranzubilden. Es werden also auf diese Weise Kranke, 
die sonst nur Kosten verursacht hätten, zu im Rahmen 
der Anstalt wieder nützlichen Mitgliedern der mensch¬ 
lichen Gesellschaft.“ 

Einige Anstalten, in denen die Familicnpflege 
schon längere Zeit besteht, berichten durchweg über 
günstige Erfahrungen. Eichberg hat schon seit 12 
Jahren Familienpflege eingerichtet und hat jetzt 48 
Frauen bei benachbarten Wärterfamilien untergebracht. 
Der Grund der ersten Einrichtung war Ueberfüllung; 
nachdem durch die Colonie die Männerseite ent¬ 
lastet war, musste für die Frauenabtheilung ander¬ 
weitig Entlastung gesucht w’erden. Die Einrichtung 
hat anfangs Schwierigkeiten gemacht, bewährt sich 
aber jetzt durchaus. Sie hat den Neubau eines 
Hauses für 50 Kranke mit all seinen Einrichtungs- 
und Unterhaltungskosten überflüssig gemacht. 

Bunzlau, das ebenfalls schon seit einer Reihe 
von Jahren Familien pflege hat, sieht einen Nachtheil 
darin, dass die Pfleger alle Landwirtschaft treiben. 
Da im Sommer alle Familienmitglieder im Felde 
arbeiten, können nur solche Kranke hinausgegeben 
werden, welche bei der Feldarbeit helfen können, 
weil sie sonst den ganzen Tag ohne Aufsicht im 
Hause wären. — Dieses Bedenken war mir neu. 
Sonst liest man überall, dass Landwirthschaft treibende 
Bevölkerung für die Familienpflege die geeignetste sei. 

Bekannt ist, dass auch die Berliner Anstalten 
Familienpflege haben; doch enthält der diesjährige 
Bericht keine Mitteilungen darüber. 

Eine eingehende Erörterung widmet Rybnik der 
Frage einer Einführung der Familicnpflege, die aber 


zu negativem Resultat kommt. Es wird ausgeführt, 
dass die dortige Bevölkerung in Folge des unaufhalt¬ 
samen Fortschreitens der Industrie sich nicht eigne. 
Der Boden werde nur noch von Greisen und Invaliden 
bebaut. „Nur bei ganz zuverlässigen Pflegefamilien, 
in denen alle Mitglieder der Familie mit in der 
Landwirthschaft tätig sind, lässt sich überhaupt die 
Gefahr der missbräuchlichen Ausnutzung der Arbeits¬ 
kraft der Kranken vermeiden, bei solchen werden 
die Kranken nicht wie Gesinde, sondern wie Glieder 
der Familie gehalten werden, solche Familien giebt 
es aber hier nicht in der Nähe“. 

Ich muss gestehen, dass mir dies alles nicht ganz 
einleuchtend scheint. Auch im Industriebezirk arbeiten 
doch nicht gerade alle Menschen in der Fabrik. 
Wenn Familienpflege selbst in der unmittelbaren Um¬ 
gebung von Berlin möglich ist, sollte man meinen, 
dass sie im Industriebezirk auch durchführbar wäre. Ich 
habe die vorgefasste Meinung, dass bei hinreichendem 
Muth und gutem Willen die Familienpflege bei den 
meisten Anstalten möglich ist. 

Ernster scheint mir schon das zweite von 
Rybnik geäusserte Bedenken, dass die Bevölkerung 
zu sehr dem Alkoholgenuss ergeben und unter dem 
Einfluss des Schnapses händelsüchtig ist. Aber sollten 
nicht auch solide Familien zu finden sein ? Schliess¬ 
lich bliebe noch die Möglichkeit der Gründung eines 
Wärterdorfes a la Uchtspringe. 

c) Fürsorge für Entlassene. 

Mit der Entlassung des Kranken aus der Anstalt 
ist die Behandlung in vielen Fällen noch keineswegs 
abgeschlossen. Meist bleibt dann noch vieles zu 
thun; und doch geschieht in der Regel nichts. Aus 
äusseren Gründen; Wohlhabende können sich ja noch 
weiter den Luxus sachverständiger Behandlung leisten; 
für die grosse Masse fällt das fort. Der Genesene 
kehrt einfach in die oft recht ungünstigen häuslichen 
Verhältnisse zurück, muss der Arbeit nachgehen, 
muss Noth und Sorgen mit den Seinigen theilen, 
und niemand kümmert sich darum, niemand hilft 
dazu, dass ihm Schädlichkeiten ferngehaltcn werden, 
die seine eben wiedergewonnene Gesundheit von 
neuem in Frage stellen können. 

Hier sollen die Irren hülfs vereine helfend ein- 
greifen, die jetzt allenthalben theils sc hon vorhanden 
sind, theils entstehen. Die Vertrauensmänner der 
Vereine, welche in der Lage sind, die Entlassenen 
im Auge zu behalten, vermitteln dem Verein die 
Kenntniss der häuslichen Verhältnisse, so dass über¬ 
all, wo Hülfe Noth thut, solche auch gewährt wird. 
Natürlich sind dazu grosse Geldmittel erforderlich. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


Brandenburg theilt mit, dass die Provinz dem 
dortigen Verein bisher aus dem Dispositionsfond 
jährlich grössere Zuwendungen bewilligt hat, dass 
aber nun ein Jahresbeitrag von 1000 M. in den Etat 
eingesetzt werden soll. Der So rau er Bericht, in 
dessen Bezirk es Vertrauensmänner noch nicht giebt, 
betont energisch die Wichtigkeit dieser Einrichtung. 

Salzburg empfindet das Fehlen einer Fürsorge 
für Entlassene als grossen Nachtheil. W e i 1 m ü n s t er 
berichtet, dass der Hülfsverein, dank einem jährlichen 
Zuschuss des Landtages, in der Lage war, fast jedem 
bedürftigen Entlassenen eine Unterstützung zu ge¬ 
währen. Stephansfeld hat an Unterstützungen 
856 M. vertheilt und hat zur Vermehrung der Ein¬ 
künfte der Unterstützungskasse den Verkauf von An¬ 
sichtspostkarten eingeführt. — Aehnliche Mittheilungen 
finden sich noch in manchen Berichten. 

Der erst kürzlich entstandene Hülfsverein für 
Geisteskranke in der Rheinprovinz hat einen eigenen 
Bericht herausgegeben. An dessen Spitze steht ein 
Aufruf, in dem die Zwecke des Vereins mitgetheilt 
werden und auf das segensreiche Wirken solcher Vereine 
an andern Orten, — in der Schweiz, in Oesterreich, 
in Hessen, Baden, Bayern, Württemberg, Lothringen, 
in Brandenburg und Westphalen — hingewiesen wird. 
Im Rheinlande bestand bisher ein solcher Verein nur 
im Regierungsbezirk Düsseldorf, welcher sich dem auf 
Brosius’ Anregung in der Sitzung des psychiatrischen 
Vereins der Rheinprovinz im Juni 1900 gegründeten 
Hülfsverein für die gesammte Provinz eingegliedert 
hat. 

Daran schliesst sich der Bericht des Vorsitzenden 
P e r e 11 i über die Entstehung und Entwickelung des 
Vereins, für welchen Brosius sogleich 1000 M., der 
psychiatrische Verein 200 M. gestiftet hatten, und 
welchem alsbald der Provinzialausschuss einen ein¬ 
maligen Beitrag von 3000 M. und einen Jahresbei¬ 
trag von 300 M. bewilligte. Bis zum Ende des Jahres 
1901 zählte der Verein bereits 3345 Mitglieder, die 
sich auf 246 Städte und Ortschaften vertheilen. In 
weiteren 74 Ortschaften waren Vertrauensmänner ge¬ 
wonnen. Bis Juni 1901 waren die Vorarbeiten so¬ 
weit gediehen, dass mit der Vertheilung von Unter¬ 
stützungen begonnen werden konnte, und im ersten 
halben Jahr gelangten bereits 4281 M. zur Verthei¬ 
lung. Die Höhe der einzelnen Unterstützungen be¬ 
lief sich auf 20 — 30 M., in mehreren Fällen auch 
bedeutend höher. „Die für den Anfang nicht unbe¬ 
trächtliche Höhe der Summe spricht einerseits für 
die Nothwendigkeit des Vereins, andererseits lässt 
sie den Schluss zu, dass die Zahl und Grösse der 
Unterstützungen bald erheblich wachsen werden, 


wenn der Verein in noch weiteren Kreisen bekannt 
wird. Die Ansprüche an die Kasse werden sich 
von Jahr zu Jahr steigern, und da bedarf es der 
thätigen Mithülfe aller Vertrauenspersonen und Mit¬ 
glieder, da bedarf es der Anwerbung neuer Freunde 
der guten Sache, vor allem Solcher, die als Vermittler 
zwischen dem Verein und der Bevölkerung wirken, 
und das sind die Vertrauenspersonen.“ 

Weiter wird das Protocoll der ersten Hauptver¬ 
sammlung abgedruckt, in welcher Pelman einen 
Vortrag über Zweck und Ziele der Irrenhülfsvereine 
hielt. 

Personal, 
a) Aerzte. 

Viele Berichte enthalten überhaupt keine Angaben 
über die an der Anstalt beschäftigten Aerzte; andere 
begnügen sich damit, die Zahl der etatmässigen 
Stellen anzugeben. In den Berichten, welche nähere 
Angaben über die Besetzung dieser Stellen enthalten, 
findet man fast regelmässig einen auffallend häufigen 
Wechsel oder gar längeres Unbesetztbleiben der 
niederen ärztlichen Stellen. 

Nur wenige Anstalten sind in der glücklichen 
Lage, wie Weilmünster, schreiben zu können, 
„der im vorigen Jahre angeführte Personalbestand der 
Aerzte hat sich nicht verändert“. Viele registriren 
einfach den starken Wechsel, der mitunter so stark 
ist, dass dieselbe Stelle in einem Jahre mehrmals den 
Inhaber wechselt, während andere ausdrücklich auf 
die Schwierigkeiten hinweisen, die der Wiederbe¬ 
setzung der Stellen entgegenstehen. Eberswalde 
fand „erst nach längeren Bemühungen“ einen II. 
Assistenzarzt; in Saargemünd konnte „die Stelle 
des II. Hülfsarztes bisher trotz aller dahin zielenden 
Bemühungen noch nicht wieder besetzt werden“; in 
K o r t a u ist „die Stelle des Volontärarztes unbesetzt, 
da trotz wiederholter Ausschreibungen und ander¬ 
weitiger Bemühungen geeignete Bewerbungen bisher 
nicht einliefen“. In Osnabrück „gelang es im Be¬ 
richtsjahre nicht, die Stelle (des II. Ass.-Arztes) wieder 
zu besetzen. Als nun auch die I. Assistenzarztstelle 
. . . erledigt wurde und unbesetzt blieb, machte sich 
der Mangel an Aerzten in empfindlichster Weise be¬ 
merkbar“. Es kam in Osnabrück so weit, dass 
ein Arzt von einer andern Anstalt der Provinz zeit¬ 
weise zur Aushilfe dorthin überwiesen werden musste. 

Einige Berichte sprechen sich ausführlicher über 
die Ursachen dieser Erscheinung und die Mittel zu 
ihrer Abhülfe aus. Stephansfeld sagt kategorisch : 
„Um dem häufigen Wechsel der Assistenzärzte vor¬ 
zubeugen, sind Gehaltsaufbesserungen dringend noth- 


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1902.] 


wendig.“ Ob damit allein das punctum saliens ge¬ 
troffen ist, darf man wohl bezweifeln. Der Tannen¬ 
hof hat sich entschlossen, „noch 2 verheirathete 
Aerzte anzustellen“, und hofft, dadurch grössere Be¬ 
ständigkeit zu erreichen. Osnabrück weist darauf 
hin, dass „die Aussichten auf Weiterkommen so un¬ 
sicher“ sind „wie wohl in keiner andern Carriere und 
lediglich als Vorbereitung für den Beruf des prac- 
tischen Arztes kann man bei aller Hochachtung vor der 
Psychiatrie einen mehrjährigen Aufenthalt an einer 
Irrenanstalt wohl kaum empfehlen“. Osnabrück 
hält deshalb eine weitere Aufbesserung der Assistenz¬ 
arztgehälter nicht für ausreichend, sondern erwartet 
Erfolg von der Verbesserung der Aussichten auf 
Fortkommen durch Schaffung neuer, beamteter (III.) 
Arztstellen, wie sie ja in der That auch schon an 
mehreren Stellen (Rheinprovinz, Hannover) einge¬ 
richtet sind. 

Am eingehendsten befasst sich der Verwaltungs- 
Bericht des brandenburgischen Provinzialaus¬ 
schusses mit dieser Frage, in welchem ein der Directoren- 
conferenz erstattetes Referat vom Director Gock ab¬ 
gedruckt ist. Gock constatirt zunächst, dass im Gegen¬ 
satz zu früheren Jahren, wo auf eine Ausschreibung 
meist 20 und mehr Meldungen eingingen, jetzt nur 
2 — 3, an den Berliner Anstalten wohl bis zu 8 Be¬ 
werbungen eingehen, dass aber ein grosser Theil 
dieser Bewerber von vornherein ungeeignet erscheint, 
und daher eine Auswahl kaum noch stattfinden kann. 


233 

Durch Umfrage hat Gock festgestellt, dass der Noth- 
stand in allen Provinzen der gleiche ist. Er zählt 
dann eine Reihe von Ursachen auf: Die Universi¬ 
täten bieten jetzt dem Studenten hinreichend Gelegen¬ 
heit, sich Kenntnisse in der Psychiatrie zu erwerben, 
ein Zweck, der früher manchen zu 1 — 2 jährigem 
Dienst in der Anstalt veranlasste; die im Publikum 
beliebte Verhetzung und gehässigen Angriffe gegen 
die Irrenärzte haben zur Folge, dass wenig junge 
Aerzte Lust haben, sich einem Beruf zu widmen, 
der sie neben den Entsagungen und Gefahren, die 
er ohnehin mit sich bringt, auch noch der Missach¬ 
tung und dem Misstrauen ihrer Mitmenschen aus¬ 
setzt; das Militär zieht durch günstige Besoldungs¬ 
und Beförderungsverhältnisse viele Aerzte an sich; 
ebenso werden durch die immer zahlreicher werdenden 
Sanatorien und Heilstätten viele Aerzte in Anspruch 
genommen; die staatsärztliche Laufbahn ist jetzt gün¬ 
stiger als früher; ferner führt auch Gock wieder die 
im Vergleich zu andern ärztlichen Berufszweigen dürf¬ 
tige Besoldung und schlechte Aussicht auf Weiter- 
koramen an; endlich weist er auf die einsame, ab¬ 
gelegene Lage der meisten Anstalten hin, welche die 
Aerzte nöthigt, auf geistige Anregung und sonstige 
Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten. Als 
Abhülfsmittel erwähnt Gock nur die in vielen Pro¬ 
vinzen eingeführte Gehaltserhöhung der Assistenzärzte 
und verlangt eine solche auch für Brandenburg. 

(Schluss folgt). 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Die Ueberwachungsabtheilungen der Heilanstalt Dösen. 


r\ie Heilanstalt der Stadt Leipzig zu Dösen ist zur 
Behandlung und Pflege 

a) von Geisteskranken, 

b) von körperlich Siechen, 

c) von Reconvalescenten und 

d) von schwachsinnigen Kindern 

bestimmt und vermag rund 1000 Pfleglinge aufzunehmen. 

Für Geisteskranke waren ursprünglich 438 Plätze 
vorgesehen; es mussten aber sehr bald nach der am 
1. October vorigen Jahres erfolgten Eröffnung der 
Anstalt die für die Reconvalescenten bestimmten 
Gebäude wegen Ueberfüllung der Irrenabtheilung mit 
Geisteskranken belegt werden, so dass jetzt 600 
Geisteskranke in der Anstalt unterzubringen sind. 
In Wirklichkeit befindet sich freilich unter den kör¬ 
perlich Siechen, besonders unter den Nervenkranken, 
eine nicht unerhebliche Zahl von Patienten, die auch 
psychisch nicht normal sind. 

Für die 600 Kranken bestehen sowohl für die 
Männer als für die Frauen je zwei Ucberwachungs- 

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abtheilungen: die eine für Ruhige, die andere für 
Unruhige, jede mit 20 Betten ausgestattet, so dass 
80 Kranke d. i. 13,33% des Bestandes in diesen 
Wachabtheilungen sich aufhalten. — Neben diesen 
Wachabtheilungen im engeren Sinne sind natürlich 
noch Säle für solche Kranke vorhanden, die mit Bett¬ 
ruhe behandelt, aber nicht dauernd überwacht werden. 

Die Ueberwachungsabtheilung für ruhige Kranke 
(Skizze I) nimmt mit ihren Nebenräumen und den 
Wohnungen für einen Assistenzarzt und einen Ober¬ 
pfleger (bezw. eine Oberpflegerin) das Erdgeschoss 
des Gebäudes für Halbruhige ein. Den Sälen A und 
B werden die neu eintretenden und die besonders 
strenger Ueberwachung bedürftigen Kranken über¬ 
geben. Beide Säle sind durch eine mit Glasfüllung 
versehene Thür verbunden, Saal A steht durch gleiche 
Thüren auch mit dem Einzelzimmer und dem Closet 
in Verbindung. Die Fenster dieser beiden Säle haben 
hölzerne Rahmen und eiserne Sprossen, besitzen 
Scheiben von dünnem Glas und etwas geringerer Grösse, 

Original ffom 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


als sic in Privatwohnungen üblich sind, werden mit¬ 
tels Dorn geschlossen und sind in ihrem oberen 
Theile als Kippfenster construirt. Die Fenster im 
Einzelzimmer und Closet haben Scheiben von dickem 


deren zweiter als Tageraum benutzt wird. Diese 
beiden Säle haben Thüren und Fenster von gewöhn¬ 
licher Beschaffenheit. Aus D führt ein Ausgang auf 
die Veranda und in den Garten. — In dem von) 


ioss. 


Glas, im Uebrigen von derselben Construetion. Der 
Hebel der Kippfenster ist in einen Canal des Rah¬ 
mens eingelassen, der mittels Dornschliisscl geöffnet 
wird. Gitter sind nicht vorhanden. Rechtwinklig an 
die Säle A und B schliessen sich die Säle C und D 
an, deren ersterer wie A und B als Bettsaal einge¬ 
richtet ist, aber Kranke aufnimmt, die einer minder 
strengen Ueberwachung unterworfen werden, und 


Corridor sowie den Sälen A und C zugänglichen 
Baderaumc sind 2 Wannen aufgestellt und 3 Wasch¬ 
becken angebracht. 

Die im gleichen Geschosse eingefügten Wohnungen 
eines Assistenzarztes und eines Oberpflegers garan- 
tiren sorgsame Beaufsichtigung des Pflegepersonals 
sowie rasche ärztliche Hilfe. -— 

Die Ucberwachungsabtheilung für Unruhige (Skizze 


Original from 

HARVARD UNIVERSUM 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 235 


II) ist im Erdgeschoss des Gebäudes für Unrulüge banden, der mit 5 Wannen ausgestattet ist und ein 
untergebracht und von den Tageräumen der im Ober- eigenes Closet und einen Reinigungsraum besitzt, 
geschoss schlafenden Kranken durch das Treppen- Diese Badeabtheilung, die wesentlich für Dauerbäder 



Haus für Unruhige. 
Obergeschoss. 


haus und mehrere Nebenräume getrennt. Sie besteht verwendet wird, macht durch ihre freundliche Aus- 

aus zwei durch eine Glasthür mit einander in Ver- stattung einen recht behaglichen Eindruck. — Die 

bindung stehenden Sälen und einem angrenzenden Construction der Fenster der Ueberwachungsablheilung 

Einzelzimmer. Vom zweiten Saale führt eine Thür für Unruhige ist dieselbe wie in den Sälen A und B 

mit Glasfüllung unmittelbar in das Closet Als zu der Wachabtheilung für Ruhige, 

der Wachabtheilung gehörig ist ein Baderaum vor- Obermedicinalrath Dr. Lehmann. 


M i t t h e i 

— Programm des Antwerpener Congresses. 

31. Aug. Sonntag Abends: Empfang der Mitglieder 
des Congresses durch die wissenschaftlichen medi- 
cinischen Gesellschaften im Cercle Artistique, Litte- 
rairc et Scientifiquc. 

1. Sept. Montag, 10 Uhr: Eröffnung des Congresses. 
Vormittagsitzung: Punkt 1. Gegenwärtige Lage und 
Bedeutung der Familienpflege. — Nachmittagsitzung: 
Fortsetzung der Discussion. — Mittheilungen. 

2. Sept. Dienstag: Besuch der Colonie in Gheel. 

3. Sept. Mittwoch: Vonnittagsitzung: Punkt 2. 
Welche Kranke eignen sich am besten für Familien¬ 
pflege ? — Nachmittagsitzung: Fortsetzung der Dis¬ 
cussion. — Mittheilungen. — Abends: Empfang der 
Congressmitglieder im Stadthause. 

4. Sept. Donnerstag: Ausflug nach der Colonie 
Lierneux. (Mitgliedern, welche nicht nach Liemeux 
mitgehen können, ist der Besuch der Irrenanstalten 
der Umgebung von Antwerpen ermöglicht.) 

5. Sept. Freitag: Vormittagsitzung: Punkt 3. 
Organisation der Colonieen. Nachmittagsitzung: Fort¬ 
setzung der Discussion. — Mittheilungen. 

6. Sept. Sonnabend: Vormittagsitzung: Punkt 4. 
Gründung neuer Colonieen. — Nachmittagsitzung: 
Fortsetzung der Discussion. — Mittheilungen. — 
Abends: Banket. 

Die Ausflüge nach Gheel und Lierneux finden 
zwischen den Sitzungen des Congresses statt, damit 
die Streitfragen mit grösserer Objectivität erledigt 


1 u n g e n. 

werden können. Eine Vergnügungstour vereinigt die 
Mitglieder, welche Sonntag, den 7. September, noch 
in Antwerpen verbleiben. 

Detailliertere Angaben enthält das Piogrammbuch, 
welches den Congresstheilnehmern zugestellt wird. In 
diesem Buch sind auch ein Stadtplan, die Liste der 
Museen, die Abfahrtszeiten der Züge, die empfehlens- 
werthesten Hotels u. s. w. enthalten. 

Vorträge und Mittheilungen. 

1. Welches ist die augenblickliche Lage und 
Bedeutung der familiären Irrenpflege vom 
wissenschaftlichen und financiellen Stand¬ 
punkte aus? a) (Verpflegung in fremder Familie). 
Dr. Keraval. Expose comparatif de l’Assistance 
familiale en Europe. Dr. Alt. Der heutige Zustand 
der familiären Irrenpflege in Deutschland. Dr. A. Marie. 
Notice historique sur la colonisation familiale de la 
Seine. Dr. Medici. L’assistance familiale des alienes 
en France et les categoiies de malades qui en relevent. 
M. Fedor Gerenyi. Le patronage familial dans la 
Basse-Autriche. Dr. Bajenoff. L’assistance familiale 
en Russie. Dr. J. W. L. Spence. The present 
Position of the insane poor under private tarc in 
Scotland. Dr. Van Dale. Ontwikkeling, tegen- 
woordige stand en toekomst der gezinsverpleging van 
krankzinnigen in Nederland. Dr. Vogt. L’assistance 
familiale en Norvegc. Prof. Tamburini. II patronato 
familiäre in Italia. Dr. Hesse. Der heutige Zustand 


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Original fram 

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236 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20. 


der familiären Irrenpflege zu Ilten. Dr. Engel ken. 
Der heutige Zustand der familiären Irrenpflege zu 
Ellen, bei Bremen, b) (Verpflegung in der eigenen 
Familie). Prof. Pick. Ucber Anzeigepflicht be¬ 
treffend die nicht in Irrenanstalten untergebrachten 
Geisteskranken. Dr. L’Hoest, La Sequestration ä 
domicile. c) (Verpflegung in der Irrenanstalt). Dr. 
Mongeri. L’assistance des alienes en Turquie. 
Dr. Claus. La journee d’entretien dans les asiles. 
Dr. Marie. Les asiles prives. 

2. Welche Kranke eignen sich am besten 
für die Familienpflege? Dr. Swolfs. L’assistance 
des alienäs. Le regime qu’il faut choisir pour le 
traitement et l’entretien des alienes. a) Dr. Marie. 
L’assistance familiale des alienes convalescents. b) Prof. 
De Boeck. L’assistance familiale des alienes delin- 
quants. c) Dr. P. Masoin (Gheel). L’assistance 
familiale des epileptiques. Dr. Claus. L’assistance 
des epileptiques. d) Dr. Manheimer-Gomes. 
L’assistance familiale des enfants arrieres. Dr. Ley. 
Le traitement ä la colonie des enfants idiots et im- 
beciles. Dr. Decroly. L’assistance de Penfance 
anormale, e) Dr. Ol äh. Welche Mittel sind ge¬ 
eignet die Psychosen im Frühstadium uns zuzuführen. 
Dr. Sano. Cominent organiser le classement des 
alienes pour envoyer ä la colonie ceux qui relevent 
du traitement familial. 

3. Wie sind Irrencolonien am besten nach 
administrativen und wissenschaftlichen Maxi¬ 
men zu organisiren, u. s. w.? Dr. Deperon. 
De l’organisation des colonies d’alienes. a) Dr. van 
Deventer. Over werkverschaffing aan krankzinnigen 
in gezinsverpleging. b) Dr. Picque. L’assistance 
chirurgicale des alienes. Prof. Crocq. Des moyens 
d’ameliorer Porganisation medicale des etablissements 
d’alienes. Dr. Duchateau. Des reformes ä appor- 
ter au Service medical des asiles d’alienes. Dr. van 
Deventer. De positie van den geneesheer in het 
krankzinnigengesticht. c) Dr. Meeus. L’instruction 
professionnelle des nourriciers. Dr. van Deventer. 
De opleiding van het verplegend personeel. d) Dr. 
H a v e t. De Pimportance des laboratoires scienti- 
fiques au point de vue de Passistance des alienes. 

4. Welche Umstände verlangen die Grün¬ 
dung neuer Colonien und von welchen Ge¬ 
sichtspunkten muss man sich bei Gründung 
derselben leiten lassen? Dr. A. Marie. L’en- 
combrement dans les asiles et Passistance familiale. 
Dr. Peeters. La tuberculose dans les asiles d’alienes. 
Dr. Vos. Over de keuze van de plaats voor ge¬ 
zinsverpleging. 

5. Verschiedenes. Dr. 01 ä h. Welches passende 
Wort lässt sich für das ominöse Wort „Irre“ einführen. 
Dr. De Gueldre. De Pinsuffisance des garanties 
legales concemant la collocation des alienes. Dr. Claus 
et Dr. van Bever. L’examen psychique des crimi- 
nels dans les prisons. 

Deutsches Comitc: 

Dr. Alt, Director der Landes-Heil- und Pflege- 
Anstalt, Uchtspringe (Altmark). Dr. Stamm, Hildes¬ 
heim, Schriftführer. Dr. Engelken, Director des 


Asyls Rockwinkel bei Bremen. Dr.Wahrendorff, 
Direckt« >r des Asyls Ilten bei Hannover. 

Referate. 

— Die Statistik der Geisteskranken in 
Ungarn. Von Ministerialrath Dr. C. C h y z e r. 
Vortragender hebt die Wichtigkeit hervor, welche die 
Statistik der Geisteskranken in Bezug auf die öffent¬ 
liche Verwaltung besitzt, denn nur auf dieser Basis 
lässt sich die fortwährende Zunahme der Geistes¬ 
kranken deutlich nachweisen, und dies bildet 
das bedeutsamste Argument zur Errichtung neuer 
Staats - Heilanstalten für Geisteskranke. Es hat sich 
gezeigt, dass die bei der allgemeinen Volks¬ 
zählung constatirte Zahl der Geisteskranken den that- 
sächlichen Verhältnissen nicht entsprach, da die be¬ 
treffenden Organe der Volkszählung nur auf die 
Aussagen der Familienangehörigen angewiesen waren, 
diese aber theils aus falscher Scham, ihre Angehörigen 
als geisteskrank zu declariren, theils aber aus wirklicher 
Verkennung der Umstände, in zahlreichen Fällen es 
vermieden das Familienmitglied als geisteskrank zu 
bezeichnen. Aus diesem Grunde hat der ungarische 
Minister des Innern schon im Jahre 1895 eine 
namentliche Zählung der Geisteskranken veranlasst, 
und dieselbe im Jahre 1901 wiederholt derart, dass 
die Ortsbehörde im Verein mit dem behördlichen 
Arzte die Zählung vornehme und dass der betreffende 
Arzt gewisse Gelegenheiten, wie die zeitweiligen ärzt¬ 
lichen Untersuchungen der Schulkinder, die Impfung 
etc. benützen möge um sich so weit als möglich von 
der Richtigkeit der Daten zu überzeugen. Diese 
letzte Zählung hat nun folgende interessante Daten 
zu Tage gebracht: Im Königreiche Ungarn wurden 
im Jahre 1901 gefunden 34 852 Geisteskranke (20396 M., 
14456 Fr.), darunter 19755 Idioten und Cretins. 
Von diesen waren in Heilanstaten untergebracht 5273 
(29O1 M., 2312 Fr.), also 15,13% ^ er Gesammt- 
summe. Diese Zahl bessert sich bedeutend, wenn 
wir von den Idioten absehen und blos die Verhält¬ 
nisse der übrigen Geisteskranken in Betracht ziehen; 
es zeigt sich dann, dass von 15097 Geisteskranken 
4834, also 32,08% in Heilanstalten untergebracht 
waren. Zu interessanten Resultaten gelangen wir 
auch, wenn wir diese letzte Zählung mit der vom 
Jahre 1895 vergleichen. Es zeigt sich nämlich, dass 
die Zahl sämmlicher Geisteskranken in diesen 6 Jahren 
von 25071 auf 34852, also um 39% gestiegen ist. 
Noch auffälliger werden diese Zahlen, wenn wir die 
Zunahme der Geisteskranken im engeren Sinne (ohne 
Idioten und Cretins) vor Augen halten. Dieselben 
sind nämlich von 104 21 auf 15097, also um 45 % 
gestiegen. Zum Schlüsse sei noch erwähnt, dass die 
geisteskranken Alkoholisten besonders nachgewiesen 
wurden und ein besonders günstiges Resultat zeigten, 
indem im Ganzen blos 2529 geisteskranke Alkoho¬ 
listen gefunden wurden. Stein. 

Herr Dr. Deiters, Andernach a. Rh., dessen übersicht¬ 
liche und objective Verarbeitung der Jahresberichte auf 
allen Seiten Anerkennung gefunden hat, beabsichtigt demnächst 
an das Referat über die vorjährigen Berichte heranzutreten. Im 
Interesse einer möglichst vollständigen Berichterstattung werden 
die Anstalten, auch die Nervenheilstätten, gebeten, ein Exemplar 
ihres Berichts ihm recht bald zugehen zu lassen. 


Für den redactionellcn Theil verantwortlich ; Oberarzt l.)r. J. iiresler Kraschnitz, (Sch.esien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a, S. 

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ieden Sonnabend — Sc 

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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 

Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland). 

Dr. med. ct phil. W. Weygandt, 

Privatdoceiff, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 21 . 23 . August. _ 1902. 

Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten. 

Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters, 
Andernach (Schluss) (S. 237). — Ueber Wandschmuck in Irrenanstalten (S. 244). — Mittheilungen (S. 246). — 

Referate (S. 247). 


Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets 

im Jahre 1900/01. 

Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Deiters-Andernach. 

(Schluss.) 


Diese jetzt fast allenthalben eingeführte Gehalts¬ 
aufbesserung der Assistenzärzte ist gewiss freudig zu 
begrüssen. Ob aber damit der Nothstand dauernd 
beseitigt wird, bleibt recht zweifelhaft. Die Verbesse¬ 
rung des Avancements durch Neuschaffung beamteter 
Arztstellen dürfte schon wirksamer sein; aber eine 
gründliche Aenderung wird man auch davon kaum 
erwarten dürfen. Da dürften doch noch mancherlei 
Imponderabilien mitsprechen. 

Haben denn die beamteten Aerzte der Anstalten 
im Allgemeinen eine Stellung, die dem jungen An¬ 
fänger erstrebenswerth erscheinen kann ? d. h. eine 
Stellung, wie sie ihrem Alter und den auf ihre Aus¬ 
bildung verwendeten Mühen und Mitteln entspricht? 
Wenn man allen jungen Bewerbern um Assistenzarzt- 
steilen mittheilte, dass sie Aussicht haben, in 8-— io 

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Jahren zu fester Anstellung zu gelangen, um dann 
in den Stellen des III. und II. Arztes viele Jahre 
lang, vielleicht zeitlebens, zu bleiben, — ob dann 
wohl viele ihre Bewerbung aufrecht erhalten würden? 
Nun ist ja gewiss zuzugeben, dass an vielen Anstalten 
die älteren Aerzte ein hinreichendes Maass von Selbst¬ 
ständigkeit haben, dessen sie bedürfen, um in ihrer 
Thätigkeit Befriedigung zu finden. Aber sie haben 
doch nicht von Amtswegen ein Recht darauf; sie 
haben stets nur so viel Selbständigkeit, wie der Direc- 
tor ihnen geben will. Und nach vieljähriger Dienst¬ 
zeit immer noch in abhängiger Stellung sich zu wissen, 
das ist für den selbstbewussten jungen Mediciner 
keine verlockende Aussicht. Im Lauf der Jahre lernt 
man es ja freilich, viele Illusionen aufzugeben; man 
begnügt sich schliesslich mit dem, was man hat, und 

Original from 

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238 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21. 


wartet geduldig ab, was der liebe Gott weiter be- 
scheert. Aber die Anwärter auf Assistenzarztstellen 
sind doch Jünglinge, die mit tausend Masten in den 
Ocean schiffen; von denen kann man solche Ent¬ 
sagungsfähigkeit noch nicht erwarten. — Und wenn 
ihnen dann noch gar Dinge bekannt werden, wie das 
eigenthümliche, im Bericht mitgetheilte Schicksal der 
Allenberger Oberärzte, so wird die Neigung zum 
Anstaltsdienst auf den Gefrierpunkt sinken. 

Eine weitere, vielleicht noch bedeutsamere Ursache 
für das geringe Angebot möchte ich in der, fast 
völligen Abwesenheit von wissenschaftlichem Streben 
in den meisten Anstalten erblicken. Der junge Arzt, 
der eben das Staatsexamen hinter sich hat, hat vor¬ 
läufig noch wissenschaftliche Interessen, und will da¬ 
her zunächst noch etwas für seine Ausbildung thun, 
und dafür findet er in der Irrenanstalt wenig Gelegen¬ 
heit. Das hat verschiedene Gründe. Einmal nimmt 
die moderne Art der Irrenbehandlung die Kraft der 
Aerzte so vollständig in Anspruch, dass ihre ge- 
sammte Zeit durch den Abtheilungsdienst besetzt ist 
und sie vielfach genöthigt sind, ganz in subalternem 
Kleinkram aufzugehen. Missvergnügte Collegen haben 
das in mancher Hinsicht leider nicht ganz unbegrün¬ 
dete geflügelte Wort erfunden, dass der moderne 
Irrenarzt nur ein akademisch gebildeter Oberpfleger 
sei. Da bleibt für wissenschaftliche Arbeit keine 
Zeit, es müsste denn die Zahl der Aerzte an einer 
Anstalt eine grössere sein. Und selbst wenn die Zeit 
vorhanden wäre, so fehlt immerhin noch die Gelegen¬ 
heit. Die Laboratorien der meisten Anstalten sind 
höchst dürftig; die für die Bibliothek zur Verfügung 
stehenden Mittel sind meist zu gering, um auf dem 
Laufenden zu bleiben; und schliesslich, der junge 
Anfänger sucht nicht nur Arbeitsgelegenheit, sondern 
auch wissenschaftliche Anregung und Anleitung; und 
dar^n fehlt es doch vielfach. 

Vielleicht waren es derartige Erwägungen, welche 
den brandenburgischen Provinzialausschuss veranlasst 
haben, eine Summe von 2000 M. zur wissenschaft¬ 
lichen Fortbildung der Irrenärzte vorzusehen. Aehn- 
liches ist ja auch anderwärts schon vorgekommen 
und verdient jedenfalls Nachahmung. 

b) Pflegepersonal. 

Nicht allein an die Aerzte, sondern wohl noch 
mehr an das Pflegepersonal stellt die moderne Art 
der Irrenbehandlung in jeder Hinsicht weit höhere 
Anforderungen als die frühere. Es ist daher ein¬ 
leuchtend, dass die Heranbildung guten Personals zu 
den wichtigsten Aufgaben jeder Anstalt gehört. Leider 
steht diesem Postulat die Thatsache gegenüber, dass 


die Gewinnung geeigneter Kräfte in unserer Zeit 
immer schwieriger wird.‘ Die Lektüre unserer Berichte 
lässt darüber keinen Zweifel; überall lesen war von 
starkem Wechsel, von der Schwierigkeit, guten Ersatz 
zu finden. 

Freilich giebt es Ausnahmen. So ist z. B. in den 
o s tp re u s s i s ch e n Anstalten der Wechsel auffallend ge¬ 
ring, während dagegen die w r estpieussischen über 
recht erheblichen Wechsel zu klagen haben: in Neu¬ 
stadt sind bei einem Bestand von 33 M. und 31 F. 
im Laufe des Berichtsjahres 22 und 20 ausgeschieden. 
Ferner berichtet, um nur einzelne aus verschiedenen 
Landestheilen herauszugreifen, Dziekanka über 
einen Wechsel von 50% bei den Männern und 72% 
bei den Frauen ; auf dem Eich b erg schieden 65% 
M. und 32,6 u / 0 F. aus. In Bayreuth wechselten 
28 M. und 24 F. bei einem Normalbestand von 
45 resp. 39. In Frankfurt waren 45 0 0 des gesumm¬ 
ten Personals kürzer als ein Jahr im Dienst. 

Die Zahlenbeispiele noch zu vermehren ist wohl 
unnöthig; man sieht, die Noth ist allgemein, und die 
wenigen Ausnahmen können am Gesammtbild nicht 
viel ändern. 

Die Bestrebungen nach Abhülfe laufen im w esent¬ 
lichen auf die Verbesserung der wirthschaftlichen 
Lage des Personals hinaus, bisher leider noch nicht 
immer mit dem gewünschten Erfolg. Der Bericht 
über die rheinischen Anstalten weist darauf hin, 
dass in Folge der günstigen Lohnverhältnisse in der 
Industrie der Wechsel recht bedeutend war, obgleich 
schon seit 3 Jahren die Lohnverhältnisse des Perso¬ 
nals wesentlich verbessert worden sind; erst mit 
Beginn einer ungünstigeren Lage der Industrie kamen 
mehr Angebote. *) 

Der Brandenburger Bericht beschäftigt sich 
eingehend mit dem männlichen Personal. Nachdem 
zunächst hervorgehoben worden ist, dass der ganzeErfolg 
der ärztlichen Thätigkeit von der Zuverlässigkeit und 
Umsicht der Pfleger abhängt, und dann ferner die 
Gefahren und Unannehmlichkeiten des Pflegerdienstes 
eine kurze Würdigung erfahren haben, wird ge¬ 
schlossen, „dass tüchtige, zuverlässige Kräfte sich nur 
dann in einem solchen Amt halten lassen, wenn ihnen 

*) Im westfälischen Bericht klagt Münster über einen 
abnorm starken Wechsel, welcher dadurch bedingt war, dass 
mehrere ältere und bewährte Pfleger an die Irrenabtheilung der 
Strafanstalt übergetreten sind. Dieser Uebertritl ist durch die 
damit verbundenen Vortheile sehr begreiflich. Die Pfleger sind 
an der Strafanstalt nicht allein pecuniär weit besser gestellt, 
sondern sie haben auch eine viel freiere Stellung; sic haben 
regelmässigen achttägigen Wechsel zwischen Tag- und Nacht¬ 
dienst, und während des ersteren eine 10 ständige, während des 
Nachtdienstes nur eine 7 ständige Dienstzeit. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 239 


darin die Möglichkeit zur Begründung eines von 
Nahrungssorgen freien Hausstandes und einer ange¬ 
messenen Theilnahme am Familienleben eröffnet ist“. 
Es wird demgemäss für verheirathete Pfleger eine 
„Familienzulage“ eingeführt, die nach einjähriger 
Dienstzeit gewährt wird und anfangs 120 M. beträgt, 
später auf 150 und 180 M. steigt, und zugleich wird 
der Anstaltsdirector ermächtigt, bis zu y 3 der Wärter 
den Heirathsconsens zu ertheilen. Weiter werden für 
die verantwortungsreicheren Wärterstellen Funktionszu¬ 
lagen eingeführt, und endlich für das ganze Personal 
ein „Gesammtgehalt“ berechnet, innerhalb dessen „der 
Anstaltsdirector in der Festsetzung des Gehaltes für 
jeden Wärter bis zum Betrage des Höchstsatzes nicht 
beschränkt“ ist. Daneben wird die Erwerbung oder 
Erbauung von Wohnhäusern für die Wärterfamilien 
ins Auge gefasst, welche zugleich auf Einrichtung der 
Familienpflege berechnet sind. 

Auch anderwärts wird der Wohnungsfrage der 
verheiratheten Pfleger Aufmerksamkeit geschenkt. 
Kor tau hat drei Wärterhäuser für je 4 Familien 
gebaut. Eichberg giebt verheiratheten Wärtern 
einen Wohnungsgeldzuschuss. 

Uecker in ün de berichtet über eine abermalige 
Lohnerhöhung, Funktionszulagen und Vermehrung 
des Personals auf 1 : 8 statt früher 1 : 10 und kann 
konstatiren, dass für die Pflegerstellen alsbald mehr 
Meldungen eingingen, während bei den Pflegerinnen 
noch kein durchschlagender Erfolg erkennbar war. 
Bei letzteren war besonders auffällig, dass die Zahl 
der körperlich und geistig Minderwertigen unter den 
Bewerberinnen immer grösser wurde, was der Bericht¬ 
erstatter darauf zurückführt, dass ein grosser Theil 
der jungen Leute vom Lande in die Städte strömt, 
und eben die tüchtigen und brauchbaren dort ge¬ 
deihen, während die minderwerthigen zurückkehren. 
Es w'aren unter 102 in der 5jährigen Berichtszeit 
ausgeschiedenen Pflegerinnen 21, die w'egen körper¬ 
licher oder geistiger Nichteignung austreten mussten, 
häufig schon nach wenigen Wochen. — Zur Abhülfe 
hält es der Bericht für wäinschensw-erth, die weibliche 
Pflege Genossenschaften zu übertragen, und scheint 
es fast zu bedauern, dass es, wie er meint, keine 
Genossenschaften giebt, die die Pflege in Irrenanstal¬ 
ten übernehmen. Sollten wir uns nicht lieber freuen, 
wenn dieser Kelch an uns vorübergeht? Schliesslich 
empfiehlt er, dass die Provinzen selbst für ihren Be¬ 
darf solche Genossenschaften gründen, wie es für die 
körperliche Krankenpflege die Krankenhäuser von 
Berlin und Hamburg durchgeführt hätten. Sind deren 
Erfahrungen wirklich so verlockend ? 

Die meisten Anstalten legen doch übrigens immer 


noch Werth darauf, ihr Personal selbst auszubilden, 
und nicht wenige gehen sogar so w’eit, dass sie prin- 
cipiell keine Pfleger anstellen, die schon in einer 
anderen Anstalt waren. So lese ich z. B. im Bericht 
von Eberswalde, dass dort Personal aus anderen 
Anstalten nur ausnahmsweise angenommen wird. 

Es ist denn auch ein charakteristischer Zug der 
Zeit, dass allenthalben auf eine gründliche Ausbildung 
des Personals erhöhter Werth gelegt wird; und wäh¬ 
rend es noch vor 10 Jahren zu den Seltenheiten ge¬ 
hörte, dass in einer Anstalt dem Pflegepersonal syste¬ 
matischer Unterricht ertheilt wurde, ist dies heute 
wohl zur allgemeinen Regel geworden. 

Sehr viele Berichte erwähnen die Einführung des 
Pflegerunterrichts und die Anschaffung des Scholz’- 
schen Leitfadens. Nur einzelne gehen näher darauf 
ein. 

An der Sorauer Einrichtung ist bemerkenswert!!, 
dass ein Theil des Unterrichts — nämlich über all¬ 
gemeine Hausordnung, Umgang mit Kranken, Pflege 
bettlägeriger und unreinlicher Kranker, Zubereitung 
von Bädern, — durch das Oberwartpersonal ertheilt 
wird. Mir scheint das etwas bedenklich, man müsste 
denn aussergew'öhnlich intelligentes und zuverlässiges 
Oberwartpersonal haben. Die Aerzte unterrichten 
über allgemein anatomische und physiologische Ver¬ 
hältnisse und erläutern am Beispiel der vorhandenen 
Kranken die einzelnen Krankheitserscheinungen. Nach 
3 monatlicher Probezeit wird vor dem Director eine 
Prüfung abgelegt, und dann erst erfolgt die endgül¬ 
tige Anstellung. Die Einrichtung hat sich bewährt; 
besonders wird hervorgehoben, dass man über die 
Befähigung der einzelnen ein Urtheil gewinnt und 
dass die Probezeit es ermöglicht, ungeeignete Elemente 
vor der endgültigen Anstellung auszuscheiden. 

In Ebersw r aide wird seit 98 regelmässiger 
Unterricht an der Hand des Scholz’schen Leitfadens 
durch den Director ertheilt, an dem alle unter 2 
Jahren im Hause befindlichen Pfleger theilnehmen, 
so dass jeder, der lange genug im Hause bleibt, 
mindestens 2 Kurse mitmacht. Doch wird ausdrück¬ 
lich betont, dass die fortlaufende ärztliche Unterwei¬ 
sung bei Gelegenheit der Visiten für die Ausbildung 
des Personals von ausschlaggebender Bedeutung ist 
und der systematische Unterricht diese nicht über¬ 
flüssig machen, sondern nur unterstützen kann. Man 
wird diesen Ausführungen nur zustimmen können. 

Zweckmässig scheint mir auch die in Ebers¬ 
walde geübte Verwendung neu eintretenden Perso¬ 
nals zu sein. Es ward jeder nach vorangegangener 
Unterweisung in Hausordnung und Dienstinstruction 
zunächst einer Wachabtheilung zugetheilt, wo er bleibt, 


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240 


bis er in den Dienst eingelebt ist; dann muss er nach 
der Reihe alle Abtheilungen durchmachen, um all¬ 
mählich alle Kategorien von Kranken kennen zu 
lernen. Ich zweifle aber, ob sich dies immer wird 
praktisch durchführen lassen. Bei uns wenigstens 
kommt es nicht so selten vor, dass am i. des Mo¬ 
nats eine grössere Anzahl neuen Personals zugleich 
eintritt. Die kann man dann unmöglich alle auf 
Wachabtheilungen setzen, vielmehr müssen sie, wenn 
auch unausgebildet, fürs Erste vorhandene Lücken 
füllen. Und will man die Pfleger alle Abtheilungen 
durchmachen lassen, so macht man, besonders bei 
den weiblichen, immer wieder die Erfahrung, dass 
einzelne sich für eine Art von Kranken sehr gut, für 
andere gar nicht eignen, und man wird dann doch 
wohl gut thun, sie da zu lassen, wo sie sich bewähren. 
Aber ich gebe zu, dass das Ausnahmen sind, und 
dass bei der Mehrzahl allseitige Verwendung mög¬ 
lich ist. 

Bei dem aufreibenden und verantwortungsvollen 
Dienst des Pflegepersonals nimmt es uns nicht 
wunder, in verschiedenen Berichten über das Vor¬ 
kommen von^lerhandneurasthenischen Beschwer¬ 
den, besonders beim weiblichen Personal, zu lesen. In 
Hochweitzschen war bei Pflegerinnen, die bereits 
mehrere Jahre im Dienste stehen, „eine schnelle Ab¬ 
nutzung in psychischer und somatischer Hinsicht be¬ 
merkbar. Sie findet ihren Ausdruck in jenen zahl¬ 
reichen Indispositionen der Pflegerinnen von halben 
bis zu ganzen Tagen, so in zahlreichen nervösen 
Störungen, wie Kopfschmerzen, allgemeiner Mattigkeit, 
Schlaflosigkeit, grosser Reizbarkeit, Unverträglichkeit, 
herrischem Wesen, ferner in Appetitlosigkeit, Menstru¬ 
ationsstörungen, Abnahme des Körpergewichts etc.“ 
Das einzige zuverlässige Heilmittel für solche Zustände, 
eine längere Beurlaubung, scheitert oft daran, dass 
die Pflegerinnen nicht wissen, wo sie den Urlaub zu¬ 
bringen sollen. Der Bericht plädirt deshalb für die 
Einrichtung einer Erholungsstätte in ruhiger, wald¬ 
reicher Gegend. 

Frankfurt berichtet über eine ganze Anzahl 
Fälle von nervöser Erschöpfung bei Pflegerinnen, die 
einander klinisch sehr ähnlich waren und zweifellos 
auf die Ueberanstrengung im Dienst zurückzuführen 
sind. „Die Pflegerinnen fallen meist durch ihr 
schlechtes Aussehen und gedrücktes Wesen auf. Sie 
klagen über Schlaflosigkeit und völligen Appetitmangel, 
Gefühl grosser Müdigkeit und Leistungsunfähigkeit. 
Gewöhnlich treten auch Angstzustände auf mit dem 
Gefühl, dass etwas passire, dass jemand hinter ihnen 
stehe, hin und wieder auch, dass ihnen der Hals zu¬ 
gedrückt würde. Manchmal herrscht auch eine etwas 


[Nr. 21. 

melancholische Färbung vor, die Kranken glauben 
nicht genug gethan zu haben, nichts mehr leisten zu 
können, wollen sich nicht gern in eine Kur ausser¬ 
halb der Anstalt begeben, weil sie dadurch sich ihrer 
Pflicht entzögen. Meist bessert sich der Zustand so*- 
fort mit dem Wechsel der Umgebung, und auch der 
Appetit und Schlaf kehren bald wieder. Gerade die 
diensteifrigsten und fleissigsten Pflegerinnen scheinen 
am leichtesten befallen zu werden.“ Auch Frank¬ 
furt hat die Errichtung einer Erholungsstation ins 
Auge gefasst. 

Durch reichlich zu bemessen de Erholungsstunden 
kann man wohl in vielen Fällen dem Ausbruch so 
schwerer Störungen wirksam Vorbeugen. Zu berück¬ 
sichtigen ist dabei, dass die blosse Gewährung von 
Freistunden dafür nicht genügt, sondern es muss 
auch darauf gedrungen werden, dass die Pflegerinnen 
während dieser Stunden wirklich die Abtheilung ver¬ 
lassen. Dazu ist es nothwendig, dass ihnen in der 
Anstalt ein Raum zur Verfügung steht, wo sie diese 
Stunden zubringen können. Denn natürlich kann 
man sie nicht zwingen, bei jedem Wetter hinauszu¬ 
gehen; und wenn sie in der Abtheilung bleiben, dann 
ist von Erholung keine Rede. In den meisten An¬ 
stalten sind jetzt solche Räume wohl auch vorhanden, 
und einige Berichte — ich nenne z. B. nur Frei¬ 
burg-Schlesien — erwähnen die Einrichtung aus¬ 
drücklich. 

Natürlich wird durch die Einführung häufiger Er¬ 
holungsstunden eine möglichst liberale Gewährung 
längeren Urlaubs nicht überflüssig gemacht, und 
gerade die besten und tüchtigsten Pflegerinnen müssen 
dazu angehalten werden, Urlaub zu nehmen, weil sie 
es von selbst nicht thun. Jedenfalls sollte dies stets 
bei den ersten Zeichen von nervöser Erschöpfung 
geschehen. 

Erwähnenswerth ist es noch, dass F rankfurt 
einen Versuch gemacht hat, das Pflegepersonal gegen 
Unfall zu versichern, der aber an der Höhe der von 
den Versicherungsgesellschaften geforderten Beiträge 
vorläufig scheiterte. Weilmünster berichtet über 
die Einrichtung einer Altersversorgung in der Art, 
dass „nach mindestens io jähriger Dienstzeit im Falle 
eintretender Gebrechlichkeit eine Rente aus der Unter¬ 
stützungskasse für die ständigen Bediensteten des Bc- 
zirksverbandes bewilligt werden kann“. 

Der Bericht vom Tannen hof berichtet in seinem 
ersten, übrigens vom geistlichen Leiter verfassten Tlieil 
über eine Conferenz, in welcher der Referent neben 
der Wärternoth noch die Parität als die beiden „Haupt¬ 
übel“ bezcichnete, an denen „sämmtliche Irrenanstalten 
litten“. In ärztlichen Kreisen ist man wohl allgemein 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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igo2.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


241 


entgegengesetzter Meinung. Es kann nicht energisch 
genug dagegen protestirt werden, dass der Geist con- 
fessioneller Intoleranz noch mehr, als es leider schon hier 
und da der Fall ist, in die Irrenpflege hineingetragen wird. 
Das Zusammensein von Kranken verschiedener Con- 
fession in derselben Anstalt hat noch nirgends zu 
Missständen geführt Für die religiösen Bedürfnisse 
der Kranken wird überall gesorgt. Keine Anstalts- 
direction legt den Geistlichen Schwierigkeiten in den 
Weg. Von einem „Nothstand“ zu reden, zu dessen 
„Abhülfe“ wir „evangelische Anstalten und vor allem 
evangelisches Pflegepersonal“ brauchen, ist also eine 
Entstellung, ich möchte fast sagen, eine Verleumdung. 

„Das ist im Grund der Herren eigner Geist.“ 

Klinisches; wissenschaftliche Beiträge. 

An wissenschaftlichem Material einer der reichsten 
Berichte ist der von U eck er münde. Die trockenen 
statistischen Mittheilungen werden dort durch reich¬ 
lich eingestreute, zum Theil recht interessante casui- 
stische Mittheilungen auch den ferner Stehenden ge- 
niessbar gemacht; ausserdem bringt er 3 wissenschaft¬ 
liche Originalabhandlungen. — Da beides in dieser 
Wochenschrift (1901, Nr. 5) bereits besprochen ist, 
braucht hier nicht näher darauf eingegangen zu werden. 

Bunfclau berichtet über einen typischen Fall 
von polyneuritischer Psychose, der geheilt entlassen 
wurde; es war bei der Entlassung noch eine leichte 
geistige Einbusse und Fehlen der Sehnenreflexe zu 
konstatiren. Weiter über einen zweiten Fall, bei 
dem Hysterie anfangs einen Korsakoff vorgetäuscht 
hatte. 

Der Alsterdorfer Bericht bringt eine Unter¬ 
suchung über postepileptische Psychosen von Kellner. 
Die Unterscheidung der Epileptiker in 4 Stufen, näm¬ 
lich geistig normale und 3 Grade von geistig defecten, 
scheint mir etwas willkürlich. Bei den nach den An¬ 
fällen beobachteten Störungen handelt es sich um 
Dämmerzustände, um Verwirrtheit mit Erinnerungs- 
defecten, um ängstliche Delirien, um Stuporzustände 
bis zum Coma, um motorische und amnestische Sprach¬ 
störung. Bemerkenswerth ist es, dass höhere Grade von 
Angst und Unruhe bei den geistig noch relativ hoch¬ 
stehenden Epileptikern ziemlich selten beobachtet und 
um so häufiger wurden, je tiefer die geistige Ent¬ 
wicklung zurückgeblieben war, dass speciell Tobsucht 
bis zur Gemeingefährlichkeit nur bei den tiefer Stehen¬ 
den vorkam. Unter den mitgeteilten Fällen ist einer 
bemerkenswerth durch die Art der Amnesie: Die 
Kranke hatte in monatlichen Zwischenräumen gehäufte 
Anfälle, nach denen sie in tiefen Schlaf fiel. Nach 
dem Erwachen war sie körperlich wohl, nicht ver- 

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wirrt, hatte aber die Erlebnisse der letzten 10—15 
Jahre vergessen. Jedesmal war es ein 15 Jahre zu¬ 
rückliegendes, freudiges Ereigniss, an das sie anknüpfte, 
das ihr als eben erlebt vorschwebte, mit dem sie 
allerhand freudige Hoffnungen verband, die von ihrer 
zu anderen Zeiten stets ruhigen und mehr trüben 
Stimmung sehr abwichen. Nach einigen Tagen tauchte 
nach und nach die Erinnerung an die späteren Er¬ 
lebnisse wieder auf. 

Die Idiotenanstalt zu Niedermarsberg theilt 
ausführlich die Krankengeschichte eines myxödematösen 
Idioten mit, der mit Thyreoidtabletten geheilt wurde; 
auch das psychische Verhalten besserte sich ganz er-» 
heblich. 

In der Irrenstation des Zuchthauses zu Wald¬ 
heim ist beobachtet worden, dass die mit Sinnes¬ 
täuschungen einhergehenden Formen geistiger Störung 
bei den Aufgenommenen überwiegen, was darauf zu* 
rückgeführt wird, dass die meisten aus der Strafhaft 
bezw. Isolirhaft kommen. „Die Isolirhaft begünstigt 
das Auftreten von Sinnestäuschungen und lässt Leute, 
welche zu geistiger Erkrankung neigen, leichter er¬ 
kranken, namentlich Leute in jugendlichem Alter und 
Leute, welche weicheres Gemüth haben, noch fähig 
sind, die Strafhaft sich zu Herzen zu nehmen.“ Unter 
den 37 aufgenommenen Geisteskranken war bei 19 
die Störung während der Isolirhaft aufgetreten. 

Viel casuistisches Material enthält der Bericht der 
Friedmatt. Ein Mann, der mit der Diagnose Me¬ 
lancholie mit Phthisis pulmonum in die Anstalt ge¬ 
bracht wurde und nach 8 Tagen unter zunehmendem 
Marasmus, Fieber, Husten, Erbrechen, und blutigen 
Diarrhoeen starb, erwies sich bei der Sektion als Typhus 
abdominalis. 

Im Asile de Cery ist ein Fall von Delirium 
tremens behandelt worden, das mit allen klassischen 
Symptomen mehrere Monate dauerte, dann in Hei¬ 
lung überging; und ein anderer, dessen Hallucinationen 
und Desorientirtheit mehrere Wochen dauerten, aber 
nur bei Nacht. 

Verschiedene Anstalten berichten über Versuche 
mit neuen Arzneimitteln. Die meisten derartigen 
Mittheilungen beziehen sich auf die Epileptikerbe¬ 
handlung. 

Mit Bromipin hat Weissenau günstige Er¬ 
fahrungen gemacht Weil sein Geschmack nicht an 
Brom erinnert, wird es besonders für solche Kranke 
empfohlen, die eine Abneigung gegen Bromsalze 
haben. Die Wirkung sei intensiver als die der Brom¬ 
alkalien , die lästigen Hautaffectionen bleiben aus. 
Dosen von 4 — 8 g werden als kleine bezeichnet 
und hatten keinen nachhaltigen Erfolg, während 10 

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242 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 21. 


bis 15 g pro die, in einem Fall sogar 25 g pro die 
Nachlassen der Anfälle erzielten. Auch Besserung 
des geistigen Zustandes wurde mehrfach beobachtet. 
Schädliche Nebenwirkungen traten nicht auf. Von 
Hochweitzschen werden weniger günstige Er¬ 
fahrungen mit dem Bromipin berichtet; die Wirkung 
ist weniger stark, als die der einfachen Bromide, der 
ölige Geschmack ist den meisten Patienten unan¬ 
genehm. 

Mit Bromeigon, einer Eiweissverbindung mit 
ii°/ 0 Bromgehalt, hat Weissenau noch zu spär¬ 
liche Versuche gemacht, um urtheilen zu können; 
doch scheint die Wirkung nicht wesentlich verschieden 
von der der anderen Brompräparate zu sein; der 
hohe Preis des Mittels steht jedenfalls vorläufig der 
Verbreitung noch im Wege. 

In Wuhlgarten hat man Versuche mit Bro- 
m o c o 11 gemacht, das sich als gut wirkendes Brom- 
mittel erwies, das Auftreten von Acne aber keines¬ 
wegs immer verhinderte. 

Endlich berichtet So rau über Versuche mit 
coniinum hy dro bromatum. „Anfangs schien 
es, als ob bei einigen Kranken ein Erfolg eintrete, all¬ 
mählich aber stellten sich die Anfälle wieder in der 
alten Zahl ein, auch wurde das Mittel zum Theil 
mit Widerwillen genommen, und schliesslich stellten 
sich auch Verdauungsbeschwerden ein, so dass mit 
der Darreichung endgültig gebrochen wurde.“ 

Hochweitzschen theilt endlich noch Versuche 
mit derRichet-Toulouse’schen „metatrophischen“ 
Behandlungsmethode der Epilepsie mit, welche, wie 
bekannt, auf der Hypothese beruht, dass das Brom 
im Organismus an Stelle des Chlors treten könne, 
wenn man durch möglichst salzarme Nahrung dem 
Körper Salz entziehe. Die noch nicht abgeschlossenen 
Versuche ergaben bisher, dass die Bromwirkung in 
der That eine sehr starke, mehr als 4 mal stärkere 
ist, als bei gewöhnlicher Salzkost, dass aber nach 
Aussetzen des Broms in mehreren Fällen gleich wieder 
Gruppen von Anfällen auftraten. Ob durch längere 
Fortsetzung der Kur dauernder Erfolg zu erzielen 
ist, bleibt abzuwarten. Wichtig ist, dass diese Behand¬ 
lungsart sich nur für die Anstaltsbehandlung eignet, 
da sie unter Umständen nicht unbedenklich ist, ziem¬ 
lich plötzlich Vergiftungserscheinungen herbeiführen 
kann und daher beständiger ärztlicher Ueberwachung 
bedarf. 

Bei der Häufigkeit der Tuberculose in den 
Anstalten ist es begreiflich, dass auch die zahlreichen 
neuen Tuberculose-Heilmittel gern versucht 
werden. Doch finde ich nur wenige Mittheilungen 
darüber. Plagwitz hat einen Fall von Lungen- 

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phthise mit Sirolin behandelt, lässt es aber dahin¬ 
gestellt, ob der günstige Ausgang auf Rechnung des 
Sirolins oder der anderen therapeuthischen Maass¬ 
nahmen zu setzen ist. So rau hat bei Darreichung 
von T h i o c o 11 ausgezeichnete Erfolge gesehen, sicht¬ 
baren Stillstand der Tuberculose und erhebliche Zu¬ 
nahme des Körpergewichts. Die Dosis betrug an¬ 
fangs 2, später 3 g pro die. N ieder-Mars berg 
endlich erwähnt den frappirenden Erfolg des Ichtho- 
forms bei Darmtuberculose; bei einem schweren 
Falle, bei dem schon alle andern Mittel vergeblich 
angewendet worden waren, brachte es in Dosen von 
1,0 drei mal täglich in kurzer Zeit völligen Stillstand 
der Diarrhoeen. 

Forensisches. 

Die Sachverständigenthätigkeit in Entmündi¬ 
gungssachen wird von den meisten Berichten gar 
nicht erwähnt, wohl, weil sie etwas selbstverständ¬ 
liches und alltägliches ist Nur einige Anstalten 
geben die Zahl der Termine und Gutachten an, und 
bei einigen, z. B. den sächsischen ist diese auffallend 
hoch. Das hängt zweifellos mit der Einführung des B. 
G. B. zusammen; die nächsten Jahre werden schon 
wieder einen Rückgang bringen. 

Auch Ehestreitigkeiten sind seit* dem In¬ 
krafttreten des B. G. B. wiederholt zur Begutachtung 
gelangt. Vorster-Stephansfeld hat jaseineFälle in 
dieser Wochenschrift (Bd. 3 No. 51) veröffentlicht. Die 
Berichte geben nur Zahlen an; genaueres wird nicht 
mitgetheilt. Die Fälle scheinen fürs Erste noch 
recht selten zu sein. 

Ausführlich wird in den meisten Berichten über 
die strafrechtlichen Fälle referirt. Sie werden 
meist einzeln aufgeführt; doch ist die Beschreibung 
der einzelnen Fälle in der Regel recht summarisch. 
Und auch unter den genauer beschriebenen sind nur 
wenige, die aus dem einen oder andern Grunde 
grösseres Interesse beanspruchen. 

Aus Sch wetz wird über einen Fall berichtet, 
wo der Thäter wegen Geisteskrankheit freigesprochen 
wurde, und nun auch sein Sohn, der wegen Beihülfe 
angeschuldigt war, freigesprochen werden musste, ob¬ 
gleich seine Schuld erwiesen war; denn da bei Gei¬ 
steskrankheit des Thäters nach § 51 „eine strafbare 
Handlung nicht vorhanden“ ist, so ist auch keine 
Beihülfe möglich. An der juristischen Richtigkeit 
dieser Auffassung wird wohl kein Zweifel sein, wenn 
sie auch dem Laien etwas gekünstelt erscheint. Auf 
ihre bedenklichen practischen Consequenzen ist ja vor 
kurzem in dieser Zeitschrift (Bd. IV No. 3) hingewiesen 
worden. 

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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


243 


Leubus berichtet über einen pathologischen 
Rauschzustand, in dem ein Mord begangen worden 
war. Den Zeugen war der Mann nur in geringem 
Grade angetrunken, nicht sinnlos betrunken erschie¬ 
nen. Das Gutachten führt aus, dass auf der Basis 
einer minderwerthigen Constitution unter dem Ein¬ 
fluss der Alkoholwirkung ein veränderter Bewusstseins¬ 
zustand entstanden war, der die Bedingungen des 
§51 erfüllt — Ferner wird von Leubus ein Schwach¬ 
sinniger beschrieben, der nach § 176, 3 in Anklage 
stand, „dessen Zurechnungsfähigkeit als eine dauernd 
geminderte bezeichnet werden müsste, wenn ein sol¬ 
cher Begriff im deutschen Strafrecht Geltung hätte“. 
Hoffentlich befasst sich Hoche’s statistisches Bureau 
auch mit dieser Frage. 

Schleswig beschreibt einen Pseudoquärulanten. 
Ein Kaufmann gerieth in Zahlungsschwierigkeiten, es 
kam zur Zwangsveräusserung seines Besitzes; sein 
grösster Feind wurde zum Zwangsverwalter ernannt 
und erwarb sein Grundstück zu einem billigen Preise. 
Eine Beschwerde ans Amtsgericht wurde abgewiesen, alle 
Eingaben, bis zum Justizminister hinauf, blieben ohne 
Erfolg. Er schrieb eine Brochure, welche für den 
Amtsrichter beleidigend war; dieser erhob Klage. 
Es entstanden Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit, 
weil er in früheren Jahren einmal eine traumatische 
Psychose durchgemacht hatte. Er wurde nicht für 
geisteskrank gehalten. 

Ein weiterer Fall aus Schleswig ist bemerkens- 
werth, wo ein Gefangenenaufseher wegen unzüchtiger 
Handlungen mit weiblichen Gefangenen zu Gefängniss 
verurtheilt worden war und hier nach kurzer Zeit 
einen Tobsuchtsanfall bekam. Die Beobachtung er¬ 
gab eine vorgeschrittene Dementia paralytica. 

Der Münchener Bericht beschreibt einen Fall, 
in dem der Angeklagte, entgegen dem ärztlichen Gut¬ 
achten, verurtheilt wurde. Ein 2 2jähriger Knecht 
hatte aus ganz kindischen Motiven ein Anwesen in 
Brand gesteckt. Der Gerichtsarzt erkannte ihn als 
„zweifellos geistesschwach“ und beantragte Beobach¬ 
tung in der Anstalt. Das Anstaltsgutachten bezeich- 
nete ihn als Idioten und unzurechnungsfähig. Der 
Staatsanwalt beantragte angesichts des Gutachtens 
und der zu erwartenden Freisprechung Aufhebung 
des Haftbefehls, um der Justizkasse Kosten zu er¬ 
sparen, und überwies ihn der Polizeidirection, welche 
ihn wieder in der Anstalt unterbrachte. Dennoch 
wurde er vom Schwurgericht in 2 Instanzen für schul¬ 
dig erklärt und verurtheilt! 

Wenn München hieran die Bemerkung an- 
schliesst, dass die Kreisirrenanstalten gar kein Inter¬ 
esse daran hätten, Beobachtungsgefangene aufzuneh- 

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men, und die Begutachtung solcher bereitwilligst einer 
staatlichen Beobachtungsstation unter Oberaufsicht der 
Justizbehörden überlassen würden, so wird dem wohl 
nicht von allen Seiten zugestimmt werden. Die 
meisten Anstalten haben Beobachtungsfälle ganz gern, 
weil sie doch immer etwas Abwechslung in die ein¬ 
förmige Thätigkeit bringen und häufig zur Anschnei¬ 
dung interessanter Fragen Veranlassung geben. Durch 
den gewiss berechtigten Aerger über einen einzelnen 
Misserfolg wird man sich doch nicht gleich zu so 
weit gehenden Consequenzen hinreissen lassen. 

In der Fried matt ist eine Frau begutachtet 
worden, die etwa seit ihrem 25. Jahre ein Leben ge¬ 
führt hatte, das „eine ununterbrochene Kette von 
Lüge, Gaukelei, Betrug, Fälschung und Schwindel in 
staunenswerther, nur durch eine ungewöhnliche Phan¬ 
tasiestärke erklärbarer Abwechslung“ bildete. Sie war 
schon früher in einer Anstalt beobachtet und für 
zurechnungsfähig erklärt worden. Jetzt hatte sie sich 
unter falschem Namen in ein Dienstbotenasyl auf¬ 
nehmen lassen, hatte durch gefälschte Eintragung in 
ein Sparkassenbuch 1000 Fr. erschwindelt, war unter 
Mitnahme eines fremden Heimathsscheines verschwun¬ 
den, mit dem sie dann anderswo in Dienst trat; das 
führte zu ihrer Verhaftung. Man vermuthete in ihr 
eine berüchtigte Gaunerin andern Namens; sie gab 
zu, diese zu sein und spielte eine Zeit lang deren 
Rolle mit grossem Geschick; noch einmal wechselte 
sie ihren Namen und gab schliesslich schriftlich den 
richtigen an unter Hinzufügung einer phantastisch 
erlogenen Lebensgeschichte. In der Anstalt bot sie 
nicht viel: ihre Intelligenz erwies sich als recht mässig; 
die Neigung zum Lügen trat beständig in recht auf¬ 
fälliger Weise hervor, sie log bei ganz gleichgültigen 
Dingen in sinnlosester Weise; die Stimmung war un¬ 
regelmässig wechselnd, bald war sie ganz heiter, bald 
unzugänglich, mitunter auch äusserst reizbar; ihr Gefühls¬ 
leben erwies sich als äusserst primitiv. — Ueber ihre 
Handlungsweise äusserte sie: „Ich weiss selber nicht, 
was mich dazu antreibt, und wenn ich in dieser Mi¬ 
nute nichts davon weiss, in der nächsten Minute führe 
ich’s aus.“ Ein andermal hatte sie angegeben, dass sie 
seit der Lectüre eines spiritistischen Romans „von 
ihrer Phantasie dahin beherrscht werde, dass sie sich 
in andere Personen hineindenken und deren erdachte 
Handlungen und Schicksale selbst durchleben müsse“. 
Ob es richtig war, diese Kranke für zurechnungsfähig 
zu erklären, darf man wohl bezweifeln. 

Erwähnenswerth scheint mir zu sein, dass unter 
den zur Beobachtung Aufgenommenen bei weitem 
die meisten wirklich geisteskrank waren und auch 
der grossen Mehrzahl nach der Beurtheilung keine 

Original fram 

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244 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21. 


Schwierigkeiten boten. Wenn in H i l d e s h e i m unter 
9 Beobachteten 5 nicht geisteskrank waren, so ist 
das eine sehr vereinzelte Ausnahme. 

Hinsichtlich der Form der Störung überwiegen 
unter den Beobachteten bei weitem die Epilepsie, 
die Imbecillität und der Alkoholismus; andere Formen 
sind nur in einzelnen Exemplaren vertreten. Als be¬ 
sonders verhängnisvoll erscheint dabei die Verbindung 
des Alkoholismus mit einer der beiden erst genann¬ 
ten Formen, und vor allem findet wieder die alte 
Erfahrung ihre Bestätigung, dass die Epileptiker unter 
dem Einfluss des Alkoholgenusses zu gemeingefähr¬ 
lichen Handlungen disponirt sind. 

Dass die Anstalten auch ausser den zur Beobach¬ 
tung Eingelieferten noch geisteskranke Verbrecher 
in grosser Zahl beherbergen müssen, ist eine alte Noth, 
die den Berichten zu vielfachen Klagen Anlass giebt. 
Die meisten geben unter ihren statistischen Mitthei¬ 
lungen auch die Zahl der mit dem Strafgesetz in 
Conflikt gekommenen in Procenten der Aufnahme- 
ziflfer an. Da die Zahlen der einzelnen Berichte 
auffallend verschieden sind, und irgend welche gesetz- 
mä8sigen Ursachen für diese Verschiedenheit nicht 
ersichtlich sind, so möchte ich auf die Anführung von 
Zahlenbeispielen lieber verzichten. Es liegt ja auch 
hierin wieder soviel subjectives; der eine zählt nur 
die wirklichen Verbrechen, während der andere jedes 
kleine Vergehen mitzählt. 

Die Unzuträglichkeiten, welche das Zusammensein 
der Verbrecher mit den andern Kranken im Gefolge 
hat, finden in den Berichten mannigfachen Ausdruck. 
Nur wenige Stimmen möchte ich noch hier citiren. 
Herzberge sieht sich zur Vergrösserung seines 
Ueberwachungshauses genüthigt, weil nach dessen 


Ueberfüllung die Verbrecher im Aufnahmehause 
untergebracht werden mussten, wo sich dann zur 
Aufrechterhaltung der Ordnung eine Vermehrung des 
Personals als noth wendig erwies. Frankfurt schil¬ 
dert eingehend die Schwierigkeit ihrer Unterbringung: 
wollte man sie immer isoliren, so hätten sie es schlim¬ 
mer als im Gefängniss; hält man sie alle auf der 
unruhigen Abtheilung, so komplottiren sie und beein¬ 
flussen andere erregte Elemente ungünstig; es bleibt 
nichts übrig, als sie zu trennen, sie auf verschiedenen 
Abtheilungen unterzubringen und sie nach Möglich¬ 
keit auch zu beschäftigen; aber dann wissen sie immer 
wieder Gelegenheit zum Entweichen zu finden. 

In Salzburg machte ein solcher Kranker einen 
Mordplan gegen den Director und den Abtheihingsarzt, 
und überfiel hinterrücks den Oberpfleger; der Bericht be¬ 
tont besonders die demoralisirende Wirkung auf das 
Pflegepersonal, welchem es schwer fällt, in solchen Leuten 
Kranke zu sehen, und das ausserdem durch die Ge¬ 
fahren, welchen es durch deren tückische Angriffe 
ausgesetzt ist, sich leicht zu Rohheiten hinreissen 
lässt. Rybnik klagte besonders über die Verbrecher, 
welche aus der Irrenstation der Strafanstalt nach 
Aussetzen des Strafvollzugs in die Anstalt kommen. 
Sie wurden dort, um sie bei guter Laune zu erhalten, 
sehr verwöhnt und stellen nun in der Anstalt die un¬ 
verschämtesten Ansprüche; und solche Leute wieder 
los zu werden, machte die grössten Schwierigkeiten. 
Allein wegen dieser Elemente hält Rybnik die Ver¬ 
mehrung des Personals für noth wendig. 

Die Frage der Unterbringung der irren Verbrecher 
ist ja im Rollen, aber von ihrer Lösung sind wir noch 
recht w'eit entfernt. 


Ueber Wandschmuck in Irrenanstalten. 


T^ie Zeiten sind vorüber, in denen man es für aus¬ 
reichend hielt, unsere Kranken in kahlen, schmuck¬ 
losen Räumen unterzubringen. Längst strebt man 
danach, durch wohnliche Ausstattung der Räume 
ihnen den Aufenthalt angenehmer zu machen; und 
durch bequeme Möblirung, Ausstattung mit Gardinen 
und Teppichen u. dgl. m. kann man ja ohne grosse 
Kosten vieles erreichen. 

Recht kümmerlich ist es dagegen noch mit dem 
Bilderschmuck der Wände unserer Abtheilungen bestellt. 
Kein Wunder auch; denn gute Bilder kosten viel 
Geld, was wir nicht haben; und was man für billiges 
Geld gemeinhin bekommen kann, taugt nichts. Dem¬ 
entsprechend sind denn auch die Bilder, die man 

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meist in den Anstalten findet: minderwerthige Licht¬ 
drucke, Oeldrucke schlimmster Art, das relativ beste 
sind noch lithographische Reproductionen berühmter 
Gemälde oder hier und da einmal ein einsamer Kupfer¬ 
stich. 

Sicher haben diesen Missstand auch schon andere 
empfunden, und manchen Collegen wird es daher 
interessiren, zu erfahren, dass es einige neuere Unter¬ 
nehmungen giebt, welche es sich zum Ziel gesetzt 
haben, künstlerisch gute Bilder in guter Ausführung 
zu möglichst billigem Preise im Volke zu verbreiten, 
und dass die zu diesem Zwecke geschaffenen Blätter 
auch für unsere Räume recht geeignet sind. 

Schon seit einer Reihe von Jahren erscheinen bei 

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1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 245 


Breitkopf & Härtel in Leipzig Serien von „Zeit¬ 
genössischen Kunstblättern“, zumeist Facsi- 
mile-Reproductionen nach Lithographien und Ra¬ 
dierungen moderner Meister. Die Grösse der Blätter 
(50 :40 cm) ist der Grösse vieler unserer Räume 
gerade angemessen, der Preis (2 Mk. pro Blatt) er¬ 
schwinglich. Die Auswahl ist vortrefflich, gerade für 
unseren Zweck. Die überwiegende Mehrzahl der 
Blätter ist Hans Thoma gewidmet, also rechte deutsche 
Volkskunst. Wer freilich durch die immer noch weit 
verbreitete Bewunderung der italienischen Renaissance 
seinen Geschmack exclusiv auf diese eingestellt hat, 
wird Mühe haben, Plans Thoma zu geniessen; vor 
allem mit Theorien, mit ästhetischen Postulaten darf 
man ihm nicht gegenübertreten; Thoma’sche Kunst 
kann nur empfunden werden, es gehört ein unver¬ 
fälscht deutsches Gemüth dazu, ihn in seiner ganzen 
Tiefe zu würdigen; wer sich ein solches bewahrt hat, 
wird an Blättern wie der „Märchenerzählerin“, dem 
„Bauern“, dem „Geiger“, um nur einige wenige zu 
nennen, immer wieder seine Freude haben; und gerade 
das einfache Volk, dem nicht durch Aesthetik und 
Gemäldegallerien ein einseitiger Geschmack anerzogen 
ist, pflegt solche Kunst am freudigsten aufzunehmen. 
— Die Blätter von Max Klinger, Sascha Schneider, 
Hans v. Marces, werden, so schön sie sind, unser 
Publikum doch weniger ansprechen, dagegen dürfte 
Volkmann wieder geeigneter sein, und vor allem Stein¬ 
hausen, dessen „Gastmahl“ allerdings grösser und 
theurer ist, wie die andern Blätter, dafür aber auch 
in ganz grossen Räumen zur Geltung kommen kann. 

Ferner möchte ich auf die Publikationen des 
„Kunstwart“ (Georg D. W. Callwey in München) 
hinweisen, welcher unter der Bezeichnung „Meister¬ 
bilder“ recht gute Reproduktionen von Kunstwerken 
aller Zeiten und Völker bringt, zu dem fabelhaften Preise 
von 25 Pfg. pro Blatt. Da es sich dabei durchweg um 
Bilder von allgemein anerkannten Künstlern handelt, be¬ 
darf es keines näheren Eingehens; die Auswahl ist so 
reichhaltig und wird so schnell vermehrt, (neuerdings 
ist z. B. eine ganze Schwind-Mappc erschienen) dass 
jeder sich das ihm zusagende auswählen kann. Ein 
Nachtheil dieser „Meisterbilder“ ist ihr kleines Format, 
welches sie als Wandschmuck nur in ganz kleinen 
Räumen verwenden lässt. Doch werden die besten 
unter der Bezeichnung „Vorzugsdrucke“ neuerdings 
in bedeutend grösserem Format herausgegeben, zu 
dem immer noch recht geringen Preise von 1 Mk. 

Ein ganz vortrefflicher Wandschmuck, besonders 
auch für ganz grosse Räume, sind die farbigen 
Künstler-Lithographien, die seit kurzer Zeit 
im Verlage der Firmen B. G. Tcubner und R. Vuigt- 


laender in Leipzig erscheinen. Die erste Anregung 
zu diesem Unternehmen gab wohl der Dresdener 
Kunsterziehungstag (1901), welcher für die Schule 
einen wirklich künstlerischen' Wandschmuck verlangte. 
Aber nicht allein für die Schule sind diese Blätter 
bestimmt, sondern vor allem bezwecken sie, auch dem 
weniger Bemittelten die Möglichkeit zu schaffen, sein 
Heim mit wirklich guten Kunstwerken zu schmücken. 
Denn dadurch unterscheidet sich eben dieses Unter¬ 
nehmen von allen ähnlichen, dass es sich nicht um 
Reproductionen irgend welcher, in anderer Technik 
geschaffenen Originalien handelt, sondern dass diese 
Blätter selbst Originale sind; es sind eigenhändige 
Steinzeichnungen lebender Künstler, als selbständige 
Werke ursprünglich in dieser Technik gedacht, nicht 
aus einer andern übersetzt. Durchweg stehen die 
Blätter, soweit ich sie wenigstens kenne, auf einem 
recht hohen künstlerischen Niveau, wofür ja auch 
Namen wie Kaltmorgen, Kampmann, Volkmann, 
Fikentscher u. A. bürgen. Die Gegenstände der 
meisten Blätter sind landschaftliche Darstellungen, 
und zwar trotz (oder vielleicht gerade wegen) der un¬ 
gesuchten Einfachheit der Schilderung durchweg von 
so intimem Reiz und tiefem Stimmungsgehalt, dass 
sich wohl kein empfängliches Gemüth ihrer Wirkung 
entziehen kann. Die Grösse der Blätter (theils 100: 70 
cm, theils 75 : 55 cm) lässt sie auch in ganz grossen 
Räumen zur Geltung kommen, sehliesst aber anderer¬ 
seits ihre Verwendung in kleineren Räumen keineswegs 
aus. — Unter solchen Umständen ist der Preis von 
3—6 Mk. pro Blatt gewiss gering. Zudem haben die 
Unternehmer eine „Vereinigung für Künstlerstein¬ 
zeichnungen“ gegründet, für deren Mitglieder sich der 
Preis auf s / 4 des genannten ermässigt; der Beitritt 
verpflichtet nur auf 2 Jahre, sodass also auch für 
Anstalten, welche nur eine geringe Anzahl von Blättern 
erwerben wollen, der Beitritt vortheilhaft ist. 

Aus einer Zeitungsnotiz sehe ich, dass auch die 
Firma Fischer &: Franke in Berlin neuerdings Künstler- 
Lithographien herausgiebt, und zwar zu noch weit 
billigerem Preise. Gesehen habe ich keins ihrer Blätter, 
weiss also nicht, ob sie sich für unsern Zweck eignen. 

Ob es noch andere ähnliche Unternehmungen 
giebt, weiss ich nicht. Von den Genannten habe 
ich zufällig Kenntniss bekommen, und glaube getrost 
versichern zu können, dass jede Anstaltsdirection, die 
es mit ihnen versucht, zufrieden sein wird. 

Ein Wort noch über das Ein rahmen. Breit¬ 
kopf & Plärtel lassen für die Thomablätter Rahmen 
in Brandmalerei hcrstcllen. Für Anstalten sind diese 
nicht zu empfehlen, weil sic zu theuer sind. Glatte 
Ilülzrahrnen, die jede Anstalt in ihrer Schreinerei 


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2 4 6 

selbst anfertigen kann (bei uns geschieht dies seit 
Jahren mit bestem Erfolg) thun denselben Dienst. — 
Die vom Kunstwart angebotenen Rahmen zu den 
„Meisterbildern“ sind dagegen recht billig und krmnen 
also zur Anschaffung wohl in Betracht kommen. — 
Endlich bei den Künstler-Steinzeichnungen wird man 


[Nr. 21 . 


die Anschaffung der Originalrahmenlcisten, welche 
ebenfalls recht billig sind, deshalb anrathen müssen, 
weil es sich um farbige Bilder handelt, und demnach 
der Farbenton des Rahmens passend gewählt sein 
muss, was nach unseren Erfahrungen der Verlag mit 
gutem Geschmack besorgt. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Vermehrung der Berliner Irrenanstalten. 

Im Aufträge der Deputation für die städtische Irren¬ 
pflege hat der Direktor der Irrenanstalt Herzberge 
bei Lichtenberg, Geh. M ed icin al rat h Prof. Dr. 
M o e 1 i, einen interessanten Bericht erstattet, in wel¬ 
chem auf Grund der amtlichen Statistik nachgewiesen 
wird, dass die Zahl der von der Stadtgemeinde zu 
verpflegenden Geisteskranken in erschreckendem 
Maasse zunimmt und dass schon nach wenigen Jahren 
die neue dritte Anstalt in Buch sich als ungenügend 
herausstcllen wird. Dabei ist auf das Wachsthum 
der Stadt, Eingemeindungen etc. keine Rücksicht ge¬ 
nommen. Die Anstalt Buch bietet 1500 Plätze; 
nach ihrer Belegung schon würden noch ca. 7—800 
Kranke zu versorgen bleiben. Da etwa 5 — 6 Jahre 
zur Fertigstellung einer Irrenanstalt erforderlich sind, 
plädirt Geheimrath Dr. M o e 1 i dafür, den Bau einer 
vierten Anstalt so schnell wie möglich einzuleiten ; denn 
schreite die Zunahme der Geisteskranken nur gleich- 
mässig, wie bisher, fort, dann könnten im Jahre 1009, 
mit Eröffnung der vierten Anstalt, wahrscheinlich 
auch noch nicht alle Patienten in eigenen 
Anstalten untergebracht werden. Eine 
solche Versorgung wäre aber zweifellos in 
jeder Hinsicht dem jetzigen Zustande vorzu¬ 
ziehen und müsse als Aufgabe der Stadt ins 
Auge gefasst werden. Zu erwägen bliebe dabei 
noch, ob man mit einer Erweiterung der Anstalt für 
Epileptische, „Wuhlgarten“, über die nächsten Jahre 
hinaus auskomnien werde. Wäre dies nicht der Fall, 
so müsste eine zweite Anstalt für Epileptiker allein 
oder eine gemischte Anstalt für Epileptiker und Gei¬ 
steskranke hergestellt werden. Die Lösung dieser 
Vorfragen könne indess nicht bis zum Jahre 1909 
verschoben werden: um eine regelmässige und zweck¬ 
dienliche Entwicklung der Fürsorge für Geisteskranke 
zu gewährleisten, müsse man die Besprechung und 
Klärung dieser für den Bau der fünften Anstalt wich¬ 
tigen Verhältnisse eben so schnell zu erledigen suchen, 
wie man den Beginn des Neubaues der vierten Anstalt 
einzuleitcn gezwungen sei. Voraussichtlich werde man 
vor Fertigstellung der vierten Anstalt den Bau der 
fünften zu beginnen haben. Nur so könne es ge¬ 
lingen, die Folgen des Uebelstandcs, dass erst nach 
zwölf Jahren (1893 bis 1905) in Folge ungünstiger, 
äusserer Verhältnisse die Stadt eine wesentliche Er¬ 
weiterung in ihrer Fürsorge für Geisteskranke hat er¬ 
fahren können, auszugleichen. Sein Urtheil fasst Ge¬ 
heimrath Dr. Moeli dahin zusammen: „Zur Siche- 

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rung einer Fortentwicklung der zweckmässigen Für¬ 
sorge für Geisteskranke ist der Bau einer Herten 
Anstalt möglichst bald in Angriff zu nehmen. Bis 
zum Jahre 1904 ist eine endgültige Entscheidung 
darüber herbeizuführen, ob eine neue, grosse Idioten- 
Anstalt erbaut wird und wie sich die Fürsorge für 
Epileptische weiter entwickeln soll. Auf Grund dieser 
Entscheidung ist alsdann eine Entschliessung bezüg¬ 
lich des Baues der fünften Anstalt für Geisteskranke 
zu treffen.“ 

— Wien. Behandlung geisteskranker 
Häftlinge. Eine an säinmtliche Gerichte und 
Staatsanwaltschaften gerichtete Verordnung des Justiz¬ 
ministeriums stellt zur Beseitigung der zu Tage ge¬ 
tretenen Unzukömmlichkeiten bei der Behandlung 
geisteskranker Häftlinge eine Reihe von Grundsätzen 
für das bezügliche Verfahren auf, denen wir Nach¬ 
stehendes entnehmen: Zunächst hat das Gericht, bei 
dem sich der Beschuldigte in Haft befindet, zu erwägen, 
ob es die Feststellung des Geisteszustandes vornehmen 
kann. Ist dies nicht der Fall, so wird die Ueber- 
stellung des einer Geisteskrankheit Verdächtigen an 
jenem Gerichtshof zu erfolgen haben, bei welchem 
die erforderlichen Bedingungen zur Untersuchung des 
Geisteszustandes gegeben sind. Im Verfahren wegen 
Verbrechen oder Vergehen wird es nur ausnahmsweise 
Vorkommen, dass ein Verhafteter, bei welchem der 
Verdacht einer Geisteskrankheit besteht, bei dem Be¬ 
zirksgerichte, dem er eingeliefert wurde, belassen wird, 
denn die Delegirung des Bezirksgerichtes seitens der 
Rathskammer wird nur dann erfolgen, wenn Zweck¬ 
mässigkeitsgründe dafür sprechen. Solche liegen aber 
gewiss nicht vor, wenn die Voraussetzungen einer 
sachgemässen Geisteszustandserhebung nicht vorhanden 
sind. Andererseits giebt die Strafprozessordnung die 
Möglichkeit, wenn der dem zuständigen Gerichtshöfe 
selbst die Erhebung des Geisteszustandes auf Schwierig¬ 
keiten stösst, um deren Vornahme einen anderen Ge¬ 
richtshof zu ersuchen. Zu diesem Behufe wird es 
sich empfehlen, die für solche Erhebungen geeigneten 
Gerichtshöfe von vornherein zu bezeichnen. Im 
Uebertretungsverfahren ermöglichen die einfacheren 
Formen dieses Verfahrens, dass in der Regel die 
Feststellung des Geisteszustandes bei dem zuständigen 
Bezirksgerichte selbst vorgenommen wird. Die Ab¬ 
gabe an eine Irrenanstalt zum Zwecke der Erhebung 
des Geisteszustandes eines Untersuchungsgefangenen 
ist nicht vorgesehen. Die bestehenden Irrenanstalten 
eignen sich auch nach ihrer ganzen Organisation nicht 


Original frnm 

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iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


zur Aufnahme von Gefangenen. Diese Maassregel 
wird daher nur dann zulässig erscheinen, wenn gerade¬ 
zu zwingende Erwägungen, insbesondere die Art der 
Geisteskrankheit und die Unmöglichkeit einer zweck¬ 
entsprechenden Verwahrung und Behandlung im Ge- 
fängniss einen anderen Weg verschliesscn. Die Ober- 
landesgcrichtspräsidien werden demnach angewiesen, 
den Bedürfnissen und Verhältnissen ihres Sprengels 
entsprechende Verfügungen im Sinne der entwickelten 
Grundsätze zu treffen, insbesondere auch in der 
Richtung, dass nach Maassgabe des Bedürfnisses bei 
bestimmten Gerichtshöfen auch die sachgemässe Ver¬ 
wahrung besonders zu behandelnder, wegen Gefährlich¬ 
keit zu isolirender Geisteskranker möglich wird. 
Andererseits wird es Aufgabe der Staatsanwaltschaften 
sein, schon bei der Antragstellung auf diese Regelung 
Rücksicht zu nehmen. Was den Vorgang an langt, 
welcher nach Einstellung des Verfahrens oder Frei¬ 
sprechung in Folge erwiesener Geisteskrankheit zu 
beobachten ist, so obliegt die Anordnung der Abgabe 
in eine Irrenanstalt in Folge Gemeingefährlichkeit oder 
aus anderen Gründen nicht den Strafgerichten, Sündern 
den Verwaltungsbehörden. Es ist daher in solchen 
Fällen mit der zuständigen Verwaltungsbehörde (Ge¬ 
meinde, Magistrat u. s. w.) unter Anschluss einer Ab¬ 
schrift des Gutachtens das Einvernehmen zu pflegen 
und die Ueberstellung der Geisteskranken an diese 
Behörde zu veranlassen. Gleichzeitig ist jedoch auch 
die zuständige Kuratelsbehörde unter Anschluss der 
Acten oder, im Falle diese nicht entbehrt werden 
können, einer Abschrift des Gutachtens zu verständigen. 


Referate. 

— Fr. Scholz. Die verschiedenen Methoden in 
der Behandlung Geisteskranker. Eine kritisch-histo¬ 
rische Skizze. München 1901. Seitz & Schauer. 
32 s. 

Ein kurzer, anschaulicher, durch die.Mittheilung 
eigener Erlebnisse und Erfahrungen belebter Bericht 
über die Entwicklung der Irrenheilkunde, in deren 
Geschichte Vcrf. 4 Perioden unterscheidet; jede hat 
ihren besonderen von der vorhergehenden verschiede¬ 
nen Charakter, wobei gewisse Bestandtheile als sicherer 
Besitzstand durch alle Zeiten bis heute sich erhalten 
haben. Diese 4 Perioden sind 1. die Periode des 
psychischen Zwangs, die vor allem der dualistischen 
Weltanschauung ihr Dasein verdankte; 2. die Periode 
des mechanischen Zwangs, bei deren Schilderung 
auch die freieren Behandlungsformen (Colonie, Fami- 
licnpflege) kurz besprochen werden; 3. die Periode 
des chemischen Zwangs, die man auch die Periode 
der Isolirungen nennen könnte; und schliesslich 4. 
die am ausführlichsten behandelte jetzige Methode 
der physikalisch-diätetischen Behandlung. 

Ernst Schultze. 

— Wehmer, R. Die neuen Medicinalgesetze 
Preussens. Unter Berücksic htigung der neuen Reichs¬ 
gesetze, der neuen von Verwaltungsbehörden erlasse¬ 
nen Bestimmungen und der gerichtlichen sowie ver¬ 


waltungsgerichtlichen Judikatur. Berlin 1902. Aug. 
Hirschwald. 557 S. 

Wer Wcrnich’s „Zusammenstellung der gültigen 
Medicinalgesetze Preussens, mit besonderer Rück¬ 
sicht auf die Reichsgesetzgebung“ oder den „kleinen 
Wernich“, wie er vielfach kurz genannt wurde, kennt, 
der weiss auc h seine Brauchbarkeit zu schätzen und 
wird gewiss ebenso wie Referent bedauert haben, 
dass nach der 3. Ausgabe keine neue Auflage mehr 
erschienen ist. Dieses Bedürfniss machte sich um so 
fühlbarer, als wir über eine geringe Thätigkeit hin¬ 
sichtlich der Medicinalgesetzgebung in der Zwischen¬ 
zeit wahrlich nicht zn klagen haben. 

Es besteht hier also zweifellos eine Lücke. Diese 
füllt V. mit dem zu besprechenden Buche aufs beste 
aus. Bei der grossen Verbreitung des Wernich sah 
V. von einer vollständig neuen Auflage ab, zumal 
man den Einfluss der Medicinalreform im Voraus 
nicht zu übersehen vermag. Somit ist V.’s Buch eine 
Fortführung von Wernich und setzt diesen in seinem 
Gebrauche vielfach voraus. Ob dieser Standpunkt 
des V. allgemein gebilligt werden wird, möchte Ref. 
einstweilen sehr bezweifeln. 

Die Zusammenstellung ist in erster Linie für 
den Medicinal - Beamten bestimmt, doch wird sic 
auch dem Irrenarzt schätzenswcrthe Dienste leisten, 
nicht nur hinsichtlich der rein psychiatrischen Ange¬ 
legenheiten, sondern auch in anderen Fragen, deren 
Erledigung er sich nicht entziehen kann (Verfahren 
bei gemeingefährlichen Krankheiten, Atteste, Steuer¬ 
verhältnisse, Gebühren etc.). Ref. hat wenigstens den 
Wernich früher oft, viel und stets mit Erfolg zu Rathe 
gezogen; und da die gleiche Eintheilung hier beibehalten 
ist, so wird das von Wernich Gesagte auch bei Weh¬ 
mer zutreffen dürfen. Dafür sprechen auch die bis¬ 
herigen Erfahrungen des Ref. mit dem zu be¬ 
sprechenden Buche. 

Die Fassung der Anmerkung zu § 649 Z. P. 0 . 
würde, um dieses hier zu erwähnen, besser auf den 
Wortlaut des B. G. B. Bezug nehmen. Auf Seite 5Ö 
hat sich ein sinnentstellender Druckfehler einge¬ 
schlichen in der Anmerkung des Herausgebers zu 
§ 0 B. G. B.; denn es soll doch offenbar heissen, der 
Geistesschwache sei nicht in der* Erwerbsfähigkeit, 
sondern in der Geschäftsfähigkeit beschränkt. §§ 1333, 
1334, 1906 u. A. verdienten wegen ihrer Bedeutung 
für den ärztlichen Sachverständigen auch abgedruckt 
zu werden, wie denn überhaupt die sicherlich schwer 
zu treffende Auswahl etwas zu knapp sein dürfte. 

Doch das sind kleine, unwesentliche Ausstellungen, 
deren Beseitigung Berücksichtigung verdient. Um so 
weniger wird es an Gelegenheit dazu fehlen, als die 
Nachfrage nach einem derartiger. Buche wie dem 
vorliegenden gross ist und als eine fast bedenklich 
zu nennende Schaffensfreudigkeit in der Gesetzgebung 
herrscht. Umfasst doch Wehmer mit seinen 557 
Seiten nur die Zeit von 1893 bis No\ ember 1901! 
enthält doc h die recht brauchbare Zeittafel des gleichen 
Zeitraums über 450 Gesetze, Erlasse, Verordnungen 
und Erkenntnisse! Da ist es denn auch nicht sonder¬ 
bar, wenn sc hon zum vorliegenden Buche ein 8 Blätter 


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248 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21. 


grosser Nachtrag erscheint, welcher die während der 
Drucklegung erlassenen Verordnungen enthält. 

Ernst Schultze. 

— Panse. Schwindel. Sonderabdruck aus der 
Zeitsohr. f. Ohrenheilk. Bd. XL. I. Wiesbaden 1902. 
Bergmann. 6b Seiten. 

Lcscnswerthe Schrift für jeden, der sich genauer 
über das so häufig vorkommende Symptom des 
Schwindels orientiren will. Ausgehend von der That- 
sachc, dass unser Urthcil über unsere Beziehungen 
zum Raum durch 3 verschiedene Sinnesbahnen ge¬ 
bildet wird (die Augen, das Gleichgewichtsorgan im 
Labyrinth des Ohrs, die kinästhetischen Gefühle), 
werden ausfiirlich die Anatomie der 3 Bahnen ge¬ 
schildert , zahlreiche experimentelle Untersuchungen 
et wähnt, die Wichtigkeit des Cerebellum betont, die 
verschiedenen Arten und die Entstehung des Schwin¬ 
dels erwähnt, die beiden einzigen, objektiven Zeichen 
des Schwindels hervorgehoben, Taumeln und Nystag¬ 
mus, die c\entucll künstlich hervorgerufen werden 
können. 

Zum Schluss giebt Vcrf. diagnostische Anhalts¬ 
punkte in Betreff des Sitzes des Schwindels und 
kommt zu dein Ergebnis«, dass ein Reiz eine ge¬ 
wisse Stärke haben muss, wenn er von einer der 3 
Sinnesbahnen aus. zu Schwindel führen soll, dass 
schwächere Reize an 2 verschiedenen Sinnesbahnen 
sich zu demselben Enderfolge verbinden können und 
ferner, dass bei Ausfall zweier Sinnesbahnen schon 
die gewohnten Haltungen und Lageveränderungen 
hinreichen, um Schwindel auftreten zu lassen. 

Arne m a n n, Gross-Schweidnitz. 

— Thudichum: Die chemische Konsti¬ 
tution des Gehirns des Menschen und der 
Thiere. Tübingen, F. Pietzcker, 1901. XII und 
339 S. 10 Mk. 

In dem starken Band steht eine riesige Fülle von 
Detailarbeit. Am wichtigsten vielleicht ist in der ein¬ 
leitenden historisch-kritischen Übersicht der Nachweis, 
dass die bisherigen chemischen Untersuchungen der 
Hirnmatcrie mit vielen Mängeln behaftet sind. Nach 
einer Darstellung der Isolirungsmethode werden die 
Phosphatide, dann die N-haltigen und P-freien Edukte, 
weiterhin Alkohole, Karbohydrate und Säuren, darauf 
die eiweissartigen Stoffe und schliesslich die anor¬ 
ganischen Bestandteile abgehandelt. Wie weit die 
chemische Einzelarbeit zuverlässig ist, entzieht sich 
der Beurtheilung des Nichtchemikers; die Fachge¬ 
nossen des Autors stehen ihm skeptisch gegenüber. 
Jedenfalls kann auch nur von den Anfängen eines 
Brückenschlagcns zu den psychischen Vorgängen nicht 
die Rede sein. Die psychopathol« »gischen Ansc hauungen 
des Verfassers sind auch gar nicht dazu angethan; er 
spricht z. B. von der Häufigkeit, mit der chronische 
Lcberleidcn in Geistesstörungen übergehen, ferner 
davon, dass sich Paralyse mit dem „sogenannten 
Grössenwahnsinn“ manifestire u. dgl. m. Dringend zu 


warnen ist vor der verhängnissvollen Sucht, bei der 
Wahl der chemischen Nomenklatur so zu thun, als 
ob über die Beziehungen eines der Stoffe zu psychischen 
Vorgängen auch nur das Geringste ausgesagt werden 
könnte. Geradezu abenteuerlich klingt es, wenn der 
Verfasser zu dem früher schon aufgestellten Phrenosin 
nun noc h ein Psychosin und Acsthesin hinzu erfindet. 

Weygandt - Würzburg. 

— Nonne: Syphilis und Nervensystem. 
Berlin, 1902. S. Karger. XIV und 458 S. 

Trotzdem an monographischen Behandlungen dieses 
oder nah verwandter Themata kein Mangel ist, bietet 
das Buch doch einen so selbstständigen, werthvollen 
Inhalt, dass es von jedem, den eine Detailarbcit auf 
jenes Gebiet führt, eingehend zur Hand genommen 
werden muss. Zugleich aber ist die Anordnung in 
17 Vorlesungen «o glücklich gewählt und die Dar¬ 
stellung so lebendig, dass auch zur Einführung in jene 
wichtigen Fragen kein besserer Wegweiser gefunden 
werden kann. 

Nac h einer pathologisch-anatomischen Schilderung 
werden die Bilder der artcriitischcn Form, der Kon¬ 
vexitätsmeningitis und der syphilitischen Himbasiser- 
krankungen entworfen. Die Erörterungen über Psy¬ 
chosen und X T eurosen bei Syphilitikern führen zu dem 
Schluss, dass es eine spezifisch syphilitische Psychose, 
die aus dem klinisch-psychiatrischen Bild allein zu 
diagnostiziren wäre, nicht giebt. Vielleicht hätten 
die Beziehungen der Paralyse zur Lues zweckmässiger 
ihre Besprechung im Anschluss an die Tabes-Syphi- 
lislehre gefunden, die in der 13. Vorlesung, nach Ab¬ 
handlung der Rückenmarkssyphilis, eingehend darge¬ 
stellt wird. N. bekennt sich zur Lehre von Fournier 
und Erb, sieht in der Syphilis das wichtigste ätiolo¬ 
gische Moment der Tabes, giebt aber zu, dass wir 
über Art und Weise des Zusammenhangs nichts 
sicheres wissen. Strümpells Theorie eines postsyphi¬ 
litischen Toxins ist ihm am wahrscheinlichsten, wäh¬ 
rend er nicht so weit wie Möbius gehen möchte, der 
Lues für die Conditio sine qua non der Tabes hält. 
Die nächsten Kapitel widmen sich den cerebrospinalen 
Formen der Syphilis, der der peripheren Nerven und 
der hereditären Syphilis. Die Therapie findet in der 
Schlussvorlesung ihre Besprechung. Das ganze Buch 
steht unter dem Eindruck reichster Erfahrung des 
Verfassers, wofür besonders die trefflichen Kranken¬ 
geschichtsbeispiele sprechen. Zugleich aber ist die 
einschlägige Litteratur mit einer erstaunlichen Voll¬ 
zähligkeit und Genauigkeit herangezogen. 42 schöne 
histologische Abbildungen erläutern den Text. Aus 
dieser kurzen Besprechung ergiebt sich die selbstver¬ 
ständliche Folgerung, dass das Buch bestens empfohlen 
werden muss. Weygandt- Würzburg. 


Den anliegenden Prospect der Thüringi¬ 
schen Verlags-Anstalt Eisenach und Leipzig, 
über die „ Politisch - An thropol og ische Revue“ 
halten wir zur Beachtung empfohlen. 


Kür den reductioncllen Tlieil verantwortlich: Oberarzt l)r. J . liresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Kracheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Halle a. S 

Hcvnemann’sche Kuchdrucke.ro» (Gebr. WoifT) in Halle a S. 


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Gck gle 


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Congress-Nummer, 


Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice »Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien|. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : M a r h o I d V e r 1 ag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

~ Nr.~ 227 30. August. 1902. 

Die Psy c h i a t ri sch - N cur olo g i sc he Wochenschrift erscheint jed-n Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt F.rmüssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Uberarzt Dr. Job. Bresler, Kraschnitz Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zum Anlwerpener Congress (S. 249). — Die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil-und Pllegeanstalt in Mauer- 
Oehling (S. 25t). — Mittheilungen (S. 260). — Referate (S. 264). — Bibliographie (S. 264). — Personalnachrichten (S. 264). 


Zum Antwerpener Congress. 

nser Gruss gilt heute der 
nach Hunderten zählen¬ 
den Vereinigung von Menschen¬ 
freunden, welche ein hilfreicher 
Sinn und ein edles Ziel zu ge¬ 
meinsamem Weik in Antwer¬ 
pen zusammen führt, unsere 
Wünsche eben diesem Werke, 
das zu den erhabensten, aber 
zugleich schwierigsten gehört, 
der Arbeit an der kranken 
Seele. 

Ein erhabenes Werk: Frei¬ 
lich sehen die meisten Menschen 
in der kranken Seele noch immer 
nur die Carricatur, und die Ar¬ 
beit an ihr erscheint ihnen ge- 
ringwerthig. Aber es beginnt 
schon der Morgen des Tages 
zu grauen, an dem die Psychi¬ 
atrie, die Seelenheilkunde und 
die ärztliche Seelsorge, die Krone 

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der ärztlichen Wissenschaften 
sein und der Seelenarzt da 
arbeiten wird, wo heule Mangel 
an Verständnis oder metaphy- 
sisch-theosophische Trugbilder 
den Leidenden von dem rich¬ 
tigen Weg zur Heilung abhalten, 
— der Tag, an dem die Sorge 
für das kranke Gehirn, als das 
Organ der Seele, eine der ersten 
Aufgaben des Staates sein wird. 

Ein sch wieriges Werk : Frei¬ 
lich nicht für diejenigen, welche 
sich in der Wissenschaft, gegen¬ 
über den Irrthümem mit einem 
senilen „Ignorabimus“ zu trösten, 
in der Praxis, gegenüber Mängeln* 
mit einem bequemen Schweigen 
Anderen sich bequem zu machen 
vorziehen. 

Es liegt in der Natur der 
seelischen Störungen, dass der 

Original fram 

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250 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 




Schwerpunkt der praktischen Thätigkeit des Seelen¬ 
arztes, abgesehen von der Heilung, da zu suchen ist, 
wo es sich um die Freiheit des kranken Individuums 
handelt, und es ist ein besonderes Verdienst des 
Congresses, zur gemeinsamen Durchberathung der 
Familienpflege, d. i. einer scheinbar ganz speziellen, 
aber dennoch für das ganze Irrenwesen bedeutungs¬ 


vollen Detailfrage, die berufensten Vertreter der letz¬ 
teren veranlasst zu haben, und ein besonders glück¬ 
licher -.Gedanke, dieselben nach einem Lande zu 
führen , das uns diesen Zweig der Irrenpflege 
am glänzendsten ent¬ 
wickelt zeigt. Ange¬ 
sichts der Leistungen 
der belgischen Fami¬ 
lienpflege in Gheel 
und Lierneux müssen 
die Ausflüchte, durch 
die man hier und da, 
trotz der Gunst ört¬ 
licher und socialer 
Verhältnisse, der Ein¬ 
führung diesesSvstems 
ausweicht, als recht 
thörichte gelten. 

Es möge hier dar¬ 
auf besonders hinge¬ 
wiesen werden, dass 
die Begünstigung 
dieses Systems, innerhalb zulässiger Grenzen, dem 
eigensten Interesse des irrenärztlichen Standes ent¬ 
spricht. Je mehr wir die Unterbringung und Ver¬ 
pflegung der seelisch Kranken nach der freiheitlichen 
Seite ausbauen, desto mehr entziehen wir dem immer 
wieder auftauchenden Vorurtheil von der Einsperrung 


Gesunder ins Irrenhaus den Boden, desto mehr tragen 
wir zur Verminderung der „Furcht vor dem Irrenhause“, 
d. h. der Furcht vor unserer Arbeitsstätte, bei. Ohne 
dass wir es merken, wirkt diese „Furcht“ auf unser 
Gemütli wie eine alpartige Depression zurück, unter 
der wir schon ganz zu empfinden verlernt haben, welche 
Weihe die Arbeit an der kranken Seele 

unserem Beruf verleiht, 
welch’ heil’ger Schauer 
durch die Räume weht, 
wo Hunderte und 
Tausende des Augen¬ 
blickes harren, wenn 
der Freude schöner 
Götterfunke noch ein¬ 
mal erwärmend und er¬ 
leuchtend sich in ihrer 
Seele niederlasse — 
leider so oft vergeblich. 
Möchten doch die An¬ 
stalten bald aufhören, 
zur vorzugsweisen Be¬ 
wahrung trostloser 
Seelentrümmer ver¬ 
dammt zu sein, möchten sie wirkliche Zufluchtsorte 
werden nicht nur für die, welche vom Irrsinn befallen, 
sondern noch mehr für die, welche von ihm be¬ 
droht sind, — Asyle, in denen die gesundheitlich 


Gheel. Central-Anstalt. 

Gefährdeten gegen die genommenen oder erlittenen 
Schäden ihrer Seele, d. h. ihres Gehirns und ihrer 
Nerven, vertrauensvoll Rath und Schutz des Arztes 
suchen. — 

Als ein erfreuliches Zeichen betrachten wir die 
Theilnahme einer so grossen Reihe bewährter und be- 


Gheel. Badehaus in einem kleinen Dorfe. 


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1902.] 


rühmter Juristen an dem Congress; wir dürfen darin 
einen Beweis erblicken, dass unsere Anregungen und 
unsere Thätigkeit gerade von denen aufs Beste ge¬ 
würdigt werden, mit welchen wir unsere Arbeit an 
den kranken Seelen so oft gemeinsam verrichten und 
auf deren Urtheil wir so grossen Werth legen. — 

So wollen wir hoffen, dass der Antwerpener Con¬ 
gress — der erste seiner Art — für den Fortschritt 
der Irrenpflege recht reiche Früchte tragen, dass die 
Besucher der Versammlung insbesondere zur Einfüh¬ 
rung der Familienpflege in ihrem heimathlichenWirkungs¬ 
kreis lebhaften Antrieb mitnehmen möchten. Aber 
für die belgischen Gastgeber wird sicherlich aus den 
Diskussionen gleichfalls manches Erspriessliche er¬ 
wachsen. Es ist bekannt, dass gerade in Belgien 
trotz der Höhe seiner Cultur das Anstaltswesen, 
der Kern der Irrenfürsorge, — im Gegensatz zu der 
wohl organisierten Familien pflege — noch sehr viel 
zu wünschen übrig lässt, dass der grösste Theil der 
öffentlichen Fürsorge für die Seelenkranken, für 
die Epileptischen und Idioten privaten Unterneh¬ 
mungen überlassen ist und dass es an staatlichen 


251 


Normalanstalten für Gehimkranke noch sehr 
inangelt, d. h. an Anstalten, die unter der verant¬ 
wortlichen örtlichen Verwaltung und Leitung eines 
sachverständigen beamteten Arztes als Directors stehen, 
die mit ausreichendem Aerzte- und Pflegepersonal 
versehen und in der Lage sind, den Kranken die 
Segnungen der Hygiene für Körper und Geist in 
ungekürztem Masse zu theil werden zu lassen. Der 
Congress wird Gelegenheit bieten, auch nach dieser 
Richtung aufklärend und fördernd zu wirken. 

Wenn die deutsche, österreichische, schweizerische 
und ungarische Irrenpflege, dank der verständnis¬ 
vollen Directive der Regierungen und Verwaltungen, 
sich fast ausnahmslos solcher Normalanstalten, 
darunter musterhafter, rühmen darf, so wird man, 
falls der nächste Congress in einem dieser Länder 
tagt, in der glücklichen Lage sein, das jetzt in Gheel 
und Liemeux Gesehene und Gelernte zu vergelten 
durch gastfreundschaftliche Mittheilung dessen, was 
jene Anstalten Nachahmenswerthes und Vollkomme¬ 
nes bieten. 

Dr. Br es ler. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling. 

(Aus der vom n.-ö. Landesausschusse herausgegebenen Festschrift.) 


^er beiliegende Lageplan zeigt, liegt die 
* * Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil- und Pflege¬ 
anstalt in Mauer-Oehling an der die Dörfer Oehling 
und Mauer mit Ulmerfeld verbindenden Bezirks¬ 
strasse in der Katastralgemeinde Mauer. 

Gerade am Knie dieser Strasse befindet sich der 
Haupteingang zur Anstalt; derselbe führt zu dem 

D irectionsgebäude 

(Object 21), welches rechts und links von dem mit 
einer allegorischen Darstellung der Charitas ge¬ 
schmückten Thorflur die Kanzleien der Direction 
und der Verwaltung, das ärztliche Untersuchungs¬ 
zimmer für ambulatorische Behandlung Auswärtiger, 
die Apotheke, das Laboratorium und die Telephon¬ 
centrale enthält. 

Der erste und zw'eitc Stock bergen Wohnungen 
für Aerzte und Beamte, während sich im Dachge- 
geschosse die weitläufigen Magazine und zu den Woh¬ 
nungen gehörige Dachbodenräume befinden. 

Das Directionsgebäude zeigt, wie alle anderen 
Baulichkeiten der Anstalt, modernen Stil und trägt 
ein flaches Holzcementdach; dessen Fa<;ade ist theil- 

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w'eise in Verputz, theilweise in Rohziegelbau gehalten. 
Rechts und links von demselben stehen die 

Wohnhäuser für Aerzte 
(Objecte 22 und 23), welche die Wohnungen des 
Directors und Verwalters, verschiedener Aerzte und 
Beamten und die Commissionszimmer enthalten. 

Vom Directionsgebäude aus erstreckt sich die 
weitere Anlage der Krankenpavillons und Administra¬ 
tionsgebäude von Westen gegen Osten. Zwischen 
den einzelnen, durch breite Kieswege miteinander 
verbundenen Baulichkeiten erheben sich hochstämmige 
Fichten und Föhrengruppen. Im mächtigen Vierecke 
schliessen sich zunächst an das Directionsgebäude 
vier langgestreckte 

Kranken pavillons 

(Objecte 1, 2, 3, 4) für je 100 Kranke, und zw'ar die 
nördlichen für Männer, die südlichen für Frauen (wie 
bei allen folgenden Krankenhäusern). 

Diese dienen — und hier beginnt die Individuali- 
sirung — zur Unterbringung von streng zu über¬ 
wachenden Geisteskranken. Sie verfügen über voll¬ 
kommen ausbruchsichere Localitäten mit eingelassenen 
Eisenrahmenfenstern und über Einzelzimmer mit 

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252 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 

Fenstern aus fast unzerbrechlichem Glase, da sie den gestellten Waschmulden für die Patienten befinden, 
ersten Aufenthaltsort der eintreffenden Kranken bilden vier Einzelzimmer und die Aborte. Für je zwei Ab- 
und demgemäss eine scharfe Ueberwachung und theilungen sind zwischen denselben zum gemeinschaft¬ 
sichere Verwahrung verbürgen müssen. Jeder dieser liehen Gebrauche eingebaut: ein Badezimmer, Spül- 
Pavillons gliedert sich in vier Abtheilungen (zwei im ktiche, Putzraum und Pflegerzimmer. 

Erdgeschoss und zwei im ersten Stock), deren jede An den beiden Seitenfronten dieser Pavillons 

Unterkunftsräume für 25 Kranke enthält, und zwar führt je eine der Benützung der Pfleglinge streng ent¬ 
einen Tagraum, zwei Schlafzimmer, einen Wachsaal, zogene Thüre ins Freie; diese Thüren haben den 
einen Schallgang, in dem sich die aus Terrazzo her- Zweck, den Eintritt neuer Pfleglinge und das Abtragen 



Wirtschaftshof 


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Pfleyerdorf 


LAGEPLAN 

der Kaiser Franz Joseph 
Landes-Heil-u. Pflegeanstalt 
in Mauep-Öhling. 

v 1:7500. 


Erklärung: 1 bis 16 Krankenhäuser (mit ungeraden Nummern für Männer, mit geraden Nummern für Frauen), und zwar: 
I» 2, 3, 4 für je 100 streng zu überwachende Geisteskranke; 5 und 6 für je 50 theilweise zu überwachende Geisteskranke; 
7 und 8 für je 50 theilweise zu überwachende Geisteskranke besserer Stände; 9 bis 16 für je 50 beschäftigungsfähige Geistes¬ 
kranke (Colonie). — 17 Wirthschaftshof: am Urlweg das Wohnhaus, davon nördlich das Gebäude für Rinder- und Pferde¬ 
stallungen, Remisen, Schlächterei, Wursterei und Molkerei; davon südlich das Gebäude für die Schweinestallungen und östlich 
Brückenwage, Hühnerstall und Wagenschuppen. — 18 Infectionskrankenhaus mit zugehöriger Desinfectionssenkgrube 18 a. — 
19 Lazareth. — 20 Leichenhaus und Anstaltsfriedhof. — 21 Dircctionsgebäude: im Erdgeschoss Amtsräume, in den anderen 
Geschossen Wohnungen und Magazine. — 22, 23 Wohnhäuser für Aerzte und Beamte. — 24 Kapelle und Gesellschaftshaus. 
— 25 Wohnhaus der Ordensschwestern. — 26 Küche, Wäscherei, Bäckerei etc. — 27 Eishaus und Fleischausgabe. — 28 Kessel¬ 
haus, Desinfectionsanlage und Bäder. — 29 Werkstättenhaus. — 30 Kläranlage zur Reinigung der Fäcal- und Abwässer. — 
31 Kohlenhof. — 32 Frachtenmagazin. — 33 Wohnhaus des Gärtners. — 34 Gewächshaus. — 35 k. k. Post- und Telegraphen¬ 
amt. — 36 Waschhaus für die Anstaltsfunctionäre. — 37, 38, 39, 40 Pflegerhäuser. 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


253 


der Verstorbenen ohne Kenntniss der Patienten zu 
ermöglichen. 

Ausser diesen Ubicationen enthält das erste Stock¬ 
werk dieser Pavillons ein Aerztezimmer und eine 
Telephonkammer; in den Mansarden sind Wohn- 
räume für die Tractpfleger-Ehepaare, Erholungsräume 
(zugleich Schulzimmer) für das Pflegepersonal und 
Depots untergebracht. 

Um selbst diesen zu überwachenden Geisteskranken 
den Aufenthalt im Freien zu gestatten, führen Thüren 
aus den Erdgeschossen über Veranden in Gärten, 
welche durch unübersteigbare, kaum das Anstalts¬ 
terrain überragende, in einem sanft geböschten Graben 
stehende Mauern abgeschlossen sind. Die Mauern 
sind derart angelegt, dass dieselben den Ausblick der 
Kranken nicht im Geringsten beirren und vom gröss¬ 
ten Theil derselben kaum als Entweichungshinder¬ 
nisse zu erkennen sind. Aber auch in den ersten 
Stockwerken dieser Pavillons sind die Tagräume der 
Abtheilungen mit Veranden verbunden, deren feines, 
jedoch starkes Gittergeflecht den Patienten selbst in 
Stockhöhe ein sicheres Verweilen gestattet. 

Sämmtliche Räume dieser, wie aller anderen Pa¬ 
villons erhielten an den Wänden einen ungefähr 
1,5 m hohen, hellgrünen Emailanstrich, welcher gegen 
den Plafond hin mit breiten, lichte Blumenmalerei 
zeigenden Bändern abschliesst; die Übrigen Theile 
der Wände sind, so wie die Plafonds, hell gefärbt. 

In den Pavillons 1 und 2 ist je eine Abtheilung 
für Pensionäre bestimmt und mit Brettelböden belegt, 
während die übrigen Abtheilungen, ebenso wie alle 
anderen Ubicationen der Anstalt mit Ausnahme der 
Pensionärpavillons leicht zu reinigende, weil waschbare 
Terrazzoböden zeigen. 

Die Pavillons 3 und 4 sind hauptsächlich für 
Epileptiker eingerichtet und weichen im Interesse der 
Kranken von der Alltäglichkeit dadurch ab, dass von 
ihren Erdgeschossen in die ersten Stockwerke nicht 
Stiegen, sondern mit Linoleumteppichen belegte und 
zu beiden Seiten mit glatten Geländern versehene 
Steigebenen führen, eine Einrichtung, durch welche 
die Folgen eines Sturzes der Kranken bei plötzlich 
auftretenden Krampfanfällen erheblich vermindert 
werden. Die Einrichtung dieses Pavillons ist gleich¬ 
falls im modernen Stile ausgeführt, der Anstrich ist 
in den Pavillons 1 und 2 grün Eiche, Pavillon 3 und 
4 matt Nuss. 

Die Einrichtung ist durchaus keine rohe oder purita- 
risch einfache; sie nimmt hauptsächlich darauf Bedacht, 
den eigentlichen Zweck dieser Räume für deren Bewoh¬ 
ner vergessen zu machen und auf letztere einen freund¬ 
lichen und beruhigenden Eindruck hervorzubringen. 

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Es finden sich in den Pavillons demnach nicht nur die 
nothwendigen Gebrauchsmöbel, wie Bänke, Speisetische, 
Kastentische und Medikamentenkästen (in den Wach¬ 
sälen) und nächst den Vollbetten auch niedere, nach 
englischen Vorbildern hergestellte Epileptikerbetten (auf 
Pavillon 3 und 4), sondern auch Zier- und Blumentische, 
Decorationsdivans, Zierkästen, Spiel- und Schreibtische, 
Fauteuils, Credenzen, Ottomanen, Trumeaux, Bücher¬ 
kästen und Blumenständer vertheilt vor, während die 
Wände mit Spiegeln und Bildern geschmückt sind. 
Ausserdem gehören zum Inventar der Pavillons auch 
Billards, Claviere, Domino-, Schach-, Damen- und 
sonstige Gesellschaftsspiele. 

Teppiche aus Cocosfaser oder Linoleum laufen 
über die Terrazzo- oder Brettelböden und Vorhänge, 
in deren Stoffe Blumenmuster gewebt sind, verhüllen 
zum Theile die hohen Fenster, um das allzu grelle 
Licht abzuhalten. 

Im Keller eines jeden dieser vier Hauptpavillons 
befinden sich die Kessel und Heizkammem der Dampf¬ 
niederdruck-Centralheizung, von welcher aus jeder Raum 
des Pavillons nach Bedarf zu erwärmen ist. Da die 
Bedienung zweier Kesselanlagen aus Ersparungsrück¬ 
sichten ein Heizer zu besorgen hat, sind je zwei dieser 
Pavillons durch einen unterirdischen Gang verbunden, 
in dessen Mitte eine Kohleneinwurfsöffnung angebracht ist. 
Endlich enthält ein jeder Keller nächst Kohlen- und 
anderen Depots auch einen Raum zur Aufbewahrung 
der gebrauchten Wäsche, welche durch Schläuche von 
den Abtheilungen direct in denselben befördert wird. 

An diese vier Krankenhäuser für je 100 Kranke 
reihen sich gegen Osten vier sogenannte 

Zwischenpavillons 

(die Objecte 5, 6, 7, 8) mit einem Belegraume für je 
50 Betten, u. zw. wieder die zwei nördlich gelegenen 
für Männer, die zwei südlich gelegenen für Frauen. 

Hat sich nämlich nach angemessener Beobachtung 
in einem der Hauptpavillons erwiesen, dass ein Kranker 
der ganz strengen Verwahrung nicht bedarf, so ge¬ 
langt er sozusagen aus dem Behandlungsstadium der 
Aufsicht in jenes der Vorsicht, d. h. er wird aus einem 
Haupt- in einen Zwischenpavillon übersetzt. Diese 
letzteren, in Stil und abwechslungsreicher Einrichtung 
den Hauptpavillons gleich, zeigen bereits offene nur 
mit Drahtgeflecht und Hecken umzäunte Gärten, aber 
noch vergitterte Veranden im ersten Stockwerke. Die 
Thüren, Fenster, Verschalungen und Möbel der Pa¬ 
villons 5 und 6 sind erbsengrün mit rosa Zierstrich, die 
der Pavillons 7 und 8 eichengrün gestrichen; ausser¬ 
dem die zwei letzteren als Pensionärpavillon einge¬ 
richtet und demgemäss reicher ausgestattet. Die Dampf- 


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254 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 


niederdruck-Centralheizung ist liier ebenso angelegt 
wie bei den Pavillons 1 bis 4. 

Die innere bauliche Anlage dieser Zwischenpavillons 
ist, von der der Hauptkrankenhäuser abweichend, eine 
unter sich völlig congruente. Links vom Eingänge be¬ 
findet sich in jedem derselben der Baderaum; ein breiter 
Gang, in dem die Terrazzo-Waschmulden für die Pfleg¬ 
linge angebracht sind, durchquert das ganze Erdgeschoss. 
In diesen Gang münden der Putzraum, die Spülküche, 
und ein kleiner Tagraum, welcher in einen grösseren 
führt. An diesen reihen sich zwei kleinere und ein 
grösseres Schlafzimmer, der Wachsaal, ein Pflegerzimmer, 
ein Raum für Schmutz Wäsche und zwei Separations¬ 
zimmer, deren Vorhandensein auch in diesen Pavillons 
noch in Betracht gezogen werden muss. Von den 
Tagräumen gelangt der Kranke direct in den Garten. 

Das erste Stockwerk ist in dieselben Räume ge¬ 
gliedert wie das Erdgeschoss. Der zweite Stock der 
Mittelbauten enthält je eine Tractpflegerwohnung und 
Depots. 

Wird der Geisteskranke in diesen Zwischenpavillons 
auch noch ernst überwacht, so ist seiner Freiheit doch 
bereits ein grösserer Spielraum gewährt, der sich nament¬ 
lich in der Zuweisung verschiedener Beschäftigungen 
innerhalb der Pavillons und in Spaziergängen im Freien 
unter Aufsicht des Pflegepersonales, äussert Der Kranke, 
welcher sich auch bei dieser Behandlungsart bewährt 
hat, wird nun in die 

C o 1 o n i e 

übersetzt. Diese, welche aus zwei je im Geviert sowohl 
auf der Nord- wie auf der Südseite an die Zwischen¬ 
pavillons gereihten Gruppen (nämlich den Objecten 9,11, 
13, 15 für Männer und 10, 12, 14, 16 für Frauen) 
besteht, zeigt einfache Landhäuser, in welchen das aus 
Engländ gekommene „open door“-System, d. h. das 
System der offenen Thüren, seine volle Anwendung 
findet. Fenster und Thüren entbehren jeder Ver¬ 
sicherung, sie stehen offen, so dass dem Kranken hier 
die Freiheit in fast vollem Ausmasse gewährt wird. 

Was zunächst die (auch für diese acht Häuser 
unter sich vollständig gleiche) bauliche Anlage dieser 
Coloniepavillons anbelangt, so weicht dieselbe von 
allen früheren dadurch ab, dass in dem Erdgeschosse 
eines solchen Pavillons (ausser dem Vorraum, der 
Spülküche, dem Putzraum, zwei Zimmern, dem Depot 
und den Aborten) nur die drei Tagräume, im ersten 
Stockwerke (ausser dem Vorraum, Depot, Bad und 
Aborten) nur die vier Schlafsäle untergebracht, 
also Wach- und Schlafräume vollständig getrennt sind. 
Nächst den aufgezählten Gebrauchsräumen sind an 

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den beiden Längsseiten eines jeden Pavillons Veranden 
angebracht. 

Der Anstrich der Thüren, Fensterverschalungen 
und Möbel ist für die Pavillons 9 und 15 licht Fichte 
(amerikanisch Nuss), für 10 und 13, welche als 
Pensionärpavillons eingerichtet sind, grün Eiche, für 
14 und 15, deren Einrichtungsstücke im Gegensätze 
zu jenen aller anderen Bauernstil aufweisen, roth 
Nuss und für 11 und 12 erbsengrün mit rosa Zier¬ 
strich ; das Meublement gleicht in seiner Abwechslung 
dem der früher erwähnten Pavillons, nur werden in 
der Colonie Stabbetten an Stelle der Vollbetten ver¬ 
wendet. Wie erwähnt, veiräth nichts in der Colonie 
deren Bestimmung als Krankenasyl; im Gegentheile 
wird der Colonist als der Arbeiter der Anstalt be¬ 
trachtet und behandelt. 

Da die Arbeit eines der wichtigsten Heilmittel des 
kranken Seelenlebens bildet, kommt die Anstalt einer 
Hauptpflicht nach, wenn sie für abwechslungsreiche, 
zerstreuende und ununterbrochene Beschäftigung der 
in der Colonie untergebrachten Pfleglinge sorgt, um¬ 
somehr, als die letztere das Uebeigangsstadium zur 
Familienpflege bildet, durch welche der Kranke der 
eigentlichen Anstaltspflege entwachsen soll. Uebrigens 
ist jeder Zwang zur Arbeit ausgeschlossen; wohl aber 
verlangt der weitaus grösste Theil der hier unterge¬ 
brachten Kranken, angeregt durch das Beispiel anderer, 
durch liebevolles Zureden und durch jenen Schaffens¬ 
drang, der selbst die kranke Seele nicht ganz ver¬ 
lässt, freiwillig nach Arbeit. Und diese findet er in 
der Colonie in Hülle und Fülle. Je nach dem Grade 
seiner Fähigkeit und der Bestimmung des Directors 
hilft der Pflegling beim Ordnen und Abräumen der 
Betten, beim Wechseln der Bettwäsche, bei der Ab¬ 
gabe der gebrauchten Wäsche in die Dampf Wäscherei, 
bei Uebemahme der gereinigten und der Wäsche¬ 
reinigung selbst. Er nimmt theil an dem Ueberführen 
der Speisen von der Küche auf die Abtheilungen, an 
der Reinigung der Geschirre, Bestecke, der Kleidung, 
der Zimmer, der Gänge und Wege und lässt sich zu 
den verschiedensten Handarbeiten in der Küche (Ge¬ 
müseputzen, Trankverführen, Auskehren, Aufräumen, 
Abw'aschen u. s. w.) verwenden; er greift thätig ein bei 
der Anlage von Strassen und bei der Instandhaltung 
des Waldes, sammelt Bruchholz, karrt dasselbe zu den 
Lagerplätzen, zerfällt und schlichtet es mit grosser Ge¬ 
wissenhaftigkeit. Er arbeitet bei der Blumenzucht, 
den Humusgruben, im Treibhause, beim Gemüsebau 
und bei der Feldwirtschaft, in der Bäckerei, Wursterei, 
Fleischerei und Meierei der Anstalt; er füttert Pferde, 
Ochsen, Kühe, Schw ? eine und Hühner und hält deren 
Ställe in Ordnung. Er ist endlich in den verschiedenen 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 255 


Werkstätten thätig, in den Nähstuben, der Schneiderei, 
Schusterei, Druckerei, Korbflechterei und Buchbinderei, 
Spenglerei, Tischlerei, Schlosserei, bei den Maurern, 
Zimmerleuten, Schmieden, Anstreichern, den Laubsäge¬ 
arbeiten, ja selbst bei den Maschinen — kurz er ist 
wieder ein schaffendes Mitglied der menschlichen Ge¬ 
sellschaft, ein, wenn auch winziges Rädchen in der 
ungeheuren Maschine des Staatsgetriebes geworden, 
und dieses Gefühl schafft ihm Freude und Lust an 
Arbeit und Dasein und glimmt in ihm den erloschen 
gewesenen Funken des Begriffes der Menschenwürde 
und des Menschenrechtes — also klaren Selbstbewusst¬ 
seins von neuem an. 

Geeignete Pfleglinge erhalten übrigens nach der 
Bestimmung des Directors auch Unterricht in den 
verschiedenen Fächern, durch dessen Erfolg ihnen 
später eine selbständige Stellung gesichert werden soll. 
Wie sich von selbst versteht, ist der Geisteskranke 
bei seiner Beschäftigung keine Secunde ohne Aufsicht. 
Genau individualisirend weist ihm der Director die 
Art der Arbeit zu, und ununterbrochen wacht das 
sorgsame Auge des diensthabenden Arztes und die 
durch strenge Vorschriften geschärfte Aufmerksamkeit 
des Pflegepersonales allüberall über seine und seiner 
Umgebung Sicherheit. 

Eine specielle tarifmässige Entlohnung der Arbeits¬ 
leistung findet nicht statt, da die Beschäftigung eben 
nur als Mittel zum Zwecke der Heilung gilt; doch 
bewerthet und bezahlt die Anstalt jede Ar¬ 
beitsleistung eines Pfleglings, und werden die er¬ 
mittelten Beträge über Anweisung des Directors in 
eine besondere Kranken-Verdienstkasse hinterlegt, 
welche zur Anschaffung eigener Kleider für den Pfleg¬ 
ling, zur Bestreitung von Ausflügen und anderen be¬ 
sonderen Zerstreuungen desselben, zur Unterstützung 
seiner hilfsbedürftigen Verwandten und last not least 
zur Verabfolgung an ihn selbst als Viaticum bei seiner 
Entlassung nach erfolgter Heilung vom Director in 
Anspruch genommen werden kann. Als Belohnung 
für geleistete Arbeit wird auch Tabak verschrieben. 
Im Interesse der Gesundheit der Pfleglinge findet die 
Morgenvisite statt, bevor dieselben an ihre Beschäf¬ 
tigung gehen. 

Wie bei den Pfleglingen in den anderen Kranken¬ 
häusern, verlangt die Hausordnung namentlich in der 
Colonie strenge Reinlichkeit und Körperpflege. Zu 
diesem Zwecke sind Waschtuch, Kamm, Zahn- und 
Kopfbürsten, Seife und Seifengeist jedem einzelnen 
Pflegling von der Anstalt beigestellt. Der arbeitende 
Kranke ist verhalten, vor der Nachtruhe ein Fuss- 
oder Vollbad zu nehmen, seine Arbeitskleider an den 
in den Bädern angebrachten Kleiderrechen zu ver- 

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wahren und dort seine Nachtwäsche anzulegen; erst 
dann darf er sich in die Schlafräume begeben und 
sein Bett aufsuchen. Alle Patienten verlassen im 
Sommer um 5, im Winter um 6 Uhr früh das Ruhe¬ 
lager, wenn der Arzt nicht eine andere Verfügung 
trifft. Sommer- und Winterkleider, bei deren Stoff 
und Schnitt jede Spitalmässigkeit vermieden erscheint, 
wechseln die Colonisten ebenso wie alle übrigen Pfleg¬ 
linge nach der Forderung der Witterung über An¬ 
ordnung des Directors. Die Kleidung der arbeitenden 
Kranken nimmt zuvörderst auf den Schutz der Ge¬ 
sundheit derselben Rücksicht und ist auch der Art 
der Arbeit genau angepasst. Der Wechsel der Leib¬ 
wäsche der Patienten findet der Reinlichkeit ent¬ 
sprechend möglichst häufig statt und steht unter be¬ 
ständiger Controlle. 

Der Gang, welchen der Geisteskranke bisher ge¬ 
nommen, entspricht der Bestimmung der Anstalt als 
Heilanstalt. Vorerst die Sicherung des Patienten und 
seiner Umgebung durch strenge Verwahrung in den 
Pavillons 1 bis 4, dann die Beobachtung desselben 
im Vorsichtsstadium der Zwischenpavillons 5 bis 8, 
hernach dessen nahezu freie Behandlung in der Co¬ 
lonie; die freie Verpflegsform der letzteren erfährt 
übrigens noch eine Steigerung in der Unterkunft des 
Kranken im Pflegerdorfe und endlich in dem Auf¬ 
enthalte desselben bei Privatparteien, welche Verpflegs- 
arten später besprochen werden, da sie ausserhalb 
der Anstalt erfolgen. 

Auf dem die nördlichen und südlichen Pavillon¬ 
reihen trennenden Mittelweg der Anstalt liegt un¬ 
gefähr in der Mitte zwischen Directions- und Küchen¬ 
gebäude 

die Kapelle und das Gesellschafts haus 

(Object 24). Ueber dem mit gemaltem Glase ver¬ 
kleideten Portale dieses im modernen Stil gehaltenen 
Gebäudes ist ein Phantasiekopf mit Flügeln und 
Blumen als allegorische Darstellung der menschlichen 
Sinne gemeisselt, welcher von den Initialen F J I, an 
deren Seiten sich die Jahreszahlen 1848—1898 reihen, 
und der Kaiserkrone überragt wird. 

Im Vorflur blickt dem Eintretenden die Büste 
unseres Kaisers entgegen. Zu beiden Seiten des 
Vorflurs sind Garderoben für Männer und Frauen 
angebracht. Derselbe führt in den 240 m 2 grossen 
Gesellschaftssaal, dessen Decke reiche Gypsstuckarbeit 
aufweist. Dieser Gesellschaftssaal ist mit den ent¬ 
sprechenden Einrichtungen für eine Bühne, deren 
Bestandtheile in einer Versenkung untergebracht sind, 
ausgestattet; rechts und links liegen Nebenräume, die 
Restaurationszwecken dienen. 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY . 



256 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 


Der Saal ist durch eine Rollbalkenwand von der 
anstossenden Kapelle getrennt. Bei grossem Gottes¬ 
dienst wird diese Wand entfernt, so dass Saal und 
Kapelle bei solchen Anlässen einen Raum bilden. 

Die Kapelle, von einem schlanken Thürmchen 
überragt, enthält ein Altargemälde von Hans Tichy, 
darstellend die Heiligen Franciscus Xav. und Josephus 
zu beiden Seiten der Mutter Gottes, welcher die 
heilige Elisabeth Rosen streut und der heilige Leopold 
mit der Kirche huldigt. Die Anstaltskapelle steht 
jedem Pfleglinge, welcher den Drang in sich fühlt, 
religiöse Bedürfnisse zu befriedigen, zu jeder Zeit 
offen. Der Gesellschaftssaal aber vereinigt in Anbe¬ 
tracht der Thatsache, dass Zerstreuung und Ablenkung 
den Process der Heilung der Kranken in günstigster 
Weise beeinflussen, letztere möglichst häufig zu Con- 
certen, Tanzunterhaltungen, Theatervorstellungen, Pro- 
ductionen von Taschenspielern etc.; bei solchen Ge¬ 
legenheiten wird die gewöhnliche Schlafstunde (9 Uhr) 
auf 11 Uhr, nachts verschoben. 

Aber auch sonst stehen dem Pfleglinge, dessen 
Thätigkeitsdrang noch nicht erwacht ist oder dessen 
Zustand ihm momentan die Lust zur Arbeit ver¬ 
leidet, Zerstreuungen in reicher Auswahl zu Gebote. 
Es bleibt ihm, vorausgesetzt, dass der Grad seiner 
Erkrankung dies gestattet, unbenommen, sich auf den 
speciell hiezu angelegten Kegelbahnen, Lawn-tennis- 
oder Turnplätzen zu vergnügen, in den mit reichen 
Blumenanlagen geschmückten, um die PaviHons ge¬ 
legenen Gärten oder in dem 50 ha grossen Anstalts¬ 
walde zu ergehen, aus der reichhaltigen Anstalts¬ 
bibliothek, im Billard-, Schach-, Damen-, Domino- 
und sonstigen Gesellschaftsspielen oder in der Be¬ 
nützung der verschiedenartigsten ihm zur Verfügung 
stehenden Musikinstrumente, die er beherrscht, Zer¬ 
streuung zu suchen oder die Besuche seiner Ver¬ 
wandten und Freunde zu empfangen, denen kein 
Hinderniss in den Weg gelegt wird, wenn sie nicht 
auf den Besuchten selbst nachtheilig wirken. 

Dem Zwecke der Anstalt entsprechend wurde 
besondere Sorgfalt dem Baue und der Ausstattung 
der 

Küche und Wäscherei 
(Object 26) zugewendet Diese beiden Wirthschafts- 
ubicationen sind in einem Gebäude vereinigt, »welches 
am östlichen Ende des Mittelweges der Anstalt ge¬ 
legen ist. 

Die Küche, in welcher die Kost für ca. 1250 
Personen gekocht wird, ist durchgreifend ventilirt, für 
Dampf- und elektrischen Betrieb eingerichtet und 
durch seitliche Hochfenster beleuchtet Der eigent¬ 
liche Kochraum enthält sechs grosse Wasserbad- 

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Kochkessel ä 300 1 , drei kleinere ä 150 1 , zwei 
grosse Maschinen-Küchenherde, einen kleineren und 
einen Kaffeekocher, einen Kartoffeldämpfer und zwei 
Wärmeschränke. Alle Kochgefässe bestehen aus rei¬ 
nem Nickelmetall. 

In dem anstossenden, für die Mehlspeiseherstellung 
bestimmten Raume sind verschiedene Kochhilfsma¬ 
schinen aufgestellt, welche gleichfalls elektrisch be¬ 
trieben werden. 

Als Neben räume der Küche schliessen sich letz¬ 
terer im Erdgeschosse an: ein Handmagazin, ein 
Raum für Fleischabgabe mit Fleischaufzug, der mit 
der Eisgrube verbunden ist, ein Gemüseputzraum, 
welcher grosse Betonbottiche enthält, je ein Vorraum 
links und rechts zur Speisenabgabe an Männer und 
Frauen und ein Raum zur Abgabe von Sodawasser, 
die drei letzteren mit nach aussen führenden Schal¬ 
tern; ferner ein Speise- und ein Schlafzimmer für 
weibliche, ein Speisezimmer für männliche Dienst¬ 
boten, eine Kanzlei für den Regiebeamten, zwei Re- 
fectorien für die Functionäre der Anstalt und Lage¬ 
rungsräume. Im Kellergeschosse des Küchengebäudes 
ist eine vollständig maschinell eingerichtete Bäckerei, 
deren Backofen auch zwei grössere von der Koch¬ 
küche benützbare Bratröhre enthält, eine Teigwaaren- 
bereitungs- und eine Sodawasser-Erzeugungsanlage ein¬ 
gestellt. 

Die Miichwirthschaft, Bäckerei, Fleischerei, Wurste¬ 
rei, der Feldbau und der Gartenbetrieb der Anstalt 
versorgen die Küche mit unverdorbenen, unver¬ 
fälschten und stets frischen Rohproducten und Victu- 
alien. 

Wenn die Speisestunde schlägt (je nach Sommer 
oder Winter zum Frühstück um ] / 2 7 oder 7 Uhr, 
zum zweiten Frühstück um 1 / a 10 Uhr, zum Mittag¬ 
mahl um 12 Uhr, zur Jause um 4 oder y 2 5 Uhr, 
zum Nachtmahl um 1 j 2 7 oder 7 Uhr abends), werden 
die Speisen, nachdem sie vorher der Beköstigungs¬ 
prüfung durch den Joiynalarzt und Joumalbeamten- 
unterzogen wurden, in der Küche von den Tract- 
pflegern der Abtheilungen in den voigeschriebenen, 
wärmehaltenden Geschirren auf die Speisewagen ver¬ 
laden, auf den Rollgeleisen durch die Anstalt geführt 
und an den einzelnen Pavillons dem bereits warten¬ 
den Pflegepersonale übergeben. In den Speisezimmern 
sind die Tische gedeckt. Der Tractpfleger nimmt die 
Vertheilung vor, und das Pflegepersonal verkleinert, 
wenn nöthig, die Speisen den Pfleglingen namentlich 
dort, wo Messer und Gabel nicht zulässig sind, und 
reicht auch jenen Patienten die Mahlzeit, welche 
nicht ohne Hülfe zu essen vermögen. Zur Vermin¬ 
derung der Gefahr für unvorsichtige oder unbeholfene 

Original fram 

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Die Kaiser Franz Joseph=Landes=Heil» und Pflegeanst 






























11 ,n flauer« Oehling. 


gl&n g überwachungsbedürftige Kranke. 


Original from 

HARVARD UNIVERSITY 
















igo2.j PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Pfleglinge werden neue Typen von Essbestecken, 
und zwar Messer mit abgerundeter, nur am äusser- 
sten Ende geschliffener Schneide und Gabeln mit 
sehr kurzen, stumpfen Zinken verwendet. 

Der Genuss geistiger Getränk e ist für 
jeden Pflegling ausnahmslos streng ver¬ 
pönt, wenn dieselben nicht als Arznei verschrieben 
w r erden. 

Den rechten Flügel des Küchengebäudes nimmt 
die Wäscherei ein. Die von den Tractpflegem 
abgegebenen, gebrauchten Wäschestücke gelangen zu¬ 
nächst in den vollständig terrazzirten Sonderungsraum, 
von diesem in die mit mächtigen Betonbehältern ver¬ 
sehenen Einweicheräume, hernach in den eigentlichen 
mit den modernsten maschinellen Einrichtungen, elek¬ 
trischem und Dampfbetrieb ausgestatteten Waschraum 
und werden hier mit Hilfe der Wasch trommeln, 
Schwemmbottiche und Wäscheschleudern der vorge¬ 
schriebenen Behandlung unterzogen. Die gereinigte 
Wäsche wird mittels Aufzuges in die das erste Stock¬ 
werk des Mittelbaues umfassenden Trockenräume be¬ 
fördert, in denen die Trocknung mittels Dampfheizung 
erfolgt, während zwei mächtige Propeller für eine 
lebhafte Luftabsaugung sorgen. Die trockene Wäsche 
wird hernach in die Roll- und Plättekammem, auf 
die Maschinrolle, bezw. Dampfmange und sodann zur 
Sortirung in die Nähstube gebracht Dort werden 
die nothwendigen Ausbesserungen vorgenommen, wo¬ 
rauf nun die wieder gebrauchsfähigen Wäschestücke 
in den hiezu bestimmten Wagen am Rollgeleise der 
Anstalt in die Pavillons überführt werden. Die meisten 
Arbeiten in Küche und Wäscherei werden durch 
Pfleglinge besorgt. 

In Verbindung mit der Anstaltsküche steht das 
Eishaus 

(Object 27), welches, aus Beton in den Erdboden ein¬ 
gebaut und mit Korkplatten isoliert, einen Fassungs¬ 
raum von 400 m 8 , zwei Kühlräume und einen eben¬ 
erdig über dasselbe aufgeführten Fleischausgaberaum 
enthält. In demselben sind 80 Waggon Eis eingelagert 

Die Aufsicht über alle Küchen- und alle Wasch¬ 
arbeiten wird durch Schwestern vom „heiligen Kreuze“ 
besorgt, welche im 

Wohnhaus e der Ordenssch Western 
(Object 25) ihre Unterkunft finden. Ein Relief über 
der Eingangsthür, darstellend die heilige Elisabeth als 
Schutzpatronin der Mildthätigkeit, zeigt die Gesichts¬ 
züge weiland Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth 
von Oesterreich. 

Das Haus selbst umfasst im Souterrain Wasch¬ 
küche und Bad, im Erdgeschoss die Küche, das Re- 

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fectorium, ein Bet-, ein Fremden-, ein Krankenzimmer 
und die Aborte und im ersten Stockwerke fünf Schlaf¬ 
räume für die Ordensschwestern, einen Depotraum 
und eine Veranda. Die Malerei der einzelnen Räume 
ist im modernen Stil gehalten. 

Unmittelbar hinter dem Küchengebäude und schon 
vom Anstaltswalde umgeben, erhebt sich das 

Dampf k esse 1h aus 

(Object 28). In diesem befinden sich im Erdgeschosse 
drei Flammenrohrkessel mit je 40 m 2 Heizfläche, 
welche die nothwendigen Mengen von Warmwasser 
und Dampf für Wäscherei, Anstaltsküche, Trocken¬ 
räume und Bad zu erzeugen haben; ferner das Central¬ 
bad mit einem Schwimmbade und Cabinenbädem 
(zur Benützung für die Aerzte, Beamten, Diener, das 
Pflegepersonal und die in Familienpflege untergebrach¬ 
ten Patienten); die in den Pavillons verpflegten 
Kranken nehmen ihre Körperreinigung in den Bade¬ 
anlagen der Pavillons selbst vor. 

Zwei Professionistenwohnungen im ersten Stock¬ 
werke und die zur Speisung der Bäder nothwendigen 
Wasserbehälter im Dachgeschosse ergänzen die Bau¬ 
anlage dieses für den Anstaltsbetrieb sehr wichtigen 
Objectes. In einen Nebenraum des * Kesselhauses 
mündet ein 20 m tiefer Brunnen V09 5 m Durchmesser 
zur Beschaffung des Nutzwassers. 

Anstossend an das Kesselhaus ist östlich die 

Desinfectionsanlage 
angeordnet, welche aus der Eingabe für die zu des- 
inficierenden Gegenstände, aus der Ausgabe für die 
desinfizierten Gegenstände und aus einem Badezimmer 
für den hier beschäftigten Diener besteht. 

Die Anlage der Trink Wasserleitung für die Anstalt 
wurde in der Darstellung der Bauführung des näheren 
erörtert 

Nördlich vom Maschinenhaus, am sogenannten 
Uri weg, liegt das 

Werk Stätten haus 

(Object 29), ein langgestrecktes Gebäude, das von 
einem in der Mitte durch eine kleine Rotunde unter¬ 
brochenen Kreuzgang durchquert ist, in welchen die 
Thüren von 8 grossen Arbeitssälen münden. In 
diesen sind hauptsächlich zum Zwecke der Beschäfti¬ 
gung der Geisteskranken, sei es, dass dieselben einen 
erlernten Beruf weiter üben, sei es, dass sie einen 
neuen erlernen wollen, verschiedene Werkstätten ein¬ 
gerichtet, und zwar: eine Laubsägerei, Buchbinderei, 
Matten- und Korbflechterei, Schneiderei, Schusterei, 
Druckerei, Anstreicherei und Tischlerei. Im Stock¬ 
werke dieses Gebäude befinden sich die Wohnungen 
für die Werkführer. 


Original frnm 

HARVARD UNIVERSUM 




25» PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 


Der in nördlicher Richtung vom Werkstättenhaus 
gelegene 

Wirth scha f tsh of 
(Object 17 — 17 e) besteht aus: 

1. einem Wohnhaus; dieses enthält in seinem 
Erdgeschosse ein Badezimmer, ein Speisezimmer für 
die hier untergebrachten nur zum landwirtschaftlichen 
Betriebe geeigneten Pfleglinge, das als Bauernstube 
eingerichtet ist, zwei Schlafräume für diese Pfleglinge 
und eine Spülküche; im ersten Stockwerke befinden 
sich zwei Wohnungen für Bedienstete und Schlaf¬ 
räume für Pfleglinge und Dienstboten und in den 
Kellerräumen Gemüse- und Parteienkeller; 

2. einem Schweinestall-Gebäude, dessen als Futter¬ 
küche eingerichteter Vorflur nach beiden Seiten hin 
in zwei langgestreckte Ställe mit paarweise angeordneten 
Koben führt, die Raum zur Unterbringung von 250 
Schweinen bieten; jede Kobe hat ihren Auslauf in 
ein vollständig betonirtes und ummauertes Gehege 
mit Tummelplatz und Bad. Die Dachbodenräurae 
dienen zur Aufbewahrung der Futtervorräthe; 

3. einem den Schweineställen gegenüberliegenden 
Wirtschaftsgebäude, welches eine Wagenremise, eine 
Löschzeugstätte, einen Schlachtraum mit (elektrisch 
betriebener) Wursterei und Räucherkammer, eine 
Molkerei-Anlage, einen Pferdestall mit vier Ständen, 
Stallungen für 20 Kühe, sechs Ochsen, Jungvieh und 
zwei Esel umfasst; im Dachgeschosse desselben sind 
Futter-Vorrathskammem und im Souterrain Gemüse¬ 
keller angelegt, in letzteren Kraut- und Rübenmaschinen 
aufgestellt; 

4. einem Hühnerstall; 

5. einer offenen Wagenremise und endlich 

6. einer Brückenwage. 

Mit Rücksicht auf die der Gesundheit am meisten 
Rechnung tragende Arbeit im landwirtschaftlichen 
Betriebe, wird die weitaus grösste Zahl der Pfleglinge 
zu diesem beim Anbaue und der Emte auf dem 60 
Joch umfassenden Ackerareale der Anstalt, bei der 
Betreuung der eingestellten Nutzthiere und den viel¬ 
fachen Beschäftigungsarten der Gärtnerei verwendet. 

Zu dem im Wirthschaftshofc eingestellten Feuer¬ 
wehr-Requisitendepot sei erwähnt, dass die Anstalts¬ 
feuerwehr und der mit dieser verbundene Rettungszug 
aus Pflegern gebildet sind und unter der Führung des 
technischen Beamten und der Leitung des Directors 
und Verwalters stehen. 

Zur Aufnahme somatisch erkrankter Pfleglinge ist 
das 

Lazareth 

(Object 19) bestimmt, welches Raum für 14 männliche 

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und 14 weibliche Kranke bietet. Die Krankenzimmer 
liegen in den Gebäudeflügeln, welche sich an den 
Mitteltract anschliessen. Im letzteren sind eingebaut: 
ein Operationssaal mit Aerztezimmer, zwei Pfleger¬ 
zimmer, zwei Abortanlagen, Tagräume mit offenen 
Terrassen, welche dazu dienen, bettlägerige Kranke 
in ihren Betten an die frische Luft zu bringen, ein 
Wasch-, ein Baderaum und eine Spülküche. Gegen¬ 
über dem Lazarethe liegt mitten im Walde das 

Infectionsk ranken ha us 
(Object 18), ein ebenerdiges Gebäude mit Mitteltract, 
welcher zwei Pflegerzimmer, Bad- und Spülküche um¬ 
fasst; zu beiden Seiten des Mitteltractes erstrecken 
sich die Abtheilungen für Männer und für Frauen, 
deren jede fünf Einzelzimmer enthält, von denen je 
eines direct ins Freie führt. 

Für das Infectionskrankenhaus ist zur Aufnahme 
der Dejecte eine eigene Senkgrube angelegt, welche 
mit der Canalisation der Anstalt nicht verbunden ist. 

Ist es auch einerseits wünschenswerth, dass dieses 
Krankenhaus nie zur Verwendung gelange, so sichert 
es anderseits dadurch, dass es die Möglichkeit strengster 
Isolirung bietet, die Insassen der Anstalt vor der Aus¬ 
breitung infectiöser Krankheiten. In erster Linie soll 
dieses Object zur Unterbringung der tuberculosen 
Geisteskranken dienen, welcher Bestimmung es durch 
seine Lage in würziger staubfreier Waldluft vollauf 
Rechnung zu tragen vermag. 

An der nordöstlichen Ecke des Anstaltsgebietes, 
der Uri zunächst gelegen, ist eine 

Reinigungsanlage 

für Fäcalien und Schmutzwässer 
(Object 30) eingerichtet, welch’ letztere von sämmt- 
lichen Objecten der Anstalt durch entsprechende Ca- 
nalisirung hierher geführt werden. In dieser Anlage 
werden durch Harfen die festen Stoffe ausgeschieden 
und als Dünger oder zur Düngerbereitung verwendet; 
die Abwässer hingegen durch Leitung über mit Coaks 
belegte Betonreservoirs filtrirt, von einer elektrisch be¬ 
triebenen Pumpe in ein erhöhtes Reservoir gehoben 
und aus diesem durch eine Rieselanlage zur Be¬ 
wässerung auf die Felder getrieben. 

Die Anlage bietet auch die Möglichkeit bei all¬ 
fälligen Infectionskrankheiten in der Anstalt die gründlich 
desinficirten Abwässer abzuleiten, ohne dass dieselben 
die Felder berühren. 

An der dieser Anlage entgegengesetzten, also süd¬ 
westlichen Spitze des Anstaltsterrains befindet sich der 

Anstaltsfriedhof mit Leichenhaus 
(Object 20). Das Leichenhaus enthält im Untergeschoss 
zwei Leichenkammcrn (hiervon eine für Leichen an 

Original fram 

HARVARD UN1VERSITY 




i qo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


2 59 


Infectionskrankheiten Verstorbener) und ein Särge- 
debot; das Erdgeschoss umfasst einen Aufbahrungs¬ 
raum, einen Obductionssaal, ein ärztliches Arbeitszimmer, 
einen Aufzug zum Transport der Leichen aus dem 
Untergeschoss und völlig gesondert die Wohnung des 
Leichendieners. 

Beleuchtung. 

Alle zur Anstalt gehörigen Baulichkeiten sind in 
sämmtlichen Räumen, einschliesslich der Keller- und 
Dachbodengeschosse, mit der nothwendigen Einrichtung 
für elektrische Beleuchtung versehen. Der zu letzterer 
erforderliche Strom wird aus den Elektricitätswerken 
der Stadtgemeinde Amstetten als Starkstrom bis zur 
Anstalt geführt und hier durch vier Transformatoren 
auf 150 Volt Spannung umgeformt und zu den ein¬ 
zelnen Gebäuden weitergeleitet. 

Dieser elektrische Strom beleuchtet nicht nur die 
AnstalIsubicationen mit ca. 2000 Lampen (darunter 
das Gesellschaftshaus mit vier, die Küche und Wäscherei 
mit je zwei Bogenlampen), sondern setzt auch mit 
20 Motoren alle maschinellen Einrichtungen der 
Wäscherei, Küche, Bäckerei, Sodawasser-Erzeugung, 
Teigwaren-Erzeugung, Wursterei, Kläranlage u. s. w. in 
Betrieb. 

Pflegerhäuser 

(Pflegerdorf, Objecte 37, 38, 39, 40). 

Vor der Anstalt, u. zw. ausserhalb der Einfriedung 
derselben liegt das gegenwärtig aus vier Häusern be¬ 
stehende Pflegerdorf, dessen Umfang nach Bedarf ver- 
grössert werden wird. Jedes dieser Häuser enthält 
je zwei Wohnungen, bestehend aus: einer Küche, 
(gleichzeitig Speiseraum) mit Emailanstrich und Terrazzo¬ 
boden, einem Schlafzimmer für drei Pfleglinge, einem 
Zimmer sammt Cabinet für das Pflegerpaar, einer 
Geräthekammer, der Abortanlage und einem Keller. 

Je eine solche Wohnung wird einem Pfleger-Ehe¬ 
paare aus dem Stande der Anstaltsbediensteten zu¬ 
gewiesen, welches dieselbe mit Pfleglingen (in der 
Höchstzahl von drei desselben Geschlechtes) zu theilen 
hat. 

Es sind dies Pfleglinge, die sich bei längerem Auf¬ 
enthalte in der Colonie als der Vorschule zur Privat¬ 
pflege verlässlich erwiesen haben und der eigentlichen 
Anstaltspflege nicht mehr bedürfen, ohne jedoch im 
gew-öhnlichen Sinne entlassungsfähig zu sein, sei es, 
dass äussere Umstände der Entlassung im Wege stehen, 
sei es, dass der Zustand der Kranken ärztliche Be¬ 
obachtung und Berücksichtigung psychiatrischer Grund¬ 
sätze noch weiterhin wünschenswerth erscheinen lässt. 
Die Schlafräume der Pfleglinge werden im Pflegerdorfe 
auf Kosten der Anstalt eingerichtet, und die Kianken 
aus den'Anstaltsvorräthen mit Bett- und Leibeswäsche 

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versehen. Die Pfleger erhalten für die Verköstigung 
eines jeden Pfleglings pro Tag So h und haben letztere 
zu überwachen, angemessen zu beschäftigen und zu 
den vorgeschriebenen Terminen in die Anstalt zur 
Untersuchung, zum Bade und zum Wägen zu bringen. 

Ausser diesen Pflegestellen im Pflegerdorfe sind 
aber auch solche bei Privatparteien in Aussicht ge¬ 
nommen, welche nicht allzuweit von der Anstalt ent¬ 
fernt, nach bezüglicher Verlautbarung im Wege frei¬ 
willigen Anbotes besetzt werden sollen. Jedes gesunde, 
geistig normale, sittlich nicht zu beanständende Ehe¬ 
paar ist geeignet, einen, zwei oder drei vom Director 
ausgewählte Kranke desselben Geschlechtes in Pflege 
zu nehmen. Verlangt wird nur, dass die Kranken 
in einem eigenen, hygienisch entsprechenden, einen 
Luftraum von wenigstens 15 m 3 pro Kopf aufwei¬ 
senden Schlafzimmer untergebracht, als zur Familie 
gehörig, wohlwollend und geduldig behandelt, vom 
Genüsse geistiger Getränke femgehalten, nie zur Arbeit 
gezwungen, w'ohl aber durch freundlichen Zuspruch 
zu derselben aufgemuntert und entsprechend beobachtet 
werden. 

Der Familienpflege sollen nur Pfleglinge theilhaftig 
werden, die durch ihr Verhalten im Pflegerdorfe den 
Beweis voller Vertrauenswürdigkeit geliefert haben. 

Die Schlafräume der Pfleglinge können auch bei 
Privatparteien durch Vermittlung der Anstalt, doch 
gegen ratenweise Abzahlung seitens der Pflegefamilien, 
eingerichtet werden; Kleidung, Bett- und Leibeswäsche, 
Reinigungsartikel, Bücher aus der Anstaltsbibliothek etc. 
werden den Pfleglingen beigestellt. Letztere arbeiten 
im Interesse des Pflegers und erhalten von demselben 
die landesübliche Kost, wofür der Pflegepartei für jeden 
Patienten ein Kostgeld von 80 h pro Tag, eventuell 
nach Ermessen des Directors aber auch mehr oder 
weniger vergütet wird. Selbstredend stehen die Kranken 
durch häufige Inspectionen von Aerzten, Beamten und 
Vertrauensmännern unter beständiger Controlle der 
Anstalt; ausserdem müssen sie alle 14 Tage in die 
Anstalt gebracht, um dort gebadet, untersucht und 
gewogen zu werden. Bei einer etwaigen, ihre Ver¬ 
wendung beeinträchtigenden Veränderung ihres Zu¬ 
standes werden sie sofort in die Anstalt zurückgezogen. 

Die Vortheile, w r elche diese Einrichtung einer organi- 
sirten Familienpflege aufw r eist, sind mannigfache. Zu¬ 
vörderst sichert dieselbe der Anstalt einen ständigen 
Abfluss der beruhigten Kranken; ferner verwerthet 
sie die sonst vollständig brachliegende Arbeitskraft 
einer grossen Anzahl von Geisteskranken, verhindert 
gleichzeitig die unrationelle Behandlung der letzteren 
in der Gemeindeversorgung und ermöglicht es dem 
Patienten, bei fortschreitender Besserung, bezw. Heilung 

Original from 

HARVARD UNIVERSJTY 




2ÖO PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22 . 


die verlorene Berechtigung zur selbständigen Existenz 
von neuem zu erringen; weiters führt sie weniger 
bemittelten Landwirthen bei dem jetzigen Mangel 
doppelt willkommene Arbeitsgehilfen zu und bringt 
denselben insofern materiellen Gewinn, als selbst bei 
gewissenhafter Verköstigung das pro Kopf und Tag 
gewährte Kostgeld hinter den factischen Auslagen 
Zurückbleiben dürfte; endlich wird sie die fortwährende 
Zunahme der Anstaltsbauten mindestens verringern, 
aber auch schon dadurch eine bedeutende Entlastung 
der öffentlichen Verwaltung bedeuten. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bevölkerung 
bei Beobachtung des Verhaltens der Pfleglinge im 
Pflegerdorfe und nach Erkenntniss der Verwendbar¬ 
keit derselben, jenes Vorurtheil aufgeben wird, wel¬ 
ches heute noch gegen Geisteskranke allgemein im 
Volke herrscht; den ersten schüchternen Versuchen zur 
Uebemahme von Patienten in die Familienpflege 
werden nach den vorliegenden Beispielen aus Eng¬ 
land, Belgien, Deutschland u. s. w. weitere folgen, und 
bald wird die Familienpflege Geisteskranker in der 
Umgebung der Anstalt als eingebürgert zu betrachten 
sein. 

Drei wichtige Factoren sind es, die dann aus 


dieser neuen Einführung der familiären Irrenpflege 
einen gleich bedeutenden Nutzen ziehen: 

Der Kranke, welcher den Segen des Aufenthaltes 
in der Familie geniesst, der Landwirth, dem jeder¬ 
zeit eine verwendbare billige Arbeitskraft zur Ver¬ 
fügung steht, und das Land Niederösterreich, dessen 
Ausgabebudget durch diese schon seit Jahrzehnten 
nothwendigen Reform des Irrenwesens eine zweifel¬ 
los sehr willkommene Entlastung erfährt. 

Sind diese Erfolge einmal zur That geworden, 
dann hat auch die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil- 
und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling ihr vornehmstes 
Ziel erreicht 

Zum Zwecke der Ausscheidung aller nicht in das 
Gebiet einer rationellen Irrenpflege gehörigen, weil 
letztere hindernden Elemente, ist der Heilanstalt 
Mauer-Oehling die Pflegeanstalt Ybbs angegliedert, 
w’elche unter der Leitung der ersteren steht und un¬ 
heilbare Alkoholiker, geistesgestörte Verbrecher und 
alle jene Kranken aufzunehmen bestimmt ist, bei 
denen sich während des Aufenthaltes in Mauer-Oehling 
jede Aussicht auf Heilung oder Erlangung einer Be¬ 
schäftigungsfähigkeit als ausgeschlossen erwiesen hat 


M i t t h e i 

— Am 2. Juli fand in Anwesenheit des Kaisers 
von Oesterreich die Schlusssteinlegung und Ein¬ 
weihung der „Kaiser Franz Josephs-Landes- 
Heil- und Pflege-Anstalt“ in Mauer-Oehling 
statt. Etwa 2000 Festgäste waren zu dieser Feier 
erschienen. Der Kaiser besichtigte eingehend die An¬ 
stalt und äusserte wiederholt sein Lob über die 
Schönheit und Zweckmässigkeit der Bauten und Ein¬ 
richtungen. Speciell dem Landes-Ausschuss Steiner, 
Administrations-Inspector Gerenyi, Landes - Baurath 
Boog dem Directorder Anstalt Dr. Krayatsch, auch 
den Primarärzten Dr. Bayer und Gw'ürstinger 
drückte der Kaiser seine Anerkennung aus. Nach 
der Abfahrt des Kaisers fand an einem Büffet unter 
einem Zeltbau eine Bewirthung der Festgäste statt. 
Die Wiener Gastwirthsgenossenschaft hatte die Aus¬ 
führung der Bewirthung übernommen; die schmucken 
Wiener Gastwirthstöchter in weissen Piquetkleidem 
servierten. Bürgermeister Dr. Lueger, Minister¬ 
präsident v. Körb er, Landesausschuss Steiner, 
Statthalter Graf Kielmannsegg hielten auf die neue 
Anstalt und die bei ihrer Errichtung betheiligt ge¬ 
wesenen Herren glänzende Ansprachen. — 

Die Anstalt in Mauer-Oehling ist von der Landes- 
veitretung des Kronlandes Niederösterreich zur Er¬ 
innerung an die Feier der 50jährigen Regierung des 
Kaisers Franz Joseph von Oesterreich errichtet 

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1 u n g e n. 

worden. Sie Übertrifft an Geschmack und Zw'eck- 
mässigkeit in Anlage und Ausstattung alle neueren 
Anstalten und wir möchten wünschen, dass sie beim 
Neubau von Anstalten zum Vorbilde gewählt werden 
möchte. Direct an der Strecke Salzburg-Wien ge¬ 
legen, dem Reisenden im Eisenbahnzuge als schmucke 
Villencolonie im freundlichen Waldesgrün sich präsen¬ 
tierend, ist sie von der Station Mauer-Oehling in 
kaum 5 Minuten zu Fuss zu erreichen. Br. 

— Erlass, betreffend das Krankenpersonal. 
Die Verhältnisse des Pflegepersonals der Krankenan¬ 
stalten sind in den letzten Jahren in der Presse und 
in parlamentarischen Verhandlungen wiederholt zum 
Gegenstand lebhafter Klagen gemacht worden. Neben 
mangelnder Befähigung und unzureichender Vor- und 
Ausbildung bei einem grossen Theile der Wärter und 
Wärterinnen werden insbesondere die Ueberanstreng- 
ungen im Pflegedienste, der Mangel einer angemessenen 
Erholung, einer geeigneten Fortbildung, einer zu¬ 
reichenden Besoldung und Verpflegung sow r ie eine 
unzulängliche Versorgung im Falle der durch Alter, 
Krankheit oder Invalidität eingetretenen Dienstunfähig¬ 
keit als die hauptsächlichsten Missstände auf dem Ge¬ 
biete der Krankenhauspflege bezeichnet. 

Wenngleich nach dem Ergebniss der von mir an- 
geordneten Erhebungen diese Klagen zum Theil als 
unrichtig, zum Theil auch als übertrieben sich heraus- 

Originalfrcm 

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iQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 261 


gestellt haben, so nehme ich doch Veranlassung, die 
Verhältnisse der Krankenanstalten des dortigen Bezirks 
(§ 100 der Dienstanweisung für die Kreisärzte) Ihrer 
besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge mit dem 
Ersuchen ergebenst anzuempfehlen, falls sich Missstände 
nach der angedeuteten Richtung in den Anstalten 
etwa vorfinden sollten, auf deren baldige Beseitigung 
ernstlich Bedacht zu nehmen. Auch ersuche ich, die 
Kreisärzte anzuweisen, bei den in Gemässheit des 
§ 100 der Dienstanweisung für die Kreisärzte vorzu¬ 
nehmenden jährlichen Besichtigungen der Kranken¬ 
anstalten auf Mängel der bezeichneten Art besonders 
zu achten, indem ich zugleich bestimme, dass in die 
Besichtigungsverhandlung zugleich Angaben über die 
Besoldung und die Zahl der täglichen Dienststunden 
des Pflegepersonals aufzunehmen sind. 

Handelt es sich um Missstände, welche auf eine 
unzureichende Betheiligung des ärztlichen Elements 
bei der Regelung der Krankenhausangelegenheiten 
zurückzuführen sind, so wollen Ew. Hochwohlgeboren 
es sich angelegen sein lassen, auf eine Stärkung des 
ärztlichen Einflusses in geeigneter Weise bei den Be¬ 
theiligten hinzuwirken. 

Berlin, den n. Juli 1902. 

Der Minister der geistl. Unterrichts- und 
Med icinal-Angelegenheiten. 

Studt. 

An die Herren Regierungs-Präsidenten 
und den Herrn Polizeipräsidenten in Berlin. 

— Ein wenig bekanntes Blatt aus der Ge¬ 
schichte der Familienpflege Geisteskranker. 
Anlässlich der Einweihung der „Kaiser Franz 
Joseph-Landes-Heil- und Pflege-Anstalt in 
Mauer-Oehling schreibt in der „Wiener Zeitung“ vom 
1. Juli d. Js. Dr. August Seuffert: 

„Mit dem Inslebentreten der Familienpflege 
Geisteskranker in Mauer-Oehling findet eine Idee 
ihre Verwirklichung, welche schon vor Jahrzehnten 
in Oesterreich leider vergeblich von einem Manne 
angeregt und wiederholt verfochten wurde, der ins¬ 
besondere in Wien für alle Zeiten unvergessen bleiben 
wird. Der leider zu früh unter traurigen Umständen 
heimgegangeneMenschenfreund Dr.J. v.Mundy, dessen 
Gedächtniss als Gründer der Wiener Rettungsgesell¬ 
schaft in der Kaiserstadt an der Donau für immer 
fortleben wird, verdient es wohl, dass an dieser Stelle 
seiner ehrend gedacht werde. Als er im Jahre 1854 
in Würzburg zum Medicinä-Doctor promovirt wurde, 
wählte er sich für seine Inaugural-Festschrift ein 
damals neues Thema: „Ueber die familiale Be¬ 
handlung der Irren“. Seine Festschrift schloss 
mit dem Satze: „Möge es mir vergönnt sein, dass 
ein Jugendtraum von mir in Erfüllung gehe und dass 
ich, wenn auch nur ein Scherflein, zur Lösung dieser 
grossen Frage beizutragen in den Stand gesetzt werde.“ 
Leider war es ihm nicht gegönnt, seine Bestrebungen 
in dieser Richtung, so weit es sein Vaterland Oester¬ 
reich betrifft, mit Erfolg gekrönt zu sehen, da seine 
Vorschläge, die Irrenpflege umzugestalten, als undurch¬ 
führbar bezeichnet wurden, obgleich er sich in G h e e 1, 

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wo er durch 6 Monate dem Studium der familialen 
Verpflegsform oblag, von der Durchführbarkeit der 
Behandlung Geisteskranker in fremder Familienpflege 
überzeugt hatte. Dr.J. Mundy brachte der von ihm 
als Ideal angestrebten Irrenreform grosse materielle 
Opfer. Ein Apostel dieser humanitären Idee, durchzog 
er als Wanderlehrer England, Frankreich und Deutsch¬ 
land und erfreute sich in allen diesen Culturländem 
der grössten Hochachtung in den maassgebenden und 
wissenschaftlichen Kreisen. Bei diesen Reisen machte 
er die Bekanntschaft der hervorragendsten Psychiater, 
Conolly, Griesinger u. s. w. und erwarb sich ihre 
Freundschaft fürs Leben. Die grossen Kriege in den 
Jahren 1866, 1870, 1878 und 1880 führten ihn auf 
das Gebiet der Kriegshygiene, und der Ringtheater- 
Brand in Wien machte ihn zum Begründer des organi- 
sirten Rettungswesens. Obgleich somit Dr. Mundy 
Jahre hindurch seine vielseitige segensreiche Thätig- 
keit anderen Zweigen der Humanität zugewendet hatte, 
wurde er doch wiederholt als Berather bei der 
Errichtung von Irrenanstalten in Böhmen, Mähren 
und Nieder-Oesterreich herangezogen, konnte jedoch 
mit dem von ihm in Vorschlag gebrachten Reformen 
nicht durchdringen, weil die Fachärzte, wenige ausge¬ 
nommen, die glänzenden Erfolge der Familienpflege 
in Gheel entweder nicht kannten oder zumindest die¬ 
selben als an locale Bedingungen geknüpft auffassten. 
Trotz aller Misserfolge hat Dr. J. Mundy unentwegt 
für sein Jugend-Ideal, die Reform des Irrenwesens, 
in Wort und Schrift gewirkt Im Jahre 1864 ver¬ 
öffentlichte er in englischer Sprache einen „Kleinen 
Katechismus über die Nothwendigkeit und Möglich¬ 
keit einer radicalen Reform des Irrenwesens“.*) Im 
Jahre 1876 verfasste er infolge einer Aufforderung des 
damaligen Landtags-Abgeordneten für Böhmen Grafen 
Rudolph Khevenhüller-Metsch bei Gelegenheit der zu 
fassenden Landtagsbeschlüsse hinsichtlich der Errichtung 
einer neuen Irrenanstalt in Böhmen einen Entwurf, 
welcher aber keine Berücksichtigung fand, da sich 
bekanntlich der böhmische Landtag gegen das in 
demselben vertretene Princip der Behandlung der 
Irren auf Landgütern**) entschied und 1 750000 fl. 
für den Bau einer grossen geschlossenen Irrenanstalt 
bei Pilsen (Dobran) bewilligte. Die vom mährischen 
Landes-Ausschüsse im März 1879 abgehaltene Enquete 
wegen der endgiltigen Regelung der Irrenfrage in 
der Markgrafschaft Mähren veranlasste Dr. Mundy, 
in der Eigenschaft eines zu den Verhandlungen be¬ 
rufenen Experten diesen Entwurf zum Zwecke eines 
eingehenden Meinungsaustausches den Enquete-Mit¬ 
gliedern vorzutragen, wobei die in demselben nieder¬ 
gelegten und mündlich weitläufiger begründeten An¬ 
schauungen die vollste Billigung fanden. 'Am 5. 
Dezember 1884 hielt Dr. Mundy, als Schriftführer 
der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, im aka¬ 
demischen Gymnasium zu Wien einen gemeinver¬ 
ständlichen Vortrag über die von ihm stets verfochtene 

*) In wortgetreuer Uebersetzung im Verlage der Wiener 
freiwilligen Rettungsgesellschaft erschienen, Wien 1884. 

**) „Die freie Behandlung der Irren auf Landgütern“, er¬ 
schienen im Verlage der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, 
Wien 1884. 

Original from 

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262 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 


Reform der Irrenpflege,*) welcher ihm den Beifall 
der zahlreichen Zuhörerschaft brachte. Nun, nachdem 
schon längst seine Leiche im Schosse der Erde ver¬ 
modert, soll die Idee dieses unerschütterlichen Ver¬ 
fechters der Familienpflege Geisteskranker in Nieder - 
Oesterreich zur That werden. Die Kaiser-Jubi- 
läums-Stiftung in Mauer-Oehling war auch für 
diesen humanitären Gedanken in Nieder-Oestcrreich 
als Bahnbrecherin auserkoren“. 

— Erweiterung der Familienpflege in 
Berlin nach belgischem Muster. Für die 
neuen Irrenanstalten der Stadt Berlin 
unterbreitete Geheimrath Dr. M ö 1 i dem Magistrat 
in seiner Denkschrift sehr beachtenswerthe Vor¬ 
schläge, namentlich in Bezug auf die Art und 
Grösse der vierten und fünften Anstalt. Zum 
besseren Verständnis sei vorausgeschickt, dass die 
beiden Anstalten Dalldorf und Herzberge für je tausend 
Patienten eingerichtet waren, oft aber weit über diese 
Zahl hinaus belegt werden mussten (Dalldorf bis 
1350), und dass die dritte Irrenanstalt Buch von 
vornherein auf 1500 Kranke berechnet worden ist. 
Diese Zahl hält Geheimrath Dr. Möli auch für die 
vierte Anstalt für ausreichend; er schlägt auch vor, 
diese Anstalt, ebenso wie Buch, weniger nahe bei der 
Stadt zu etabliren, wie die beiden ersten Anstalten, 
und sie zu einer möglichst einfachen Behausung der 
Mehrzahl ihrer Kranken zu gestalten. Gegenüber den 
älteren Anstalten empfiehlt der Gelehrte verschiedene 
Aenderungen in Bezug auf den Lageplan sowohl, wie 
im Verhältnis der einzelnen Krankengruppen vorzu¬ 
sehen ; ebenso wünscht er vollkommenere Einrichtungen 
für die Unterbringung der gewohnheitsmässig zu Ge¬ 
setzesverletzungen gelangten Kranken, soweit diese 
eine besondere Trennung von den übrigen Gruppen 
erheischen. Ueber die Versuche, die Familienpflege 
ausgedehnter zu verwenden, schreibt Dr. Möli: Es 
sollen „Landasyle“ kleineren Umfanges hergestellt werden 
bei Ortschaften, die eine Unterbringung, zahlreicher 
Kranker in Familien nach dem Muster der belgischen, 
neuerdings auch französischen Colonien in Aussicht 
nehmen lassen. Man könnte daher an etwas Aehn- 
liches auch für die Berliner städtische Fürsorge denken, 
wenigstens an den Versuch, wenn auch nicht einen 
grossen Bruchtheil von Kranken derart unterzubringen, 
so doch mit der vierten und fünften Anstalt solche 
Einrichtungen in Verbindung zu setzen. Das würde 
jedenfalls auf die Wahl des Ortes von Einfluss sein 
müssen, weniger auf die Grösse der Anstalt. Eine 
durchgreifende Herabsetzung des Bedürfnisses an An¬ 
staltsplätzen wird allerdings auf diesem Wege nicht 
erwartet werden können; bei einer so grossen Auf¬ 
gabe, wie die vorliegende, ist jedoch jedes Hilfsmittel 
willkommen, und deshalb ist eine solche Maassregel, 
wenn sie auch nicht zu entscheidender Entlastung der 
Anstalts-Fürsorge dienen kann, wenigstens im Auge 
zu behalten. 

— Zum Kapitel Irrenrecht. Aus irrenärztlichen 
Kreisen ist vor Kurzem darauf hingewiesen worden, 

*) „Beiträge zur Reform der Irrenpflege“, von Dr. J. Mundy, 
nach stenographischen Aufzeichnungen erschienen im Verlage 
der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, Wien 1884. 

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dass nach Lage der gegenwärtigen Gesetzgebung und 
Rechtsprechung es in den Privatanstalten für Geistes¬ 
kranke, Epileptische und Idioten nicht immer möglich 
ist, an den geistesschwachen Insassen seitens der 
Angestellten verübte Delikte, falls dies nur sogen. 
Antragsdelikte sind, der gerichtlichen Bestrafung zu¬ 
zuführen; denn nach der Reichsgerichtsentscheidung 
vom 18. Januar 1901 ist in solchen Fällen nur die 
geistesschwache Person sebst antragsberechtigt. „Die 
meisten der „Geistesschwachen“ und der vorläufig Bevor¬ 
mundeten — ich schätze ihre Gesammtzahl im deutschen 
Reiche auf ca. 30000 — befinden sich in geschlossenen 
Anstalten, öffentlichen wie privaten. Der „Geistes¬ 
schwache“, der dort einen Strafantrag stellen will, sei 
es wegen Misshandlung oder Beleidigung, steht nicht 
nur bezüglich seiner brieflichen Correspondenz unter 
Controlle (in Preussen Erlass des Cultusministeriums 
vom 23. December 1895) — die Briefe gehen durch 
die Hände des Pflegepersonals —, auch in mancher 
anderen Beziehung ist zu befürchten und wird viel¬ 
leicht auch der „Geistesschwache“ befürchten, dass er 
durch seinen selbständigen Antrag sich seine zu¬ 
künftige Lage nur noch verschlimmert. In welcher 
Weise er z. B. vom Personal beeinflusst werden kann, 
einen Antrag zurückzuhalten, lässt sich gar nicht con- 
troliren. Da der Vormund nicht antragsberechtigt ist, 
dürfte dasselbe auch dem Anstaltsleiter nicht zu¬ 
kommen ; sollte nicht auch mancher Anstaltsleiter 
bezw. -Besitzer ein grösseres Interesse daran haben, 
dass unliebsame Vorgänge seiner Anstalt der Erörterung 
im Gerichtssaal entzogen werden ? Wenn er nun, bei 
gutem Willen dazu, gar nicht einmal antragsberechtigt 
ist, was soll dann aus der Gerechtigkeit in den An¬ 
stalten werden? (Deutsche Juristen-Zeitung, 1902, 

s. 173) 

Eine geradezu unglaubliche Lücke enthält aber in 
verwandter Beziehung der § 174 3 des deutschen 

Strafgesetzbuchs, welcher lautet: „Mit Zuchthaus bis 
zu fünf Jahren werden bestraft Beamte, Aerzte oder 
andere Medicinalpersonen, welche in Gefängnissen 
oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen 
oder anderen Hilflosen bestimmten Anstalten be¬ 
schäftigt oder angestellt sind, wenn sie mit den in 
das Gefängniss oder in die Anstalt aufgenommenen 
Personen, unzüchtige Handlungen treiben.“ Eine in 
Anstalten für hülflose Personen, insbesondere Geistes¬ 
schwache, an letzteren verübte unzüchtige Handlung 
kann, ja darf also nicht bestraft werden, wenn sie in 
einer Privatanstalt begangen wird! Handelt es sich 
um solche Privatanstalten, welche Idioten , also doch 
auch geistesschwache Personen, zum Zwecke der 
„Erziehung und Ausbildung“, nicht zum Zwecke der 
„Pflege“ beherbergen, so kann in obigem Falle ebenfalls 
keine Bestrafung erfolgen! 

Man ersieht aus Vorstehendem, dass das zu er¬ 
wartende Reichsirrengesetz (das „Reichsgesetz für Ge¬ 
hirnkranke“), soll es sich als eine wirkliche Reform 
erweisen, etwas mehr wird sein müssen als ein Ex- 
tract bundesstaatlicher Ministerialerlasse über Auf¬ 
nahme und Entlassung von Geisteskranken u. s. w in 
und aus Anstalten. Es ergiebt sich ferner die Un¬ 
zulässigkeit der von den Verwaltungen noch immer 


Original frnm 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 263 


gehandhabten Methode, der öffentlichen Fürsorge an¬ 
heimgefallene, geistesschwache Personen, anstatt in 
eigenen, in privaten Anstalten (weltlichen und kirch¬ 
lichen) unterzubringen. (Hier kommt allerdings in 
Betracht, dass die öffentlichen Anstalten zur Aufnahme 
aller in Betracht kommenden Personen nicht aus¬ 
reichen werden. Red.) 

Jedenfalls muss in dem neuen Gesetz die Ver¬ 
pflichtung des Anstaltsleiters zur gerichtlichen Anzeige 
aller an seinen Schutzbefohlenen begangenen 
strafbaren Handlungen, die zu seiner Kennt- 
niss gelangen, ausgesprochen und die Nicht¬ 
beachtung dieser Vorschrift unter Strafe ge¬ 
stellt werden. Ferner ist bei strafbaren Hand¬ 
lungen, welche an unfreien Personen obiger 
Kategorien verübt werden, dem Staatsanwalt 
das Antragsrecht, das zugleich Pflicht ist, 
einzuräumen. (Frankf. Ztg. 5. VIII.) 

— Zur Aenderung des § 51 des Strafgesetz¬ 
buches. Der im September zu Berlin tagende 
deutsche Juristentag wird sich mit der Frage be¬ 
schäftigen, nach welchen Grundsätzen die Revision 
unseres jetzigen Strafgesetzbuches in Aussicht zu 
nehmen ist. Ueber diese Frage hat der bekannte 
Strafrechtslehrer Geheimrath Prof. v. Liszt in Berlin 
ein Gutachten *) erstattet, dem wir Folgendes ent¬ 
nehmen. 

Die Forderung nach einer Neuregelung unserer 
Strafgesetzgebung ist ganz besonders dringend in 
Folge des Bedürfnisses nach einem ausgiebigeren 
Schutze der Rechtsordnung gegenüber der heutigen 
Gestaltung des gewerbsmässigen wie des nichtgewerbs¬ 
mässigen Verbrechens. Insbesondere hat das nicht- 
gewerbsmässige Verbrechen in den letzten Jahrzehnten 
eine wesentliche Umgestaltung aufzuweisen. Mehr 
und mehr zeigt es, zum Theil unter dem Einfluss 
des Alkoholmissbrauchs, insbesondere aber 
in Folge des verschärften, die Nerven kraft erschöpfen¬ 
den Kampfes um’s Dasein, neuropathische Züge. 
Es sind die „Minderwertigen“, die Neurastheniker, 
die „Desequilibrirtcn“, die „vermindert Zurechnungs¬ 
fähigen“, die dein nichtgewerbsmässigen Verbrechen 
unserer Tage den eigenartigen Stempel aufdrücken. 
Die zornige Erregung des Alkoholikers, wie die 
Dämmerungszustände des Epileptikers, die perversen 
Neigungen des Homosexualen, die Ladendiebstähle 
hysterischer Frauen der guten Gesellschaft, die Blut- 
thaten der Messerstecher und Lustmörder, die hero- 
stratische Eitelkeit der anarchistischen „Propaganda 
der That“ — alle diese bekannten Erscheinungen 
der Kriminalität unserer Tage, die in dieser Massen- 
haftigkeit wenigstens, früheren Zeitabschnitten fremd 
gewesen sind: sie stellen den Strafgesetzgeber vor 
eine neue, überaus wichtige Aufgabe; das System 
unseres jetzigen St.-G.-B. erweist sich ihnen gegen¬ 
über als machtlos. Der § 51 mit seiner schroffen 
Scheidung des Zurechnungsfähigen und Nichtzurcch- 
nungsfähigen lässt uns nur die Wahl zwischen Frei¬ 
sprechung oder schwerer Bestrafung. Das Gesetz 

*) I. Band der Verhandlungen des 26. deutschen Juristen- 
tages. Verlag von J. Guttentag, Berlin 1902. 

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kennt aber weder die Sicherung der Gesellschaft 
gegen den zweifellos geisteskranken, gemeingefähr¬ 
lichen Verbrecher, noch kennt es die verminderte 
Zurechnungsfähigkeit und die mit ihr meist Hand in 
Hand gehende erhöhte Gemeingefährlichkeit. Nach 
beiden Richtungen bedarf das Gesetz der Umgestal¬ 
tung. Liszt schlägt vor: 

a) Zunächst muss dem erkennenden Strafgericht 
die Befugniss eingeräumt werden, den wegen mangeln¬ 
der Zurechnungsfähigkeit Freigesprochenen, 
falls die öffentliche Sicherheit es erfordert, 
in eine Heil- oder Pflegeanstalt zu ver¬ 
weisen. Das verlangt nicht nur die Rücksicht auf 
die öffentliche Sicherheit, die auf das Schwerste ge¬ 
fährdet würde, wenn die Einleitung des Entmündi¬ 
gungsverfahrens abgewartet werden sollte, sondern 
das verlangtauch die Rücksicht auf das Rechts¬ 
bewusstsein des Volkes. Der Kampf um die 
Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, der sich so oft 
zwischen dem sachverständigen Arzte und dem Staats¬ 
anwalt oder gar dem Richter abspielt: er hat ja 
doch zumeist seinen Grund darin, dass der Richter 
sich scheut, das gemeingefährliche Individuum 
mit dem freisprechenden Urtheil auf die Gesellschaft 
los zu lassen. Je deutlicher aus der That und aus dem 
Verhalten des Thäters nach der That, insbesondere 
aus seinem Benehmen im Gerichtssaale, die „Bestie“ 
im Menschen erkennbar wird, desto mehr scheuen 
wir vor dem Gedanken zurück, als sei mit dem frei¬ 
sprechenden Urtheil das letzte Wort in dieser Sache 
von der Rechtsordnung gesprochen. Ganz anders 
liegt die Sache, wenn mit der Freisprechung sofort 
die Ueberweisung in eine Irrenanstalt verbunden 
wird. Daher schlägt Liszt vor, dem § 51 des St.-G.- 
B. einen 2. Absatz in etwa folgender Fassung anzu- 
fügen: „Erscheint der Beschuldigte als gemeingefähr¬ 
lich, so ist in dem Einstellungsbeschluss oder dem 
frcisprcchendcn Urthcile zugleich seine Ueberweisung 
an eine Heil- oder Pflegeanstalt zu verfügen.“ 

b) Der §51 bedarf auch einer weiteren Ergän¬ 
zung durch Aufnahme von Bestimmungen über die 
verminderte Zurechnungsfähigkeit. Diese 
Fälle sind ungleich wichtiger als die eben besproche¬ 
nen. Nicht nur wegen ihrer stets wachsenden Zahl, 
sondern wegen der häufig gegebenen besonderen Ge¬ 
meingefährlichkeit der hierher gehörigen Personen. 
Die Milderung der Strafe in diesen Fä 11 en 
dürfte den heute überwiegend herrschenden Rechts¬ 
anschauungen entsprechen und mag daher von dem 
Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen werden. Doch 
legt darauf v. Liszt in Folge der Spannweite des 
Strafrahmen weniger Gewicht. Ungleich wichtiger er¬ 
scheint ihm, dass auch hier dem Strafrichter die Be¬ 
fugniss gegeben wird, die Einweisung in eine 
Heil- oder Pflegeanstalt zu verfügen, wenn 
dies im Interesse der öffentlichen Sicherheit als noth- 
wendig erscheint. Daher schlägt v. Liszt einen neuen 
§ 51a etwa dahin vor: „Ist die Zurechnungsfähigkeit 
des Beschuldigten nicht aufgehoben, sondern nur ge¬ 
mindert, so kann der Richter die angedrohte Strafe 
bis unter das angedrohte Mindestmaass mildern. Er¬ 
scheint der vermindert Zurechnungsfähige als gemein¬ 
em rigmalfrom 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


264 


[Nr. 22 


gefährlich, so ist in dem Urtheile die Ueberweisung 
an eine Heil- oder Pflegeanstalt nach verbüsster Strafe 
zu verfügen.“ 

Auf die nähere Ausgestaltung der Fürsorge durch 
die Anstalten geht v. Liszt nur andeutungsweise ein. 
Die Entlassung aus der Anstalt würde er nur auf 
Grund eines Gerichtsbeschlusses für ange¬ 
bracht halten. Fr. G. 


Referate. 

— Die Träume. Medicinisch-psychologische 
Untersuchungen von Dr. Sante de Sanctis, Prof, 
d. Psychiatrie in Rom. Uebersetzt von Dr. O. S c h m i d t, 
nebst Einführung von Dr. P. J. Möbius. Halle a. S. 
Carl Marhold, 1901. 

Ein Buch, dem Möbius das Geleite giebt, kann 
nicht uninteressant sein; und in dieser Annahme sieht 
man sich auch nicht getäuscht, wenn man das de 
S.’sche Buch gelesen hat. Eine fleissige Arbeit, der 
man die Liebe zum Gegenstände anmerkt. De Sanctis 
beschäftigt sich seit Jahren mit dem Studium der 
Träume und sind als Ergebniss desselben bereits mehrere 
Arbeiten von ihm erschienen; die uns vorliegende 
Arbeit fasst das Resultat aller seiner bisherigen be¬ 
züglichen Untersuchungen zusammen, giebt aber auch 
auf Grund der überaus umfangreichen einschlägigen 
Litteratur eine sehr gute Uebersicht über die hierher 
gehörigen Leistungen Anderer und streift kritisch 
manche der vielen Theorien, die auf diesem dem 
Mystischen so nahe liegenden Gebiete aufgestellt 
wurden. Vf. selbst ist bestrebt, sich von der Auf¬ 
stellung von Theorien und Hypothesen möglichst 
fern zu halten und will nur eine „Sammlung von 
Thatsachen“ geben. Bei dem Dunkel, das den be¬ 
handelten Gegenstand umgiebt, ist es aber nicht zu 
verwundern, wenn Vf. trotzdem von dem sichern 
Boden der Thatsachen oft abgleitet und auf das lockere 
Terrain der Hypothesen geräth. Der Eifer, mit dem 
er seinen Studien oblag, führt ihn auch oft zu etwas 
weitgehenden Folgerungen; insbesondere misst er 
den Träumen in diagnostischer Beziehung zu viel 
Bedeutung bei; auch die Bewerthung derselben als 
ätiologischen Factors bei Geisteskrankheiten dürfte bei 
den Irrenärzten vielfachem Widerspruche begegnen; 
Ref. wenigstens sah unter der ziemlich grossen Zahl 
von Füllen, die er beobachtete, bisher keinen einzigen, 
in dem die Psychose durch einen Traum veranlasst 
worden wäre. Ebenso dürfte das über die „Traum- 
äquivalente“ Gesagte nicht ungetheilte Zustimmung 
finden; der Begriff ist zum Theil unklar gefasst, zum 
Theil deckt er sich vollkommen mit dem der gut 
bekannten epileptischen Aequivalente. — 

Mit diesen Bemerkungen soll jedoch der Werth der 
Arbeit keineswegs geschmälert werden. Erscheint uns 
auch manche Annahme irrthümlich, können wir uns 
auch mit Auffassungen, wie die (p. 149) „dass dem 
Traumbild des Gemeingefühls ein gewisses Vorher¬ 


schauen von Ereignissen, die sich in unserm Körper 
in einer mehr oder weniger fernen Zeit vollziehen 
werden, und eine gewisse manchmal überraschende 
Erinnerung an solche innere Ereignisse zukommt, 
welche unserem Wachbewusstsein völlig unbekannt 
geblieben sind“ nicht sehr befreunden, so sind doch 
die Ausführungen durchwegs interessant und zum 
Nachdenken und zum Nacharbeiten anregend. Die 
Erforschung des Traumlebens ist vom psychologischen, 
w r ie psychopathologischen Gesichtspunkte höchst wichtig 
und in der Fülle sorgfältig durchgeführter Untersuch¬ 
ungen und Beobachtungen, die in dem 256 Seiten 
starken Buche mitgetheilt werden, wird der Psycholog, 
wie der Psychiater viele werthvolle Angaben finden. 
Die Träume des Säuglings, wie des Erwachsenen, 
des normalen, wie des degenerierten Menschen, des 
Geistesgesunden, wie des Geisteskranken sind in gleicher 
Weise Gegenstand ausführlicher Erörterungen. Auf 
Einzelheiten hier einzugehen, ist unmöglich und muss 
darum das Buch zur Lectüre nur um so wärmer em¬ 
pfohlen werden. Epstein. 


Bibliographie. 

Journal of Mental Science. Juli, 1902. 

Report of the Tuberculosis Committee of the Medico- 
Psychological Association of Great Britain and 
Ireland. 

Original Articles: 

T. S. Clouston, Toxaemia in the Etiology of Mental 
Disease: a Discussion opened. 

T. Claye Shaw, The Surgical Treatment of De- 
lusional Insanity based upon its Physiological Study. 

Henry Rayner, Sleep in Relation to Narcotics 
in the Treatment of Mental Disease. 

Robert Jones, Notes on some Cases of Morphino- 
mania. 

Lionel Weatherly, The Evolution of Delusions 
in some Cases of Melancholia. 

T. P. Co wen, Pupillary Symptoms in the Insanc, 
and their Import. 

N. H. Macmillan, The Prophylaxis and Treatment 
of Asylum Dysentery. 

Prof. Knud Pontoppidon, The Psychiatric Wards 
in the Copenhagen Hospital. 

Clinical Notes and Cases: 

Francis O. Simpson, Calcification of the Pcricardium. 

Stephen G. Longworth, Ha^matoma of the Cerebral 
Dura Mater (Pachimeningitis Interna Hsemorrhagica) 
assoeiated with Haemorrhagc from the Colon. 


Personalnachricht. 

— Kopenhagen. Dr. D. E. Jacobsohn, 
Specialarzt für Nervenkrankheiten, wurde zum Professor 
ernannt. 

— Moskau. Dr. A. Bernstein habilitirte sich als 
Privatdozent für Neurologie und Psychiatrie. 


Für den redactioncllon Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Breslcr Kraschnitz, (Schesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Buchdruckerci (Gcbr. Woiff) in Hallo a S. 


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Psychiatriseh ^Neurologische 
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Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
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Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

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Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

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Nr7 237 6 . September. _ 1902. 

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Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz 'Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Die beiden ersten Jahre in Galkhausen. Von Dr. mcd. M. Lückerath (S. 265). — Mittheilungen (S. 272). 

Erklärung. 

Herr Dr. W. N. Clemm in Darmstadt hat in der „Med. Woche“ (Nr. 27 u. 28) einen Aufsatz über 
„Alkohol als Genuss-, als Nahrungs- und als Heilmittel“ veröffentlicht. Auf dem Umschlag des S.-A. *) 
ist gedruckt: „Herrn P. J. Möbius zugecignet.“ Da der Aufsatz auf eine Verherrlichung des Alkohols hin¬ 
ausläuft und überhaupt auf falschen Anschauungen beruht, so muss ich erklären, dass ich nichts damit zu 
schaffen habe, und ich bedauere, dass mein Name darauf steht. 

*) Auch über dem Original in der „Med. Woche“. (Red.) P. J. Möbius. 


Die beiden ersten Jahre in Galkhausen.*) 

Von Dr. med. M. Lückerath , Assistenzarzt der Anstalt. 


y^m 1. März sind es 2 Jahre geworden, seit die An¬ 
stalt Galkhausen als neuste rhein. Prov.-Heil- und 
Pflegeanstalt dein Betrieb übergeben worden ist, und da 
sie in mancher Hinsicht einen von den anderen rhein. 
Anstalten abweichenden Typus darstellt, rechtfertigt 
es sich wohl, einen kurzen Ueberblick über ihre bis¬ 
herige Thätigkeit zu geben. Da Sie sich nachher durch 
einen Rundgang, dem Herr Direktor Herting einige 
*) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 69. General-Ver¬ 
sammlung des Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz. 


erläuternde Bemerkungen vorausschicken wird, über 
die baulichen Einrichtungen orientieren werden, kann 
ich es mir versagen, Ihre Aufmerksamkeit darüber 
länger in Anspruch zu nehmen und verweise sie auch des 
weitem auf die eingehende Schilderung der Anstalt, die 
Hen Direktor Herting vor kurzem veröffentlicht hat.*) 
Ich will nur soviel bemerken: da man erkannt hat, dass 
man den Geisteskranken viel mehr Freiheit gewähren 

*) Centralhlatl für allgemeine Gesundheitspflege 21. Jahr¬ 
gang 1 und 2. 


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266 


kann als man früher zu thun geneigt war, so hat als 
oberstes Gesetz, als Richtschnur bei dem Bau von 
Galkhausen das Bestreben gedient, alles möglichst zu 
vermeiden, was an Zwang irgend wie erinnern könnte, 
so dass sich die Anstalt in Bau und Einrichtungen 
nicht von anderen Krankenhäusern unterscheidet und 
die einzelnen Häuser Privathäusern so ähnlich sehen 
wie nur eben möglich. 

Dass hier die Forderungen der modernen Hygiene 
bis ins kleinste erfüllt sind, brauche ich eigentlich 
nicht besonders zu erwähnen. 

Die Einrichtung ist in allen Häusern dieselbe; 
gleichgültig, ob sie zur Aufnahme für ruhige oder 
unruhige Kranke bestimmt sind. An keinem Hause 
sind Gitter angebracht, die Fenster sind von dünnem 
Glas, auch in den Wachsälen; zum Speisen dienen 
Tassen, Teller, Schüsseln und Gläser wie in jedem 
Privathaus, die Speisen stehen Mittags und Abends 
auf dem Tisch, so dass jeder selbst zugreifen kann, 
auch im unruhigen Hause; zum Waschen dienen Porzel¬ 
lanschüsseln, jeder Kranke hat sein eigenes Hand¬ 
tuch, wer wünscht und Verständnis dafür besitzt, er¬ 
hält eine Zahnbürste; überall sind Gardinen angebracht, 
und in allen Häusern ist das leichte handliche Mobilar, 
wie man es auch in einem Privathause in Gebrauch 
hat. 

Der Betrieb wurde am i. März 1900 mit der 
Ueberweisung von 25 Männer und 09 Frauen aus 
der Kölner Anstalt Lindenburg eröffnet. Mitte März 
folgten dann 80 Kranke aus Mariaberg und damit 
war der Ausgangspunkt für die weitere Ausgestaltung 
des Anstaltsbetriebes gegeben. Wer die Anstalt zu 
jener Zeit gesehen hat, als sie noch recht unfertig war 
und es an allen Ecken und Enden haperte, als kaum ein 
Gebäude fertig war und die meisten Gärten noch fehlten, 
und als die Wege und Anlagen sich noch in recht 
unvollkommenem Zutande befanden, der konnte die 
Schönheit des Ganzen, wie es sich Ihnen heute 
präsentiert, wo es wie ein grosser Schmuckkasten vor 
Ihnen liegt, nur ahnen, wie man die Schönheit eines 
Monumentes auch nur vermuthen kann, wenn man einen 
roh zugehauenen Marmorblock sicht und weiss, dass 
er von eines Künstlers Hand behauen werden soll. 

Naturgemäss war die weitere Entwicklung vorerst 
eine langsame, und da die Zahl der fertigen Gebäude 
eine kleine war, wurde uns zunächst nur die Hälfte 
der Aufnahmen der Stadt Köln zugewiesen, deren 
andere Hälfte bei der Anstalt Bonn blieb. Am 1. Jan. 
1901 konnten uns die Aufnahmebezirke Barmen, 
Lennep, Remscheid und Solingen Stadt und Land 
zugewiesen werden, zu denen sich dann einige Zeit 
später, am i.Novbr. 1901, noch die Stadt Elberfeld ge¬ 


[Nr. 23 


seilte. Ausserdem wurde uns aus den rhein. Anstalten 
Andernach, Bonn, Düren und Grafenberg zu ihrer 
Entlastung eine grössere Anzahl von Kranken zuge¬ 
schickt. Immerhin betrug die Aufnahmeziffer im 
ersten Etatsjahre 290 Kranke und zwar 160 Männer 
und 130 Frauen, davon 102 aus andern Anstalten, näm¬ 
lich 56 Männer und 46 Frauen; im zweiten Etats¬ 
jahre haben wir 486 Kranke aufgenommen, 254 Männer 
und 232 Frauen, davon 194 aus andern Anstalten 
und zwar 88 Männer und 106 Frauen. 

Das Aufnahme-Material remitiert sich also aus 
den Grossstädten Köln, Elberfeld-Barmen und den 
industriereichen Bezirken des bergischen Landes 
Lennep, Remscheid und Solingen. Vornehmlich sind 
also durch uns die beiden grossen Anstalten Bonn 
und Grafenberg entlastet w r orden. Den Aufnahmen 
steht im ersten Etatsjahr ein Abgang von 113 Kranken 
gegenüber, davon 29 Todesfälle, im zweiten Jahre 
von 252 Kranken, davon 71 Todesfälle. Der Bestand 
am 31. März 1902 betrug 586 Kranke, 300 Männer 
und 286 Frauen. 

Die aufgenommenen Kranken werden in der 
Regel zunächst in der Central anstatt untergebracht, 
d. h. in den geschlossenen Häusern, wozu das 
Aufnahme- und Ueber wachungshaus, das Haus 
für die unruhigen Kranken und das halboffene 
Haus gehört. Die Unterbringung erfolgt natürlich 
nach den allenthalben üblichen Grundsätzen. Im 
Aufnahme-Haus befinden sich 2, im unruhigen Haus 
und ausserdem im Lazareth belindet sich je ein Wach¬ 
saal für die entsprechenden Kranken. In die offenen 
Häuser kommen die Aufnahmen nur ausnahmsweise; 
es konnten z. B. von den uns aus den andern An¬ 
stalten überwiesenen Kranken manche ohne weiteres 
dort untergebracht werden, weil sie uns bekannt waren. 
In der Regel erfolgt die Versetzung in die freien 
Häuser erst nach einer mehr weniger langen Be¬ 
obachtungsfrist. Eine Art Uebergangsstation dahin 
stellt das sog. halboffene Haus dar, in welchem den 
Kranken innerhalb der einzelnen Räume und im Garten 
freie Bewegung gewährt ist, wo ihnen beim Essen 
Messer und Gabel zur Verfügung steht, und wo sie 
die Fenster selbst öffnen können. In den freien 
Häusern ist auch der letzte Zwang vermieden, die 
Thüren .stehen offen, die Leute können ein und aus¬ 
gehen, haben freie Bewegung und sind nur an die 
Hausordnung gebunden. 

Was das Verhalten der Kranken im Allgemeinen 
angeht, so muss ich gestehen, dass ich im Anfang 
darüber oft überrascht war. Das gilt namentlich von 
den Kranken, die aus andern Anstalten hierhin ver¬ 
setzt worden sind, die mir zum grossen Teil bekannt 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1 9 ° 3 -] 

waren, und über die uns die Krankengeschichten ge¬ 
naue Auskunft gaben. Ich habe nicht ohne Be¬ 
sorgnis im Anfang die einfache und freundliche Aus¬ 
stattung bes. im unruhigen Hause und Wachsaal be¬ 
trachtet und war sehr gespannt zu sehen, wie die 
Kranken darauf reagiren würden; ich war recht er¬ 
staunt, dass die dünnen Möbel und Fensterscheiben 
etc. so selten als Zielscheibe bei den Explosionen der 
Kranken benutzt wurden. Die Kranken fühlten sich 
ersichtlich wohl hier, und wie gut sie sich schickten, 
dafür spricht die Thatsache, dass im unruhigen Wach¬ 
saal bisher nur einmal eine Gardine herabgerissen 
worden ist. Auffallend gut haben sich auch die 
Kranken aus Mariaberg hier eingelebt, ohne uns durch 
unangenehme Eigenschaften viel zu schaffen zu machen, 
und gerade ihnen ging nicht der beste Ruf voraus. 


267 


etc. haben wir von Anfang an verzichtet und sie auch 
nie entbehrt; es herrscht im Ganzen eine wohlthuende 
Ordnung auf allen Abtheilungen. 

Eine wesentliche Errungenschaft der Verhältnisse 
möchte ich darin erblicken, dass die Erregungszu¬ 
stände der Kranken im Ganzen einen milden Cha¬ 
rakter beibehalten haben. So heftige Erregungen, 
wie ich sic früher gesehen, habe ich hier kaum zu 
beobachten Gelegenheit gehabt. Das kann nicht am 
Material liegen, denn das ist das gleiche wie in den 
anderen Anstalten, es kann auch nicht daran liegen, 
dass die Kranken, soweit hier die in Betracht kom¬ 
men, die wir aus anderen Anstalten bekommen haben, 
im Laufe der Zeit mehr verblödet wären, auch sind 
die Behandlungsgrundsätzc ja dieselben wie in den 
anderen Anstalten, sondern es ist wohl als die Folge 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 



Und viele von den Patienten, die sich in den andern 
Anstalten nach den Krankenjournalen meist auf den 
unruhigen oder halbruhigen Abtheilungen befunden 
haben, konnten hier sehr bald in freie Häuser ver¬ 
legtwerden. Gar mancher urtheilsfähige Patient hat sich 
darüber ausgesprochen, dass ihn früher die Gitter und 
das ganze Milieu permanent gereizt hätten, und dass 
er sich hier viel wohler fühle, weil ihm der Anstalts¬ 
zwang nicht so zum Bewusstsein komme, wie früher. 
Nun ist es ja bekannt, dass Versetzungen oft einen 
günstigen Einfluss auf das Befinden der Kranken 
ausüben, und das natürlich um so mehr, wenn sie 
in äusserlich freundlichere Verhältnisse erfolgt. Uebt 
doch das Milieu, in dem der Mensch lebt, auch bei 
gesunden nicht selten einen bestimmenden Einfluss 
auf seinen Charakter aus. Ich halte das Milieu für 
einen ausserordentlich wichtigen Heilfaktor bei der 
Behandlung der Psychosen. Durchweg halten sich 
die Kranken recht gut, ordentlich in der Kleidung; 
selten, dass einer versucht auf der Erde herumzu¬ 
liegen; in den Gärten halten sie sich meist an die 
Wege und demoliren namentlich die Sträuchcr und 
Anpflanzungen nicht; auf feste Kittel, Schlossschuhe 

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und der Erfolg des ganzen Milieus, der freien Ver¬ 
hältnisse aufzufassen. Speciell die Erregungszustände 
der Epileptiker, deren wir ja eine grosse Zahl hier 
beherbergen, sind im ganzen recht milde geblieben. 
Das alte Personal, das aus Mariaberg mitgekommen 
ist und die alten Pfleglinge von dort genügend kannte, 
konnte sich nicht genug über die so ganz andere 
ruhigere und bessere Haltung der Kranken und das 
Ausbleiben der von ihm angekündigten und gefürch¬ 
teten Erregungszustände wundem. Die einzigen, die 
uns wirklich Mühen und Scheerereien machen, das sind 
hier, wie überall die Degenerirten gewesen, diese crux 
aller Anstaltsärzte. Wenn irgend einmal ordentlicher 
Lärm herrschte oder in ausgiebiger Weise etwas entzwei 
geschlagen wurde oder eine Fensterscheibe klirrte, dann 
war mit ziemlicher Sicherheit darauf zu rechnen, dass von 
dieser Kategorie jemand die Hand im Spiele hatte. 
Wir sind natürlich am besten mit ihnen gefahren, 
indem wir ihnen möglichst viel Freiheit gewährten, 
d. h. sie thunlichst in den freien Häusern unter¬ 
brachten. 

Dagegen haben die Alkoholisten und die Ver¬ 
brecher, von denen wir in den 2 Jahren eine grosse 

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HARVARD UN1VERSITY 









268 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


Zahl aufgenommen haben, sich im Ganzen gut ge¬ 
halten. 

In den freien Häusern befindet sich ein ziemlich 
grosser Procentsatz der Kranken. Vornehmlich und 
als Krystallisationspunkt Pfleglinge, dann aber auch 
viele Reconvalescenten, und bei der Versetzung da¬ 
hin sind wir nie engherzig gewesen und haben das 
auch nicht zu bereuen brauchen. So mancher Kranke, 
der nur auf Flucht sann und durch seine unangeneh¬ 
men Eigenschaften lästig wurde, war wie umgewandelt, 
wenn er in ein offenes Haus versetzt wurde. Von 
Schwängerungen sind wir glücklicherweise verschont 
geblieben, dagegen waren wir doch gelegentlich ge- 
nöthigt, dem einen und andern die Freiheit zu ent¬ 
ziehen, weil er sich in verdächtiger Weise Kindern 
genähert hatte, oder weil er sich den Bewohnern der 
Umgebung durch sein Benehmen auffällig gemacht 
hatte. Entfernt haben sich natürlich eine ganze An¬ 
zahl von Kranken, sowohl aus den offenen Häusern 
wie aus der Centrale. Die meisten haben wir zu 
Hause gebissen, die andern wurden in wenigen 
Stunden oder in den nächsten Tagen zurückgebracht. 

Die Behandlung richtete sich nach den allgemein 
üblichen und erprobten Grundsätzen. In erster Linie 
ist natürlich von der Bettbehandlung ausgedehnter 
Gebrauch gemacht werden, vornehmlich bei acuten 
Psychosen, dann aber auch bei den im Verlaufe chro¬ 
nischer Krankheiten sich einstcllenden Erregungszu¬ 
stände und selbstverständlich auch bei siechen Kran¬ 
ken. Schätzenswerth ist sie w'ohl besonders als An¬ 
staltsregime, und man kann sagen, dass durch sie die 
Abtheilungen zu einem ruhigeren und wohnlicheren 
Aufenthalt geworden sind. 

Aus diesem Grunde haben wir auch manche 
chronische Kranke im Bett gehalten, wenn uns die 
Erfahrung zeigte, dass die Bethätigung ihrer üblen 
Angewohnheiten dadurch verhindert wurde. Ausser¬ 
ordentlich angenehm sind für uns die an jedem Haus 
angebrachten Veranden, die es uns ermöglichen, die 
Betten mit den Kranken bei gutem Wetter ins Freie 
zu schieben. Wir lassen übrigens eine ganze Anzahl 
von Patienten, die der Bettbchandlung unterworfen 
sind, Nachmittags für einige Stunden sich in den 
Gärten ergehen. Es muss freilich grosses Gewacht 
auf die Vertheilung der Kranken bei der Bettbehand¬ 
lung gelegt werden, damit Elemente, die nicht zu 
einander passen, möglichst getrennt worden und da¬ 
mit sie sich nicht gegenseitig aufregen. 

Bäder sind in reichlichem Maasse gegeben worden, 
auch Dauerbäder, soweit die Einrichtungen dies ge¬ 
statteten, obwohl ich gestehen muss, dass auch sie 
uns bei manchen Erregungen im Stiche lassen. Die 


Einrichtung von Dauerbädern, die auch Nachts woiter 
gegeben werden, wie dies in Heidelberg und Frank¬ 
furt geschieht, will mir a priori nicht sehr sympathisch 
erscheinen. Ich habe zw r ar keine persönliche Erfah¬ 
rung darüber, indess erscheint mir doch aus manchen 
Gründen sehr fraglich, ob sie das Bürgerrecht in der 
Psychiatrie erwerben werden. 

Einen reichlichen Gebrauch haben wir auch von 
den feuchten Einpackungen von 2 — 3 stündlicher 
Dauer gemacht, einmal, weil zuweilen die Badege¬ 
legenheit gar nicht ausreichte und dann, weil die 
feuchte Einpackung in manchen Fällen die Wirkung 
eines Kurbades weit übertrifft Wir haben sie in der 
Art angewandt, wie sie auch anderorts, z. B. in Grafen¬ 
burg, üblich ist, ohne die dazu benutzten Tücher zu¬ 
letzt durch Binden zu befestigen, so dass es für den 
Patienten ein leichtes ist, sich aus der Einpackung 
zu befreien, wenn sie ihm nicht behagt. Der Ein¬ 
wand, dass sie ein beschränkendes Zwangsmittel ist, 
lässt sich bei dieser Art der Anwendung nicht er¬ 
heben. Es wird übrigens Abstand von ihr genom¬ 
men, wenn der Kranke sie sich nicht gefallen lässt. 
In einen oder andern Fall verursacht sie bei längerer 
Anwendung die Entstehung von Acnepusteln und 
kleinen Furunkeln und ist dann natürlich auszusetzen. 

Was die Narcotica angeht, so haben wir zeitweise 
einen ausgedehnten Gebrauch von ihnen machen 
müssen. Auf der Männerseite war der Consum ge¬ 
ring, doch muss ich ehrlich gestehen, dass wir auf 
der Frauenseite ohne sic wohl nicht gut ausgekom¬ 
men wären. Ich kann den Standpunkt der Psv- 
chyater nicht theilen, die sie grundsätzlich verwerfen, 
und kann nur mit Bleuler*) übereinstimmen, der in 
ihrer Versagung unter Umständen eine Grausamkeit 
erblickt. Für den Kräfteverbrauch so manches er¬ 
regten Patienten ist eine, wenn auch nur vorüber¬ 
gehende, Zeit der Ruhe, des Schlafes, doch gewiss 
nicht zu unterschätzen und manchmal auch nur durch 
Schlafmittel zu erreichen. Und ausserdem haben wir 
nicht nur auf einen, sondern auf alle Kranke Rück¬ 
sicht zu nehmen. Es ist durchaus nicht allen Pa¬ 
tienten gleichgültig, ob in ihrer Umgebung Ruhe oder 
Lärm herrscht. Und zudem steckt der eine den 
andern mit seiner Unruhe nur zu oft an, das ist 
eine alte Erfahrungstatsache. Man muss sich nur 
einmal selbst lange auf einer unruhigen Abtheilung 
befunden haben und die nervenerregende Wirkung 
eines stundenlangen Schreiens oder Schimpfens an 
sich selbst empfunden haben, dann wird man die 
Klage vieler Patienten über die Unruhe verstehen 

*) Psychiatr. Wochenschrift, III, Nr. 49. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 269 


und ihr abzuhelfen suchen. Sind die einen ausser¬ 
ordentlich stumpf in dieser Beziehung, so sind die 
andern um so empfindlicher. Wir haben auf dem 
unruhigen Frauen wachsaal eine Kranke, die gelegent¬ 
lich Abends anfängt mit lauter Stimme zu singen — 
lediglich weil ihr das Spass macht, wie sie sagt — 
und es ist keine Patti, die da ihre Stimme ertönen 
lässt, das kann ich Ihnen versichern. Nun, in’s 
Bad setzen können wir die Frau Abends nicht mehr, 
es nützt bei ihr auch nichts, aber wenn nicht bald 
eingeschritten wird, so stimmen eine Anzahl von 
Kranken bald ein und es giebt ein Concert, das 
Stein erweichen, Menschen rasend machen kann, 
und über das die andern sich mit Recht beklagen. 
Da wäre es doch Unvernunft, wenn wir die Kranke 
nicht durch ein Schlafmittel beruhigen wollten. 

Zur Anwendung kommen Trional, Sulfonal, Chloral, 
Paraldehyd, Amylenhydrat, Opium, Morphium, Brom; 
von neueren Mitteln hat sich als wirklich schätzens- 
werth in Gaben von 1 — 3 g Dormiol bewiesen, 
das namentlich bei älteren Leuten mit schwachem 
Gefässsystem gute Dienste leistet und längere Zeit 
hindurch ohne Schaden gegeben werden kann. Auch 
Scopolamin wird angewandt. Ich freue mich, dass 
K reuser-Schussenried *) es jüngst wieder empfohlen 
hat. Ich halte es nach all den Jahren, in denen ich 
es habe anwenden sehen und selbst angewandt habe, 
gelegentlich für das beste von den Mitteln, die uns 
zur Verfügung stehen, und halte es auch für ein un¬ 
gefährliches Mittel. Zum ersten lässt es fast nie im 
Stich, zum zweiten habe ich in 6 Jahren noch keinen 
wirklichen Nachtheil davon gesehen, obwohl ich es 
auch stellenweise in hohen Dosen bis zu 2 mg sub- 
cutan angewandt habe. Die kleinen üblen Neben¬ 
wirkungen als Gefühl der Trockenheit, gelegentlich 
Gefühl der Trunkenheit, gehen schnell vorüber, und 
unangenehm wird nur von dem einen oder andern 
die den folgenden Tag bestehende Accomodations- 
lähmung empfunden. Man darf es nur nicht längere 
Zeit hindurch regelmässig geben, da sich dann eine 
Art Cachexie einstellt. Nun, eine längere regelmässige 
Anwendung verbietet sich ja bei den meisten Narco- 
ticis. Die beste Anwendung ist subcutan, und ge¬ 
wöhnlich kommt man mit x / 2 — 1 mg aus. 

Bei vielen periodischen Erregungszuständen, bei 
denen sich durch Curven eine grosse Regelmässigkeit 
nach weisen liess, haben wir nach dem Beispiel von 
Hitzig eine Atropinkur eingeleitet. Wir haben leider 
nie besonders viel Erfolge damit erzielt. Einen wirk¬ 
lich eklatanten Erfolg habe ich nur einmal seinerzeit 
in Bonn gesehen; in all den übrigen Fällen — und 

*) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 59. Bd., Heft 1. 

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ich habe es sehr oft versucht und wende es immer 
noch an — war der beste Erfolg gelegentlich die 
Thatsache, dass die Erregung etwas später einsetzte 
oder vielleicht nicht ganz so stürmisch verlief. Ich 
habe dabei oft die Beobachtung gemacht, dass die 
Pupillen trotz häufiger Atropininjection eng bez- 
mittelweit blieben, mit dem Tage jedoch, mit dem 
die Erregung einsetzte, sich ad maximum erweiterten. 

Das moderne Schlagwort von der zellenlosen Be¬ 
handlung hat natürlich auch in unserer Anstalt seinen 
Widerhall gefunden, und wie man meines Wissens 
schon vor Jahren in Andernach die Isolirungen ab¬ 
geschafft hat, so haben auch wir versucht, ohne sie 
auszukommen. Im ersten Jahre ist an zwei aufein¬ 
anderfolgenden Tagen eine Patientin isolirt worden, 
eigentlich nur des völlig unerfahrenen Personals wegen, 
seitdem ist in unserer Anstalt von der Zelle kein 
Gebrauch gemacht worden. 

Es ist ohne Isolirung gegangen. Ich möchte aber 
für meine Person aus der zellenlosen Behandlung kein 
Princip machen. Bleuler hat vor kurzem in der 
Psychiatr. Wochenschrift*) seine Ansicht darüber 
niedergelegt, und seine Ausführungen sind mir, wie 
alles was ich von ihm über Behandlung gelesen habe, 
sehr sympathisch und als sehr practisch erschienen. 
Er spricht sich entschieden gegen das Princip der 
zellen losen Behandlung aus. Es ist eben beim Iso- 
liren eine strenge Auswahl zu treffen. Ein Theil von 
Kranken, z. B. solche, die zum Schmieren neigen, 
gehört nicht in die Zelle, für einen andern ist ge¬ 
legentlich die vorübergehende Isolirung eine Wohl- 
that, oder sie ist für die Umgebung eine Wohlthat, 
während sie für den Betreffenden wenigstens unschäd¬ 
lich ist. Auf die Isolirung ebenso wie auf die Nar- 
colica völlig Verzicht leisten, das heisst doch wohl 
allzu sehr alles über einen Kamm scheeren und von 
vornherein auf jegliches Individualismen verzichten. 
Neuerdings mehren sich auch die Stimmen, die die 
Bewegung der zellenlosen Behandlung einzudämmen 
suchen, so der eben genannte Kreuser**), der auf 
der 32. südwestdeutschen Psychiater-Versammlung am 
2. und 3. November 1901 mit seinen diesbezüglichen 
Ausführungen keinen Widerspruch gefunden hat, so 
Sander ebendaselbst, der die Isolirung in vereinzelten 
Fällen für den mildesten Eingriff hält, so J o 11 y ** + ), 
der die Bemerkung macht, dass das extreme Ziel 
der Fanatiker in dieser Frage ebensowenig verwirk¬ 
licht zu werden braucht wie in der Frage der Alko- 

*) III. Jahrgang, Nr. 49. 

**) 1. c. 

***) citirt nach d. Psych.-neurol. Wochenschrift VI, Heft 9 
S. 10. 


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270 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


holabstinenz; ich möchte hinzufügen, wie auch in der 
Frage der Abstinenz von Narcotica. Es darf doch wohl 
überhaupt bei einer Wissenschaft, die in Fluss be¬ 
griffen ist, keine starre für alle Fälle festgeltenden Prin- 
cipien geben. 

Uebrigens bin ich der Ansicht, dass auch hier im 
einen oder andern Falle eine Isolirung nicht unzweck- 
mässig gewesen wäre, wir haben aber darauf ver¬ 
zichtet, um die zellenlo.se Behandlung in praxi kennen 
zu lernen. 

Die Versetzung aus der Centralanstalt in die offe¬ 
nen Häuser ist als Behandlungsmethode oft von uns 
in Anwendung gebracht worden und zwar meist mit 
gutem Erfolg. Unthätige Kranke wurden zu fteissigen 
Arbeitern, unzufriedene Nörgler zu friedlichen Staats¬ 
bürgern, zanksüchtige Elemente zu friedfertigen um¬ 
gänglichen Menschen umgewandelt. 

Leider zwang uns die Ueberfüliung einzelner Ab¬ 
theilungen bes. der Lazarethe manchmal zur Versetzung 
von Kranken in die freien Villen, die wir lieber nicht 
dorthin gebracht hätten. Aber es ist geradezu un¬ 
glaublich, wie viel senil demente hinfällige Personen 
zeitweise zur Aufnahme gelangten, so dass die Laza¬ 
rethe doppelt so gross für sie alle sein müssten. 
Namentlich hat Köln uns zeitweise mit solchen Kran¬ 
ken aus seinen Versorgungshäusem bedacht, so be¬ 
kamen wir z. B. einmal in einer Woche aus Köln 
5 Kranke, die zusammen das respectable Alter von 
387 Jahren besassen, also durchschnittlich 77 Jahre 
pro Kopf. Infolge dieses Materials haben wir be¬ 
sondere Sorgfalt auf die Verhütung der Unreinlich¬ 
keit gelegt, und da haben uns Einläufe, die sehr 
viel gemacht werden, gute Dienste geleistet. Dann 
ist auch in den Lazarethen eine Nachtwache einge¬ 
richtet, die genaue Vorschrift bekommt, welche Kran¬ 
ken und wie oft sie aufzuheben sind, und seitdem 
gehört Unreinlichkeit dort wirklich zu den Selten¬ 
heiten. Die Kranken lassen sich das Aufheben Nachts 
mit Unterbrechung ihres Schlafes merkwürdig gut ge¬ 
fallen, und ich habe trotz Umfrage bei dem Personal 
und den Kranken nie Klagen darüber gehört Für 
hinfällige Personen steht natürlich ein Steckbecken 
zur Verfügung. 

Bezüglich der Arbeit hat sich auch hier wieder 
gezeigt, dass auch die Bevölkerung der Gross- und 
Industriestädte für die Landwirthschaft wohl zu 
brauchen ist. Der Procentsatz der Arbeiter bewegt 
sich so ziemlich in denselben Zahlen wie bei den 
anderen Anstalten. 

Mit der Entlassung von Kranken sind wir stets 
liberal gewesen, und wir haben auch hier die Er¬ 
fahrung gemacht, dass viele Patienten sich draussen 

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halten, die im medic. Sinne als ungeheilt entlassen 
werden mussten. 

Nur nebenbei will ich bemerken, dass wir von 
Epidemien, einige Influenzafälle im ersten Jahre aus¬ 
genommen, verschont geblieben sind; wir können 
besonders von Glück sagen, dass wir im ersten 
Jahre von Darmerkrankungen so gut wie frei ge¬ 
blieben sind, obwohl wir damals unter misslichen 
Trinkwasser-Verhältnissen zu leiden hatten. 

Die Zahl der Sterbefälle war eine ziemlich hohe, 
was bei der grossen Zahl von Paralytikern und senilen 
Psychosen, die zur Aufnahme gelangte, nicht ver¬ 
wunderlich erscheint. Ausserordentlich gross war die 
Zahl der Fälle, bei denen wir post mortem Zeichen 
von langsam verlaufender Lungentuberculose fanden; 
es waren das fast ausnahmslos Kranke, die schon 
seit Jahren sich in Anstalten befanden, und bei denen 
die Tuberculose eigentlich nie bes. in Erscheinung 
getreten war. 

Das Personal unserer Anstalt hat sehr viel ge¬ 
wechselt, was sich natürlich oft unangenehm bemerk¬ 
bar gemacht hat. Namentlich erscheint dadurch der 
Nutzen des ihm erthcilten Unterrichtes ziemlich illu¬ 
sorisch. 

Besonders grobe Vergehen sind nicht vorgekom¬ 
men und es ist nicht schlechter und besser als sonst 
auch ; voraussichtlich weiden ja diese Zustände in ab¬ 
sehbarer Zeit auch nicht anders werden. Wie in 
manchen andern Anstalten, so nimmt auch hier das 
Personal das Essen gemeinsam in 2 Gruppen in einem 
bestimmten Speisezimmer ein, so dass es während 
der Mahlzeiten von jeder Sorge um die Kranken 
völlig befreit ist. Diese Einrichtung hat sich ent¬ 
schieden bewährt. Für einige verheirathete Pfleger 
sind schon Wohnungen ausserhalb der Anstalt ge¬ 
schaffen, für andere wird noch gesorgt; vielleicht lässt 
sich hier später der Grund zu einer Familien pflege legen. 

Ich habe Ihnen, meine Herren, bei der mir zu 
Gebote stehenden Zeit, natürlich nur einen Ueber- 
blick über den Betrieb der Anstalt Galkhausen geben 
wollen; viele Punkte habe ich gar nicht berühren 
können und auf Details einzugehen habe ich mir 
versagen müssen. Ich hoffe aber, in Ihnen die Ueber- 
zeugung erweckt zu haben, dass wir nicht schlechter 
abschneiden wie die anderen Anstalten und die Ueber- 
zeugung, dass die Psychiatrie mit der Errichtung 
solcher Anstalten wie die hiesige, bei der die Er¬ 
rungenschaften unserer Disciplin, namentlich der 
letzten 25 Jahre, in ausgedehnterem Maasse verwirk¬ 
licht werden konnten als dies natürlich bei älteren An¬ 
stalten der Fall sein kann, dem Ideale der psychiatri¬ 
schen Behandlung um ein wesentliches näher gerückt ist. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 271 


Der rhein. Pro v inzial-Verwaltung gebührt der Dank 

Von diesem Bestand litten an: 


dafür, dass sie in der richtigen 

Beurtheilung der 





Sache den Bau dieser Anstalt seiner Zeit unternom- 


M. 

F. 

S. 

men und zu einem so schönen Ende durchgeführt hat. 






M 

Y 

s 

einfacher Seelenstörung .... 

46 

50 

96 





paralytischer Seelenstörung . . . 

10 

6 

16 

Eröffnung 1. III. 1900 mit 

25 

69 

94 

Seelenstörung bei Epilepsie . . 

26 

6 

32 

Zugang im März 1900 .... 

80 

1 

81 

Imbecill. und Idiotie. 

22 

7 

3 i 

Abgang im März 1900 (durch Tod) 

1 

1 

2 

Summe 

104 

69 

173 

Bestand am 31. III. 1900 . . . 

104 

69 

173 





I. Etatsjahr 




II. Etatsjahr 




1. IV. 1900 bis 31. III. 1901. 


i.IV. 1901 bis 31. III. 1902. 



M. 

F. 

S. 


M. 

F. 

S. 

Bestand 1. IV. 1900. 

104 

69 

173 

Bestand 1. IV. 1901. 

197 

155 

352 

Zugang vom 1. IV. 1900 bis 31. III. 




Zugang bis 31. III. 1902 . . . 

254 

232 

486 

1901. 

160 

130 

290 

Abgang bis 31. III. 1902 . . . 

153 

99 

252 

Abgang i.IV. 1900 bis 31. III. 01 

67 

44 

111 

Bestand am 31. III. 1902 . . . 

298 

288 

586 

Bestand am 31. III. 1901 . . . 

197 

155 

352 


Von den Aufnahmen litten an: 


Von dem Zugang litten an 




M. 

F. 

S. 


M. 

F. 

S. 

einfacher Seelenstörung .... 

116 

104 

220 

einfacher Seelenstörung .... 

176 

183 

359 

paralytischer Seclenstörung . . . 

19 

12 

31 

paralytischer Seelenstörung . . . 

36 

26 

62 

Seelenstörung bei Epilepsie . . 

14 

6 

20 

Seelenstörung bei Epilepsie . . 

27 

11 

38 

Imbecillität, Idiotie. 

6 

6 

12 

Imbecillität, Idiotie . . . . *. . 

14 

11 

25 

Delirium potat. 

3 

1 

4 

Delirium potat. 

— 

— 

— 

nicht Kranke. 

2 

1 

3 

nicht Kranke. 

1 

1 

2 

Summe 

160 

130 

290 

Summe 

254 

232 

486 


Von den Aufnahmen: 



M. 

F. 

S. 


M. 

F. 

S. 

erblich belastet. 

00 

45 

132 

erblich belastet. 

75 

90 

i ^5 


Der Alkohol spielte in der Vorgeschichte eine wesentliche Rolle bei: 


M. 

F. 

S. 

M. 

F. 

S. 

45 

5 

5 ° 

88 

29 

11 7 


Mit dem Strafgesetz in Conflict gekommen : 


M. 

F. 

S. 

M. 

F. 

S. 

25 

10 

[ 35 

69 

r 1 

80 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 





















PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


Abgang: 

M. 

F. 

S. 

geheilt. 

17 

16 

33 

gebessert. 

27 

15 

42 

ungeheilt. 

6 

1 

7 

nicht krank. 

2 

— 

2 

gestorben .. 

15 

12 

27 

Summe 

67 

44 

111 

Todesursache der Gestorbenen: 



M. 

F. 

'S. 

Paralyse. 

Krankheiten des Gehirns und s. 

8 

5 

13 

Häute. 

3 

7 

IO 

Lungenkrankheiten. 

2 

— 

2 

Herzleiden. 

2 

— 

2 

Summe 

15 

12 

27 


M i 

t t 

h e 


— Stuttgart. Die Irrenabtheilung des hiesigen 
Bürgerhospitals steht gegenwärtig im Begriff, durch 
Anbauten eine wesentliche Vergrösserung zu erfahren, 
die einestheils durch die Fortschritte in der Behand¬ 
lung Geisteskranker, anderntheils durch die stetig zu¬ 
nehmende Inanspruchnahme dieser Spitalabtheilung 
nöthig geworden ist. Wenn auch einerseits nicht im 
Ernste daran gedacht werden kann, die Irrenabtheilung 
des Stuttgarter Bürgerhospitals zu einer eigentlichen 
„Irrenanstalt“, wenn auch kleineren Umfangs, auszu¬ 
gestalten — hiefür besteht weder die Möglichkeit noch 
das Bedürfnis — und wir daher hier in Stuttgart von 
allen denjenigen Einrichtungen abstehen müssen, die 
auf einen langdauemden Aufenthalt der Kranken be¬ 
rechnet sind (wie besondere Anlagen zur Beschäftigung), 
so hat sich doch andererseits die städtische Verwaltung 
der Erkenntnis nicht verschlossen, dass auf diejenigen 
Einrichtungen, die der Behandlung der Geisteskranken 
in den ersten Zeiten der Erregung dienen, auch in 
einer zur vorübergehenden Aufnahme bestimmten 
Irrenstation nicht verzichtet werden darf, da ja eine 
solche Station ihre Kranken fast durchweg in früheren 
Stadien aufnimmt und deswegen einen relativ viel 
höheren Procentsatz an stark erregten und jener Ein¬ 
richtungen bedürftigen Kranken beherbergt als die 
eigentlichen Irrenanstalten. Diesem Zweck dient in 
erster Linie die Erstellung eines Badesaals für Dauer¬ 
bäder auf der männlichen und weiblichen Abtheilung 
mit je 4 Badewannen (unter Beibehaltung und zweck¬ 
mässiger Aenderung der vorhandenen Badeeinrich - 
tungen). Durch ähnliche Bedürfnisse und ausserdem 
durch die zunehmende Frequenz der Irrenabtheilung 
nothwendig geworden ist die Erstellung eines weiteren 
Wachsaals, so dass dann jede Wachabtheilung über 


Abgang: 

M. 

F. 

S. 

geheilt. 

48 

32 

80 

gebessert. 

43 

26 

69 

ungeheilt. 

22 

6 

28 

nicht krank. 

1 

— 

1 

gestorben. 

36 

35 

7 i 


3*) 

— 

3 

Summe 

1 53 

99 

252 

*) Aus der Beobachtung entlassen. 





Todesursache der Gestorbenen: 



M. 

F. 

S. 

Paralyse. 

12 

15 

27 

Krankheiten d. Gehirns u. s. Häute 

4 

4 

8 

Lungenkrankheiten. 

IO 

2 

12 

davon Tbc. 

( 7 ) 

(1) 

( 8 ) 

Herzleiden. 

4 

4 

8 

andere Krankheiten. 

6 

IO 

16 

Summe 

36 

35 

7 1 


1 u n g e n. 

einen — an die Daucrbadeeinrichtung sich unmittelbar 
anschliessenden — Wachsaal für Unruhige und einen 
solchen für Ruhige verfügt. Es ist vielleicht auch für 
weitere Kreise nicht uninteressant, hier zu erfahren, 
dass die Zahl der jährlichen Neuaufnahmen auf der 
Irrenabtheilung seit einer Reihe von Jahren, namentlich 
seit die Einrichtungen und der Betrieb berechtigten 
Anforderungen entsprechen, in stetiger Zunahme be¬ 
griffen ist. Von 121 jährlichen Neuaufnahmen im 
Jahre 1893 — dem letzten Jahre, da die Irrenab¬ 
theilung noch im alten Bürgerhospital untergebracht 
war — ist die Zahl der Neuaufnahmen im abgelaufenen 
Jahre auf 220, also annähernd das Doppelte, gestiegen. 
Durch die Erstellung jener weiteren Räume, zu denen 
sich noch, um eine grössere Abstufung nach Krank¬ 
heitsformen und socialen Verhältnissen zu ermöglichen, 
die Erstellung einer Anzahl Einzelzimmer gesellt, wird 
auch weitgehenden Bedürfnissen und Ansprüchen für 
absehbare Zeit Genüge geleistet werden. Gleichzeitig 
mit diesen baulichen Aenderungen werden die Garten¬ 
anlagen für die Irrenabtheilung durch Erstellung von 
Wandelgängen, die den Gartenaufenthalt von den Ein¬ 
flüssen der Witterung unabhängiger gestalten sollen, 
in zweckmässiger Weise verbessert werden. Die ge¬ 
nannten Bauten und Neueinrichtungen sind vor wenigen 
Monaten begonnen worden und werden — Dank der 
Fürsorge der städtischen Verwaltung und dem Eifer 
der Bauleitung — so gefördert werden, dass sie noch 
im Herbste dieses Jahres in Benützung genommen 
werden können. 

(Staatsanzeiger für Württemberg No. 115, 21. Mai 1902.) 


Berichtigung. Die redactionelle Bemerkung auf S. 263, 
1 . Spalte, Z. 4—7, entstammt der Red. der betr. Tageszeitung. 


Für den redactionellen Th eil verantwortlich: Oberarzt Dr. J, Iiresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann'sche Buchdruckerei (Gebr. Wolflf) in Halle a S. 

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ieden Sonnabend — S 

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Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van De venter, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttet&dt, Prof. Dr. B. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini , Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel 

Geh. Med. -Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 24, 13. September. ' _ 1902, 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz «Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Der Wiener Irrenthunn. Von Dr. Wilhelm Lorenz (S. 273). — Mittheilungen (S. 277). — Referate (S. 280). 
— Personalnachricht (S. 280). 


Der Wiener Irrenthurm. 

Ein Beitrag zur Geschichte des niederösterreichischen Irrenwesens. 
Von Dr. Wilhelm Lorenz , n.-ö. Landes-Sanitäts-Concipist. 


T~\ie vielfach vertretene Ansicht, welcher auch 
Wittelshöfer in seiner verdienstvollen Ge¬ 
schichte der Heil- und Humanitätsanstalten Wiens 
beipflichtet, nach welcher die Mehrzahl der Geistes¬ 
kranken bis zur Zeit der Reform des gesammten 
Humanitätswesens Wiens durch Kaiser Joseph II 
in Gefängnissen gemeinschaftlich mit Verbrechern, 
(nach W i 11 e 1 s h ö f e r ’s Angabe in einem Gefäng¬ 
nisse am „Salzgries“) eingesperrt gewesen wären, 
„woselbst sie nur nothdürftig bekleidet in Ketten lagen 
und gleich Thieren gefüttert wurden“, scheint nicht 
vollkommen zutreffend zu sein, da in den allerdings 
nur sehr spärlichen Urkunden, die ein schwaches 
Licht in das Dunkel zu bringen vermögen, in welches 
die Fürsorge für die Geisteskranken Wiens in den 
früheren Jahrhunderten gehüllt ist, kein sicherer An¬ 
haltspunkt dafür auffindbar ist, dass die Geisteskran¬ 
ken den Verbrechern gleichgehalten wurden. Eine 


der ältesten uns erhalten gebliebene Urkunde, die 
Fürsorge für Geisteskranke betreffend — wenn nicht 
die älteste überhaupt — liefert mit aller Deutlichkeit 
den Beweis, dass die Irrsinnigen in Wien schon zu 
Beginn des XVII. Jahrhunderts in Spitälern Aufnahme 
fanden und daselbst verpflegt wurden. Enthalten ist 
diese für die Beurtheilung der damaligen Verhältnisse 
höchstwichtige Mittheilung in einem Erlasse des Ge¬ 
heimen- und Deputationsrathes vom 11. Juni 1611, 
nach welchem „Denen von Wien“ der Auftrag er- 
theilt wird, dass . . . (sie) . . . die mit dem Hin¬ 
fahlenden, Vnsucnigkhait vnnd anndem abscheulichen 
Leibschäden behaffte, in dass Burgerspittal einnemben 
oder im Fahl sich bay ainem oder dem anndem ain 
Betrug hierinnen befindet diesselben von der Statt 
wegschaffen“. *) 

*) Original im Wiener städtischen Archiv. N. 5 ex 1611. 


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Original from 

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274 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


Genauere Angaben über die Versorgung Geistes¬ 
kranker sind erst aus dem XVIII. Jahrhundert über¬ 
liefert. 

Nach einem Ausweise des Wiener Diariums vom 
Jahre 1766 waren damals in verschiedenen Spitälern 
128 Irrsinnige, gegen 5 Percent der Gesammtzahl 
der Verpflegten in Verpflegung gestanden. Von Spi¬ 
tälern, in welchen im XVIII. Jahrhundert Geistes¬ 
kranke untergebracht waren, werden ausdrücklich ge¬ 
nannt: das Bürgerhospital zu St. Clara*), in welcher 
Anstalt Arme, Kranke, Gebärende, Findelkinder, 
Waisen, Irrsinnige und Pilger verpflegt wurden; das 
Spital zu St. Marx **), wo die Geisteskranken gleich¬ 
zeitig mit an contagiösen Krankheiten Leidenden, 
sowie mit Schwangeren und Findelkindern unterge¬ 
bracht waren, und das Spanische Spital. 

Dass die Pflege der Geisteskranken daselbst oft 
viel zu wünschen überliess, dass die verschiedenen 
Beschränkungsmittel in weitgehendstem Maasse An¬ 
wendung fanden, darf nicht wundernehmen zu einer 
Zeit, in welcher die Geisteskranken für unheilbar ge¬ 
halten wurden und ihre Separirung vorwiegend im 
Interesse der Gesellschaft erfolgte. Trotzdem muss 
die Thatsache betont werden, dass in Niederösterreich, 
insbesondere in Wien, für die Geisteskranken wenig¬ 
stens schon im XVII. und XVIII. Jahrhundert in 
menschenwürdigerer Weise vorgesorgt war, als z. B. 
in Frankreich und England, wo sie noch bis Ende 
des XVIII. Jahrhunderts selbst in der Zelle mit 
Hunden gehetzt (Frankreich), Schaulustigen für Geld 
gezeigt oder gar während bestimmter Mondphasen 
systematisch gepeitscht wurden (England), letzteres um 
angeblich den Einfluss des Mondes zu paralysiren.***) 

In neue, eine rationellere Pflege und Behandlung 
der Geisteskranken ermöglichende Bahnen wurde die 
Irrenfürsorge erst in den letzten Decennien des XVIII. 
Jahrhunderts gleichzeitig mit der Reorganisation des 
gesummten Humanitätswesens durch Kaiser Josef II. 
gelenkt. In Würdigung der damals bestandenen un¬ 
haltbaren Zustände hinsichtlich der Armen- und Kran¬ 
kenversorgung Wien’s, erliess dieser für die Unglück¬ 
lichen so warm fühlende Herrscher, von der begrün¬ 
deten Ansicht ausgehend, dass eine erfolgreiche Be¬ 
hebung der vielfachen Uebelstände nur durch die 

*) Dieses lag nächst dem Kärnthnerthore in der Kärnth- 
nerstrasse; ursprünglich ein Kloster, wurde es, nachdem das 
frühere Bürgerspilal während der Türkenbelagerung verbrannt und 
1532 niedergerissen worden war, zu Spitaizweckcn adaptirt. 

**) Bestand schon im Jahre 1394, und muss sohin als die 
älteste Heil- und Versorgungsanstalt Wiens angesehen werden. 

***) Conolly berichtet, dass aus diesem Grunde noch im 
Jahre 1804 mondsüchtige Irre gebunden, gekettet und gepeitscht 
wurden. 


Trennung der verschiedenen Kategorien pflege- und 
hilfebedürftiger Armer und Unterbringung derselben 
in gesonderten Anstalten möglich sei, mit Hofdecret 
vom 16. April 1781 an die „in den Milden Stiftungs- 
Sachen delegirte Hof-Commission“ Directiv - Regeln, 
nach welchen er die Umgestaltung der damals in 
Wien bestandenen Humanitätsanstalten durchgeführt 
wissen wollte. Die Gesichtspunkte, nach welchen in 
Hinkunft hinsichtlich der Fürsorge für die Geistes¬ 
kranken vorgegangen werden sollte, sind im Punkte 
3 dieser Directiv regeln behandelt; die bezügliche 
Stelle lautet wörtlich: 

„3 tio * Unter Jenen, die Schaden oder Eckel ver¬ 
ursachen, verstehe ich Wahnwitzige und mit Krebsen 
oder solchen Schäden behaftete Personen, welche 
aus der allgemeinen Gesellschaft, und aus den Augen 
deren Menschen müssen entfernt werden, diese müssen 
zusammen in ein entferntes Spital verlegt werden, 
allwo weder andere Kranke, noch weniger Jugend 
oder Kindsbetterinnen sich befinden. Verbesserung 
derselben, damit noch eine, noch der andere 
unter das Publikum komme, muss das erste Ziel 
sein.“ *) 

Mit Hofdecret vom 24. August 1782, welches 
ausführlichere Bestimmungen über die Organisation 
der Annen-, Kranken- und Versorgungshäuser in Wien 
enthält, wurde des weiteren angeordnet, dass „die 
Narren, auch sonst Eckel erregende Kranke“ in den 
Contumazhof**) zu versetzen seien; welche Anordnung 
jedoch nie zur Durchführung gelangte, da mittlerer¬ 
weile auf Antrag des Directors des Hauptspitales 
Dr. von Quarin die Errichtung einer ausschliess¬ 
lich der Unterbringung Geisteskranker gewidmeten 
Anstalt in Frage kam. In der Folge wurde denn 
auch nordwestlich vom Hauptspitale auf dem vom 
Contumazhofe, dem Grossarmenhause und dem Alser- 
bache eingeschlossenen Terrain zur Unterbringung 
der Geisteskranken ein thurmartiges Gebäude errich¬ 
tet, welches am 19. April 1784 seiner Bestimmung 
übergeben wurde. 

Ueber die Auswahl und Zahl der daselbst unter¬ 
gebrachten Kranken, sowie über die Vertheilung der¬ 
selben auf die einzelnen Räumlichkeiten und über 
deren Behandlung und Veq)flegung im Allgemeinen 
giebt ein erhalten gebliebenes Handschreiben Kaiser 
J o s e f ’ s II. an Dr. von Q u a r i n ***) in ausführ- 

*) Original im Archiv des Staatsministeriuins IV. O. 5. 

**) Der Contumazhof lag an der Rückseite des jetzigen 
k. k. allgemeinen Krankenhauses und wurde 1776 als Spital 
eingerichtet. 

***) vgl. das illustrirte Geschichtenbuch vom Kaiser Josef. 
Seite 323. 


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Original fram 

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IQ02.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


275 


licher Weise Kunde, welches Schreiben zugleich die 
Sorgfalt erkennen lässt, welche dieser menschenfreund¬ 
liche Herrscher auch den Details seiner Schöpfungen 
angedeihen liess. Im Nachstehenden sei diese inter¬ 
essante Ueberlieferung ausführlich wiedergegeben. 

„ . . . . Da ich die Uebersetzung der Irren aus 
dem Spanischen Spitale und St. Marx in das Irrenhaus 
künftigen Montag über 8 Tage, endlich den 19. dieses 
zugleich bei Anbruch des Tages veranlassen will, so 
überschicke ich Ihnen hiemeben die Liste, die ich 
mir von den in den beiden Orten bestehenden Irren habe 
geben lassen. Die zwölf Geistlichen, so roth bezeich¬ 
net ausgestrichen sind, werden von den Barmherzigen 
Brüdern übernommen und sind also in das Irrenhaus 
nicht mitzunehmen, sowie die elf Arrestanten aus 
St. Marx bei den Arrestanten verbleiben und wegen 
den fünf Hinfallenden und sechzehn incurabeln Män¬ 
nern und Weibern ich den Grafen Boucquoi aufge- 
Iragen habe, sie nach Ybbs oder Mauerbach sogleich 
zu übersetzen. Es fallen also in allem von St. Marx 
sechs und sechzig zu übernehmende Irren und vom 
Spanischen Spitale dreiundvierzig aus, da die sieben 
genesenen Männer und drei Weiber entweder zu ent¬ 
lassen oder allda annoch bis zu ihrer gänzlichen Ge¬ 
nesung zu verbleiben haben. Die hundertneun Irren 
sind demnach folgendermassen einzutheilen : 

1. In die achtundzwanzig Zimmer des obersten 
Stockwerkes des Irrenhauses kommen aus dem Spa¬ 
nischen Spitale die drei Unreinen und die Zehn von 
St. Marx zu zwei und zwei, also in sieben Kammern, 
jeder angeschmiedet. In den übrigen der einund¬ 
zwanzig Kammern kommen von den achtundvierzig 
Unruhigen einundzwanzig hinauf, jeder einzelweis. 

2. In den darunter befindlichen niederen Stock 
kommen dann die übrigen siebenundzwanzig eben¬ 
falls Unruhigen und müssen auch einzelweis ver¬ 
bleiben. 

3. Der weiters tiefere Stock bleibt ganz leer. 

4. In den folgenden, ersten Stock kommen die 
neunundvierzig ganz ruhigen und theilweise uncu- 
rablen Männer und Weiber, sowol von St. Marx als 
vom Spanischen Spitale zu stehen und in jede Kammer 
zu zwei und zwei zusammen. Es versteht sich jedoch 
von selbst, dass diese zwei und zwei Männer und 
Weiber immer vom nämlichen Geschlecht zusammen¬ 
gesperrt werden. 

5. Die Kammern zu ebener Erde bleiben eben¬ 
falls noch leer und werden diese zwei leeren Stöcke 
für die Militär-Irren*) oder Zuwachs reservirt, die 
noch kommen. Auf diese Art ist die Eintheilung im 

*) Die Uebersetzung der Militär-Inen (aus Pest) wurde 
mit allerh. Resolution vom 20. April 1784 verfügt. 

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Hause sogleich zu treffen, sowohl wegen der Kranken¬ 
wärter, als Kost und alles übrigen Nöthigen, damit 
an dem bestimmten Tage in aller Frühe von beiden 
Orten ins Haus eingezogen werde. 

In den beiden oberen Stöcken bleiben die Irren 
versperrt, können also nicht Zusammenkommen und 
werden nicht herausgelassen. Von den unteren 
Stöcken, wo zwei und zwei beisammen liegen, werden 
wechselweise Männer und Weiber zu unterschiedlichen 
Stunden in den Hof hinabgelassen. Die zween re- 
servirten Stöcke bleiben einstweilen gänzlich versperrt. 

Wien, den 10. April 1784. Josef.“ 

Mit der Errichtung des Irrenthurmes war jedoch 
die Fürsorge für die Geisteskranken noch nicht ab¬ 
geschlossen. In den „Nachrichten an das Publikum“, 
welche anlässlich der Eröffnung des Hauptspitals zur 
Veröffentlichung gelangten, wird die Absicht zum Aus¬ 
druck gebracht, für die ganz ruhigen Wahnsinnigen 
das sogenannte Lazarethgebäude zuzurichten. Wie¬ 
wohl die daselbst nothwendigen Adaptirungen schon 
im Jahre 1788 durchgeführt waren, erfolgte doch die 
Belegung desselben erst 1792, also erst nach dem 
Tode Kaiser Josef II. und wurde es dazu be¬ 
stimmt, ruhige und reconvalescente Geisteskranke zu 
beherbergen. 

Die Irrenanstalt war der Direction des Haupt- 
spitales untergestellt. Mit der Beaufsichtigung und 
Behandlung der Geisteskranken waren jeweilig die 
zwei jüngsten Primarärzte dieses Spitales betraut, von 
denen dem einen die Männer, dem anderen die 
Frauen zur Behandlung überwiesen waren. Die erste 
selbständige Instruction erhielt das Personal der Irren¬ 
anstalt im Jahre 1789, nach welcher den Wärtern 
namentlich jede üble Behandlung der Irren auf das 
strengste untersagt war. 

Im Nachstehenden soll eine Beschreibung des 
vom Kaiser Josef II. errichteten Irrenthurmes, dieser 
ersten Irrenanstalt Oesterreichs, gegeben werden. 

Der Irrenthurm erhebt sich gegen Norden vom 
k. k. allgemeinen Krankenhause isolirt und von jeder 
Passage getrennt und ist nur durch das allgemeine 
Krankenhaus und das angrenzende k. u. k. Militär¬ 
spital zugänglich. Es bildet ein kreisrundes, thurm¬ 
artiges, fünfstöckiges Gebäude, dessen innerer Rund- 
hof durch einen querverlaufenden gleichhohen Mittel¬ 
bau in einen grösseren und einen kleineren Hof ge- 
theilt wird. Der dem Militärspitale zugewendete 
Eingang ist durch eine dicke hölzerne Thür und 
durch ein eisernes Gitterthor verschlossen. Durch 
dieses beständig geschlossen gewesene und nur vom 
Portier den Einlassheischendcn geöffnete Thor gelangt 
man durch einen niederen gewölbten Gang zu dem 


Original fram 

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2 76 


Mittelbau, in welchem eine einzige steingemauerte 
Treppe in kurzen Absätzen zu den einzelnen Stock¬ 
werken führt. Der Zugang zu jedem Stockwerke 
wird wieder durch eine feste eiserne Thürc abge¬ 
schlossen. Durch diese Thüre gelangt man in einen 
den Querbau durchziehenden mässig breiten von 
eisen vergitterten Fenstern spärlich erleuchteten Gang, 
an dessen Ende abermals eine schwere Eisenthüre in 
das Innere des Stockwerkes des eigentlichen Thurmes 
führt. Jedes der fünf Stockwerke bildet eine Ab¬ 
theilung, deren innere Einrichtung — wenige Modi- 
ficationen abgerechnet — in den verschiedenen Stock¬ 
werken eine gleiche ist. 



Eine jede Abtheilung, mit Ausnahme der im fünf¬ 
ten Stockwerke, besteht aus einem schmalen mit 
Ziegelsteinen gepflasterten, gewölbten, kreisrunden 
Gang, welcher durch die mit Eisengittern versehenen, 
in die Hofräume mündenden Fenster das Licht em¬ 
pfängt. An der äusseren Seite des Ganges führen 
Thüren in die in gleichmässigen Abständen von ein¬ 
ander gebauten Zellen. Die Thüren sind aus dicken 
Brettern verfertigt und haben in der oberen Hälfte 
ein kleines Fenster mit einem leichten Gitter, welches 
noch durch ein Thürchen von starkem Eisenblech 
und eine darüber gelegte eiserne Klammer verschliess- 
bar ist. Eine zweite eiserne Gitterthüre öffnet sich 
in die Kammer hinein, der eigentlichen Wohn- und 
Schlafstätte der Geisteskranken. Die Kammer bildet 
ein längliches, gegen die Thüre zu sich verschmälem- 
des Viereck mit seitlich leicht ausbiegenden Längs¬ 
wänden. Die Zellen der drei unteren Stockwerke 
sind gewölbt, die der zwei oberen flach eingedeckt 
und haben (mit Ausserachtlassung der Deckenwölbung) 
eine durchschnittliche Innenlichtung von 


[Nr. 24. 


9 Fuss = 2,84 in Höhe, 

11 .. = 3.47 » L^ge, 

10 „ = 3,16 „ Breite. 

Das 3 Fuss = 0,95 m hohe, 1 ! / 2 Fuss = 0,47 m 
breite Fenster ist 5 1 / 2 Fuss = 1,73 m vom Boden 
entfernt und mit starken eisernen Gittern und Glas¬ 
fenstern versehen, welch’ letztere im Winter ver¬ 
doppelt wurden. Der Boden der Zellen ist theils 
gediehlt, theils mit Mergelsteinen gepflastert und 
gegen die Thüre zu sanft geneigt, so dass Urin und 
Wasser aus der Zelle abfliessen konnten. In einem 
Winkel der Kammer ist eine Latrine angebracht, 
deren Schlauch mit einem eisernen an einer Kette 
hängenden Deckel zu verschliessen war. In den ge¬ 
pflasterten Zellen sind am Fussboden starke eiserne 
Ringe eingelassen, welche die Bestimmung hatten, 
die Tobsüchtigen festzuhalten; in einzelnen Zellen 
sind ähnliche Ringe auch an der Mauer angebracht. 

Die innere Einrichtung der Zellen bestand des 
weiteren aus je einem oder zwei aus festen Brettern 
verfertigten niedrigen Betten, welche derart zusaminen- 
gefügt waren, dass sie von den erregten Kranken 
nicht leicht zerbrochen werden konnten. In den 
Bettstellen lagen die Kranken auf Stroh, über welches 
ein Leintuch gebreitet war; zum Bedecken diente 
eine Decke. In deu" Zellen der zwei obersten Stock¬ 
werke, welche ausschliesslich zur Unterbringung der 
sehr unreinen und tobsüchtigen Geisteskranken dien¬ 
ten, war an Stelle eines Bettes ein am Steinboden 
aufgeschichtetes Strohlager in Verwendung. Die Er¬ 
wärmung der Zellen geschah mittelst der Meissner- 
schen Luftheizung. 

Jede Abtheilung bestand aus 28 Zellen — nur 
im ersten Stockwerke waren 27 —, im ganzen Irren¬ 
thurm waren sohin 139 Zellen vorhanden, in denen 
durchschnittlich 200 — 250 Kranke verpflegt wurden. 

Da die Anstalt über keinen eigenen Brunnen ver¬ 
fügte, musste das Wasser aus dem nahen Ilaupt- 
spitale geholt werden, wozu die ruhigeren Geistes¬ 
kranken unter Aufsicht von Wartpersonen verwendet 
wurden. Die Nahrung erhielten die Kranken portionen¬ 
weise abgetheilt in Blechschalen — das Fleisch be¬ 
reits in kleine Stücke zertheilt — in die Kammern. 
Ein gemeinsames Mahl mehrerer Kranker fand nicht 
statt. Das Trinkwasser wurde in Blechgefässen ge¬ 
reicht. 

Während die in den zwei obersten Stockwerken 
untergebrachten Irrsinnigen dauernd in der Zelle ge¬ 
halten wurden, ihnen sohin ein Verlassen derselben 
in keinem Falle gestattet war, liess man den in den 
unteren Abtheilungen Verpflegten eine etwas freiere 
Behandlung angedeihen. Männer und Frauen w urden 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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abwechselnd zu den verschiedensten Tagesstunden in 
den Hofraum geführt, wo sie sich ergehen konnten, 
die Ruhigeren überdies unter der Aufsicht von Pflege¬ 
personen zu Arbeitsleistungen herangezogen. 

Die im Vorstehenden in kurzen Umrissen darge¬ 
stellte Reform des Irrenwesens Niederösterreichs durch 
Kaiser Josef II. bildet die Basis, auf welcher sich 
die Irrenfürsorge Oesterreichs langsam aber stetig bis 
zur gegenwärtigen Höhe entwickelte. Ein besonderes 
Interesse gewinnt dieser Rückblick, namentlich die 
Schilderung der baulichen Verhältnisse des gegenwärtig 
seitens des k. k. allg. Krankenhauses zur Unterbringung 
von Depots und Dienerwohnungen verwendeten Irren- 
thurmes derzeit dadurch, dass er in Kürze in Folge 
der Verlegung des k. k. allgemeinen Krankenhauses 
in Wien der Demolirung anheimfallen wird. 


277 


Litt eratu r: 

Jahrbuch der Wiener k. k. Krankenanstal¬ 
ten. I. 1892. 

Knolz. Darstellung der Humanitäts- und Heilan¬ 
stalten im Erzherzogthume Oesterreich unter der 
Enns. Wien 1840. 

Nachrichten an das Publicum über die Ein¬ 
richtung des Hauptspitales in Wien. Wien 1784. 

Dr. von Posanner. Geschichte des niederösterreichi¬ 
schen Irrenwesens. (Manuskript). 

Weiss. Geschichte der Stadt Wien. Wien 1872. 

Wittelshöfer. Wien’s Heil- und Humanitätsan¬ 
stalten, ihre Geschichte, Organisation und Statistik. 
Wien 1856. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Der Antwerpener Congress. Unter dem 
Vorsitz des Justizministers van den Heuvel fand 
am 1. d. M. vormittags im „Hotel provincial“ zu 
Antwerpen die feierliche Eröffnung des internationalen 
Congresses für Irrenfürsorge und familiäre Irrenpflege 
statt. Goossens, der Erzbischof, welcher ebenfalls 
erscheinen sollte, war verhindert. Nach einer Be- 
grüssungsansprache erklärte der Minister den Congress 
für eröffnet und übertrug den Vorsitz an Direktor Dr. 
Peeters (Glied), den Präsidenten des Organisations- 
comites. Derselbe ertheilte das Wort Dr. Keraval, 
ärztlichem Direktor der Irrenanstalt zu Armentieres, 
Delegierten der Societe d’assistance familiale zu Paris, 
zu dem Vortrag über die Geisteskranken ausserhalb 
der Anstalten. Drei Fragen erfordern die Beant¬ 
wortung des Irrenarztes: 1. Können die Anstalten, 
welchen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen Geistes¬ 
kranke zugeführt'werden, freiere Verpflegungsformen 
einführen? 2. Giebt es Geistesstörungen, die, über¬ 
haupt oder nach einer Anstaltsbehandlung von ge¬ 
wisser Dauer, die Anwendung von besonderen, freieren 
Verpflegungsmassnahmen rechtfertigen ? 3. Welches 

ist der Grad dieser Freiheit, welches diese Mass¬ 
nahmen ? Der Congress werde diese Fragen zu be¬ 
antworten haben. — Direktor Dr. Alt (Uchtspringe) 
berichtete in seinem Vortrage über die Familien pflege 
in Deutschland, dass in Preussen allein seit zwei bis 
drei Jahren an 19 Anstalten Familienpflege eingeführt 
worden sei. — Prof. Dr. Tamburin i (Reggio) spricht 
von der Ueberfüllung der italienischen Anstalten, die 
5000 Insassen mehr beherbergen als hineingehören. 
Die Verpflegung der Geisteskranken in der eigenen 
Familie, wofür man dieser 5 bis 30 Lires monatlich 
erstattete, gab keine befriedigenden Resultate, weil die 
Controle fehlte. Die Unterstützung wird oft garnicht 
für den Kranken verwendet. Nachdem er die Familien¬ 
pflege nach dem Muster von Gheel und Licmeux, 


die er 1897 besuchte, in den der Anstalt bei Reggio 
benachbarten Dörfern eingeführt, habe er glänzende 
Erfolge und er halte dieses System (d. h. Familien¬ 
pflege in der Nähe und unter der Aufsicht der An¬ 
stalt) für das beste. 

In der Nachmittagssitzung (Vors. Dr. Peeters) 
trägt Direktor Dr. Olah (Budapest) über den Bericht 
des k. ungar. Ministeriums des Innern betr. das 
ungarische Irrenwesen im Jahre 1901 vor. — Prof. 
Dr. Soutzo (Bukarest) spricht von der Irrenpflege in 
Rumänien. Dort giebt es seit 1894 ein Irrengesetz, 
das die individuelle Freiheit garantirt, den Geistes¬ 
kranken eine humane und wissenschaftliche Behand¬ 
lung und die Sicherheit ihrer Interessen während des 
Anstaltsaufenthalts garantirt. Rumänien hat bei 
5 l j 2 Millionen Eimvohnem ungefähr 1200 Geistes¬ 
kranke in 4 Asylen und einer besonderen Heilanstalt. 
Es sind dies geschlossene Anstalten, coloniale und 
familiäre Verpflegung fehlt. Volkscharakter und Sitten 
machen Colonien ähnlich wie Gheel unmöglich. — 
Fedor Gerenyi, Deputirter des Landesausschusses 
von Niederösterreich: Daselbst kommt, vom Landtag 
genehmigt, folgender Grundsatz zur Geltung: 1. Jede 
niederösterreichische Anstalt muss in Zukunft zugleich 
für die Behandlung der heilbaren Geisteskranken, für 
die Pflege der unheilbaren und für die Colonisirung 
der nicht gemeingefährlichen Kranken eingerichtet 
sein. 2. Die Unheilbaren gehören, soweit sie arbeits¬ 
fähig sind, in die Colonie, soweit sie es nicht sind, 
müssen sie in einer besonderen Abtheilung der Anstalt 
verbleiben. — Für die Familienpflege in Mauer-Oehling 
sind 8 Häuser vorgesehen. — Chefarzt Dr. Marie, 
(Villejuif), Delegirter des Seinedepartements, kritisirt 
die Centralisation in den Irrenanstalten und beschäftigt 
sich mit dem Verhältniss der öffentlichen und der Privat¬ 
anstalten, welche letztere in der Mehrzahl von kirch¬ 
lichen Congregati onen besetzt sind. In diesen 


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278 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 24. 


letzteren hat die ärztliche Autorität nicht das Ueber- 
gewicht, welches es im moralischen und materiellen 
Interesse der verpflegten Kranken haben sollte. M. 
verlangt, dass für die Privatanstalten ein bestimmtes 
Reformprogramm durchgeführt werde, wobei die Aus¬ 
bildung der Aerzte an den öffentlichen Anstalten, 
regelmässige Revisionen der Privatanstalten und Ent¬ 
lassung aller Kranken, die sich besser in Familien¬ 
pflege befinden, besonders zu betonende Momente 
wären. — Dr. Claus, Chefarzt der Anstalt zu Mortsei, 
vertheidigt die geschlossenen Anstalten gegen den 
Angriff Marie’s, der von einer Ausbeutung der 
Kranken durch eine sehr räuberische tote 
Hand, sei es eine bürgerliche oder eine kirch¬ 
liche, gesprochen habe. Gleichwohl verlange er 
(Claus) gleichfalls die Revision des Irrengesetzes, der 
wissenschaftlichen Garantien und derjenigen der Un¬ 
abhängigkeit in der Anstellung der Anstaltsärzte. 
Dr. Claus spricht ferner von dem Vorth eil der Arbeit 
bei den Kranken; 50 # / 0 seiner Kranken arbeiten. 
Er bemüht sich des langem nachzuweisen, dass die 
Organisation der Anstalten eine befriedigende sei und 
die Kritik, die sie erfahre, nicht verdiene. — Marie 
hebt hervor, dass Claus zugiebt, dass das ärztliche 
und Pflegepersonal der Privatanstalten nicht so ist, 
wie es sein sollte; auch er müsse daher consequenter 
Weise die Reform der Privatanstalten fordern. In 
letzteren sei oft die auf den behandelnden Arzt ent¬ 
fallende Zahl der Kranken excessiv hoch. Claus er¬ 
widert, dass diese Zahl in der Familienpflege noch 
viel grösser sei. „Vater“ Amadeus Stockmans, 
„Superieur General“ der barmherzigen „Brüder“, pro- 
testirt gegen den Vorwurf der Ueberfüllung in den 
Privatanstalten. Es würden die von der Regierung 
vorgeschriebenen bauhygienischen Bedingungen erfüllt. 
Auch gegen die Behauptung der in den kirchlichen 
Anstalten angeblich zunehmenden Anwendung der 
Zwangsmittel protestirt er. Die Anstalten der barm¬ 
herzigen Brüder seien Musteranstalten (sic!)*) — 
Dr. Meeus, Abtheilungsarzt in Gheel, bemerkt, dass 
die Angaben, auf welche sich Dr. Marie in seiner 
Kritik stützt, von ihm (Meeus) aus den o f f i c i el 1 e n 
Berichten geschöpft, daher unbestreitbar feststehende 
seien, wie sehr Dr. Claus und der „Vater“ sie ab¬ 
leugneten ! Der Congress stimmte nach längerer Dis- 
cussion den Referenten bei. Darauf Schluss der 
Sitzung. Die Congressmitglieder begaben sich in das 
Stadthaus, wo sie vom Bürgermeister begrüsst und 
ihnen der Ehrentrunk credenzt wurde. 

Am Dienstag, den 2. September, fand der Besuch 
der Irrenanstalten zu Mortsei und Bouchout statt; 
einen besonders grossen Anziehungspunkt scheinen 
dieselben nicht zu bilden, denn es hatten sich nur 
ungefähr 50 Congressisten zusammengefunden, die 
unter Leitung von Dr. Sano die Reise dorthin an¬ 
traten. „Vater“ Stockmans und Dr. Claus machten 
die Honneurs in Mortsei, woselbst 600 Pensionäre 
untergebracht sind, Dr. Compeeren in der Anstalt zu 
Bouchout, woselbst 80 Pensionäre sich befinden. 

*) Eine kirchliche Genossenschafts - Anstalt kann schon 
wegen ihrer Organisation und ihres kirchlichen Grundzugs 
überhaupt nie eine musterhafte werden. Ref. 


Nachmittags reisten einige Congressisten nach Brüssel, 
um die unter Leitung Dr. Boeck’s stehende Irrenab¬ 
theilung des St. Johann-Spitals, welche hauptsächlich 
die Alkoholdeliranten aus Brüssel aufnimmt, zu be¬ 
sichtigen. (Fortsetzung folgt.) 

— Während des Antwerpener Congresses hielt 
Dr. Marie im „Cecile Artistique“ am Freitag, den 
5. September, abends, einen populären Vortrag über 
die familiäre Verpflegung Geisteskranker. Mit¬ 
telst eines Projectionsapparats veranschaulichte er dem 
Publicum an einer langen Reihe von Bildern den 
Unterschied zwischen colonialer bezw. familiärer Ver¬ 
pflegung einerseits und Hospitalisirung andererseits. 
Auch die Apparate der mechanischen Behandlung 
aus dem 17. und 18. Jahrhundert wurden veran¬ 
schaulicht : das Drehrad, die falsche Brücke, die unter 
dem Gewicht des Kranken, auf den man einen hydro- 
pathischen Schreck einwirken lassen wollte, plötzlich 
einbrach, ferner die Zwangsstühle und -betten etc. 
Zum Schluss führte er freundliche Bilder und Scenen 
aus dem gegenwärtigen Leben der Geisteskranken, 
besonders aus den ländlichen Colonien und der Familien¬ 
pflege vor. Seine Ausführungen und Darstellungen 
wurden vom Publicum aufs lebhafteste applaudiert. 

— Aus dem Protokoll der Versammlung 
schweizerischer Psychiater, 19. und 20. V. 02 in 
St. Pirminsberg. 

I. Greppin (Rosegg) und Dr. Ulrich (Anstalt 
für Epileptische, Zürich) wurden beauftragt, zu 
Händen des eidg. Statist. Büreau eine Instruction aus¬ 
zuarbeiten, wie bei Schulkindern am leichtesten geistige 
Schwächezustände constatirt werden. 

II. Folgende von dem Verfasser etwas modificirte 
Thesen von Frank- Münsterlingen wurden ange¬ 
nommen : 

1. Wir müssen verlangen, dass bei der Ausbildung 
der Juristen die Psychologie und Psychiatrie soweit 
berücksichtigt werden, dass sie als Richter befähigt 
sind, den Verbrecher wissenschaftlich zu verstehen und 
fachmännische Gutachten zu würdigen. Es sollen 
hierzu die Anstaltsdirectoren, besonders natürlich die 
Universitätsprofessoren, besondere practische Curse 
ertheilen, wie dies durch Kraepelin in Heidelberg 
schon geschieht. 

2. Der Staat hat die Pflicht, da er nur Verbrechen, 
die in zurechnungsfähigem Zustande begangen werden, 
ahndet, den Strafprocess nur mit den Garantien sich 
vollziehen zu lassen, die mit Sicherheit einen Straf¬ 
vollzug an Unzurechnungsfähigen ausschliessen. Dies 
ist nur dadurch möglich, dass den Untersuchungs¬ 
behörden die nöthige Zahl wirklicher und erfahrener 
psychiatrischer Fachmänner beigegeben wird. 

Wie es Pflicht des Staates ist, alle erlaubten Mittel 
anzuwenden, um den Verbrecher in seine Gew r alt zu 
bekommen, so muss es auch seine Pflicht sein, kein 
Mittel ausser Acht zu lassen, um nur den Verbrecher 
zu vemrtheilen, der in zurechnungsfähigem Zustande 
gehandelt hat. 

3. Die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit kann 
nur Aufgabe des Psychiaters, niemals des Richters 
sein. 

4. Es ist nur ausnahmsweise in ganz klaren Fällen 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


279 


zulässig, dass diese Aufgabe Aerzten zugewiesen wird, 
die nicht eine genügende specielle Ausbildung genossen 
haben. 

5. Die Untersuchung auf den Geisteszustand eines 
Angeklagten kann nur in fachmännisch geleiteten An¬ 
stalten oder in entsprechenden Abtheilungen eines 
Untersuchungsgefängnisses vorgenommen werden. 

6. Die Richter können ein Gutachten ablehnen 
und eine Oberexpertise bestellen. Mit der Ober¬ 
expertise können nur Fachmänner betraut werden. 

7. Die Frage der Unzurechnungsfähigkeit oder der 
verminderten Zurechnungsfähigkeit kann nicht dem 
Wahrspruch der Geschworenen überwiesen werden. 

8. Jedem Anträge auf Untersuchung des Geistes¬ 
zustandes eines Angeklagten ist ohne weiteres statt 
zu geben, wenn jede Absicht auf Verschleppung fehlt 

III. Brauchli (Bellelay) soll Material, das auf 
die strafrechtlichen psychiatrischen Fragen Bezug hat, 
sammeln. 

IV. v. Monakow (Zürich), der vor 25 Jahren 
am Orte der Versammlung seine himanatomischen 
Studien begonnen hat, berichtet in einem zum kurzen 
Referat nicht geeigneten Vortrage über die seitherigen 
wichtigsten Fortschritte. 

V. Lada me (Gen/): Observation de soi- 
disant Kleptomanie dans uncas de Psy¬ 
chose neurasthenique. 35 Jahre alte Frau; 
Grossmutter väterlicherseits hysterisch. Patientin hatte 
viele nervöse Leiden, namentlich während der 4 
Schwangerschaften. Entfernung von Uterus und Ova¬ 
rien erfolglos. Seit Verlust des Vermögens schlaf* 
los, Schwindel, Stirnkopfdruck und Ladendiebstähle. 
Patientin wurde von einem Bruder ausreichend unter¬ 
stützt, stapelte die gestohlenen Gegenstände unbenutzt 
bei sich auf. Vor der That jedesmal starke Angst, 
nachher Reue. Ladame diagnosticirt eine neurasthe- 
nische Psychose, die die Zurechnungsfähigkeit aus¬ 
schloss. Das Gericht schloss sich der Auffassung an. 

VI. Hinrichsen (Wil): Beitrag zur Frage 
der inneren Degenerationszeichen. Hin¬ 
richsen fand den Wurmfortsatz im Durchschnitt bei 
119 Normalen 8 cm lang, bei 85 senil Dementen 8,2 ; 
27 Idioten 10,3; 18 Paralytikern 9,7; 49 chronischen 
Psychosen 8,4 cm. 

VII. Wille (St. Pirminsberg): Ueber erbliche 
Uebertragungvon Geisteskrankheiten. In 
den Fällen von Geisteskrankheit bei Eltern und Kindern 
in Pirminsberg war Uebereinstimmung von Krankheits¬ 
formen nach der Kraepelin’schen Systematik nur in 
ca. der Hälfte der Fälle. Auch unter Geschwistern 
treten verschiedene Krankheitsformen auf. 

Bleuler-Burghölzli. 

— Gerichtliche Entscheidungen. Frau 
X wurde in der Nacht vom 26. Januar 1899 auf 
Verlangen des Bahnhof Vorstandes von B., weil schwer 
betrunken, arretirt. Sie konnte aber durch Zeugen 
nachweisen, dass sie nicht trunksüchtig, sondern mit 
Nervenzufällen behaftet sei, und ein solcher Anfall 
befiel die Frau X vor dem Schalter aus Angst den 
Zug zu verfehlen. Sie strengte eine Schadenersatz- 
klage gegen die Gesellschaft der Westbahn an, und in 
der That wurde ihr eine Entschädigung von 1000 fr. 


(nicht 5000, wie sie verlangt hatte) und Vergütung 
der Kosten zugesprochen. 

Ann. Med.-Psych. 1901. Jan.-Febr. 

G. Burckhardt. 

— Ist ein Arzt civilrechtlich verant¬ 
wortlich, der zwar in guten Treuen aber 
irrthümlich ein Zeugniss ausstellt, das 
einen Geistesgesunden für geisteskrank 
erklärt und auf Grund dessen derGeistes- 
gesunde sequestirt wird? Ann. Med.-Psych. 
1901. Mars-Avril. Dr. X wurde durch die Ehegatten 
Y zu ihrer Tante, Frl. Z berufen, und trifft dieselbe 
in voller Wuth, unter den Trümmern eines zerschlagenen 
Stuhles und eines dito Nachtgeschirrs in ihrem 
Zimmer, ihn selbst mit Canaille, Dieb, Mörder 
titulirend. Gestützt auf diesen Befund seines aller¬ 
dings nur wenige Minuten dauernden Besuches und 
auf die weitem Mittheilungen der Eheleute Y stellt 
er ein Zeugniss aus, worin er das Frl. Z für tob¬ 
süchtig erklärt, worauf die Pat. nach der Irrenanstalt 
überführt wird. Nach 8 Tagen wird sie aber als nicht 
geisteskrank aus derselben entlassen, und belangte 
nun den Arzt, der das Zeugniss ausgestellt, auf Schaden¬ 
ersatz. Das Civilgericht wies sie ab, da der Arzt sie 
wirklich für geisteskrank gehalten habe und das Gericht 
sich nicht in rein ärztliche Fragen mischen könne. 
Das Appelationsgericht urtheilte aber anders. Es nahm 
den Fall grober Nachlässigkeit und Kunstfehlers an. 
Der Arzt habe zwar in guten Treuen gehandelt, aber 
er hätte sich nicht mit dem einen, nur wenige Minuten 
dauernden Besuch begnügen und im Uebrigen auf 
die parteiischen Aussagen der Eheleute Y verlassen 
sollen. Das Gericht verurtheilte ihn zu 2000 fr. Ent¬ 
schädigung. 

(Ref: Dass der Arzt besser hätte Zusehen müssen, 
ehe er sein Zeugniss ausstellte und den ganzen Ver¬ 
waltungsapparat in Bewegung setzte, ist zweifellos, um 
so mehr, als Frl. Z erst andern Tages, und offenbar 
schon wieder in ruhigem Zustande, in die Irrenanstalt 
verbracht wurde. Ob es sich nicht doch um eine 
transitorische Tobsucht gehandelt habe, das geht aus 
den Akten nicht hervor. — Aber, nicht jeder Fall 
von Psychose braucht polizeilich sequestrirt zu werden.) 

G. Burckhardt. 

— Eine in ihrer Familie gefangen ge¬ 
haltene Geisteskranke. Die Eheleute Boulais, 
Landwirthe in Curves (Dep. Manche) hielten ihre 
29 jährige geisteskranke Tochter Augustine in einem 
Stalle mit einer Kette um den Leib an einem Pfosten 
angekettet. Die Kette war so kurz, dass die halb 
nackte Unglückliche nur sitzen oder knieen, aber nicht 
liegen konnte. Drei Jahre lang hatte A. B. in diesem 
jammervollen Zustande zugebracht, ehe sie von der 
Polizei erlöst und in eine Irrenanstalt verbracht wurde. 

Ano. Med.-Psych. Mai 1901. 

— Während 45 Jahren wurde Jeanne- 
Adelaide Bissiere in Gorrigon (Dep. Ga- 
ronne) von ihrem Bruder und ihrer Schwester in 
einem engen Kämmerchen von 2,50 Meter Höhe 
eingesperrt gehalten, das Luft und Licht nur von oben 
her erhielt, und in der Wand eine Schieberöffnung 
hatte, durch w f elche die unglückliche Inwohnerin ihre 


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28o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


Nahrung erhielt. Die arme Person lag, als die Polizei 
endlich einschritt, nackt in ihrem. Schmutze, mit bis 
zum Kinn zurückgebogenen steifen Knieen, und konnte 
nicht mehr sprechen. Sie sei, sagten die Geschwister, 
in Folge von Krankheiten vor 45 Jahren tobsüchtig 
und von ihrem Vater in die besondere Kammer ein¬ 
gesperrt worden, um ein Unglück zu verhüten. Nach 
dem Tode des Vaters hätten sie, die Geschwister, die 
Sache im Status quo ante belassen. 

Die Kranke wurde in eine Irrenanstalt überführt. 
Die Familie B., begütert und angesehen, blieb in Freiheit. 
Der ganze Scandal wurde aus Rache durch einen von 
den Geschwistern B. des Diebstahls angeklagten Dienst¬ 
boten dem Gerichte angezeigt. 

Ann. Med.-Psych. 1901 p. 520. 

G. Burckhardt. 

— Ein Necrophile. (Ann. Med.-Psych. 1901, 
p. 517.) In der Gemeinde May im südlichen Frank¬ 
reich wurde durch den Verwesungsgeruch unter dem 
Stroh einer Scheuer halb verborgen der Leichnam 
eines 4 jährigen Mädchens gefunden. Der Kopf war 
vom Leibe getrennt, und letzterer trug die Spuren 
des Stuprum. Als Thäter wurde ohne Mühe der 
29 jährige Tagelöhner Honore Ardisson entdeckt, der¬ 
selbe erzählte ohne Umschweife, dass er gerne junge 
Mädchen von 4—14 Jahren, die eben eist beerdigt 
worden, ausgrabe und seinen Geschlechtstrieb an ihnen 
befriedige, da sie sich nicht wehren, wie die lebendigen. 
Er berichtete von 5 solcher Leichenschändungen. 

Drei Mädchen, die ihm besonders gut gefallen, 
hatte er die Köpfe abgeschnitten und nath Hause 
genommen, im obgenannten Falle den ganzen Cadaver, 
in der Absicht, ihn bei nächster Gelegenheit gegen 
einen frischen auszuwechseln! Da er evident schwach¬ 
sinnig war, wurde er psychiatrischer Untersuchung 
unterworfen. G. Burckhardt. 


Referate. 

— Döllken. Die körperlichen Erscheinungen 
des Delirium tremens. Leipzig 1901. Veit. 

D.’s monographische Arbeit stützt sich auf die 
Beobachtung an 120 männlichen Deliranten der 
Leipziger Nervenklinik. Hiernach tritt das Del. trem. 
hauptsächlich auf bei individueller Disposition, bei 
geringerer oder grösserer, besonders bei angeborener 
Invalidität des Gehirns; ein grosser Theil der Deli¬ 
ranten stammt von Säufern ab. Von Gelegenheits¬ 
ursachen kommen besonders Kopftraumen, Tuberkulose 
Infektionskrankheiten, Verletzungen, Gemüthserreg- 
ungen etc. in Frage; Abstinenz war in keinem Fall 
massgebend, selten auch ein epileptischer Anfall. — 
Ein Abortivdelirium, das schon nach Stunden 
bezw. nach 1 Tag oder nach durchschlafener Nacht 
zu Ende geht, findet sich selten; die körperlichen 
Symptome dabei sind gering. Dem Ausbruch des 
ächten Del. tr. gehen meist den Infektionskrank¬ 
heiten ähnliche Prodrome von Tage- bis Wochen¬ 
dauer vorauf. Während der Akme ist die Temperatur 
stets erhöht, fällt mit Eintritt des Schlafes kritisch 
ab, steigt aber wieder bei eventuellen Rezidiven. Das 
D. tr. gehört also zu den fieberhaften Krankheiten. 


Die Pulsfrequenz, im Allgemeinen abhängig von Herz¬ 
beschaffenheit und Muskelthätigkeit, steigt parallel der 
Heftigkeit der Delirien, der Abfall ist kritisch. Bei 
sehr heftigen Symptomen oder ängstlichen Delirien 
kann der Puls klein und hart sein. Fast stets ist 
akute Herzdilatation vorhanden, auch die Arterien¬ 
wand ist auf der Höhe der Symptome erkrankt, meist 
verbunden mit Arteriosklerose. Auch der Blutdruck 
u. z. sowohl Maximal- wie Minimaldruck, steigt wäh¬ 
rend der Delirien, doch nicht parallel zu Temperatur 
und Puls, auch hier ist der Abfall kritisch zur Zeit 
des Schlafes, bisweilen bis unter die Norm, welche 
er nach einigen Tagen wieder erreicht. Bei starkem 
Schweiss oder bei mussitirenden Delirien fällt der 
Druck schon vor der Krise. — Bradykardie z. Z. 
der Rekonvalescenz ist ein Zeichen von Herzschwäche, 
die ihre Erklärung findet in primärer Erkrankung 
des Herzmuskels oder in den überstandenen grösse¬ 
ren Anstrengungen während der Delirien. — Erkran¬ 
kungen der Lungen sind prognostisch wenig günstig; 
öfters findet sich eine mehr oder weniger starke Blutüber¬ 
füllung oder eine akute Lungenblähung. Urinsekretion 
ist verlangsamt, stets ist Eiweiss vorhanden. 

Als Del. sine delirio beschreibt D. Fälle, in denen 
sämmtliche körperlichen Symptome des Del. tr. vor¬ 
handen sind, die psychischen aber bis auf Schlaf¬ 
losigkeit und eine gewisse geistige Hemmung fehlen. 
Die Akme dauert 4 — 5 Tage; der Abfall ist weniger 
kritisch. 

Als Aetiologie nimmt D. mit Flechsig eine Ueber- 
~ladung des Gehirns mit pathologischen Stoffwechsel¬ 
produkten der Hirnzellen selbst an, verursacht durch 
die chronische Zufuhr von Alkohol, die „sich in deut¬ 
lichen anatomischen Veränderungen zeigt“. Bei stär¬ 
kerer Koncentration dieser Produkte kommt es zur 
Entladung, oder aber ein äusserer Anstoss — Ge- 
müthserregung, Infektionskrankheit etc. — führt diese 
herbei. Analogien zum ersten Fall bieten die Dämmer¬ 
zustände körperlich gesunder Epileptiker oder gewisse 
Zustände im Verlauf der Paralyse. 

Als Krankheitssitz für die körperlichen Symptome 
nimmt D. die Med. oblong, und den Sympathicus an. 
Das Fieber kann „nur neurogenen Ursprungs sein“. 

Das Gefässcentrum in der Med. obl. ist stark be¬ 
theiligt; durch Reizung des N. splanchnicus kommt 
Verengerung der Gefässe des Unterleibs zu Stande, 
als deren weitere Folge die Albuminurie anzusehen 
ist. Kellner- Hubertusburg. 


Personalnachricht. 

— Die Herren Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Gutt- 
stadt und Dr. Grotjahn haben ihre Stellung als 
Vorsitzender bezw. Schriftführer des Berliner Vereins 
gegen den Missbrauch geistiger Getränke infolge Mei¬ 
nungsverschiedenheiten mit der Verwaltung einer mit 
jenem Verein in Verbindung stehenden Berl. Trinkerheil¬ 
anstalt, welche nicht zur Zufriedenheit der beiden Herren 
beigelegt wurden, niedergelegt. Herr Geh. Rath Gutt- 
stadt wird aber nichtsdestoweniger auch weiterhin seine 
Kräfte in den Dienst der Antiaikoholbewegung stellen. 


Für den redactioncllen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Kraschnitz, (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a, S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenftrzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L, Edinger, 

Uchtspringe (Alunark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel 
Geb. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mont (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bltti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Job. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Teiegr.-Adresse : Marho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 25 . ~ 20. September. “_ 1902 , 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zu'chrifien für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Bemerkungen zu einigen tlie Unterbringung geisteskranker Verbrecher in Irrenanstalten und deren Ent¬ 
lassung betreffenden Fragen. Von Geh. S.-R. Dr. Fries, Nietleben (S. 282). — Mittheilungen (S. 285). — Personalnach- 
richt (S. 288). 


Erklärung.*) 

Herrn Dr. P. J. Möbius’ „Erklärung“ in No. 23 dieser Wochenschrift vom 6. 9. 02 ist in zwiefacher 
Weise richtig zu stellen: 

1. wird jeder Unbefangene in meinem Aufsatze über den Alkohol weder „eine Verherrlichung des 
Alkohols“ finden, noch die darin zusammengestellten wissenschaftlichen Thatsachcn als „falsche Anschauungen“ 
bezeichnen. 

2. Herr Dr. P. J. Möbius in Leipzig „hat“ mit meinem Aufsatze insofern „zu schaffen“, als er selbst 
die V eranlassung dazu war: Ich schrieb ihm nach Lektüre seiner Abhandlung „Ueber Massigkeit und Ent¬ 
haltsamkeit“, dass ich nicht zu den „stummen Hunden“ gegenüber den guttemplerischen Uebertreibungen 
gehöre. In seiner Dankeskarte vom 18. 2. 01 schrieb mir dagegen Herr Dr. P. J. Möbius: „Leider giebt 
es trotz Ihnen noch recht viele „stumme Hunde“.'* Wenigstens in der Oeffentlichkeit rührt 
sich nichts“. Diese Aufforderung zu einer Publikation sah ich als generaliter gegeben an und 
holte daher eine ausdrückliche Erlaubniss zu der Widmung bei Herrn Dr. P. J. Möbius nicht mehr ein. Da¬ 
gegen hat Herr Dr. P. J. Möbius seinen Protest, ohne mir denselben zuzusenden, in einem Blatte gebracht, 
von dem er annehmen musste, dass es mich nicht zu seinem Leserkreise zählt. 

Darmstadt, 9. September 1902. W. N. Clemm. 


Ich kann nur das hinzufügen, dass ich aufrichtig bedauere, die Veranlassung zu dem Aufsatze des 
Herrn Dr. Clemm gegeben zu haben. Wie er zu dem Glauben gekommen ist, er schreibe in meinem Sinne, 
das weiss ich nicht, denn aus meinem Aufsätze geht doch deutlich hervor, dass ich ganz anders denke als er. 
Leipzig, 11. September 1902. P. J. Möbius. 

*) Siehe hierzu die Redactionsbemerkuug auf S. 288. 


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282 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25. 


Bemerkungen zu einigen die Unterbringung geisteskranker Verbrecher 
in Irrenanstalten und deren Entlassung betreffenden Fragen. 

Von Geh. S.-R. Dr. Fries (Nietleben). 


U nter der Ueberschrift „Irrenrechtliches“ hat am 
Schluss vön Nr. 17 des laufenden Jahrgangs 
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift der 
Redacteur darüber Klage geführt, dass hinsichtlich der 
Geisteskranken auch „in rein formellen Rechtsbestim¬ 
mungen Unklarheiten fortgesetzt ihr Dasein fristen 
und zur Benachtheiligung der betreffenden geistes¬ 
kranken Personen führen“ und dass ein solcher Fall 
vorliege, „wenn, wie es thatsächlich zu geschehen pflegt, 
einem während der Strafhaft in Geisteskrankheit ver¬ 
fallenen Gefangenen die in der Irrenanstalt verbrachte 
Zeit nicht auf die Strafhaft angerechnet wird“, obgleich 
§ 493 der deutschen Strafprozessordnung vorschreibe: 

„Ist der Verurtheilte nach Beginn der Strafvoll¬ 
streckung wegen Krankheit in eine von der Strafan¬ 
stalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so 
ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt 
in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Vcr- 
urtheilte mit der Absicht die Strafvollstreckung zu 
unterbrechen, die Krankheit herbeigeführt hat“. 

Es wird hiebei dem Bedauern darüber Ausdruck 
gegeben, dass bei psychischer Erkrankung anders ver¬ 
fahren werde, wie bei anderweiten Leiden und als 
unverständlich bezeichnet, mit welchem Recht sich 
bei Staatsanwälten eine solche Praxis eingebürgert habe. 

Wenn ich mir hiezu ein berichtigendes und er¬ 
gänzendes Wort erlaube, so entnehme ich die Be¬ 
rechtigung aus dem Umstand, dass mir leider eine 
reiche Erfahrung bezüglich des Schicksals dieser — 
in einer Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke bei 
einer gewissen Verdünnung vielleicht nothdürftig zu 
duldenden, in stärkerer Concentration aber unerträg¬ 
lichen und schädlichen — Gruppe, zu Gebot steht, an 
einer Anstalt, welche durch Jahrzehnte dazu verur- 
theilt war und es mit geringfügigen Ausnahmen auch 
noch heute ist, sämmtliche aus Strafanstalten stam¬ 
menden, der Provinz Sachsen zur Last fallenden 
Geisteskranken aufzunehmen, in welcher ich mich 
ferner (1898/1899) genüthigt gesehen habe, für die 
störendsten und gefährlichsten Elemente unter ihnen 
bei gleichzeitiger Evacuirung von 80 anderweiten 
Kranken, die Einrichtung von drei Sicherheitsab¬ 
theilungen (mit besonderen Werkstätten etc.) herbei¬ 
zuführen, und welche neuerdings noch von dem Un¬ 


glück betroffen ist, dass in ihrer Nähe eine auch für 
Kranke aus anderen Provinzen bestimmte Irrenabthei¬ 
lung an einem Strafgefängniss eingerichtet wurde, so 
dass ausser den der hiesigen Provinz zufallenden 
irren Verbrechern vorläufig und oft für längere Zeit 
noch solche aufgenommen werden müssen, zu deren 
definitiven Uebernahme andere Provinzen und Ver¬ 
bände verpflichtet sind. 

Gewiss wird jeder, der sich mit geisteskranken 
Verbrechern zu befassen hat, es schon bedauert haben, 
wenn die in der Irrenanstalt zugebrachte Zeit nicht 
auf die Strafhaft in Anrechnung kommt, allein hier¬ 
über entscheiden keineswegs das Belieben und die 
Praxis der Staatsanwälte, sondern ganz bestimmte 
und klare Regeln. 

Der angezogene § 493 der Strafprozessordnung 
kommt nur dann zur Geltung, wenn der Verurtheilte 
durch die betheiligten Justizbehörden einer von der 
Strafanstalt getrennten Krankenanstalt (inclusive Irren¬ 
anstalt) ohne vorherige Entlassung aus der 
Strafhaft überwiesen worden ist. In diesem Falle 

— gleichgiltig, ob es sich um somatische oder psy¬ 
chische Krankheit, um ein gewöhnliches Kranken¬ 
haus oder um eine Anstalt für Geisteskranke handelt 

— läuft die Strafe weiter und es hat folgerichtig, da 
es sich um einen Gefangenen handelt, der Justizfiscus 
die Unterhaltungskosten in der betreffenden Kranken- 
(inclusive Irren)-Anstalt zu tragen. 

Dieses Verfahren wird eingeschlagen, sofern zu¬ 
nächst Aussicht auf Wiederherstellung in absehbarer 
Frist gegeben ist oder in der Absicht, in absehbarer 
Zeit ein Gutachten über die ferneren Aussichten 
als Unterlage für die weiteren Maassnahmen zu ge¬ 
winnen. 

So befinden sich gegenwärtig in der hiesigen An¬ 
stalt zw'ei in der Strafhaft psychisch erkrankte weib¬ 
liche Gefangene, deren Strafe hier weiter läuft und 
deren Unterhaltungskosten von der Gerichtskasse be¬ 
stritten werden. Eine wird in Kürze nach dem Ge- 
fängniss zurückkehren. Es handelt sich hier um ver- 
hältnissmässig frische Erkrankungen, bei welchen die 
Irrenanstalt in Ermangelung einer mit einer Gefange¬ 
nenanstalt verknüpften Irrenabtheilung für weibliche 
Gefangene (bei dem benachbarten Strafgefängniss in 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


283 


1902.] 


Halle a. S. ist die Einrichtung einer solchen be¬ 
schlossen, aber noch nicht ausgeführt) um die Behand¬ 
lung der Kranken angegangen worden ist. 

Ganz anders gestaltet sich aber die Sache, sobald 
vor oder mit der Unterbringung eines geisteskranken 
bisherigen Strafgefangenen in die Irrenanstalt aus¬ 
drücklich die Haft aufgehoben wird und demgemäss 
diese Unterbringung und die Bestreitung der Unter¬ 
haltungskosten seitens desjenigen Verbandes zu er¬ 
folgen hat, welchem die Fürsorge für ihn je nach 
seinen DomicilVerhältnissen im Fall der Hilfsbedürf¬ 
tigkeit gesetzlich obliegt. Wo Irrenabtheilungen an 
Gefangenenanstalten angegliedert sind, wie z. B. jetzt 
an mehreren Orten (bisher nur für Männer) in 
Preussen, werden die in Strafhaft (Strafanstalten oder 
Strafgefängnissen) Erkrankten in der Regel (auf die 
näheren Bedingungen braucht hier nicht eingegangen 
zu werden) zunächst einer solchen zugewiesen. Ist 
nach einem halben Jahr oder in geeigneten Fällen 
nach verlängerter Frist Wiederherstellung nicht ein¬ 
getreten oder doch in absehbarer Zeit nicht zu er¬ 
warten, so wird bei den zuständigen Ministem (hier 
des Innern und der Justiz) die Haftentlassung bean¬ 
tragt und, falls — wie meist — Entlassung in die 
Familie oder sonst in freie Verhältnisse nicht an¬ 
gängig erscheint, der verpflichtete Verband zur Stel¬ 
lung des Antrags auf Aufnahme in eine Irrenanstalt 
veranlasst Die ministerielle Genehmigung der Haft¬ 
entlassung erfolgt in diesen Fällen unter der Be¬ 
dingung, dass die Unterbringung in einer Irrenanstalt 
gesichert erscheint. 

Der frühere Zusatz „vorbehaltlich der Wiederein¬ 
ziehung im Falle der Genesung“ wird neuerdings 
weggelassen, vermuthiich um auch den Schein einer 
weiteren Verpflichtung zur Fürsorge für den Haftent¬ 
lassenen zu meiden. 

Würde die Strafhaft in den bezeichneten Fällen 
mit der Ueberführung in die Irrenanstalt (in der 
Irrenabtheilung der Strafanstalt bezw. des Strafgefäng¬ 
nisses läuft sie selbstverständlich noch weiter) nicht 
unterbrochen, so hätte der Staat auch die Verpflich¬ 
tung zur Tragung der Kosten, und diese nimmt er 
nicht auf sich, da es sich vielfach um langwierige 
Krankheiten, nicht selten um jahrelangen Aufenthalt 
in der Irrenanstalt handelt. 

Aus Gerichtsgefängnissen werden die Kranken 
gleichfalls unter ausdrücklicher Haftentlassung häufig 
zunächst der Polizeiverwaltung des Ortes überwiesen, 
welcher die weitere Unterbringung überlassen bleibt. 

In ungenügender Würdigung der geschilderten 
Sachlage haben sich in meinem Beobachtungskreise 
auch schon Staatsanwälte und Gerichte gelegentlich 


durch den § 493 der Strafprozessordnung irreleiten 
lassen und trotz Haftentlassung die in der Irrenan¬ 
stalt zugebrachte Zeit auf die Strafhaft — unrichtiger 
Weise — angerechnet. 

In einem Falle hatte ich einen wieder als straf¬ 
vollstreckungsfähig angesehenen Mann dem Gefäng- 
niss zur Abbüssung des Strafrestes zuführen lassen, 
und wenige Tage darauf kam er zu meiner nicht ge¬ 
ringen Ueberraschung mit der Nachricht zu mir, der 
Staatsanwalt habe ihn mit der Begründung entlassen, 
dass er den Rest seiner Strafe bereits in der Irren¬ 
anstalt verbüsst habe. 

In einem andern Falle vertrat der Staatsanwalt 
gleichfalls die Meinung, dass dem Kranken, den ich 
nach weitgehender Besserung zu entlassen beabsich¬ 
tigte, dessen Entlassung er aber widerstrebte, die in 
der hiesigen Anstalt verbrachte Zeit von der Straf¬ 
haft abzurechnen sei, er wurde aber im Lauf der 
weiteren Verhandlungen von der Oberstaatsanwalt¬ 
schaft alsbald eines Anderen belehrt 

Auch ein Landgericht (Strafkammer) beging den 
gleichen Fehler, indem es unter ausdrücklichem Hin¬ 
weis auf § 493 St.-P.- 0 . dem Verurtheilten die Dauer 
des Aufenthalts in den Irrenanstalten Dalldorf und 
Nietleben von dem noch zu verbüssenden Rest in 
Abzug brachte, obgleich er mit der Ueberführung 
aus der Irrenabtheilung der Strafanstalt Moabit nach 
Dalldorf aus der Haft entlassen war. 

Dieser Mann, welchem hiebei eine nach Lage 
der Dinge unberechtigte Wohlthat aus Irrthum zu 
Theil geworden, hatte übrigens weiterhin die ganze 
Härte und den starren Schematismus des Strafvoll¬ 
zuges durchzukosten. Nachdem das gegen ihn in- 
scenirte Entmündigungsverfahren entsprechend dem von 
mir abgegebenen eingehenden Gutachten nicht zur Ent¬ 
mündigung geführt (er wich zwar in der Richtung der 
querulirenden Form der Paranoia von der Norm ab, 
jedoch hielten sich die Erscheinungen damals in den 
engsten Grenzen) und nachdem die Befürwortung 
von Gesuchen um Erlass des Strafrestes im Gnaden¬ 
wege abgelehnt war, musste er — seiner Zeit wiegen 
Anstiftung zum Meineide zu mehrjähriger Zuchthaus¬ 
strafe verurtheilt — einen Strafrest von 8 Monaten 
in der Strafanstalt abbüssen. Seit seiner Entlassung 
aus der hiesigen Anstalt hatte er sich bis dahin durch 
nahezu drei Jahre, ohne erneute Conflicte mit dem 
Strafgesetz, seinen Unterhalt verdient und mühsam 
eine einigermaassen gesicherte Existenz errungen, 
welche durch die Vollstreckung des Strafrestes mit 
rauher Hand zertrümmert wurde. Nach Verbüssung 
der Strafe bedurfte es mehrfacher Unterstützung, um 


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284 


ihm wieder aufzuhelfen und ihn dadurch zugleich vor 
Abwegen zu bewahren. 

Warum der Erlass im Gnadenwege keine Befür¬ 
wortung bei den betheiligten Justizbehörden fand, ist 
mir unverständlich. Hat die Gesellschaft nicht ein 
grösseres Interesse daran, dass der aus der Irrenan¬ 
stalt entlassene frühere Gefangene sich ihr wieder 
als friedliches und nützliches, keinen ferneren Auf¬ 
wand aus öffentlichen Mitteln verursachendes Glied 
einfügt, als daran, dass der — im vorliegenden Fall 
noch dazu verhältnissmässig geringe Rest einer Strafe 
bis zur letzten Minute vollstreckt wird, weil sie eben 
einmal vom Gericht ausgesprochen ist, unbekümmert 
darum, ob dadurch der Gesundheitszustand des Be¬ 
troffenen aufs Neue gefährdet, die mühsam errungene 
Existenz wieder vernichtet und dadurch nicht nur 
eine gesellschaftsfeindliche Verbitterung begünstigt, 
sondern auch nach Verbüssung des Strafrestes erneute 
Noth und in Folge dessen unter Umständen die 
Grundlage für neue Vergehen gegen Gesetz und Ord¬ 
nung geschaffen wird, von der Inanspruchnahme 
öffentlicher Mittel abgesehen? 

Mindestens in denjenigen Fällen, in welchen die 
bereits verbüsste Strafzeit mit dem unfreiwilligen 
Aufenthalt in der Irrenanstalt, der nach Haftent¬ 
lassung nun einmal nicht auf die Strafe angerechnet 
werden kann, zusammen die gesammte Strafdauer er¬ 
reicht, oder, wie es nicht selten ein tritt, überschreitet, 
aber auch überall da, wo nach der Art der betreffen¬ 
den Individuen die Durchführung des Strafvollzugs 
ohne erneute Ueberweisung nach der Irrenanstalt 
unmöglich erscheint, würde es in der That billig sein, 
wenn der Erlass des Strafrestes im Gnadenwege — 
bei der derzeitigen Lage der einschlägigen Bestim¬ 
mungen die einzige Möglichkeit, das über dem Ent¬ 
lassenen schwebende Damokles-Schw r ert erneuter In- 
haftirung zu beseitigen — herbeigeführt würde. Hier 
stösst dies, soweit meine Erfahrung reicht, auf die 
grössten Schwierigkeiten, während mir aus dem König¬ 
reich Sachsen bezügliche Fälle aus Gerichtsacten be¬ 
kannt geworden sind. 

So wie die Dinge gegenwärtig liegen, geschieht 
dem geisteskrank gewordenen Gefangenen mit seiner, 
eine Unterbrechung der Strafe voraussetzenden Ueber- 
führung in eine Irrenanstalt, falls er wieder entlass¬ 
ungsfähig wird, insofern ein schlechter Gefallen, als 
er unter Umständen eine viel längere Freiheitsent¬ 
ziehung zu gewärtigen hat, wie bei ununterbrochener 
Verbüssung seiner Strafe und als ihm nach der Ent¬ 
lassung aus der Irrenanstalt fortgesetzte polizeiliche 
und gerichtliche Nachforschungen in Absicht der 


[Nr. 25. 


Vollstreckung des Strafrestes erwachsen, die geeignet 
sind, sein psychisches Gleichgewicht wieder zu stören. 

Principiell bin ich der Meinung, dass die Heil- 
und Pflegeanstalten für Geisteskranke von der Straf¬ 
anstalts-Bevölkerung wieder befreit werden sollten 
(eine Begründung dieses Standpunktes in der so viel 
erörterten Frage würde hier zu w'eit führen), so lange 
dies aber nicht erreichbar, sollten meines Erachtens 
die Irrenabtheilungen an Gefangenenanstalten, deren 
thunlichste Vermehrung anzustreben wäre, die Er¬ 
krankten möglichst lange behalten und öfter, als es 
nach meiner Erfahrung zu geschehen pflegt, bei nur 
mehr geringfügigen Krankheitserscheinungen (Andeu¬ 
tungen von Verfolguugsideen z. B., die manchmal über 
das Maass dessen, was überhaupt unter den Gefange¬ 
nen über die Aufseher colportirt wird, kaum hinaus¬ 
gehen) den Versuch der Fortsetzung eines vorsichti¬ 
gen Strafvollzuges in der Hauptanstalt unternehmen, 
bei dessen etwaigem Misslingen ja die Rückkehr nach 
der Irrenabtheilung leicht zu bewerkstelligen bleibt; 
jedenfalls sind solche Versuche innerhalb verschiede¬ 
ner Abtheilungen desselben Instituts viel leichter 
durchzuführen, als etwa zwischen den verschiedenen 
Behörden unterstellten Irrenanstalten und Gefangenen¬ 
anstalten. 

In Preussen ist zu den ohnehin schon nicht ge¬ 
ringen Schwierigkeiten, welche die Unterbringung und 
Behandlung der geisteskranken Verbrecher bieten, 
durch die Ministerialerlasse vom 15. Juni 1901 und 
vom 6. December 1901 (abgedruckt u. A. in dem 
Aufsatz von Aschaffenburg: „Die Unterbringung gei¬ 
steskranker Verbrecher“ im Centralblatt für Nerven¬ 
heilkunde und Psychiatrie, 25. Jahrgang, Mai 1902)*) 
noch ein ausserordentliches und meines Erachtens 
sehr bedauerliches Erschwerniss für die Entlassung 
hinzugetreten, welches auf die practischen Bedürf¬ 
nisse zu wenig Rücksicht nimmt und überdies den 
beabsichtigten Zweck in keiner Weise erreicht. 

Zur Begründung dieses aus der Erfahrung ge¬ 
wonnenen Urtheils möge kurz nur auf Folgendes 
hingewiesen sein. 

Hat man — was begreiflicherweise an sich 
schon sehr schwierig und nur durch persönliche Ver¬ 
mittlung möglich — für einen Menschen solchen 
Vorlebens jemand gefunden, der ihm, sei es auf 
Grund von Beziehungen zur Anstalt, sei es (w^as viel 
seltner) aus allgemeinen socialen Gesichtspunkten, eine 
zum Unterhalt ausreichende Beschäftigung gewähren 
wall (selbstverständlich hat man auch bereits vor den 
beregten Erlassen derartige Menschen nicht beliebig 
auf die Strasse gesetzt), so soll der künftige Arbeit- 
*) s. Jahrg. III dies. Zeitschr. S. 200 u. Beilage zu Nr. 48. Red. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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IQ02.] 


geber auch noch eine Reihe von Wochen (bei Ein¬ 
spruch seitens einer der betheiligten Instanzen ent¬ 
sprechend länger) sich gedulden, bis er endlich die 
fragwürdige Arbeitskraft erhält, eine Zumuthung, der 
gegenüber die Wenigsten Stand halten. Wartet er 
nicht, so beginnt das mühsame und langwierige Suchen 
und — falls dann ein anderer Ort (andre Polizeibe¬ 
hörde) gewählt werden muss — auch die ganze Reihe 
von Verhandlungen von Neuem. Und wenn nun 
nach dem ganzen zeitraubenden und verdriesslichen 
Verfahren und unendlicher Schreiberei die Entlassung 
glücklich erfolgt ist, wer will den Entlassenen hindern, 
alsbald, vielleicht schon am gleichen Tage, den Ort, 
nach dem er dirigirt ist, zu verlassen? Wo bleibt 
dann der Zweck der Erlasse? 

Welcher Zwiespalt ausserdem in der Fürsorge für 
den Schutz der Gesellschaft! 

Der rückfällige Verbrecher schlimmster Sorte, von 
welchem mit aller Sicherheit neue Angriffe auf Leben 
und Eigenthum seiner Nebenmenschen zu erwarten 
stehen, wird, so lange er nicht geisteskrank ist, nach 
der gegenwärtigen Gesetzeslage mit der Minute des 
jeweiligen Strafendes auf die Gesellschaft losgelassen, 
die Entlassung eines gefangenen und in der Haft 
geistig erkrankt gewesenen Menschen aber, welcher 
nach dem reiflich erwogenen Urtheil des Leiters der 
Irrenanstalt — und auf diesem ruht nach wie vor 
das Hauptgewicht der Verantwortung — nicht mehr 
als gefährlich anzusehen ist, sofern er nur einiger- 
maassen geeignete Existenzbedingungen findet und 
mit gerichtlichen Proceduren und Strafvollstreckung 
nicht verfolgt wird, diese Entlassung wird mit mehr¬ 


285 


fachen Dornenhecken umgeben, die oft schwer zu 
übersteigen sind. 

Am Schluss seiner schon oben citirten kürzlichen 
Auseinandersetzung über „die Unterbringung geistes¬ 
kranker Verbrecher“, mahnt Aschaffenburg: „Statt 
die Spannung zu erhöhen und durch unfruchtbare 
Opposition gegen die Einmischung der Verwaltungs¬ 
behörden in das Recht über den Kranken zu be¬ 
stimmen, kann der Irrenarzt sehr viel zur Verständi¬ 
gung beitragen, wenn er in seinem Gutachten nicht 
nur die Entlassungsfähigkeit begründet, sondern auch 
auseinandersetzt, welche Maassnahmen er im Inter¬ 
esse des Kranken und der Strafrechtspflege für er¬ 
forderlich hält. Die Mitwirkung der Verwaltungen 
und der Staatsanwaltschaft bei der Entlassung ist 
durch die Ministerialverordnungen genau vorgeschrie¬ 
ben. Die Erfahrung wird nunmehr zeigen müssen, 
wie sich diese Vorschriften bewähren und an wem 
die Schuld liegt, wenn auch weiterhin Schwierigkeiten 
entstehen. Sie dürften, wie ich nochmals wiederholen 
will, meiner Ansicht nach zu vermeiden sein, wenn 
beide betheiligten Behörden, die Vertreter der öffent¬ 
lichen Rechtssicherheit und die der Irrenheilkunde, 
sich bemühen, den Standpunkt des andern zu be¬ 
greifen und zu berücksichtigen.“ 

Einen Theil solcher Schuld will ich mit den vor¬ 
stehenden Erörterungen gern auf mich nehmen, wenn 
es ihnen gelingen sollte, dazu beizutragen, dass das 
durch die zuletzt besprochenen Erlasse gebotene Ver¬ 
fahren, wenn nicht beseitigt, doch wenigstens auf ein 
für die Handhabung erträgliches Maass zurückgeführt 
wird. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Der Antwerpener Congress. (Schluss). 
Mittwoch, den 3. September (3. Congresstag). Vor¬ 
sitzender Dr. van Andel, später F. Gerenyi, Shuttle¬ 
worth und Voisin. Die Diskussion bewegte sich um 
das Thema: Geschlossene Anstalten oder Colonien 
und Familien pflege? „Vater“ Amadeus Stockmans 
und Dr. Claus traten wieder als warme Vertheidiger 
der ersteren auf, ein Umstand, der schon an sich be¬ 
weist, dass dieselben ein besonderes Interesse an der 
Integrität ihrer kirchlichen Anstalt in Mortsei haben 
müssen; sie fanden wenig Partner, gleichwohl ver- 
theidigten sie ihren Standpunkt so angelegentlich, 
dass es zu heftigen und erregten Debatten kam, bis 
am Nachmittag der Vorsitzende constatirte, dass der 
Zweck des Congresses nicht der Widerstreit der ein¬ 
zelnen Verpflegungsarten, sondern die möglichste Ver¬ 
besserung des Looses der Geisteskranken sei. An 
der Debatte betheiligten sich hauptsächlich: Voisin, 
Keraval, Alt, Gerenyi, van Andel, van Dalen, Peeters. 


Das Thema ist bei uns so eingehend erörtert, dass 
wir den Inhalt der Ausführungen in der Diskussion 
als bekannt voraussetzen dürfen.*) Bemerkenswerth 
ist die Mittheilung, dass s. Zt., als die Anstalt St. 

*) Dank dem energischen Auftreten Alt’s erfuhren die 
immer wiederkehrenden Versuche des Vaters Stockmanns 
und des Dr. Claus, die Bedeutung der Familienpflege herab¬ 
zusetzen, eine gründliche Zurückweisung und dies hat nicht 
verfehlt, in der belgischen Tagespresse während der Zeit des 
Congresses einen günstigen Widerhall hervorzurufen, sodass 
das Ansehen der deutschen Irrenpflege durch Alt, der öster¬ 
reichischen durch Gerenyi, im Auslande erheblich vermehrt 
worden ist. Wenn man weiss, dass die belgischen Anstalten 
fast alle Unternehmungen sind, namentlich kirchliche, und dass 
sie einen jährlichen Gewinn von ein bis zwei Millionen Franken 
abwerfen, über deren Verwendung völliges Dunkel herrscht, 
da Anstaltsverbesserungen nicht stattfinden — dass die Aerzte 
vom Unternehmer angestellt und von ihm abhängig sind und 
pro Kopf und Tag bezahlt werden (mit 0,05 bis 0,10 Centimes), 
dass etwa l / A —*/& der Anstaltsinsassen colonisirbar sind, — 
so wird man die erwähnte Abneigung gegen dieses System 
verstehen! 


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286 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25. 


Anna geschlossen und 163 ihrer Pensionäre nach 
Gheel überführt und dort colonisirt wurden, nur 3 
davon in die Anstalt zurückversetzt werden mussten. 

Am Donnerstag, den 4. September, begaben 
sich die Congressisten in grosser Zahl um 10 28 nach 
dem nahegelegenen Gheel, das von den Einwoh¬ 
nern zu Ehren der „vreemde doktoren“ festlich ge¬ 
schmückt war ; auch das Publikum selbst war „endi- 
manche“. Der Ortspfarrer begrüsste die Besucher 
aufs herzlichste in dem Raum einer Kapelle, an der 
sie der Weg vorbeiführte und in die er sie einzu¬ 
treten lud. Ein Sängerchor trug einige Lieder vor. 
Dr. Masoin bat darauf die Gäste zu einem Frühstück; 
nachher Rundgang durch die Colonie, die Direc- 
tor Dr. Alt im 1. Jahrgang dieser Zeitschrift bereits 
sehr eingehend geschildert hat. Auch die Kirche 
zur hl. Dymphne wurde besichtigt. Auf dem Markt¬ 
platz wurde den Gästen zu Ehren von 400 Sängern 
eine Cantate vorgetragen. Zum Schluss fand ein 
Banquet statt, bei dem Dr. Pecters den Toast aus¬ 
brachte. 

Am Freitag, den 5. September (Vorsitzender 
Tamburini), erhielt zunächst Dr. J. Crocq, Chef¬ 
arzt des Genesungshauses zu Uccle, das Wort zu sei¬ 
nem Vortrag über die Organisation der Irrenanstalten; 
er schilderte zunächst diejenige der nichtbelgischen 
Anstalten und machte dann Vorschläge für eine Neu¬ 
organisation der belgischen, und zwar 1. alsbald zu 
verwirklichende Reformen: Einführung a) des obli¬ 
gatorischen Studiums der Psychiatrie für die Medicirv- 
studirenden, b) einer Specialprüfung in Psychiatrie, 
nur die docteurs en medicine psychiatrique sollten 
zu Anstaltsärzten ernannt werden dürfen, dieselben 
sollten fest angestellt und ausreichend bezahlt werden; 
es sollte gesetzlich die Verhältnissziffer von Aerzten 
und Kranken auf 1 : 100 festgelegt werden; wenig¬ 
stens ein Arzt sollte in der Anstalt wohnen; bei 
grossen Anstalten sollte den Aerzten Privatpraxis 
nicht gestattet sein. 2. In Zukunft zu verwirklichende 
Reformen: a) A 11 e Anstalten für unbemittelte 
Kranke sollten staatlich verwaltet werden, 
b) jede Anstalt sollte einen ärztlichen 
Director haben, in dessen Händen die ad¬ 
ministrative und medicinische Leitung 
sich befindet und der staatlich angestellt wird. 

Auch van Deventer spricht sich dahin aus, 
dass die Verwaltung der Anstalten in den Händen 
des Arztes sein müsse, so sei es in Holland; doch 
braucht seine Kraft nicht von Verwaltungsarbeiten 
absorbirt zu werden. Er empfiehlt die Anstellung 
eines besonderen Arztes für pathologische Unter¬ 
suchungen. 

Dr. Macpherson schildert die Art, wie die An¬ 
stalten in Schottland verwaltet werden. Die Inspectors 
of lunacy besuchen, die einen mindestens einmal, die 
anderen mindestens 4 mal im Jahre die Kranken. — 
In den Colonien sind unangenehme Zwischenfälle 
bei den Pfleglingen sehr selten. Dr. C u y 1 i t s vertheidigt 
die Privatanstalten; in staatlichen würden die Aerzte 
zu Beamten und verlören alle Initiative, wobei er 
folgende Anekdote zum Besten giebt: Ein amerika¬ 
nischer Arzt nahm seinem Patienten das Gehirn heraus, 


um es zu reinigen und ihm in einigen Tagen wieder 
zu geben. Der aber kommt nicht wieder. Später 
trifft ihn der Arzt: „Warum holen Sie sich Ihr Gehirn 
nicht?“ Der Anencephale erwidert: „Ich brauche es 
nicht mehr, ich bin Beamter geworden“. — Der Staat 
habe kein Herz. — Marie bestreitet den Privatan¬ 
stalten das Monopol der Aufopferung. — Er empfiehlt 
für die angehenden Anstaltsärzte eine Probezeit mit 
Examen. — Claus hält letztere auch für nöthig. Er 
ist gegen die Einmischung des Staates in die Privat¬ 
anstalten, wenigstens in Belgien. — Nachmittags sprach 
Picquet über den chirurgischen Dienst in der Anstalt, 
Dr. de Geldern von der Oberflächlichkeit der Auf¬ 
nahmeatteste, mittelst deren eine Peison intemirt 
werden könne, von den ausserhalb Belgiens bestehenden 
gesetzlichen Massnahmen zur Verhütung ungerecht¬ 
fertigter Einsperrung und von den in Belgien zu tref¬ 
fenden Einrichtungen (amtsärztliches Zeugniss, ausser 
in dringlichen Fällen). — Meeus und-Sano, Marie, 
Deventer, von dem Unterricht für das Pflegeper¬ 
sonal, Marie von der Beschäftigung der Kranken, 
Masoin von der Unterbringung der Epileptiker in 
der Familienpflege; 300 Epileptiker seien in Gheel 
und Lierneux; die Zahl der Unfälle ist verschwendend 
gering; in Gheel seit 1851 einer. — Auch diese Sitzung 
dauerte von früh 9 l / 2 Uhr mit 2 */* Stunden Unter¬ 
brechung bis 5 Uhr. 

Sonnabend, den ö.Septbr. (Vorsitzender: Buffet): 
Zur Discussion steht das Stadtasyl, wobei besonders 
Sano die Verhältnisse in Antwerpen schildert. — 

Nach langen Verhandlungen wurden eine Reihe 
von Beschlüssen gefasst, die folgenden Wortlaut haben : 
Auf Vorschlag des Dr. Tamburini: „Der Congress 
spricht den Wunsch aus, dass die Unterbringung in 
Familien im weitesten Maasse angewandt w'erde.“ Auf 
Vorschlag des Dr. Alt: „Für eine beträchtliche Anzahl 
von Geisteskranken, die der Pflege bedürftig sind und 
für welche diese Art der Behandlung zulässig erscheint, 
stellt die Familienkolonie die natürlichste, freieste, beste 
und am wenigsten kostspielige Art der Pflege dar und 
ist ausserdem als ein wichtiger therapeutischer Factor 
anzusehen. Die Familienpflege kann mit jeder von 
einem Irrenarzt geleiteten und den Zeitbedürfnissen 
entsprechend eingerichteten Anstalt vereinigt werden, 
insbesondere, wenn die Pfleger und ihre Familien sich 
günstiger Wohnungsbedingungen erfreuen, w f as für die 
Heranziehung guter Pfleger unerlässlich ist. Aber bei 
der Mehrzahl der grossen Anstalten wird die Familien- 
pflege nur beschränkte Ausdehnung finden können. 
Die Verallgemeinerung dieser Pflege wird nur erlangt 
werden können durch Gründung von Centralanstalten 
in passenden Gegenden, die im kleinen die bekannten 
besondem Einrichtungen widcrspiegeln und als Aus¬ 
gangspunkt für die Gründung von Familienkolonien 
dienen können. Diese letztem machen die bestehen¬ 
den Anstalten nicht überflüssig; sie stellen keineswegs 
den passenden Aufenthalt für alle Arten von Geistes¬ 
kranken dar, aber sie können in practischer und wenig 
kostspieliger Weise das stetige Anwachsen dieser An¬ 
stalten verhindern.“ Auf Vorschlag des Dr. Van De¬ 
venter: „Die Arbeit der Geisteskranken in diesen Co- 
lonieen muss unter Leitung der Anstaltsärzte vor sich 


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I 902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


287 


gehen, welche die Art und die Dauer der Arbeit be¬ 
stimmen. Die Personen, die mit der Irrenpflege be¬ 
traut werden, müssen eine theoretische und practische 
Berufsausbildung erhalten, die den Anstaltsärzten an¬ 
vertraut ist. Die Leitung einer Anstalt muss dem 
Arzt auch hinsichtlich des Verwaltungsdienstes gehören. 
Jede Irrenanstalt müsste für je 100 Kranke einen Arzt 
besitzen, der im Interesse der ihm anvertrauten Kranken 
in der Anstalt wohnen müsste und keine Privatpraxis 
ausüben dürfte. Es wäre wünschenswerth, dass jede 
Irrenanstalt die nothwendigen Laboratorien hätte, um 
alles, was zur Beurtheilung der Krankheiten und zur 
Förderung der Irrenheilkunde beitragen kann, studiren 
zu können.“ Auf Vorschlag der Dr. Voisin, Marie, 
Leroux, Alt und Francotte: „Da die leichte Zugäng¬ 
lichkeit einer Anstalt und die frühzeitige Aufnahme 
in diese die sicherste Gewähr für die Heilung bilden, 
spricht der Congress den Wunsch aus, dass alle Er¬ 
leichterungen gewährt werden mögen für eine schnelle 
Zulassung zur Behandlung von Kranken bei den ersten 
Anzeichen der Krankheit und ohne das immer ge¬ 
forderte obligatorische Zeugniss.“ Auf Vorschlag der 
Dr. Alt, Marie, Van Deventer und Tamburini: 
„Der Congress spricht aus, dass die Fortschritte 
der jetzigen Irrenheilkunde den Gebrauch von 
Zwangsmaassregeln verdammen.“ Auf Vorschlag der 
Dr. Tamburini, Ferrarini, De Croly und Ley: 
„Mit Rücksicht auf die grossen Vorzüge der medicinisch- 
pädagogischen Einrichtungen für zurückgebliebene 
Kinder ist eine weitere Entwicklung und Vervielfachung 
dieser Einrichtungen wünschenswerth. Die Erziehung 
in derartigen Anstalten muss abgesehen von ihrer 
geistigen und sittlichen Art auch practisch und auf 
Erlernung eines nützlichen Gewerbes gerichtet sein. 
Es ist wünschenswerth, dass sich wohlthätige Gesell¬ 
schaften bilden, um die aus diesen Anstalten Ent¬ 
lassenen auf ihrem weitem Lebenswege zu fördern. 
Die wissenschaftliche Leitung aller dieser erzieherischen 
Anstalten und Sonderschulen soll eine ärztliche sein.“ 
Auf Vorschlag des Dr. Ferrari: „Da unter den Ur¬ 
sachen für die grosse Anzahl zurückgebliebener Kinder 
die Wissenschaft heute die Leiden der Mutter während 
der Schwangerschaft und der Entbindung und die 
daraus folgenden Krankheiten während der ersten 
Kindheit anerkennt und diese Ursachen leider mit 
den Bedingungen unseres socialen Lebens verknüpft 
sind, muss eine Abhülfe geschaffen werden. Der 
Congress beschliesst, zwei Abordnungen zu ernennen: 
eine technische, um die verhältnissmässige Wichtigkeit 
der verschiedenen Ursachen der Phrenasthenie zu 
studiren und eine andere, um die practischen Mittel 
zu deren Bekämpfung zu untersuchen.“ Auf Vorschlag 
der Dr. Ley und Ferrari: „Der Congress spricht den 
Wunsch aus, dass in den Familiencolonieen Anstalts¬ 
schulen errichtet werden, wo zurückgebliebene Kinder 
unter zuständiger ärztlicher Leitung vollständige ärztlich- 
erzieherische Behandlung empfangen.“ Auf Vorschlag 
des Dr. Schuyten: „Der Congress hält die Lösung 
der Frage für wichtig, inwieweit die in Familiencolonieen 
untergebrachten Geisteskranken die sie umgebenden 
Kinder und Erwachsene beeinflussen, und beschliesst 
die Bildung eines internationalen Ausschusses, dessen 


Mitglieder in den verschiedenen Ländern nach einem 
gemeinsamen Plan zu arbeiten hätten.“ 

* Schliesslich wurden noch 2 Vorschläge betr. Auf¬ 
besserung der Lage des Pflegepersonals in den An¬ 
stalten und Versicherung desselben gegen Unfall an¬ 
genommen. — 

Nach den herzlichsten Dankesreden an das Congress- 
comite, Director Dr. Peeters und Dr. Sano wurde der 
Congress geschlossen. 

Gegen 1 Uhr reisten die Congressisten nach Liemeux 
zur Besichtigung der dortigen Familien pflege. 

Der nächste Congress findet 1904 in Italien statt. — 

Es würde den Raum eines ganzen Bandes erfordern, 
wollte man hier ausführlich über die Vorträge und 
Verhandlungen des Congresses, der als durchaus wohl¬ 
gelungen bezeichnet werden muss, referiren. Es wird 
sich noch Gelegenheit finden auf den einen und 
anderen der Vorträge zurückzukommen. 

— Einladung zur dritten Conferenz der Trinker¬ 
heilanstalten des deutschen Sprachgebietes in 
Stuttgart. Montag, 13. October 1902, nachmittags 
3 Uhr: Berathende Versammlung im Mozart¬ 
saale der Liederhalle (Büchsenstrasse 59). 

I. Constituirung der Versammlung; Begrüssungen. 
II. Weshalb ist ein Trinkerfürsorgegesetz in Deutschland 
nöthig, und welche Bestimmungen muss es enthalten ? 
Dr. med. Waldschmidt (Charlottenburg). III. Die 
Nachpflege der als geheilt Entlassenen, a) Die Hilfe 
der Abstinenzvereine. Pastor Haacke(Rickling). b) Die 
Arbeit der Anstalt selbst. Pastor Kruse (Lintorf). 
c) Die Selbsthilfe der Geheilten. Hausvater Steffen 
(Kirchlindach, Schweiz). IV. Unsere Beteiligung am 
Internationalen Congress in Bremen. Pfarrer Neumann 
(Mündt). V. Geschäftliches, a) Die Ueberleitung der 
Conferenz in die Vereinsform. Dr. med. Colla (Finken¬ 
walde). b) Die nächste Jahresversammlung. Ober¬ 
regierungsrath Falch (Stuttgart), c) Wahlen. Die in 
Stuttgart am Vormittag des 13. October eintreffenden 
Cpnferenzbesucherwerden gebeten, sich etwa von 10 ] j 2 
Uhr an im Hotel Victoria am Bahnhofe (Friedrich¬ 
strasse 28) zum freien Gedankenaustausch zusammen 
zu finden. 

Der Vorstand. 

I. A.: Pastor Dr. Martius, Vorsitzender. 

— Eine besondere Auffassung von der 
Organisation einer Epileptiker- und Idioten- 
Anstalt äussert der Pastor Bernhard in Kükenmühle 
bei Stettin. In seinem Bericht über die Anstalt sagt 
er, nachdem er ausgeführt, dass der Leiter der Anstalt 
mit den verschiedenen Zweigen der Beschäftigung 
vertraut sein müsse und der Arbeitsbetrieb eine ein¬ 
heitliche Leitung erfordere (was nichts Neues ist): 
„Ein Hindcmiss, sich ein Verständniss in diesen Dingen 
anzueignen, sind weder pädagogische, noch theologische, 
noch medicinische Kenntnisse.“ Dem muss entgegen¬ 
gestellt werden: Epileptiker und Idioten sind 
Gehirnkranke und die Leitung der solche 
beherbergenden Anstalt muss naturgemäss 
derjenige führen, der das weitgehendste Ver¬ 
ständniss für solche Gehirnkrankheiten 
besitzt, d. i. der Facharzt. Die aus dieser Kenntniss 
sich ergebenden Gesichtspunkte und Grundsätze sind 


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288 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25. 


auch für die Erziehung und Beschäftigung der Epi¬ 
leptiker und Idioten raaassgebend, daher muss auch 
das pädagogische Personal einer solchen Anstalt detn 
Arzte unterstellt sein. Der Arzt ist überdies eher in 
der Lage sich Kenntniss von den Lehren der einfachen 
Elementarschulpädagogik und von den einzelnen Be¬ 
schäftigungsarten zu verschaffen, als der Pädagoge um¬ 
gekehrt von den Gehimkrankheiten und den krank¬ 
haften Abweichungen der kindlichen Seelenthätigkeit. 
Mit der Theologie aber hat eine solche Anstalt nicht 
mehr und nicht weniger zu schaffen als der Religions¬ 
unterricht, zu dessen Erteilung die Ausbildung der 
Elementarschullehrer völlig genügt, und Seelsorge und 
Gottesdienst es erfordern; für letztere genügen ein 
bezw. wo Pfleglinge beider Confessionen untergebracht 
sind, zwei Geistliche, die event. nebenamtlich anzu¬ 
stellen sind. Die richtige Organisation einer solchen 
Anstalt wäre also: ein Facharzt, zugleich als örtlicher 
Verwaltungsdirector, an der Spitze, ihm unterstellt einer¬ 
seits die übrigen Aerzte, andrerseits die Lehrkräfte. — 
An den Kükenmühler Anstalten mit ihren ca. 926 
Pfleglingen waren am 31. März 1902 laut obigem 
Bericht angestellt: 6 Theologen (nämlich 2 Pastoren, 
davon einer Leiter der Anstalt, 2 Hilfsprediger und 
2 Vikare, also 1 Geistlicher auf 154 Pfleglinge). Dagegen 
nur 3 Aerzte (1 Arzt auf 308 Pfleglinge) und 5 geprüfte 
Lehrkräfte. E in Seelsorger würde, wenn nur evangelische 
Pfleglinge in der Anstalt sind, vollständig genügen, 
wenn auch katholische, natürlich noch ein katholischer 
nöthig sein, doch scheint dies nicht der Fall, da von 
der Mitwirkung katholischer Seelsorge nirgends im 
Bericht die Rede ist. — 

Auch aus einer anderen Stelle des Berichts spricht 
eine besondere Auffassung: „Auch der Arzt ist zu 
bitten, seine Visiten so zu legen, dass er die Ordnung 
nicht stört“ (d. h. bei der Beschäftigung). Nach in 
ärztlich geleiteten Anstalten geltender, daher maass¬ 
gebender Auffassung sind die Aerzte verpflichtet, die 
Pfleglinge gerade auch bei der Arbeit zu be¬ 
suchen, damit hierbei Alles in zweckdienlicher Weise 
vor sich gehe. 

Dem Bericht der genannten Anstalt zufolge war 
es möglich, zum Bau eines Diakonissen - Erholungs¬ 
hauses eine Summe von 10000 M. anzulegen. Das 
ist sehr lobenswerth; aber man fragt sich: warum 
wird in den staatlichen und städtischen Anstalten 
nicht die gleiche Fürsorglichkeit dem nicht-kirchlichen 
Pflegepersonal zu Theil, das bei den Geisteskranken 
einen zehnmal mehr aufreibenden Dienst hat? 

— Die 33. Versammlung des Vereins der 
südwestdeutschen Irrenärzte wird am 1. und 2. 
November in Stuttgart stattflnden. Vorträge sind 
spätestens bis Anfang Oktober anzumelden. 

Die Versammlung wird am ersten Tag in dem 
Vortragsaal des Landgewerbemuseums, am zweiten 
Tag in dem Bürgerspital abgehalten werden. Wer 
beabsichtigt, Kranke vorzustellen, hat Gelegenheit, 
diese auf der Irrenabtheilung des Bürgerspitals unter¬ 
zubringen. 


Das nähere Programm wird sofort nach dessen 
Feststellung veröffentlicht. 

Die Geschäftsführer: 

Sanitätsrath Dr. Fauser, Urbanstr. 70II., 
Sanitätsrath Dr. Wildermuth, Königstr. 20 1 . 

— Gerichtliche Entscheidungen. Eine 
principiell wichtige Entscheidung fällte das Gericht 
von Blois am 22. März 1900. — 

Es wies nämlich die gegen den Arzt gerichtete 
Entschädigungsklage eines gefährlichen Alkoholikers 
ab, der behauptete ungerechtfertigter Weise sequestrirt 
worden zu sein. Der Gerichtshof erklärte sich für 
incompetent, die Amtshandlungen des Präfecten zu 
beurtheilen. Der Kläger sei auf Befehl des Präfecten 
in die Irrenanstalt gebracht worden, und nicht auf 
den des Arztes. — Uebrigens halte es das vom Arzte 
ausgestellte Zeugniss für wohl begründet und sachlich 
gerechtfertigt, es liege kein Kunstfehler vor. 

Ann. Med.-Psych. 1901. Septb.-Octb. 

— Bemerkung zu den „Erklärungen“ auf 
Seite 281. Zur Orientirung für den Leser sei be¬ 
merkt, dass Möbius, selbst seit über 20 Jahren ab¬ 
stinent, in seinem Aufsatz: „Massigkeit und Enthalt¬ 
samkeit“ („Stachyologie“ S. 219) im Wesentlichen 
die Taktik der Abstinenzler, nicht die Abstinenz 
selbst kritisirt Wenn Möbius dort (S. 201) sagt: 
„Der Alkohol nährt nicht, wärmt nicht, befördert 
weder die Verdauung, noch die geistige oder körper¬ 
liche Arbeit Einzelne Gelehrte halten noch an der 
Meinung fest, dass ganz kleine Mengen Alkohol ganz 
vorübergehend die Muskelkraft steigern oder sonst 
etwas Gutes machen. Aber diese Erörterungen über 
einen etwaigen mikroskopischen Nutzen des Alkohols 
können an jenen hinreichend bewiesenen Verneinungen 
nichts ändern: praktisch genommen hemmt und schä¬ 
digt der Alkohol stets die Thätigkeiten unseres Orga¬ 
nismus. Auch darüber, dass der Alkohol kein brauch¬ 
bares Arzneimittel ist, kann, von vereinzelten Fällen 
abgesehen, nicht mehr gestritten werden“ .... — 
und wenn Clemm in seinem Aufsatz: „Alkohol 
als Genuss-, als Nahrungs- und als Heilmittel“ („Die 
med. Woche“, 1902, S. 303) zu dem Schluss kommt: 
„Alkohol ist also, entgegen allem Ansturm der Tem¬ 
perenzler, 1) ein Nähr- und Genussmittel von Werth, 
so lange er in geringen Mengen genossen wird, und 
2) ein Heilmittel von hoher Bedeutung, welche viel¬ 
leicht bald genauer erkannt werden dürfte, wenn 
nach dem gegebenen Gesichtspunkte seine Anwen¬ 
dung überwacht und ermessen wird“ .... — so 
sind das allerdings zwei recht verschiedene Stand¬ 
punkte. — 

Die Veröffentlichung der bereits vorher in der 
„Internationalen Monatsschrift zur Erforschung des 
Alkoholismus etc.“ erschienenen Erklärung von Möbius 
in dieser Wochenschrift geschah auf besonderen 
Wunsch der Redaction der letzteren. Red. 

Personalnachricht. 

— Herrn San.-Rath Dr. Alter-Leubus wurde 
der Titel eines Geheimen San.-Raths verliehen. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. iiresler, K rasch nitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Ruchdruckorei (Gebr. Woiff) in Halle a S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 


Direktor Dr. K. Alt, 
Uchtspringe (Alunark). 

Prof. Dr. A. Guttstadt, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. 

Direktor Dr. G. Ol ah, 

Budapest. 


herausgegeben von 

Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 
Graz. Zürich. Meerenbcrg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel 
Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 


Nr. 26. 


27. September. 


1902. 


Die Psy chiatrisch-Neur olo gi sehe Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 


Inhalt. Originale: Projekt eines Stadtasyles. 
(S. 297). — Personalnachricht (S. 300). 


Von Dr. G. Kolb-Bayreuth (S. 289. — Mittheilungen (S. 296). — Referate 


Project eines Stadtasyles. 

Von Dr. G. Kolb , Bayreuth. 

Alle Rechte des Autors Vorbehalten. 


J^ine Grossstadt beabsichtigt die zcitgemässe Ver¬ 
sorgung ihrer Geisteskranken. — 

Die Vertreter der Gemeinde haben unter Zu¬ 
ziehung der aus psychiatrischen und bautechnischen 
Sachverständigen bestehenden Baukommission folgende 
allgemeine Gesichtspunkte festgelcgt: 

1. Da für alle Erkrankte rascheste Verbringung 
unter sachverständige Pflege angestrebt wird, ist für 
das Stadtasyl eine centrale Lage vorgesehen. 

2. Dieser centralen Lage entsprechend kann nur 
ein kleines Areal zur Verfügung gestellt werden. 

3. Eine Belästigung der Anwohner ist nach Thun- 
lichkeit zu vermeiden. 

4. Das Asyl dient lediglich als Durchgangsstation 
d. h. die nicht heimathsberechtigten Kranken sind 
sofort nach Feststellung ihrer Zugehörigkeit resp. so¬ 
gleich mit dem Eintritt der Transportfähigkeit der 
regionären Provinzialirrenanstalt zuzuführen, während 


diejenigen, welche der dauernden Fürsorge durch die 
Stadt unterliegen, mit dem Eintritte der Transport¬ 
fähigkeit der im Bereiche des Vorortverkehrs neu zu 
errichtenden, kolonialen städtischen Anstalt überwiesen 
werden. 

5. Das Stadtasyl soll eine Grösse erhalten, welche 
voraussichtlich noch in 20 Jahren den erhöhten An¬ 
forderungen der gesteigerten Bcvölkerungszifler ge¬ 
nügen wird. 

6. Um schon in den ersten Jahren eine voll¬ 
kommene Ausnützung der Räume des Stadtasyles er¬ 
zielen zu können, hat man in Aussicht genommen 
diejenigen unter den der ständigen Fürsorge durch 
die Stadt unterliegenden Kranken, welche besonderer 
Pflege und Aufsicht bedürfen oder für die sich der 
Exitus in absehbarer Zeit erwarten lässt, in den näch¬ 
sten Jahren auch nach Eintritt der Transportfähigkeit 
nicht in die städtische koloniale Anstalt zu überführen, 


Gov gle 


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290 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2b. 


sondern im Stadtasylc zu belassen; die Rcduction 
der Zahl der unter jene Definition fallenden Insassen 
des Asyles unter gleichzeitigem Ausbau der Wachab¬ 
theilungen der kolonialen Anstalt wird für das Asyl 
den Uebergang bilden zu der Periode erhöhter Zu- 
gangsziffem in späteren Jahren. 

7. Entspricht die thatsächlichc Zunahme des Kran¬ 
kenstandes den angenommenen Ziffern, so ist nach 
Ablauf von 15 Jahren in vorbereitende Berathung 
über den weiteren Ausbau der städtischen Irrenfür- 
sorge zu treten. 

Aus den vom statistischen Bureau der Stadt 
gesammelten Angaben: 

1. Jetzige Höhe der Aufnahmeziffer Geisteskranker. 

2. Durchschnittliche jährliche Zunahme dieser 
Ziffer. 

3. Durchschnittliche Dauer der bisherigen Ver¬ 
pflegung dieser Kranken in den alten Räumen 
— unter Berücksichtigung des Umstandes, 
dass bisher in Folge der ungenügenden Grösse 
und Einrichtung der zur Verfügung stehenden 
Räumlichkeiten Evacuirung oft früher als wiin- 
schenswerth gewesen wäre, erfolgen musste. 

4. Jetzige Grösse und procentuales Wachsthum 
der Stadt. 

5. Grösse und jährliche Zunahme des Fremden¬ 
verkehres. 

6. Mittheilungen über bestehende Privatirrenan¬ 
stalten im Bereiche und in der Umgebung der 
Stadt 

lasse sich berechnen, dass eine für die Aufnahme 
von ca. 90 Kranken (50 Männer, 40 Frauen) einge¬ 
richtete Anstalt noch in 20 Jahren voraussichtlich 
allen Anforderungen genügen wird. 

Die Baukommission gelangt auf Grund dieses 
Materiales zu folgenden Beschlüssen. 

A. Allgemeines. 

I. Die geringe Ausdehnung des zur Verfügung 
stehenden Areals zwingt zu einer möglichst weitge¬ 
henden Beschränkung der zu überbauenden Fläche 
d. h. zur grössten Einschränkung hinsichtlich der Zahl 
der Gebäude und zu einer geringen Flächen-Aus- 
dehnung der Bauten bei einer stärkeren vertikalen 
Entwicklung derselben als sonst bei Irrenanstalten 
üblich. 

Als unbedingt nothwendig wurde für jedes der 
beiden Geschlechter ein eigener Pavillon gefordert. 

Ein 3. Gebäude enthält im Souterrain Koch- und 
Waschküche, weiterhin Räume für den administrativen 
und ärztlichen poliklinischen Dienst, Wohnungen für 
Aerzte und Beamte; Vorrathsräume. 

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Um die postulirte Krankenzahl in Bauten von der 
zulässigen Flächenausdehnung unterbringen zu können, 
musste man die Krankenpavillons mit 3 vollständig 
ausgebauten Stockwerken versehen. 

Es wurde nicht verkannt, dass die Unterbringung 
einer grösseren Anzahl von Kranken, welche sich 
mit wenigen Ausnahmen im akutesten Stadium ihrer 
Psychose befinden werden, innerhalb eines Baues, in 
mehreren über einander liegenden Stockwerken, auf 
erhebliche Bedenken stossen muss und von Seite der 
psychiatrischen Sachverständigen wurde die Consta- 
tirung zu Protokoll gegeben, dass man auf diese Bau¬ 
art nur eingehen konnte angesichts der Thatsachen, 
dass die maassgebenden Faktoren sich zu einer 
Aenderung der für den Bau maassgebenden principi- 
ellen Gesichtspunkte nicht entschliessen konnten und 
dass ein grösseres für den Bau geeignetes Terrain 
weder vorhanden noch in absehbarer Zeit zu beschaffen 
war; ferner nachdem die bautechnischen Sachver¬ 
ständigen in ihren Entwürfen eine Reihe von Ein¬ 
richtungen und Vorkehrungen angegeben hatten, 
welche geeignet erschienen die Missstände auf ein 
zulässiges Maass zu reduciren. 

1. Da der Schall leichter von unten nach oben 
dringt, als umgekehrt, wurde das Erdgeschoss eines 
jeden Krankenpavillons für die Aufnahme der relativ 
ruhigsten, der 1. Stock für unruhigere vorwiegend in¬ 
dolente, der 2. Stock für die unruhigsten Patienten 
bestimmt. 

2. Innerhalb des Baues wurde eine Uebertragung 
des Lärmes durch besondere Construktion der Decken 
wie durch Anbringung eines schalldämpfenden Fuss- 
bodenbelags nach Möglichkeit verhindert. 

3. Eine ca. 3 m tiefe, in der Frontseite vor den 
Haupträumen laufende geschlossene Veranda resp. die 
entsprechenden ebenfalls geschlossenen Altanen wer¬ 
den auf dieser Seite verhindern, dass der etwa aus 
den geöffneten Fenstern eines Stockes dringende Lärm 
sich im Innern der übrigen Stockwerke in unzulässiger 
Weise geltend macht. 

4. Ausgehend von der Thatsache, dass erregte 
Kranke wohl nicht wesentlich weniger durch ihren 
Anblick, durch versuchte oder durchgeführtc Angriffe 
— also durch optische und taktile — als durch den 
von ihnen ausgehendem Lärm — also durch akusti¬ 
sche Reize — störend und erregend auf andere Pa¬ 
tienten einwirken, wurde die Möglichkeit einer weitest 
gehenden Sonderung der Kranken angestrebt; dieselbe 
gestattet einige besonders störende oder erregte Kranke 
dem Ohre wie dem Auge vollständig, andere weniger 
erregte dem Blicke vollständig zu entziehen, den von 
ihnen etwa verursachten Lärm in wesentlich abge- 

Original fram 

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igo^.] 

schwächter Stärke an das Ohr der anderen Kranken 
dringen zu lassen, ohne deswegen alle jene störenden 
Elemente in Isolir- oder Einzelzimmern unterhringen 
zu müssen. 

So stehen in dem Männerpavillon für 52 Kranke 
6 Krankensäle ä 8 Betten, 

6 Tagräume, 

4 Einzelzimmer, 

5 grosse Baderäume, 

9 Isolirzimmer 

in Summa 30 Räume zur Verfügung; rechnen wir 
diejenigen Zimmer, welche zur Aufnahme nur eines 
Patienten bestimmt sind (4 Einzelzimmer, 9 Isolir¬ 
zimmer) ab, so stehen im Nothfalle für die restiren- 
den 39 Patienten 17 Räume zur Verfügung, so dass 
auf einen Raum nicht mehr als 2 — 3 Insassen ent¬ 
fallen (2, 3). 

Die 9 Isolirzimmer und 5 Baderäume sind von 
den Krankensälen in einer Weise getrennt, welche 
das Herüberdringen von Lärm bei den Isolirzimmem 
vollkommen ausschiiesst, bei den Baderäumen auf ein 
sicher zulässiges Maass reducirt. 

Die Baderäume konnten, da sie bei dem domini- 
renden Ueberwiegen frischer Psychosen sehr häufig 
zu Daueibädern Benützung finden werden, für die 
Berechnung in diesem Falle als annähernd gleichwertig 
den Wohnräumen in Rechnung gezogen werden. 

Noch günstiger sind die Verhältnisse bei den 
Frauen entsprechend deren zweifellos höherem Sepa- 
rationsbedtirfniss gelagert. 

Hier stehen für 40 Kranke 

6 Krankensäle a 6 Betten, 

6 Tageräume, 

4 Einzelzimmer, 

5 Baderäume, 

8 Isolirzimmer 

in Summa 29 Räume zur Verfügung; rechnen wir 
hier die Zimmer für Einzelverpflegung (= 4 Einzel¬ 
zimmer, 8 Isolirzimmer) ab, so stehen im Nothfalle 
für die restirenden 28 Patienten 17 Räume zur Ver¬ 
fügung, so dass auf einen Raum dann durchschnitt¬ 
lich nicht einmal 2 Insassen entfallen (1, 8). 

II. Die Möglichkeit einer Störung der Nachbar¬ 
schaft durch den vom Asyle ausgehenden Lärm wird 
schon durch die oben erwähnte Vertheilung der Kran¬ 
ken in die verschiedenen Stockwerke auf ein geringeres 
Maass zurückgeführt, indem eine Belästigung durch 
die im 2. Stockwerk des Pavillons untergebrachten 
erregtesten Elemente im Wesentlichen nur für die 
Bewohner der obersten Stockwerke benachbarter 
Häuser in Frage kommen könnte. 


291 

Ferner wmrde — das nachstehend Gesagte gilt 
in gleicher Weise für beide Krankenpavillons — die 
Einrichtung getroffen, dass in dem einen Flügelbau 
lediglich Separatzimmer für relativ ruhige Patienten 
vorwiegend der theueren Verpftegungsklassen, durch 
welche eine Störung nicht zu befürchten ist, vorge¬ 
sehen wurden. 

1 

In der Front der Pavillons wurden die mit Kran¬ 
ken belegten Räume 3 m hinter die Frontlinie der 
Flügelbauten zurückgezogen und dieser Zwischenraum 
durch eine geschlossene Veranda resp. in den oberen 
Stockwerken durch geschlossene Altane ausgefüllt; die¬ 
selben werden, ohne dass die Zufuhr von Luft und 
Licht in unzulässigem Maasse verhindert würde, einen 
deutlichen Einblick in die betr. Räume von den be¬ 
nachbarten Wohnhäusern aus verhindern und zur Ab¬ 
schwächung des aus den Fenstern jener Räume etwa 
dringenden Lärms erheblich beitragen. 

• In ähnlicher Weise wurde auf der Rückseite der 
Mittelbau um ca. 3 m hinter die Frontlinie der 
Flügelbauten zurückgezogen; eine Veranda etc. hier 
aber nicht vorgesehen. 

Es ist demnach die Gefahr einer Belästigung der 
Umgebung 

a) ausgeschlossen auf der vom Flügel der Separat¬ 
zimmer eingenommenen Seite, 

b) ganz erheblich reducirt auf der Vorderseite, 

c) etwas vermindert auf der Rückseite, 

d) in unvermindertem Maasse lediglich zu be¬ 
fürchten auf der vom Flügel der Isolirzimmer einge¬ 
nommenen Seite. 

Durch diese Eintheilung ist es ermöglicht die bei¬ 
den Krankenpavillons derart zu situiren, dass eine 
Störung der Nachbarschaft in einem unzulässigem 
Maasse wohl ausgeschlossen erscheint. 

III. Aus der Bestimmung des Stadtasyles lediglich 
— resp. in den ersten Jahren vorwiegend — als 
Durchgangsstation, ergiebt sich das dominirende Ueber¬ 
wiegen solcher Kranker, welche sich in den akutesten 
Stadien ihrer Psychose befinden. 

Es wird demnach 

a) für fast alle Kranke Indikation für Bettbehand¬ 
lung bestehen; 

b) es wird sehr häufig Indikation für Badebehand¬ 
lung besonders in Form des warmen Dauerbades ge¬ 
geben sein; 

c) Isolirung w r ird relativ häufig nicht zu vermei¬ 
den sein; 

d) für einen recht erheblichen Procentsatz der 
Insassen wird sich eine ununterbrochene Ausdehnung 
der Pflege und Ueberwaehung auch über die Dauer 
der Nacht als nothwendig erweisen. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Boden- 
fläche 

qm. 


Breite 

m. 


Höhe 

m. 


Tiefe 

m. 


3,70 13,26 

„ 10,20 

» I 3 * 26 

- 19,80 

3JO 13,26 


15 2,10 15,00 — 


28,00 
5,88 
22,47 
31,50 
3,70 I 18,87 


49,06 I 

| Isolirr. I 

37.74 

Handgarde¬ 


robe I 

49,06 

Isolirr. II 

— 

Treppe I 

49,06 

Isolirr. III 

116,55 

' Corridor I 

103,60* 

Tagraum I 

2 1,76 

Abort I 

83.14*1 

Bad I 


257,74 * Krankens. I 
„ j Krankens. II 

i03,öo*jTagraum II 
21,76 Abort II 
83,14* Pflegerz. I 
116,55 Corridor II 
69,82 Besuchsz. 
66,05 Jourzimmer 
— Treppe II 

18,87 Abort III 
56,61 Spülküche I 


Isolirr. IV 
Handgarde¬ 
robe II 
Isolirr. V * 
Treppe I 
Isolirr. VI 
Corridor III 
Tagraum III 

Abort IV 
Bad II 

Krankens. III. 

I Krankens. IV 

Tagraum IV 
I Abort V 
Bad III 
Corridor IV 
| Separatz. I 
1 Separatz. II 
I Treppe II 
I Abort VI 
Handgarde - 
i robe IV 


Isolirr. VII Spülküche II 
Handgarde- — 
robe III 

Isolirr. VIII — 
Treppe I Treppe I 
Isolirr. IX — 
Corridor V CorridorVII 
Tagraum V — 

Abort VII — 

Bad IV 

Krankens. V | Haupt- 
Krankens. VI j garderobe 

Tagraum VI — 

Abort VIII — 

Bad V — 

Corridor VI Corridor VIII 
Separatz. III Pflegerz. II 
Separatz. I\ r |Pflegerz. III 
Treppe II Treppe II 
Abort IX Abort X 
Abtheilungs- Pflegerz. IV 
pfl. 


Untersuchungsz. 


* 6,20:4,00:3,70 = 
24,8 qm.: 91,76 cbm. 

*4,55:4,20:3,70 = 
19,11 qm.: 70,71 cbm. 

} 6.oo : 8,60 : 3,70 
= 51,60 qm. 

= 190,92 cbm. 
*= Nr. 7 


= Nr. 9 


□ igitized by 


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I. Stock II. Stock | III. Stock 


Bei den 
Frauen 


Parterre 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


0. on □ □□ LD 00 □ 


1. Isolirrautn I. 2. Handgarderobe. 3. Isolirraum II. 4. Treppe I. 5* Isolirraum III. 6. Corridor I. 7* Tagraum 1 . 

8. Abort I. 9. Bad. 10. Krankensaal I. 11. Krankensaal II. 12. Tagraum II. 13. Abort II. 14. Pllegerzimnicr. 15. Corri¬ 
dor II. 16. Besuchszimmer. 17. Jourzimmer. 18. Treppe II. 19. Abort III. 20. Spülküche. 


,.0 Y . 


Dimensionen und Bestimmung der Innenräume. 












IQC2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


293 


Diesen Postulaten sucht der Entwurf durch fol¬ 
gende Einrichtungen und Vorkehrungen zu genügen: 

I. Die Krankensäle (10, 11) sämmtlicher Stock¬ 
werke der beiden Pavillons sind entsprechend den 
Anforderungen konstruirt, welche wir an für Belt- 
bchandlung bestimmte Räume zu stellen berechtigt 
sind: Für jedes Krankenbett wurde ein Luftraum 
von 30 cbm vorgesehen, Lichteinfall und Lufterneue- 
rung durch eine der Summe der Krankenbetten ad¬ 
äquate Zahl von Fensteröffnungen, welche sich in 
zwei einander gegenüber liegenden Hauswänden be¬ 
finden, nach Möglichkeit sicher gestellt. 

2 Das Erdgeschoss — bestimmt zur Aufnahme 
der relativ ruhigsten Kranken — verfügt über einen 
(Ob die (»bereu Stockwerke über je 2 (t) u. 14) ge¬ 
räumige Baderäume von 22 1 2 (bei den Frauen 10) 
qm Bodenfläche und 83 (bei den Frauen 70 J / 2 ) cbm 
Luftraum; für jedes Stockwerk ist ausserdem eine 
transportable Badewanne, welche Bäder in jedem be¬ 
liebigen Raume zu verabreichen gestattet, vorgesehen; 
cs stehen demnach 5 X! 2 -f 3 X 1 = T 3 Badewan¬ 
nen d. h. auf je 4 (bei den Frauen auf je 3) Kranke 
1 Wanne zur Verfügung. 

3. In dem einen der beiden Flügelbauten wurden 
9 (1, 3, 5) (bei den Frauen 8) Isolirzimmer vorge¬ 
sehen , bei denen durch Situirung und Construction 
eine Störung der Krankensäle ausgeschlossen, eine 
event. gegenseitige Störung der Insassen auf ein zu¬ 
lässiges Maass zu recluciren versucht wurde. 

Der relativ hohe Procentsatz von 17,3 (bei den 
Frauen 20) Procent Isolirzimmer dürfte durch die An¬ 
häufung von überwiegend ganz akut Erkrankten hin¬ 
reichend gerechtfertigt erscheinen. 

4. Die Krankensäle eines jeden Stockwerkes sind 
derart situirt, dass sie im Nothfalle durch je I Pfleger 
nachts mit Leichtigkeit vollkommen überwacht werden 
können; im Allgemeinen dürfte es genügen im 2. Stock 
nachts eine Doppelwache, welche event. auch die 
Ueberwachung der Isolir- und Separatzimmer zu über¬ 
nehmen hätte, im 1. Stocke eine einfache Wache zu 
ctabliren und auf diese Weise 2 /s der Patienten unter 
ständige Pflege und Aufsicht zu bringen; die Aus¬ 
dehnung derselben auf sämmtliehe Kranke ist durch 
Aufstellung einer weiteren Wache im parterre jederzeit 
leicht ermöglicht. 

Die vorübergehende Verstärkung einer dieser 
Wachen zur Doppelwache wird sich zeitweise eben¬ 
so wenig vermeiden lassen als die Aufstellung eines 
eigenen Wachpflegers für die Isolir- resp. Separat¬ 
zimmer. — 

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B. Specielle Beschreibung der Kranken- 
p a v i 11 o n s. 

I. Allgemeines. 

Die Pavillons der männlichen und weiblichen Ab¬ 
theilung zeigen im Grossen und Ganzen identischen 
Grundriss. 

Eine Ausnahme bilden die Krankensäle (10, 11), 
welche bei den Männern für je 8 Kranke bestimmt, 
auf der weiblichen Abtheilung nur für je 6 Kranke 
Platz bieten; es konnten dementsprechend Kranken¬ 
säle (10, 11), Tagräume (7, 12), Baderäume (9, 
14) der weiblichen Abtheilung durch entspr. Reduc- 
tion des Breitendurchmessers etwas kleiner konstruirt 
werden als dies auf der männlichen Seite der Fall ist. 

Ferner wurde einer der bei den Männern als 
Isolirzimmer dienenden Räume des 1. Stockes (3) als 
Untersuchungszimmer vorgesehen. 

Die Pavillons sind im Wesentlichen dreistöckig 
projectirt, nur die Flügelbaulen erhalten über dem 
Erdgeschosse, dem 1. und 2. Stocke noch ein 3. 
Stockwerk. 

Die Bauten sind schon im Hinblicke auf die durch 
das kleine Areal gebotene Einschränkung der über¬ 
bauten Fläche in reinem Pavillonstyl gehalten. 

Unterkellerung ist, insoweit sie zur Etablirung der 
centralen Heizanlagen nothw'endig erscheint, vorge¬ 
sehen. — 

II. Verwendung und Beschreibung der einzelnen 
Räume. 

1. Krankensäle und Tagräume. 

Die beiden Krankensäle (10, 11) eines jeden Stock¬ 
werkes, für Bettbehandlung von 8 (bei den Frauen 
von ö) Kranken eingerichtet, stossen unmittelbar an 
einander und grenzen auf der anderen Seite an die 
Tagräume (7, 12) einerseits, an die nothwendigsten 
Haupträume — Aboit und Bad (8, 13 hezw. 9, 14) 
andrerseits. 

Durch diese Anordnung ist eine möglichst inten¬ 
sive Ueberwachung und leichte Pflege bei relativ ge¬ 
ringem Pflegeraufwand gewährleistet. 

Die Krankensäle wurden relativ klein, d. h. nur 
für 8 bezw. 6 Kranke konstruirt, w’eil erfahrungsge- 
mäss die Unruhe der in einem Raume vereinigten 
Kranken bei Erhöhung der Krankenzahl in viel höhe¬ 
rem Maassc als dem einfachen Zahlenverhältnisse 
entsprechen würde, zunimmt. 

Die Krankensäle sind unter sich und von den 
Tagräumen durch gut schliesscndc Doppelthürcn mit 
Glasfenstern getrennt. 


Original fr&m 

HARVARD UNIVERSUM 



294 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2 6. 


Auf Tagräume glaubte inan, ohne zu verkennen, 
dass durch deren Wegfall eine ganz wesentliche Er¬ 
leichterung der Konstruktionsbedingungen gegeben sei 
und ohne die Bettbehandlung etwa in den Hinter¬ 
grund treten lassen zu wollen, nicht verzichten zu 
sollen in Anbetracht des günstigen Einflusses, den 
auf viele Kranke die Möglichkeit ausübt wenigstens 
einige Stunden aus dem Milieu der Krankensäle zu 
kommen, zumal die betr. Räume, wenn nicht als Tag¬ 
räume benützt, eine treffliche Gelegenheit bieten be¬ 
sonders laute Kranke von den übrigen Patienten ab- 
sondem zu können ohne zur „Isolirung“ schreiten zu 
müssen. 

Ein weiterer Grund, der für die Beibehaltung der 
Tagräume spricht, ergiebt sich aus einer Schwierig¬ 
keit, der wir in Bauten, welche — für Bettbehand¬ 
lung bestimmt — im Pavillonstyl aufgeführt sind, 
begegnen: wo man nämlich die Patienten, während 
die Krankensäle der doch meist in recht kurzen 
Zwischenräumen nothwendig werdenden gründlichen 
Reinigung unterzogen werden, unterbringen soll; im 
vorliegenden Projecte bieten die Tagräume im Ver¬ 
eine mit den Baderäumen Platz hierzu in genügen¬ 
dem Maasse. 

Die Tagräume (7, 12) erhielten eine Grösse, welche 
2 / a der im betr. Stockwerke untergebrachten Patienten 
den für diese Räume üblichen Luftkubus von 16 cbm 
sichert. 

2. Die Isolirzimmer 

(1,3,5), bei x 3 Vi c ^ m Bodenfläche 46 cbm Luftraum 
bietend, sind derartig angelegt, dass in der Horizontalen 
kein Isolirraum unmittelbar an einen 2. stösst; ein¬ 
geschobene Corridorthüren verhindern, dass der in der 
Nachbarzelle durch Schlagen an die Thüre entstehende 
Lärm sich in unzulässiger Weise geltend macht. 

Eine gegenseitige Störung in vertikaler Richtung 
wurde durch entsprechende Deckenkonstruktion, durch 
einen den Schall dämpfenden Bodenbelag auf ein zu¬ 
lässiges Maass zu reduciren versucht. 

Eine Störung der Krankensäle durch den event. 
aus den Isolirzimmern dringenden Lärm erscheint 
durch die gegenseitige Situirung vollkommen ausge¬ 
schlossen. 

Die nothwendigen Nebenräume, Bad und Abort 
(9 u. 8), sind von den Isolirzimmern aus leicht und 
rasch erreichbar. 

Die Thüren erhalten verschliessbare Einblicköff- 
nungen, damit auch nachts im Bedarfsfälle durch 
einen Pfleger einer Doppel wache resp. durch einen 
eigenen Wachpfleger eine zeitweise Controlle isolirter, 
aber einer gewissen Ueberwachung bedürftiger Kran- 

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ker bethätigt werden kann, ohne dass die Patienten 
jedesmal durch Eintreten gestört werden müssten. 

Die Leistungen des die Ueberwachung ausübenden 
Pflegers werden auch hier durch eine in vorgeschrie¬ 
benen Zeiträumen zu markirende Wachuhr (wenn 
möglich mit Rückmeldevorrichtung) kor.troll irt bezw. 
gesichert. 

3. Die Baderäume 

(9, 14) wurden der Art situirt, dass von allen, dauernd 
oder vorübergehend mit Kranken belegten Räumen 
(Krankensälen wie Tagräumen, Isolirzimmern und 
Separatzimraern) aus, directer Zugang besteht. 

Zur Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse 
stehen den Patienten die unmittelbar an die Kranken¬ 
säle wie an die Tag- und Baderäume anstossenden 
Aborte 

I und II (8, 13) zur Verfügung; vom Flügel der 
Isolirziramer ist der Abort I (8) durch den Bade¬ 
raum hindurch leicht zu erreichen, während für den 
Flügel der Separatzimmer ein eigener Abort III (19) 
gegeben ist. 

An 

Nebenräumen 

sind vorgesehen: 

1. In jedem der beiden Seitenflügel eines jeden 
Pavillons eine Spülküche — als solche dient im Flügel 
der Isolirzimmer Raum 1 des III. StockWerkes, im 
Flügel der Separatzimmer Raum 20 im Parterre. Jede 
Spülküche ist mit Wärmetisch ausgestattet; je ein auf 
der Rückseite des Baues — in den durch Mittelbau 
und Flügelbauten gebildeten Ecken — befindlicher 
Speiseaufzug ermöglicht die rasche Zufuhr der Speisen, 
die prompte Vertheilung des Geschirres. 

2. Im Erdgeschosse wurde Zimmer 16 als Be¬ 
suchszimmer eingerichtet, ferner 

3. Zimmer 17 dem dienstthuendem Arzte 
zur Verfügung gestellt. 

4. Für die 3 grossen Abtheilungen eines jeden 
Pavillons wurde in jedem Stockwerke eine zwischen 
den Isolirzimmern (1,3) gelegene Handgarderobe 
(2) vorgesehen. 

Im Flügel der Separatzimmer dient Raum 20 im 
1. Stock als Handgarderobe für die Patienten der 
Separatzimmer; im gleichen Raume werden die für 
den täglichen Gebrauch etwa nöthigen Requisiten, so¬ 
weit sie nicht in den Spülküchen ihren Platz haben, 
untergebracht. 

5. Die für das Pflegepersonal nöthigen 
Räume befinden sich im Wesentlichen im Flügel 
der Separatzimmer; hier dient im 2. Stocke Zimmer 
20 dem Oberpfleger als Wohn- und Schlafzunmer, 

Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


205 


1902.] 


während der gleiche Raum ira 3. Stocke, sowie 16, 
17 den Pflegern als Schlafräume dienen. 

3 Pfleger — von jeder Abtheilung einer — schla¬ 
fen nachts alarmbereit im Zimmer 14 des Erdge¬ 
schosses; ein Glockenzeichen des Wachpflegers ruft 
einen oder alle zur Unterstützung der Wache herbei. 

Die Privatpfleger schlafen theilweise in den Zim¬ 
mern der ihrer speciellen Obhut anvertrauten Kranken. 

6. Ein Handdepot befindet sich in 5 des 3. 
Stockwerkes. 

7. 2, 3 im gleichem Stockwerke dienen der Auf- 
bewahrung von Requisiten. 

8. Eine Hauptgarderobe befindet sich in den 
Bodenräumen über dem mittleren Theile des Mittel¬ 
baues. 

9. Die Verbindung zwischen den einzelnen Stock¬ 
werken ist durch zwei Treppenhäuser (4, 18) 
sicher gestellt; diese sind so situirt, dass, wo immer 
auch im Hause ein Brand ausbrechen möge, den 
sämmtlichen Kranken doch stets mindestens eine 
Treppe zur Verfügung bleiben würde. 

10. Die Veranda, 3 m tief, ca. 31 (bei den 
Frauen ca. 25) m breit, bietet die Möglichkeit bett¬ 
lägerige Kranke, welche mit ihrem Bette hinausgefahren 
werden, in die frische Luft zu bringen ohne sie den 
Witterungseinflüssen direct aussetzen zu müssen; im 

1. und 2. Stock erhöht der betreffende Altan — 
bei event. Verzicht auf Fensterschutz durch Gitter — 
die Sicherheit der Abtheilungen, indem ein Sturz oder 
Sprung aus dem geöffneten Fenster den Patienten 
nicht sofort in die Tiefe, sondern zunächst nur auf 
den Altan führt 

Veranda und Altanen sind in Eisenkonstruction 
projectirt, mit mächtigen in den unteren Theilen mit 
stärkerem Glas versehenen Fenstern, welche gestatten 
die Veranda resp. die Altanen vollkommen nach aussen 
hm abzuschliessen. Es wird unter diesen Umständen 
wohl kein Bedenken bestehen, den — ohnehin recht 
schwachen — Verkehr des Pflegepersonales zwischen 
dea beiden Seitenflügeln der Pavillons über die ja vor 
jedem Witterungseinflusse geschützte resp. zu schützende 
Veranda bezw. über die Altanen zu leiten; auch die 
zeitweise Verbringung von hinfälligen, jedoch erregten 
Patienten, für welche das den Gartenbesuch ermög¬ 
lichende Treppensteigen zu anstrengend oder sonst 
unzulässig erscheint, auf die Altanen des 1. und 2. 
Stockes dürfte bei solider Konstruction der Altanen- 
fenster und bei einem verlässigem Pflegepersonal 
wohl als durchaus zulässig zu bezeichnen sein. 

Dass die Altanen mit zahlreichen, nur durch die 
nothwendige Eisenkonstruction von einander getrenn- 

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ten Fenstern versehen, welche 1 m über dem betr. 
Boden beginnen und bis unmittelbar an den Fuss- 
boden des nächsten Stockwerkes heranreichen, den 
Haupträumen Luft und Licht nicht in unzulässiger 
Weise entziehen werden, dürfte sicher sein. 

Ein weiterer Zweck dieses geschlossenen Aussen- 
baues: den aus den Fenstern dringenden Lärm zu 
dämpfen und den Einblick in die Krankensäle zu er¬ 
schweren, wurde bereits weiter oben betont. 

11. In das Freie führen 

auf der Rückseite des Baues je eine Thüre von 
6, 15 aus direct; ausserdem 2 Thüren auf die Ve¬ 
randa ebenfalls von 6, 15 aus; auf die Veranda 
resp. die Altanen gelangt man durch Thüren von den 
Krankensälen (10, 11) aus. 

III. Vertheilung des Pflegepersonales. 

Ein Pavillon bietet Platz für 

48 (36) Kranke dei III.; 4 (4) Kranke der I. und 
II. Verpflegskiasse. 

Die Isolirzimmer können hier, weil nur zeitweise 
und vorübergehend belegt, nicht mit in Rechnung ge¬ 
zogen werden. 

Die Kranken vertheilen sich in folgender Weise 
auf die verschiedenen Stockwerke: 

1. Erdgeschoss: (Relativ ruhige Kranke; vorläufig 
keine ständige Nachtwache), 

16 (12) Kranke III. Klasse — 3 Pfleger (3 Pflege¬ 
rinnen). 

2. 1. Stock: (Unruhige Kranke; ständige Nacht¬ 
wache), 

16 (12) Kranke III. Klasse; 4 (4) I. und II. Klasse, 
3 Pfleger (2 Pflegerinnen). 

3. 2. Stock: (Die unruhigsten Kranken; ständige 
Doppel wache), 

16 (12) Kranke III. Klasse; 4 (4) I. und II. 
Klasse — 4 Pfleger (3 Pflegerinnen). 

Die 9 (8) Isolirzimmer werden durch 2 (2) eigene 
Pfleger (Pflegerinnen) versehen. 

Für die Insassen der Separatzimmer sind Privat¬ 
pfleger, von deren Bezahlung in der Regel die Ge¬ 
währung der separaten Verpflegung abhängig zu 
machen ist, vorgesehen; von den zwei für jedes der 
beiden oberen Stockwerke demnach vorhandenen 
Privatpflegern kann je einer zum Abtheilungsdiensle 
herangezogen werden. 

Bei dem anstrengenden Dienste und in Anbetracht 
der relativ geringen Zahl von Pflegern erscheint es 
unzulässig, dieselben zu Nachtwachen heranzuziehen 
und es sind für den Nachtdienst eigene Pfleger vor¬ 
zusehen; die Verpflichtung zum Wachdienst wechselt 
1 monatlich im Kreise des gesammten Pflegepersonales, 

Original from 

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2 g6 

so dass bei einem Gesammtbestand von 20 Pflegern, 
und bei dreifac her Wache jeden Pfleger jeden 7. Mo¬ 
nat Nachtdienst treffen würde. 

Nach höchstens einjähriger Dienstzeit im Stadt¬ 
asyle ist eine mindestens sechsmonatliche Verwendung 
als Arbcitspflegcr in der städtischen kolonialen An¬ 
stalt zur Erholung vorgeschrieben. 

Nac h der umstehend gegebenen Eintheilung treffen, 
wenn wir die Privatpfleger ausser Rechnung lassen, 

bei den Männern auf 48 Kranke 12 Pfleger, 4 
Nachtpfleger — auf 3,2, 

bei den Frauen auf 46 Kranke 10 Pfleger, 3 
Nachtpfleger = auf 2,8 Kranke eine Person des 
Pflegepersonales. 

Diese hohe Vcrhältnissziffer dürfte, da cs sich aus¬ 
schliesslich um Patienten handelt , welche an Pflege 
und Aufsicht die höchsten Anforderungen steilem, als 
nicht zu hoch zu bezeichnen sein. 

Für jeden der beiden Pavillons ist ein Oberpfleger 
bezw. eine Oberpflegerin vorgesehen. 

Für die Nacht tritt folgende Vertheilung ein 

3 Pfleger sind auf Wache, 

3 schlafen alarmbereit in Zimmer (14) Parterre, 

4 schlafen in den Separatzimmern, 

je 3 in Zimmer 17, 20, und 4 in Zimmer 16 
des 3. Stockes. 


Für die mir zugesandten kritischen Aeusserungen 


[Nr. 26. 


über mein Project einer Wachabtheilung für unruhige 
Kranke gestatte ich mir, besonders Herrn Oberarzt 
Dr. Ncisser-Leubus und Heim Oberarzt Dr. Fischer- 
Illenau meinem verbindlichsten Dank auszusprechen 
— ich werde mir erlauben auf sie sowie auf den ob¬ 
jectixen Theil der Ausführungen von Dr. Frank- 
Münsterlingcn an anderer Stelle einzugehen und bitte 
auch für das vorstehende Project um private oder 
öffentliche Kritik. 

In einer grossen Anzahl von Zuschriften, für die 
ich gleichfalls bestens danke, wurde meine Ansicht, 
dass die Herausgabe einer zusammenfassenden Arbeit 
im Bereiche des Anstaltsbauwesens ein Bedürfniss sei, 
zugestimmt, ich hoffe in Kürze die Grundzüge des 
Programms hierfür vorlegen und die gütige 1 Ansic ht der 
älteren Herrn ('ollegen darüber erbitten zu können. *) 
Die Punkte, welche ich mir gestatten möchte in 
erster Linie zur Discussiun zu stellen, sind : 

„I. Erscheint die Unterbringung der unruhigsten 
Kranken im obersten Stockwerke durch die von mir 
erwarteten Vortheile gerechtfertigt oder überwiegen 
die sicher sehr erheblichen Nachtheile? 

2. Erscheint die abgelegene Lage der Isolirzinmier 
unter den angegebenen Cautelen (LJcberwachung tags 
durch 2 eigene Pfleger, nachts durch den 2. Pfleger 
der Doppelwache) als zulässig ?•* 

*) Von dem angedcutetcn Werke „Sammel-Atlas für den 
Bau von Irren-Anstalten“ (Verlag von Carl Marhold in Halle a. S.) 
sind bereits 4 Lieferungen erschienen. D. Red. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Aus Nieder-Oesterreich. Derlandwirthschaft- 
liche Besitz von Mauer-Oehling ist durch einen in 
den letzten Tagen erfolgten Ankauf wesentlich er¬ 
weitert worden. Es ist die Besitzung der Eheleute 
Kirchweger in Mauer-Oehling um den Betrag von 
318000 Kronen erworben. Dieselbe umfasst ausge¬ 
dehnte Acker-, Wiesen- und Waldgründe, ein grosses 
Wohnhaus summt Wirtschaftsgebäuden und Stallungen, 
eine Walzmühle mit Wasserkraft, einen Ziegelofcn und 
eine Brettersäge. Durc h diesen Ankauf ist das Flächen- 
ausmass der Maucr-Ochlinger Anstalt auf 21 1 Hektare 
gestiegen. Der Viehstand ist jetzt 120 Kühe, ih Pferde, 
200 Schweine etc. Das Wohnhaus ist dazu bestimmt, 
50 zu landwirtschaftlicher Beschäftigung geeigneten 
Kranken Unterkunft zu bieten. Auch die Uolonie 
Hasch hof der n. ö>. Landes-Irrenanstalt K ierling- 
Gugging wird jetzt erweitert. Eben jetzt wurde ein 
geschmackvoll eingerichteter Pavillon für 60 Kranke 
fertig gestellt, welcher im Laufe des Monates Oktober 
eröffnet werden dürfte. — 

Es erhielten Auszeichnungen anlässlich der Eröffnung 
der Kaiser Franz Josef Landes Heil- und Pflegeanstalt 
in Mauer-Oehling: 

Herr Landesausschuss Steiner das Comthurkreuz 

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des Franz Josef Ordens, Herr Baurath von Buog 
und Herr Administrationsinspector Fcdor Gcrcnyi 
das Ritterkreuz des Franz Josef Ordens, Herr Director 
Dr. Krayatsch den Titel eines Regiert!ngsrathes. 

— Berlin. Die Beschuldigung eines geistes- 
k ranken Quäru lauten gegen die Leitung der 
Irrenanstalt in Herzberge hatte im Osten der Stadt 
und in IIerzberge eine gewisse Aufregung hervor¬ 
gerufen. Der in der Anstalt internirte Kranke hatte 
in einer Eingabe an die Staatsanwaltschaft nicht nur 
über eine unerhörte Behandlung durch die Wärter 
Klage geführt, sondern auch gegen den Leiter der 
Irrenanstalt schwere Ansehuldigungen erhoben, die 
kaum wiederzugeben sind: Es verbreiteten sieh aller¬ 
hand abenteuerliche Gerüc hte, bis die Uriminalpolizci 
cinschritt, indem sie eine Untersuchung einleitete. 
Hierbei hat sich herausgcstcllt, dass man es mit einem 
notorischen Quärulanten zu tliun hat, der an Verfol¬ 
gungswahn leidet und schon in anderen Irrenanstalten, 
in denen er internirt war, derartige Denunciationen 
geschic kt zu verbreiten verstand. 

— Waldbröl, ib. Sept. Im vergangenen Jahre 
fand in der hiesigen Provinzial-Irrenanstalt ein Kranker 
Aufnahme, der in den letzten Jahren keinen festen 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 




1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wohnsitz hatte, dessen Personalien aber auf Grund 
der bei ihm Vorgefundenen Papiere festgestellt werden 
konnten. Vor einigen Tagen wurde wieder ein Kranker 
aufgenommen, dessen Personalien ganz genau mit 
denjenigen des zuerst aufgenommenen Kranken über¬ 
einstimmten. Bei einer Gegenüberstellung beider Per¬ 
sonen ergab sich, dass beide in früherer Zeit mitein¬ 
ander gearbeitet hatten, bei welcher Gelegenheit der 
zuerst aufgenommene Kranke sich die Papiere seines 
Mitarbeiters an eignete und auch zwecks seines Fort¬ 
kommens benutzte. Ein tragisches Geschick hat nun 
beide wieder zusammengeführt. (Köln. Ztg.) 

— Halle a. S. Dem berühmten Irren-Arzte Prof. 
Dr. Reil, der hier nach segensreicher Thätigkeit auf 
dem idyllischen Reilsberg, dem jetzigen Park des 
Zoologischen Gartens, seine letzte Ruhestatt gefunden, 
hat der Verein deutscher Irrenärzte das Grab schmücken 
und verschönern lassen durch Errichtung einer Ehren¬ 
tafel und Umgitterung der Gruft. Der Garten, in dem 
Reil ruht, ist s. Zt. dem verdienten Gelehrten von 
Friedrich Wilhelm III. geschenkt worden. (Siehe Jahr¬ 
gang I, No. i u. 4.) 

— Statistisches aus der Irren - Anstalt 
Sainte-Marie in Clermont-Ferrand. Von 
dem leitenden Arzte, Dr. P. Hospital. Dr. H. ist .31 
Jahre lang Chefarzt obgen. Anstalt gewesen, sein Vater 
34 Jahre. Schon frühe hat er letztem bei den Kranken¬ 
visiten begleitet; ist später, nach absolvirter Studien¬ 
zeit, sein Assistent und dann sein Nachfolger geworden. 

Die Anstalt wurde vom Assumptionisten-Orden 
nicht eigentlich gegründet, aber gleich nach deren 
Gründung im Jahre 1836 übernommen und zu grosser 
Blüthe gebracht. Ihre Gebäulichkeiten, immer wieder 
veigrössert und modernen Anforderungen angepasst, 
beherbergen jetzt 950 Kranke und stehen auf einem 
Complexe von 8 Hectaren Land. Dr. H. hat nun 
aus den (zu einer guten Hälfte von ihm selbst verfassten) 
Journalen (besonders von 1838 an) die wichtigsten 
Daten ausgezogen und zusammengestellt, die, weil auf 
grossen Zahlen fussend, von Interesse sind. 

Die Anstalt hat von 1838 bis Juni 1900 die Zahl 
von 9692 Kranken (4012 M., 5680 W.) aufgenommen, 
wovon aber etwa ein Sechstel wiederholte Aufnahmen 
betrifft. Bei den Männern findet sich die grösste 
Ziffer (608) im Alter von 35—40 Jahren, bei den 
Weibern (755) zwischen 25 und 30. — 

1473 M. sind geheilt und gebessert ausgetreten, 
= 36,7 °/o. 208c) W. ebenso = 36,8 °/ 0 . 

In andre (besonders staatliche) Anstalten transferirt 
wurden 1667 M. (41,5%) und 72 W. (1,2 °/ 0 ). In 
der Zeit von 1854 bis Juni 1900 (vorher sind die An¬ 
gaben unzuverlässig) starben 2300 (514 M. 1786 W.), 
Die speciellern Angaben über die Krankheitsformen 
können nicht leicht im Auszuge wiedergegeben werden, 
da sie bezüglich Nomenclatur u. s. w. noch auf dem 
Boden der Esquirol’schen Eintheilung stehen. Aber 
erwähnenswerth ist es, dass die Anstalt während langer 
Jahre den Dienst einer Staatsanstalt geleistet und viel 
Gutes gethan hat, und einzig in seiner Art wird es 
wohl sein, dass deren Chefarzt, Dr. Hospital, über 
ein halbes Jahrhundert an derselben und nur an der¬ 
selben, in verschiedenen Stellungen thätig gewesen ist, 


offenbar zeitweise unter schwierigen Verhältnissen und 
selten sich Erholung gönnend. — Das ist eine schöne 
Leistung. Ann. Med.-Psyeh. 1901, p. 405 ff. 

G. Burckhardt. 

— Aus der wissenschaftlichen Bibliothek einer 
Irrenanstalt muss, wenn sie nicht einseitig sein und 
die Leser einseitig machen soll, nicht nur medicinische, 
sondern auch allgemeine Bildung geschöpft werden 
können; namentlich herrscht jetzt bei den Collegen 
grosse Neigung, sich mit socialpolitischen Dingen und 
Fragen zu beschäftigen. Eine für diesen Zweck sehr 
empfehlenswerthe Zeitschrift ist die seit kurzem er¬ 
scheinende „Politisch-anthropologische Revue“ 
Monatsschrift für das sociale und geistige Leben der 
Völker. Herausgeber: L. Woltmann und Hans K. 
E. Ruhmann, Thüringische Verlags-Anstalt, Eisenach 
und Leipzig. Unter den Mitarbeitern finden sich eine 
Reihe namhafter Psychiater. — 

Eine andere nichtmedicinische Zeitschrift, die der 
wissenschaftlichen Bibliothek unserer Anstalt alle Ehre 
machen würde, ist die „Internationale Monats¬ 
schrift zur Erforschung des Alkoholismus und 
Bekämpfung der Trinksitten“. Officielles Organ 
des Alkoholgegnerbundes und des Vereins absti¬ 
nenter Aerzte des deutschen Sprachgebietes, Verlag 
von Friedrich Reinhardt in Basel, von Dr. Hermann 
Blocher in Basel trefflich redigirt; unter den 25 
mitwirkenden Herren finden wir 8 Psychiater! Be¬ 
sonders anregend waren z. B. die in den letzten Heften 
erschienenen Erörterungen über „Alkohol und künst¬ 
lerische Produktionen“. Der Abonnementspreis beträgt 
nur 4 M. pro Jahr. 

Referate. 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten. Bd. 35 Heft 1. 

Jahrmärker-Marburg. Zur Frankenberger 
Ergotismusepidemie und über bleibende 
Folgen des Ergotismus für das Centrai¬ 
ner vensystc in. 

Ueber die Mutterkomerkrankung, welche nach 
Brotgenuss vor 20 Jahren im Frankenberger Kreise 
in Hessen wüthete, ist im Archiv Bd. 11, 13, 18 und 
25 ausführlich berichtet worden. Im Sommer 1901 
wurden über 42 damals erkrankte Personen, die jetzt 
noch leben, Erkundigungen eingezogen, und von im 
Ganzen 67 Fällen wurde das weitere Schicksal nach 
der Erkrankung bekannt. Ueber ein Viertel der 
Individuen genasen und blieben gesund, alle übrigen 
behielten dauernde oder vorübergehende, nervöse 
Störungen. Jugendliche behielten Neigung zu Krämpfen, 
andere blieben mehrere Jahre geistig und körperlich 
zurück, machten aber dann gute Fortschritte, andere 
blieben dement. Erwachsene behielten Kriebelgefühl, 

• geringe fibrilläre Zuckungen an den Extremitäten, 
Krampfziehen und Schwindelgefühl, welche sich aber 
nach vielen Jahren noch verloren, sowie dauernd eine 
auffällige Ermüdbarkeit, Neigung zu Kopfschmerzen 
und bekamen zur Zeit des Klimacteriums hysterische 
Symptome. Andere blieben intellectuell geschwächt, 
zeigten aber noch sehr lange Tendenz zur Besserung. 


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2 g8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 26. 


Recht häufig kamen späterhin epileptische An¬ 
fälle zur Beobachtung und zwar hauptsächlich bei 
Jugendlichen. 

Die Kinder von 15 damals Erkrankten sind bis 
auf 1, welches nervenschwach sein soll, frei von irgend 
welchen Störungen geblieben. 

Kalmus-Lübeck. Ehescheidung bei indu- 
cirtem Irresein nach einem Gutachten er läutert. 

Seitdem das B. G. B. in Kraft getreten ist, wird 
die Folie ä deux zum ersten Male Gegenstand eines 
veröffentlichten Gutachtens wegen Ehescheidung. 

Ein Lehrer, dessen Frau an Paranoia chron. 
leidet, erkrankte an inducirtem Irresein, genas nach 
2 jährigem Anstaltsaufenthalt vollständig, während die 
in der gleichen Anstalt untergebrachte Frau unheil¬ 
bar dort verblieb. Die letztere übte eine sehr er¬ 
hebliche inficirende Kraft aus, denn sie bewirkte nicht 
nur bei 2 Entweichungen nach Hause, dass die Wahn¬ 
ideen bei ihrem Mann wieder auflebten, sondern sie 
übertrug auch ihre Ideen z. Th. auf eine Mitkranke. 

Nach der strengen Auffassung d. Verf. bot die 
Psychose an sich keine Handhabe zur Entscheidung, 
dagegen gab die relative Eigenart den Ausschlag. Da 
jede intime Verkehrsbeziehung den Mann der sicheren 
Gefahr wieder zu erkranken überantwortete, so wurde 
die Ehescheidung für geboten erachtet. Der Richter 
schloss sich dem Gutachten an. 

Heft 2: 

Pick-Prag. Zur Psychopath ol ogie der Neu¬ 
rasthenie. 

Eine 79jährige Frau hat seit ihrer Kindheit „über 
alles Herzeleid“, auch über Dinge, die sie gar nichts 
angehen. Diese Eigenschaft auf alle irgendwie auch 
nur die Möglichkeit negativer peinlicher Gefühlstöne 
bietenden Vorstellungen in ganz ungewöhnlichem 
Maasse zu reagiren, hat sie vom Vater ererbt, aber 
erst im Senium verschlimmerte sich der Zustand so, 
dass sie social unmöglich wurde. Nach einem leichten 
Schlaganfall mit kurzdauernder rechtsseitiger Schwäche 
und Aphasie kehrte der alte Zustand, der sich durch 
keine Modication bessern Hess, wieder zurück. 

Verfasser grenzt die Krankheit, deren Hauptsymp¬ 
tome Morel als impressionabilite und emotivite en 
exces bezeichnet hat, von anderen Krankheiten (Melan¬ 
cholie, psychische Hyperästhesie, Zwangsvorstellungen 
11. s. w.) ab, fasst sie als neurasthenische Psychose auf 
und formulirt daraus ein besonderes Krankheitsbild. 

Kölpin-G reifswald. Beitrag zur Kennt- 
11 iss der inducirten Psychosen. 

Verf. fasst den Begriff des inducirten Irreseins 
enger als gewöhnlich und fordert namentlich, dass 
die secundär erkrankte Person nicht nur von den 
Wahnideen der anderen Person überzeugt ist, sondern 
auch dieselben in jeder Hinsicht unterstützt und das 
Wahnsystem weiter auszubaucn vermag. 

Es werden zwei recht interessante Fälle geschildert 
(Querulantenwahn und Paranoia). Bei dem ersteren 
ist die secundär erkrankte Person (ein Lehrer) im 
Verlauf der Krankheit schliesslich diejenige, welche 
die Führung übernimmt und das primär erkrankte 
Individuum in rücksichtslosem Vorgehen gegen die 
gemeinsamen Feinde übertrifft. 

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Die inducirten Fälle von Querulantenwahn sind 
nach Ansicht d. Verf. nicht nur in hohem Grade 
remissionsfähig, sondern sogar heilbar. 

Auerbach-Frankfurt a. M. Ueber einen Fall 
von myasthenischer Paralyse. 

Im Anschluss an ein körperliches und psychisches 
Trauma entwickelte sich allmählich bei einer 37 jährigen 
Patientin vor 17 Jahren das Bild der myasthenischen 
Paralyse, wie es durch die Beschreibungen von 
Oppenheim u. a. bekannt geworden ist. Interessant 
war besonders, dass die Muskeln der Extremitäten 
durch den Willen nicht in sichtbarer Weise ermüdeten, 
wohl aber durch den faradischen Strom, und dass 
die Krankheit bereits 17 Jahre dauerte, während in 
der Mehrzahl der beschriebenen Fälle nur eine 1 bis 
3 jährige Dauer bis zum Tode bekannt geworden 
ist. — Die Kranke starb dann im Ausland an 
Respirationslähmung, Section wurde nicht gemacht. 

Raecke-Tübingen. Statistischer Beitrag 
zur Aetiologie und Symptomatologie der 
progressiven Paralyse. 

Unter den Aufnahmen der Tübinger Klinik wurde 
ein allmähliches Anwachsen der Paralysen im Allge¬ 
meinen und bei den Frauen im Besonderen con- 
statirt. Bei 11 o bis zum 1. IV. 1901 aufgenommenen 
Paralytikern (92 M. und 18 Fr.) war Lues, die bei 
den Männern recht oft in der Militärzeit erworben 
war, in 57,3 °/ 0 sicher, in 20,9 °/ 0 wahrscheinlich. Anti¬ 
luetische Therapie brachte nach Ausbruch der Paralyse 
in 42,9 °/o der geeigneten Fälle gewisse Besserung 
(nach Hg allein oder in Verbindung mit KI), niemals 
aber eine Verschlechterung des Allgemeinbefindens. 
Potus fand sich nur in 25,5 °/ 0 , Trauma in 5°/ 0 , dagegen 
ziemlich häufig neuropathische Veranlagung (31,8 °/ 0 ). 
Von den sonstigen zahlreichen Einzelangaben sind noch 
zu erwähnen, dass die Wiederkehr eines zweifellos 
erloschenen Patellarreflexes niemals gesehen wurde, 
dass das Ueberwiegen der dementen Form nicht zu 
finden war (nur 12,7 ü / 0 ) und dass 20,9 °/ 0 der Paralytiker 
Selbstmordversuche machten. 

Heft 3: 

Stephan Kekule vonStradonitz, Dr. jur. 
utr. et phil., Fürstl. Schaumburg-Lippischer Kammer¬ 
herr. Ueber die Untersuchung von Vererbungs¬ 
fragen und die Degeneration der spanischen 
Habsburger. 

An dem Beispiel der spanischen Habsburger zeigt 
Verf. in seiner ausserordentlich klar und interessant ge¬ 
schriebenen Arbeit, welche Methode bei der Unter¬ 
suchung von Vererbungsfragen von den Medicinem 
befolgt werden muss. Nicht mit Stammbäumen, sondern 
mit Ahnentafeln ist zu operiren, und es müssen stets 
alle, oder wenigstens möglichst viele, Geschwister der 
zu berücksichtigenden Person mit in Betracht gezogen 
werden. Erst wenn eine grosse Zahl derartiger Unter¬ 
suchungen vorliegt, dürfen allgemeine Sätze aufgestellt 
werden. Vorläufig kann die Genealogie jeden Fall, 
den die Medicin heranzieht, um für die erbliche Be¬ 
lastung eine allgemeine Regel aufzustellen, einen ana¬ 
logen Fall an die Seite stellen, bei dem die Regel 
versagt. 

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iqo2 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. u. psych. 
ger. Medicin. 59. Bd. 2. Heft. 

Mönkcmöller-Osnabrück. Casuistischer Bei¬ 
trag zur Geschichte der Irrenbehandlung im 
1 8. Jahrhundert. 

Fall von Paranoia persecutoria mit ausgesprochenem 
querulirenden Character, der dem Staatsarchiv zu Os¬ 
nabrück vom Jahre 1773 entnommen ist. Da der 
Kranke eine hohe Stellung einnahm, wurde er trotz 
seiner unaufhörlichen Querelen mit grosser Langmuth 
von allen Behörden behandelt. Eine grössere Anzahl 
von Aerzten, welche sich über ihn gutachtlich zu 
äussern hatten, gaben ihre Ansichten zwar in schwül¬ 
stiger, weitschweifiger, aber verständiger und sachge- 
mässer Form ab. In dem aufgestellten Curplan wurde 
besonders abstinentia concubitus verlangt. 

— Ueber einen Fall von totaler retrograder 
Amnesie von Dr. Binswanger-Constanz. Sonder¬ 
abdruck aus der v. Leyden-Festschrift, II. Band. 

Bei einem exquisiten Neuropathiker trat plötzlich 
im 47. Lebensjahr eine epileptische Psychose mit 
characteristischem Dämmerzustand auf, w r elche 1891 
Anstaltsaufnahme nothwendig machte. Als Patient 
klar wurde, bestand Amnesie, die sich zunächst auf 
diese Krankheitsphase erstreckte und nachher rück¬ 
schreitend auf eine Zeitdauer von 15 Monaten. Im 
weiteren Verlauf hat sich das Bestehen von dauernder 
Epilepsie in Gestalt von petit mal und seltenem 
grand mal ergeben, und seit Eintritt in das höhere 
Alter (1900) ist Diabetes (bis 1 °/ 0 Zucker) nachge¬ 
wiesen. 

Eine so lange dauernde retrograde Amnesie gilt 
im Allgemeinen als typisch für Hysterie, bei Epilepsie 
sind bisher nur 2 ähnliche Fälle, von Strümpell und 
Alzheimer, veröffentlicht worden. 

— Zur Kenntnis s der psychischen Er¬ 
krankungen durch Bleivergiftung von Dr. 
Quensel, II. Arzt der psych. und Nervenklinik 
d. Univ. Leipzig. Mit 2 Tafeln. Sonderabdruck a. d. 
Arch. f. Psych. Bd. 35, Heft 3. 

Die klinische Erfahrung lehrt hauptsächlich drei 
Formen acuter Bleipsychosen kennen, Bleimanie, das 
hallucinatorische Bleidelirium und die durch combinirte 
Einwirkung von Blei und Alkohol entstehenden Delirium 
tremens-artigen Zustände. Allen dreien gemeinsam ist 
die nahe Beziehung bezw. sogar Verwandtschaft zur 
Epilepsie, so dass der epileptische Character als eine 
specifische Eigenthümlichkeit dieser Zustände be¬ 
zeichnet werden kann. Unter diesen kommt der 
Bleimanie wiederum eine gewisse Sonderstellung zu. 

Verf. beschreibt b Fälle aus der Leipziger Klinik 
und bespricht besonders einen Fall von reiner Blei¬ 
manie bei einer 29jährigen Frau, die 2 Stunden p. 
m. zur Section kam. Klinisch war characteristisch 
und darf nach der Ansicht d. Verf. als specifisch für 
Bleimanie angesehen werden das anfallsweise Auftreten 
der einzelnen Krankheitserscheinungen und besonders 
der schroffe Wechsel im Bewusstseinszustand, im 
motorischen Verhalten und in der Stimmung. Mikro¬ 
skopisch Hessen sich deutliche Veränderungen des 
Kernes und des Zellleibes der Ganglienzellen feststellen. 

Arnemann, Gr.-Schweidnitz. 

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— Weygandt, Atlas und Grundriss der 
Psychiatrie; Lehmann’s medicinische Handatlanten 
Bd. XXVII. IQ02. 628 S. 16 M. 

Verf. hebt im Vorwort selbst hervor, dass für das 
Studium der Psychiatrie bildliche Darstellungen nicht 
die gleiche Bedeutung haben, wie etwa für das der 
Chirurgie oder pathologischen Anatomie. Das ist 
gewiss richtig; aber gerade das vorliegende Buch liefert 
den practischen Beweis, dass auch hier die Abbildungen 
keineswegs überflüssig sind, vielmehr bei richtiger Aus¬ 
wahl und guter Ausführung recht instructiv sein können. 

Die Auswahl der darzustellenden Gegenstände ist 
durchaus zweckmässig, wenn man auch hier und da 
ein Bild treffen mag, das man für überflüssig halten 
möchte, — Meinungsverschiedenheiten sind ja in 
solchen Dingen unvermeidlich. Durchweg sind solche 
Gegenstände zur Darstellung gewählt, bei welchen 
thatsächlich die optische Wahrnehmung zum vollen 
Verständniss nothwendig ist. Und durch die vor¬ 
treffliche technische Wiedergabe wird es erreicht, 
dass die Abbildungen in der That dem Lernenden 
fürs erste einen recht anschaulichen Begriff von der 
Sache vermitteln, wenn sie auch natürlich das Studium 
der Natur nicht entbehrlich machen können, was ja 
garnicht beabsichtigt ist. 

Unter den farbigen Tafeln seien besonders die 
Gehirn-anatomischen Darstellungen als ganz vortrefflich 
hervorgehoben, während bei einigen der klinischen 
Tafeln eine recht überflüssige grelle Buntheit nur 
störend wirkt. Ein Fehler der farbigen Tafeln ist 
ihre Neigung zum Zusammenkleben mit der gegen¬ 
überliegenden Seite, wodurch beide Schaden leiden. 

— Die schwarzweissen Darstellungen sind durchweg 
von characteristischer Schärfe und Klarheit. 

Der Text des Buches soll nicht nur eine die 
Illustrationen begleitende Erläuterung sein, vielmehr 
soll er „eine möglichst praecis gefasste Darstellung der 
gesammten Psychiatrie“ bieten. Er zerfällt also 
naturgemäss in einen allgemeinen und einen speciellen 
Theil. 

Der allgemeine Theil ist durch die knappe, ge¬ 
drängte Darstellung theilweise etwas schwer verdaulich 
geworden. Das ist kein Vorwurf für den Verfasser. 
Die allgemeine Psychopathologie eignet sich nun 
einmal nicht zu so kurzer Darstellung. Eine solche 
ist durchaus am Platze, wo die objectiven Thatsachen 
einer Erfahrungswissenschaft mitzutheilen sind Aber 
das ist die Psychologie doch noch nicht, sondern will 
es erst werden; und um sich in den verschlungenen 
Pfaden psychologischer Theorien zurechtzufinden, 
braucht der Lernende eine ausführlichere Darstellung. 

— Die anderen Kapitel des allgemeinen Theils, ich 
nenne z. B. die pathologische Anatomie, die Prognose, 
die Therapie; dürften dagegen ihren Zweck durchaus 
erfüllen. Im Kapitel über allgemeine Diagnostik würde 
ich es für zweckmässig halten , dem Anfänger den 
Gang der psychiatrischen Untersuchung etwas praeciser, 
etwa an der Hand eines Schemas vorzuschreiben. 
Die erforderlichen Abweichungen vom Schema findet 
der Geübtere von selbst, während der Anfänger ohne 
Schema in Gefahr geräth, wichtiges zu übersehen. 

Der spcncllc Theil sehlicsst sich in der Systematik 

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300 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2ö. 


der Hauptsache nach an Kraepelin an. Vortrefflich 
ist besonders die Schilderung des manisch-depressiven 
Irreseins, zu dessen Klärung der Verf. ja schon früher 
wesentlich beigetragen hat. In dem Kapitel über die 
juvenilen Verblödungsprocesse drängt sich der Einwand 
auf, dass die aufgestellten Unterformen nicht scharf 
von einander zu trennen sind, sondern ohne Grenze 
in einander fliessen; in der Praxis muss man sich 
doch recht oft mit der allgemeinen Diagnose Dementia 
praecox begnügen. Den Erschöpfungspsychosen hätte 
ich, ihrer practischen Wichtigkeit wegen, eine etwas 
ausführlichere Darstellung gegönnt. Hervorhebung 
verdient endlich noch der Abschnitt über die Alkohol¬ 
psychosen, welche die ausführliche Besprechung wohl 
ihrer wachsenden Actualität zu verdanken haben. 
Besonders die Erörterungen über die sociale Be¬ 
deutung des Alkoholismus dürften für recht viele 
practische Aerzte eine nützliche Lectüre sein. 

Ein didaktisches Hilfsmittel von grosser Bedeutung 
sind die in allen Kapiteln reichlich eingefügten Krank¬ 
heitsfälle. Alle Krankheitsformen von practischer 
Wichtigkeit wurden durch einen oder mehrere trefflich 
geschilderte Fälle illustrirt. Dass es sich dabei fast 
durchweg um sorgfältig ausgewählte Schulfälle handelt, 
ist ja nur natürlich und liegt auch im Interesse des 
Lernenden. Nur möchte man diesen immer wieder 
gern darauf hinweisen, dass er in der Praxis nicht da¬ 
rauf rechnen darf, stets so „schöne“ Fälle zu sehen. 

Dem practischen Arzte, der, ohne viel Zeit darauf 
verwenden zu können, sich über psychiatrische Fragen 
orientiren will, wird Weygandt’s Buch ein willkommener 
Rathgeber sein. Ebenso kann es dem Anfänger zur 
Einführung in die Psychiatrie nur empfohlen werden. 
Dass es die ausführlicheren Lehrbücher verdrängt, 
ist nicht zu befürchten; wer eingehendere Belehrung 
sucht, wird von selbst zu diesen greifen. 

Deiters- Andernach. 

— Handbuch der gerichtlichen Psy¬ 
chiatrie. Unter Mitwirkung von Professor Dr. 
Aschaffenburg, Privatdocent Dr. Schultze, Prof. 
Dr. Wollenberg, herausgegeben von Professor Dr. 
Hoc he. Berlin 1901. Verlag von A. Hirschwald. 
Grossoctav. 73 2 Seiten. 

Wer sich dieses Werk angeschafft hat, kann sich 
der angenehmen Empfindung nicht erwehren, etw r as 
zu besitzen, was ihm eigentlich längst fehlte. Ref., 
dessen Zeilen sich nicht nur auf das einmal durch- 
blätterte, sondern, jetzt nach Jahresfrist, auf das ge- 
handhabte Buch beziehen, ist in der Lage zu sagen, 
dass er es eigentlich nicht mehr entbehren könnte. 
Es existirt wohl kein Gegenstand in unserer Sach- 
verständigen-Thätigkeit, über den war nicht in dem 
Handbuch genaue Auskunft erhalten. Für den Irren¬ 
arzt, dem die klinische Psychiatrie schon geläufiger, 
hat besonders der 1. Theil des Buches: „Die recht¬ 
lich e n G r u n d 1 a g e n der g e r i c h 1 1 i c h e n Psy¬ 
chiatrie“ einen hohen praktischen Werth, dem 
auch die Bearbeiter (Aschaffenburg und Schultze) 
durch Aufwand grosser Sorgfalt vollauf gerecht ge¬ 


worden sind. Sämmtliche einschlägigen Gesetzes¬ 
paragraphen, einschliesslich der Straf- und Civilpro- 
zessordnung, werden eingehend ihrer Entstehung und 
ihrer Bedeutung nach erörtert, dabei neben dein 
Standpunkt des geltenden Rechts auch der des frühe¬ 
ren und zukünftigen berücksichtigt. Es ist somit das 
Buch auch zur Orientirung für denjenigen geeignet, 
der sich in die forensische Psychiatrie neuschaffend ein- 
arbeiten will, zumal nicht nur die psychiatrische, son¬ 
dern auch die einschlägige juristische Littcratur in 
dem jedem Abschnitt beigefügten Verzeichniss aufge¬ 
führt ist. Den Abschnitten über die betr. § § des bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs ist dabei in Schultze’s vollendeter 
Bearbeitung naturgemäss ein verhältnissmässig grosser 
Raum zugekommen. Sehr gut gelungen sind auch 
Aschaffenburg’s Artikel über die Verantwortlich¬ 
keit, das Berufsgeh eimniss und die Sach verständigen- 
Thätigkeit des Irrenarztes. Hoche hat den zweiten 
Theil — die klinischen Grundlagen der ge¬ 
richtlichen Psychiatrie — geschrieben und 
zwar so geschrieben, dass ihn auch der Itficht- 
psychiater versteht, bringt aber gleichwohl, namentlich 
in der Casuistik, auch für uns sehr viel Lehrreiches. — 
Besonders zu empfehlen ist die Lektüre des Kapitels 
Hoches: das Gutachten des ärztlichen Sach¬ 
verständigen. — Alles in Allem muss das Hand¬ 
buch der gerichtlichen Psychiatrie als ein ebenso 
nützliches, wie gelungenes Werk bezeichnet werden, 
dem der erste Platz auf diesem Gebiete der Fach- 
litteratur gebührt. Br es ler. 

— Beiträge zur Kenntniss der Myasthenie 
und der verwandten Syraptomencomplexe 
von Dr. Fajersztajn in Lemberg. Mit 1 Curven- 
abbildung und 1 Tafel. Tübingen, Franz Pietzcker 
1902. Preis 2 M. 

4 Fälle von Myasthenie, die ätiologisch keine An¬ 
haltspunkte ergaben, zeigten die Muskelermüdbarkeit 
— Myasthenie sensu strict. — in hochgradiger Weise. 
Eine Kranke kam zur Section, mit der Marchischen 
Methode Hessen sich in den intramedullären Wurzel- 
fasera des Oculomotorius, Hypoglossus und Abducens 
Anzeichen eines Myelinzerfalls nachweisen. Da die 
Nissl’sche Methode stets negative Ergebnisse gehabt 
hat, empfiehlt Verf. bei ähnlichen Fällen die An¬ 
wendung der Osmiummethode zur Durchforschung 
aller Kerngebiete. 

Diesen 4 Fällen schliessen sich eng 2 weitere Be¬ 
obachtungen an, die der Myasthenie sehr ähnlich sind, 
ohne mit ihr identificirt werden zu dürfen. Es handelt 
sich um Formen, die zu einer Gruppe von toxischen 
Kernlähmungen ohne anatomischen Befund zusammen- 
gefasst werden können. In dem einen, letalen, Fall 
waren bulbäre Einscheinungen überw iegend, im zweiten 
Falle bestanden ausgedehnte bulbo-spinale Lähmungen 
mit raschem Ausgang in Genesung. Arnemann. 

Personalnachrichf. 

— Obermedicinalrath Dr. v. Zeller, langjähriger 
Director der Irrenanstalt Winnenthal, ist am 19. d. Mts., 
70 Jahre alt, gestorben. 


Für den redactioiiellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

TIcvnemann'sche P.urhdruckcrci (Gcbr. WoifT) in Halle a S. 


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Gck gle 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 

Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe {Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Hitti, Oberarzt Dr. Emst Schnitze, Direktor Dr. TJrquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W, Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Vor lag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 27 , 4. Oktober. 1902 . 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt ErmiLssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Dementia paralytica bei einem Ehepaar. Von Dr. Herman Lundborg (S. 301). — Zum 50jährigen Jubi¬ 
läum der Irrenanstalt Allenberg am 1. September 1902 (S. 304). — Mittheilungen (S. 307). — Referate (S. 307). 


Aus der Irrenanstalt zu Upsala. 

Dementia paralytica bei einem Ehepaar. 

Die Paralyse bei der Frau eine periodische Psychose komplicirend. 

Von Dr . Herman Lundborg. 


| ^ie Forscher der verschiedenen Länder haben sich 
noch nicht einigen können, wenn es sich um 
die Bedeutung der Syphilis für die Entstehung der 
Dementia paralytica gehandelt hat. 

Die Aufmerksamkeit der schwedischen Aerztc war 
indess schon recht früh auf die grosse Bedeutung der 
Lues in dieser Beziehung gelenkt worden und zwar 
durch die Arbeiten von Stcenberg*), Kjillberg*), 
Jespersen***) u. a. Bezeichnend für deren Standpunkt 
ist Friedenreich’s Ausspruch t), welcher sich allerdings 
*) Steenberg, den syphitiske Hjcrnelidelse, Kjobcnhavn 

1860. 

**) Kjoillberg, Om sinncssjukdomarnes otadier: Upsala 
universitetets arsskrift 1863. 

***) Jespersen, Skyldes den almindelige fremstridende Parese 
Syfilis Kjbenhovn 1874. 

-{*) Friedenreich, Kortfallet Speciel Psykialri. Kjoben- 
havn 1901. 


zunächst auf Dänemark bezieht: „Es ist hier zu Lande 
zufolge Steenbergs und Jespersens Arbeiten lange die 
allgemeine Ansicht gewesen: „Ohne Syphilis keine 
Parese“ (= Dementia paralytica).“ 

Bereits im Jahre 1857 sprechen zwei deutsche 
Forscher, Esmarrh und Jessen*) auf Grund ihrer 
Beobachtungen die Ansicht aus, dass die progressive 
Paralyse syphilitischen Ursprungs sei. 

Es scheint indess, als ob Kjillberg in Upsala un¬ 
abhängig von ihnen zu derselben Anschauung ge¬ 
kommen sei und zwar durch einen Fall von Paralyse 
bei Mann und Frau, die er in seiner Anstalt beob¬ 
achtet hat. In seiner oben citirten Arbeit, S. 56, 

*) Esmarch uud Jessen, Syphilis und Geistesstörung. 
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1857. 


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Original frnm 

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302 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27. 


schreibt er nämlich folgendes, was wohl zu verdienen 
scheint, ans Licht gezogen zu werden: 

„Im Jahre 1857 wurde ein ehemaliger Gerichts¬ 
diener aus einer entfernten Provinzialstadt mit den 
Symptomen der Paralyse generale im zweiten Stadium 
in die Upsalaer Irrenanstalt aufgenommen. Im fol¬ 
genden Jahre starb er, und 1860 im Frühjahr wurde 
seine Frau in die Anstalt aufgenommen, wobei sie 
Symptome derselben Krankheit zeigte, die auch den 
gleichen Ausgang hatten. Sie starb im November 
desselben Jahres, nachdem die Krankheit zuvor alle 
die traurigen Symptome, welche zum dritten Stadium 
gehören, hatte entwickeln können. Dass eine in unserm 
Lande so äusserst seltene Krankheit so gut wie auf 
einmal Mann und Frau hatte befallen können, erregte 
bei uns die Vermutung, dass hier eine gemeinsame 
Ursache hatte wirksam sein müssen. Die Gedanken 
gingen dann zu sekundärer Syphilis, die möglicherweise 
bei beiden vorhanden war, obwohl zur Zeit der Geistes¬ 
krankheit äussere Symptome fehlten. Infolge dessen 
haben wir der Anamnese bei den Fällen von Paralyse 
generale, die seit diesem für unsere Beobachtung er¬ 
reichbar gewesen sind, grössere Aufmerksamkeit ge¬ 
widmet und dabei Gelegenheit gehabt zu konstanten, 
dass alle viele Jahre, bevor die Geisteskrankheit aus¬ 
brach, an primärer Syphilis gelitten haben.“ 

Dieser Fall ist um so merkwürdiger, als man erst 
viel später im Auslande dazu kam, der sog. konjugalen 
Paralyse *) eine Bedeutung beizulegen. Der eine und 
der andere einzelne Fall wurde in den 1880 er Jahren 
von Acker, Goldsmith u. a. als Curiosum mitgetheilt. 
Grössere Aufmerksamkeit erregte es, als Mendel 1888 
in der psychiatrischen Gesellschaft in Berlin 5 solche 
Fälle mittheilte und auf deren grosse Bedeutung hin¬ 
wies, wenn es sich darum handelte, den Zusammen¬ 
hang zwischen Syphilis und Paralyse darzuthun. 

Seit diesem hat man in verschiedenen Ländern 
nicht so wenig Fälle von Paralyse oder Tabes bei 
Ehegatten gesammelt. Bereits 1895 konnte Mendel 
über nicht weniger als 18 Fälle berichten. 

Im Jahre 1899 hat Raecke**) eine recht voll¬ 
ständige Zusammenstellung der Tabes- und Paralyse¬ 
fälle bei Ehegatten gemacht, die bis zu diesem Zeit¬ 
punkte veröffentlicht waren; die Zahl betrug nicht 
weniger als 69 Fälle. 

*) Noch einen Fall von konjugaler Paralyse erwähnt 
Kjiliberg in Upsala Lükere förenings Föttendlinger, Bl. IV. 

**) Raecke, Paralyse und Tabes bei Eheleuten. Monatsschr. 
f. Psychiatrie und Neurologie, Bd. IV. 


Paralyse kam bei beiden Ehegatten vor in 
„ bei dem Mann und Tabes bei 

2/ 

Fällen. 

der Frau in 

14 

» 

Tabes bei beiden in 

22 


Paralyse bei der Frau und Tabes beim 



Manne in 

6 

»> 

Summe 

69 Fälle. 

Davon war Lues bestimmt konstatirt in 

38 Fällen 

„ „ „ wahrscheinlich in 

11 

» 

„ „ „ geleugnet in 

2 

» 

„ „ „ unbekannt in 

18 



Während der letzten zwei Jahre sind noch mehr 
Fälle dieser Art mitgetheilt worden *), so dass die 
Summe jetzt um verschiedenes grösser ist. 

Ich kann nicht umhin, im Zusammenhänge damit 
einen äusserst bemerkenswerthen Fall von Morel- 
Lavellee **) zu erwähnen. Ein syphilitisches Weib 
(Martha X.) infizirt nämlich nicht weniger als 5 
Männer, welche später alle an syphilitischer Gehim- 
krankheit sterben. 

Im Mai 1870 zieht sich erwähntes Weib Syphi¬ 
lis zu, sie steckt ihren Liebhaber (I) an, welcher 
22 Jahre alt ist. Dieser stirbt nach 3 Jahren an 
syphilitischer Meningitis. Im December 1871 wird 
sie die Geliebte eines andern Mannes (II), den sie 
nach einem Monat angesteckt verlässt. Darauf lebt 
sie 4 Jahre mit einem dritten (III) zusammen. Dieser, 
welcher sich dann verheirathet, erhält 2 Kinder, stirbt 
aber 1882 an Dementia paralytica. Der Mann Nr. 2 
verheirathet sich auch und erhält 2 Kinder; im Jahre 
1888 starb dieser an Paralyse. Ein vierter Geliebter 
(IV) desselben Weibes stirbt 1890 gleichfalls an Pa¬ 
ralyse. Zuletzt stirbt ein fünfter (V) 19 Jahre nach 
der ursprünglichen Infektion an luetischer Gehirn- 
krankheit. 

Unlängst wurde in die Irrenanstalt zu Upsala ein 
Weib aufgenommen, welches von frühester Jugend an 
an einer periodisch wiederkehrenden Geisteskrankheit 
gelitten hatte. 

Bei näherer Prüfung fand sich, dass sie auch sehr 
deutliche Zeichen von Dementia paralytica hatte und 
dass der Mann vorher an der letztgenannten Krank¬ 
heit gestorben war. 

Hier lag also ein Fall von konjugaler Paralyse 
und ausserdem — etwas, was von bedeutend grösserem 

*) Unter anderem von Mönkemöller, der unter 741 Pa¬ 
ralysen in einer Anstalt nicht weniger als 18 Fälle von konjug. 
Paralyse ^bezw. Tabes) gefunden hat. Siehe übrigens seine 
Arbeit in Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. VIII, S. 421. 

**) Morel-Lavallde. Bull, de la Soddt6 francaise de Dermat. 
et Syphil. 1892. 


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Original frnm 

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IQ02.] 


Interesse war — einer ganz ungewöhnlichen Kom¬ 
bination von zwei ganz verschiedenen Psychosen vor. 

Bevor ich näher darauf eingehe, will ich ihre 
Krankengeschichte in Kürze anführen. 

Krankengeschichte. 

N. N., 53 Jahre, Wittwe eines Schiffskapitäns. 
Mutter periodisch geisteskrank. Eine Schwester ist 
geisteskrank gewesen. Ein Cousin in der Irrenanstalt 
gestorben. 

Pat. hat eine gute Erziehung erhalten und ist gut 
begabt gewesen. Von ihrem 14. Jahre an hat Pat. 
Anfälle von Geisteskrankheit (Man periodica) 3 mal 
alljährlich während eines oder mehrere Monate gehabt. 
Die ersten Jahre wurde sie während derselben zu 
Hause gepflegt. Später ist sie eine häufig wieder¬ 
kehrende Patientin in der Irrenanstalt und im Kranken¬ 
haus zu Hemösand gewesen. Während der freien 
Zeiten (Zwischenzeiten) ist ihr Zustand recht gut 
gewesen. Die verschiedenen Anfälle der Geistes¬ 
krankheit gleichen einander fast vollständig. Aus 
dem Journal von der Irrenanstalt zu Hernösand (wo 
sich Pat. vom 23. März 1897 bis 19. August des¬ 
selben Jahres befand) sei folgendes über sie angeführt: 

Vor 14 Tagen schlaflos; bereits am folgenden 
Tage brach ihre Tobsucht aus mit der Lust, alles, 
was sie erreichen konnte, zu zerschlagen. Zu Anfang 
der Anfälle pflegt sie stets deprimirt zu sein. 

Status praesens, den 24. März 1887. 

Pat. ist (mässig) exaltiert. Sie spricht unbehindert 
und schnell über eine Menge von Dingen, oft ohne 
Zusammenhang. Mitten während des Gespräches be¬ 
ginnt sie zu weinen und zeigt sich weinerlich geärgert, 
wobei sie sich über die Behandlung zu Hause, über 
den Mann u. s. w. beklagt. Diese Stimmung geht 
indess bald vorüber, und sie wird wieder exaltirt. 

Den 30. 3. Pat. ist bisweilen unsauber und lässt 
die Exkremente ins Bett gehen. Den 3. 4. Sagt an 
einzelnen Tagen gar nichts. Isst wenig, bisweilen 
gar nichts, musste heute mit der Sonde gefüttert 
werden. Zankt und schwatzt. Den 8. 4. wieder stumm. 
26. 4. Die letzten Tage ruhiger und stiller; spricht in 
etwas deprimirtem Ton. Behauptet, dass sie sich 
mehrfach, sowohl zu Hause als hier, mit Selbstmord¬ 
gedanken getragen hat. Den 11. 5. Unruhiger die 
letzten Tage, weint, beklagt sich, ist laut, schilt. Den 
24. 5. Besserung. 25. 6. Ganz von Sinnen, unver¬ 
schämt und heftig, droht sogar den Wärterinnen; 
weint unter unzusammenhängendem Geschwätz. Heute 
Nacht Koth ins Bett gelassen. Den 21. 7. Während 
der letzten Woche ruhig und fügsam; zufrieden. Den 
17. 8. Zustand nicht befriedigend. Wird entlassen. 


303 


Im Juni 1899 stellten sich bei Ausbruch einer 
Unruheperiode recht zahlreiche epileptiforme Anfälle 
ein, welche sich später wiederholten. Die Kranke 
wurde dann theils zu Hause, theils im Krankenhause 
gepflegt. Am 30. Januar 1900 wurde sie wieder in 
die Irrenanstalt aufgenommen. Dort war der Zustand 
variirend. Oft war Pat. äusserst unruhig, streitsüchtig 
und unsauber. Sie zeigte sich cynischer als während 
der früheren Anfälle und untermischte ihre Rede 
mit Flüchen. Recht zahlreiche epileptiforme Anfälle. 
An gewissen Tagen war sie ruhig und sogar fleissig. 
Näher dem Sommer schien eine mehr anhaltende 
Besserung einzutreten. Den 18. August wurde sie als 
gesund entlassen. Bereits zwei Tage nach der Heim¬ 
kehr war sie wieder unruhig und exaltirt; es stellten 
sich am 22. und in der Nacht zum 23. nicht weniger 
als 8 epileptiforme Anfälle ein. Einen grossen Theii 
des Jahres 1901 hat sie im Krankenhause zu Her¬ 
nösand zugebracht. Seit diesem hat sich der Zustand 
noch mehr verschlechtert. Pat. wurde zu Hause ge¬ 
pflegt. Während der kurzen ruhigen Perioden, welche 
Pat. während der letzten Jahre gehabt hat, hat sie 
sich anders als früher gezeigt, sie ist stumpf und 
gleichgültig, aber recht geschwätzig gewesen. 

Im Alter von 31 Jahren verheirathete sie sich 
mit Kapitän S., der 5 Jahre jünger war als sie. 
Während der Ehe hatte sie zuerst einen Missfall 
(auf einer Seereise bei hoher See). Darnach bekam 
sie 4 Kinder, welche noch leben. Darauf hatte sie 
einen Missfall nach dem andern (im ganzen 5, den 
letzten vor 8 Jahren). Der Mann starb vor 6 Jahren. 

Dr. Mortelin, welcher Kapitän N. N. während seiner 
letzten Krankheit behandelte, hat die Güte gehabt, 
mir folgendes über ihn mitzutheilen: „Im Jahre 1893 
wurde ich (Dr. M.) nach dem Schiff geholt, welches 
er führte. Er hatte eine kleine Gehirnblutung gehabt 
(Ohnmachtsanfälle, Parese in den Gesichtsmuskeln 
der einen Seite). Er genoss Alkohol, doch, wie ich 
glaube, nicht im Uebermass, war vielleicht in geringerem 
Grade dem stillen Trunk ergeben. Seine Krankheit 
trat indess völlig zurück, obwohl eine gewisse Abge¬ 
stumpftheit bestehen blieb, die jedoch nicht grösser 
war, als dass er dss Schiff noch 1 oder 1 l j 2 Jahr 
nach dem Anfall führen konnte. Darauf begann er 
tiefsinnig zu werden, wollte nicht mit andern Menschen 
umgehen, war gegen seine Umgebung heftig und boshaft. 
Er litt an Kopfschmerzen und Schwindel und hatte 
deutliche Symptome von Tabes dorselis. Er erhielt 
von mir Jodkalium, zufolge seines Ausbleibens aber 
war die Behandlung äusserst unvollständig. Ins 
Krankenhaus war er mindestens einmal aufgenommen. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Original fram 

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304 

Sein Zustand verschlechterte sich immer mehr. 
Das letzte Mal, als ich ihn in seinem Hause sah, 
war er völlig abgestumpft, konnte nur mit Mühe seinen 
Platz verändern, war von Gemüth boshaft und heim¬ 
tückisch. Kurz darauf ersah ich aus den Zeitungen, 
dass er gestorben war. Eine Obduktion wurde leider 
nicht gemacht. Mir wissentlich hat er keinen andern 
Anfall als den auf dem Schiff gehabt. Er fiel zwar 
häufig um und schlug sich recht sehr, das aber kam 
von seinem schlechten Gang her.“ 

So weit Dr. Mortelin. Aus dieser Mittheilung 
geht also hervor, dass der Kapitän N. N. mit grösster 
Wahrscheinlichkeit Lues gehabt hat und dass er an 
Tabes wie Dementia paralytica gestorben ist. 

15. 11. 1901 wurde Frau N. N. in die Irrenan¬ 
stalt zu Upsala aufgenommen. An demselben Tage 
hatte sie einen epileptiformen Anfall. Sie war ruhig 
und fügsam. 

Status praesens, den 26. 11. 1901. 


[Nr. 27. 


Pat., welche gut gebaut und recht gut genährt ist, 
hat ein recht gesundes Aussehen. 

Die rechte Pupille ist etwas kleiner als die linke 
und reagirt langsamer. Seitens der Sinnesorgane und 
der Sensibilität nichts zu bemerken. In den Händen 
ein gewisser Grad von Tremor, desgleichen in der 
Zunge. Im Gesicht dann und wann fibrilläre Muskel¬ 
zuckungen. 

Die Motilität betreffend sonst nichts zu bemerken. 

Innere Organe gesund. Pulsfrequenz 92 in der 
Minute. 

Pat. hat einen gutmüthigcn, aber etwas schlaffen 
G esichtsausd ruck. 

Blick recht lebhaft. Pat. zeigt deutliche Euphorie, 
abwechselnd mit Weinerlichkeit; während sie mit grosser 
Befriedigung spricht, kommt sie plötzlich ins Weinen, 
wenn sie zufällig von ihrem vortrefflichen Vater oder 
einem andern Verwandten etwas erzählt. Dergleichen 
Wechsel erfolgen während eines kürzeren Gespräches 
wiederholt. (Fortsetzung folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Zum 50jährigen Jubiläum der Irrenanstalt Allenberg am i. September 1902. 

Ein Rückblick. 


^^m 1. September sind es 50 Jahre, dass die erste 
geordnete Provinzial-IrrenanstaltinOstpreussen zu 
Allenberg bei Wehlau eröffnet worden ist. Zu einer 
officiellen Feier dieses Tages scheint keine Neigung 
vorhanden gewesen zu sein, w r as auch nicht weiter 
befremdet. Hat doch, um ein Moment anzuführen, 
das Aerztecollegium, das neben dem Director aus 
6 Aerzten besteht, in den letzten 2 Jahren beinahe 
2 mal gewechselt, indem in dieser Zeit nicht weniger 
als 10 Aerzte die Anstalt verlassen haben. So ist 
denn das Jubiläum wie die alljährlichen Stiftungsfeste 
nur im Rahmen der Anstalt verlaufen. 

Ich aber, der ich 12 Jahre an der Anstalt gewirkt 
habe, möchte doch den Tag nicht vorübergehen lassen, 
ohne die Bedeutung desselben hervorzuheben und 
durch einen Rückblick auf die Vergangenheit zu feiern. 

Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Geistes¬ 
kranke im grossen Königlichen Hospital zu Königsberg 
(dem jetzigen Löbenicht’schen Hospital) in sogenannten 
„Tollstuben“ verpflegt, die unter Aufsicht eines „Toll¬ 
vaters“ standen. Diese Tollstuben wurden im Jahre 
1789 durch eine auf Kosten des Staates ebendaselbst 
erbaute Irrenanstalt ersetzt, welche aber erst im Jahre 
1816 eine feste Organisation erhielt. Es wurde ihr 
durch Hinzufügung angrenzender Hospitalgebäude eine 
angemessene Erweiterung gegeben, ihre Verwaltung 
von der des Hospitals getrennt, ihr Etat regulirt und 
der so begründeten „Provinzial-Irrenanstalt für die 


Regierungsbezirke von Königsberg und Gumbinnen“ 
ein eigener ärztlicher Director vorgesetzt. Seit 1829 
fungirte an ihr der Kreisphysikus Dr. Bernhardi, zu¬ 
erst als Arzt und seit 1834 als Director des Kranken- 
und Irrenhauses. Die Anstalt war für 100 Kranke 
berechnet. Anfänglich hielt sich auch die Frequenz 
auf dieser Höhe, ja sie überstieg dieselbe bisweilen 
ansehnlich. Als aber im Jahre 1826 die Landarmen- 
Verpflegungs-Inspection die aus ihrer Kasse verpflegten 
unheilbaren Irren der grossen Kostspieligkeit wegen 
aus der Anstalt entfernten (!) <md viele ärmere Kom¬ 
munen und Privatpersonen diesem Beispiele folgten, 
sank die Frequenz bedeutend unter die normirte Zahl 
herab bis auf 70 und 60. Die Frequenz durfte aber 
auch nicht viel höher steigen, als im Jahre 1834 das 
3. Stockwerk des Hauptgebäudes durch einen Brand 
zerstört worden w r ar und zur Wiederherstellung des¬ 
selben der mit grossen pecuniären Schwierigkeiten 
kämpfenden Anstalt die Geldmittel fehlten. Im Jahre 
1845 zerstörte ein zweiter furchtbarer Brand, bei welchem 
mehrere Pfleglinge umkamen, einen grossen Theil der 
Anstalt (die ganze Frauenabtheilung), so dass seitdem 
nur die Hälfte der alten Irrenanstalt zu benutzen w*ar 
und höchstens noch 60 Kranke aufgenommen werden 
konnten. Besass doch die Anstalt vor diesem letzten 
Brande nur 32 heizbare Zimmer, darunter 4 Zimmer 
für Beamte. Ringsherum war sie von 16 Fuss hohen 
Zäunen umgeben. Heinrich schildert uns in einer 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


305 


Denkschrift vom Jahre 1848 (Allg. Zeitschr. f. Psych. 
Bd. 5, S. 401) die Lage folgendermaassen: „Ein bizarres 
Conglomerat frommer Stiftungen und Wohlthätigkeits- 
anstalten verschiedenster Art leben hier: ein Kranken¬ 
haus, die Irrenanstalt, ein Frauen- und Fräuleinstift in 
unmittelbarer Nachbarschaft, ihr friedliches Dasein. Das 
Irrenhaus, den Schluss mehrerer zu obigen Zwecken 
bestimmten Gebäude bildend, wird nach vom von 
einem kleinen Hofe, rückwärts von einem geräumigen 
baumreichen (205 □ Ruthen grossen) Garten begrenzt; 
hart zur Seite blinkt der Spiegel des Pregels.“ Ge¬ 
sundheitlich und in manchen andern Beziehungen 
zeigte sie grosse Mängel, welche von Bemhardi in 
einem in den Preussischen Provincialblättem (Nov. 1840) 
erschienenen Aufsatze „Bemerkungen über die Ver¬ 
hältnisse der Königsberger Irrenanstalt“ eingehend 
dargelegt worden sind. „Ihre Lage auf dem niedrigen, 
selbst öfteren Ueberschwemmungen ausgesetzten Fluss¬ 
ufer macht die Gebäude stockig und feucht; die un¬ 
mittelbar oberhalb der Anstalt in den Pregel führende 
Hospital-Cloake trägt zur Luftverderbniss bei; die hohen 
Zäune, welche ringsum die Gebäude nahe umgeben, 
verhindern die genügende Erneurung der Luft.“ Dazu 
kam die ungünstige Lage mitten in der Stadt. „Der 
Kranke bewegt sich Tagaus, Tagein, Jahraus, Jahrein 
auf demselben eng begrenzten Raum, Spaziergänge ins 
Freie hinaus müssen ihm versagt bleiben, denn er kann 
nicht ins Freie gelangen, ohne die ihm verwehrte 
Stadt zu passiren.“ Noch unangenehmer machte sich 
die unbequeme Nachbarschaft der Stadthäuser geltend. 
„Kann die Isolirung in unserer Anstalt nach Gebühr 
gehandhabt werden, wo die Kranken aus ihren Fenstern 
des oberen Stockwerks auf die umliegenden Strassen, 
den belebten Fleischmarkt, den Hospitalhof ungehindert 
hinabsehen, dort nicht selten Angehörige und Bekannte 
unerwartet erblicken, wo Vorwitzige durch die Zäune 
oder von den Fenstern der umliegenden Gebäude 
herab beständigen Verkehr mit den Irren zu unter¬ 
halten, sie wohl gar zu necken und zu reizen suchen? 
wo die Maassregeln der Anstalt der Controle und 
Kritik der aus den Nachbarhäusern frei Hineinschauen¬ 
den fortwährend ausgesetzt sind ? Kann es den 
Familien der Irren gleichgültig sein,’ wenn gleich die 
ganze Stadt es erfährt, wer in die Anstalt eingeliefert 
wird, wie er sich beträgt und wie er behandelt wird ?“ 
Bemhardi kam zu dem Schluss, dass die Königsberger 
Irrenanstalt ihrem Zwecke durchaus nicht entspreche, 
als zweckwidrig aufzugeben und durch eine ländliche 
Irrenanstalt zu ersetzen sei. 

Der Aufsatz Bernhardi’s hatte zur Folge, dass der 
Plan der Errichtung je einer Irrenanstalt für Ost- 
und Westpreussen, welcher schon lange ventilirt worden 

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war*), nunmehr energisch aufgenommen wurde. Bereits 
im Jahre 1841 sprach sich das Ministerium den Ständen 
der Provinz gegenüber mit Festigkeit dahin aus, dass 
„die wegen ihrer Lage, Ausdehnung und Einrichtung 
stets als mangelhaft und unausreichend anerkannte 
Irrenanstalt durch den Brand im Jahre 1834 zu einem 
blosen Nothbehelf geworden sei“ und forderte im Ein- 
verständniss mit dem Staatsminister und Oberpräsidenten 
von Schön die Errichtung einer Irrenheil- und Pflege- 
Anstalt für die Provinz Ostpreussen und Litthauen 
und einer zweiten für Danzig und Marienwerder. 
Für die in Ostpreussen zu erbauende Irrenanstalt 
wurde den Ständen unter besondere Angabe der hier¬ 
für sprechenden Gründe die Nähe von Königs¬ 
berg angerathen. Von denselben mag der als fünfter 
und letzter Grund angeführte Passus der Denkschrift 
besonders hervorgehoben werden: „Königsberg ist der 
Sitz einer an practischen und gelehrten Aerzten sowie 
an Sammlungen ausgezeichneten Universität, deren 
Nähe für die Irrenanstalt sehr wünschenswerth ist, 
gleichwie die Nähe dieser für jene, damit die Irren¬ 
anstalt später als Bildungsanstalt für junge preussische 
Aerzte in der practischen Irrenheilkunde möglichst 
benutzt werden kann.“ 

Trotzdem richteten die Stände zunächst ihr Augen¬ 
merk auf das dem Domkapitel von Ermland gehörige 
und in Verfall gerathende Schloss zu Heilsberg nebst 
dem dazu gehörigen Garten. Erst als nach langen 
Verhandlungen bei näherer Untersuchung der Localität 
sowie in Folge der vom Domkapitel erhobenen über¬ 
triebenen Forderungen der Plan 1843 als unausführbar 
aufgegeben worden war, erliess die ständische Land¬ 
armencommission für Ostpreussen und Litthauen eine 
öffentliche Bekanntmachung,, worin sie zur Anzeige 
geeigneter Baustellen aufforderte. Bei der Kritik der 
eingelaufenen Meldungen, die sich auf 21 beliefen, 
wurde ausdrücklich bemerkt, dass als Haupterfordemiss 
für die Wahl stets die Nähe von Königsberg be¬ 
rücksichtigt wurde, und es erwies sich auch hier nach 
dem Urtheil Bemhardi’s mehr als eine Stelle als 
sehr geeignet. Trotzdem wurde schliesslich von einer 
solchen Wahl Abstand genommen, da inzwischen die 
Befestigung von Königsberg beschlossen worden war 
und nach einem Schreiben des Festungsbaudirectors 

*) Anfang der 30 er Jahre hatten die Stände die Absicht, 
in Verbindung mit den Landarmenanstalten zu Tapiau und 
Graudenz Provincial-Irrenanstalten zu errichten, worauf von dem 
Minister v. Altenstein ein Erlass an den Oberpräsidenten v. Schön 
erging (7. Juli 1832) „diesen Plan durchaus zu verhindern, weil 
diese längst als verwerflich erkannte Verbindung mit den An¬ 
sprüchen der Humanität und der Wissenschaft in Widerspruch 
steht.“ 

Original frnm 

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3°6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


v. Dechen an den Oberpräsidenten (Juli 1845) be- 
fürchtet werden musste, dass im Falle einer Belagerung 
der Feind die Gebäude der Irrenanstalt als Lazareth 
benutzen und die Irren veijagen würde, während dies 
bei einer dem wahrscheinlichen Kriegsschauplätze nicht 
so nahe befindlichen Anlage nicht so leicht zu be¬ 
fürchten sei. 

Die Bedenken von militärischer Seite waren aus¬ 
schlaggebend, und obgleich Professor Heinrich in einer 
ausführlichen Denkschrift vom Juli 1849 (Allg. Zeitschr. 
f. Psychiatrie, Bd. 5) diese Bedenken widerlegte und 
mit grosser Beredsamkeit alle Gründe klarlegte, welche 
für die Nähe von Königsberg und gegen die Wahl 
der Anstalt auf dem platten Lande sprachen — es 
war bereits 1845 die Wahl auf Peterswalde bei Wehlau 
gefallen — und energisch gegen die Ausführung des 
Baues bei Wehlau protestirte (er statuirte für Stadt und 
Universität die Verpflichtung aus der Verlegung der 
Irrenanstalt in Königberg’s Nähe eine Art Lebensfrage 
zu machen), so blieb es doch bei der ursprünglichen 
Wahl, ebenso wie der Einspruch gegen die von den 
Provincialständen mit alleiniger Rücksicht auf die Kosten- 
erspamiss geplante Errichtung der westpreussischen 
Irrenanstalt bei Sch wetz in Verbindung mit dem grossen 
Landarmen- und Krankenhause*) nichts fruchtete. 

Von dem gewählten Gelände für die ostpreussische 
Anstalt, welches auf einem unmittelbar an der Alle 
50 Fuss über dem Spiegel des Flusses befindlichen 
Plateau gelegen war, wurden als besondere Vortheile 
die hohe gesunde Lage, der fruchtbare Boden, an- 
muthige Aussicht und die bequeme Verbindung mit 
der (über 7 Meilen entfernten) Hauptstadt gerühmt. 
Der Bau der für 250 Kranke berechneten Irren-Heil- 
und Pflegeanstalt, welche nach der vorbeifliessenden 
Alle aus Peterswalde in Allenberg umgetauft wurde, 
wurde schnell soweit gefördert, dass die Heilanstalt Aus¬ 
gang Sommer 1852 fertiggestellt war und eröffnet 
werden konnte (während die w'estpreussische Anstalt 

*) Das Ministerium Eichhorn wandte sehr richtig ein, dass, 
abgesehen von der geringen Bedeutung etwaiger Ersparnisse, einer¬ 
seits die Landkrankcnanstalt nach Eröffnung der Irren-Heil- und 
Pflege-Anstalt als lästiges Beiwerk dieser angesehen und dirigirt 
werden, also wahrscheinlich an Werth, Bedeutuug und Wirksam¬ 
keit verlieren würde, anderseits auch der Irren-Heil- und Pflege- 
Anstalt ein unübersteigliches Hinderniss sich entgegenstellen würde, 
sowohl für deren mö glich s t vol le und se 1 bs tän di ge Or¬ 
ganisation im Allgemeinen, als insbesondere für die gleichfalls 
unerlässliche Einheit, Einfachheit und Ordnung in 
der Ver w a 1 tu ng. Schliesslich erklärte das Ministerium sich 
dahin, dass nach der übereinstimmenden Erfahrung des In-und Aus¬ 
landes die Verbindung der westpreussischen Irren-Heil-und Pflege- 
Anstalt mit der Landkrankenanstalt zu Schwetz alsein Rück¬ 
schritt zu bezeichnen sein würde. 


[Nr. 27. 


zu Schwetz für 200 Kranke erst im Frühjahr 1855 
eröffnet wurde). 

Am 1. September 1852 erfolgte der Umzug von 
Königsberg mit 59 Kranken „grösstentheils Tollen, die 
alle übrigen Kranken aus der Königsberger Irrenanstalt 
verdrängt hatten“, bezeichnenderweise Frühmorgens 
4 Uhr und in geschlossenen Wagen, die von 
3 berittenen Gensdarmen bis zur Kreisgrenze in Arnau 
eskortirt wurden, wo letztere von anderer Bedeckung 
abgelöst wurden. Für so gefährlich wurden noch vor 
50 Jahren Geisteskranke erachtet. Unterwegs wurden 
Erfrischungen eingenommen. Der mehr als 7 Meilen 
weite Transport, welcher von dem zum Director der 
neuen Anstalt ernannten Dr. Bemhardi, den Beamten 
und dem Wartepersonal begleitet wurde, ging in 5 l / t 
Stunden ohne Unfall und ohne die mindeste Störung 
von Statten. „In der Anstalt war wie gewöhnlich das 
Fertigseinsoliende noch lange nicht fertig, und die 
Unbequemlichkeiten und Störungen begannen erst“, 
berichtet Bemhardi. Aber auch diese waren nach 
einiger Zeit überwanden. Die Kranken richteten sich 
in den geräumigen und im Gegensatz zu der alten 
Königsbeiger Anstalt confortablen Gebäuden, deren 
Anlage für die damalige Zeit sicher mustergültig zu 
bezeichnen war und jetzt noch mit Ausnahme der 
Zellengebäude sich als ziemlich angemessen erweist, 
sowie in den freieren ländlichen Verhältnissen schnell 
ein. Die Anstalt, die schon nach 10 Jahren überfüHt 
war, hat seitdem, wie ich in meinem Aufsätze: „Ent¬ 
wicklung und Stand des Irrenwesens in Ostpreussen“ 
(diese Wochenschr. Bd. I. 1900. S. 173 ff.) ausgeführt 
habe, zahlreiche Erweiterungen erfahren und sich zu 
einer Anstalt grossen Styls entwickelt, (wie es ja heute 
leider die meisten Irrenanstalten sind) welche für 850 bis 
900 Kranke berechnet, zur Zeit beinahe 1000 Kranke 
(am 16. August 1902) zählt; sie hat 1885 in der Irren¬ 
anstalt Kortau eine Schwesteranstalt erhalten, die vor 
kurzem auch wesentlich vergrössert (bis zu 1000 Plätzen), 
zur Zeit gleichfalls stark überfüllt ist (am 16. August 
1072 Kranke); und in Tapiau, wo 1897 eine kleine 
Pflegeanstalt für gefährliche Geisteskranke mit 68 Plätzen 
eröffnet wurde, werden in der Verbindung mit der 
Landarinenanstalt (Pfleglings-Abtheilung), in der bereits 
beinahe 200 Geisteskranke untergebracht sind, Kolossal¬ 
gebäude für je 125 unheilbare Geisteskranke errichtet, 
womit der Rückschritt perfect geworden ist, der als 
solcher von dem Ministerium Eichhorn vor mehr als 
einem halben Jahrhundert und als verwerfliche mit 
den Ansprüchen der Humanität und der Wissenschaft 
in Widerspruch stehende Verbindung von dem Minister 
v. Altenstein bereits vor 70 Jahren bezeichnet worden 
ist. Die Entwicklung, welche das Irren wesen der 


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Original fram 

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lg 02 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 307 


Provinz Ostpreussen im letzten Jahrzehnt genommen 
hat und sich durch das Bestreben kennzeichnet, mit 
unzulänglichen und z. Th. rückschrittlichen Mitteln 
den Bau einer der Verwaltung längst als nothwendig 
bezeichneten dritten Irrenanstalt zu umgeben, sowie 
manches andere in den Verhältnissen vermag den 
Irrenarzt am Jubil&umstage der vor 50 Jahren mit 
so viel Hoffnungen eröffneten Irrenanstalt Allenberg 
gerade nicht mit Freude zu erfüllen. 


Zum Schluss sei noch der Aerzte gedacht, welche 
an der Irrenanstalt Allenberg gewirkt und sich daselbst 
oder später einen Namen gemacht haben, es sind das 
ausser den Dircctoren Wendt, Jensen und Sommer 
besonders Kahlbaum, welcher, lange Jahre 2. Arzt der 
Anstalt, daselbst seine Hauptwerke concipirt hat, Hecker, 
Rabow, von Ludwiger, Hallervorden und Kurella. 

Hoppe. 


M i t t h e i 

— Berlin. Die Minister der geistlichen Ange¬ 
legenheiten und des Innern haben ein neues Regle¬ 
ment für die Berliner Irrenanstalten genehmigt. Es 
ist darin angeordnet, dass, wenn ein Kranker in der 
Anstalt stirbt, das Standesamt, die Angehörigen sofort 
zu benachrichtigen sind. Die Kranken sind selbst¬ 
verständlich, so lange sie sich in einer städtischen 
Irrenanstalt befinden, nach allen ihren Lebensbezie¬ 
hungen den ärztlichen Anordnungen und den Vor¬ 
schriften der Hausordnung unterworfen. Innerhalb 
dieser soll ihnen indessen jede Freiheit gewährt werden, 
welche die Zwecke der Anstalt nicht gefährdet und 
mit dem jeweiligen Krankheitszustande, sowie der 
Sicherheit der Kranken und ihrer Umgebung verträg¬ 
lich ist. Kranke, welche sich soweit gebessert haben, 
dass sie nach ärztlichem Urtheil der Anstaltspflege und 
auch der Aufsicht seitens der Anstalt nicht mehr be¬ 
dürfen, sind unter Beobachtung gewisser Vorschriften 
zu entlassen. Ist ihre Erwerbsfähigkeit vermindert, 
so kann ihnen eine Unterstützung mitgegeben werden 
und sind sie der Armendirection zu weiterer Unter¬ 
stützung zu empfehlen. 


Referate. 

— Pharmaceutische Producte der Far¬ 
benfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 
Elberfeld. 

In einem stattlichen Hefte von 292 Seiten werden 
die wichtigsten Bayerischen Arzneiproducte in chemi¬ 
scher wie pharmaceutischer Richtung, hinsichtlich 
ihrer Dosirung und der Erfahrungen, die mit ihnen 
gemacht worden sind, besprochen. Am Schluss des 
Buches ist ein alphabetisch geordnetes Indikations- 
registcr angefügt. Die beachtenswerthesten Präparate, 
wie Phenacetin, Tannigen, Salol, Sulfonal, Trional, 
Creosotal und Somatose sind so bekannt und be¬ 
währt, dass sie voraussichtlich dauernd ihren Platz in 
unserm Arzneischatz behalten werden. Von den Er¬ 
rungenschaften der letzten Jahre seien Tannigen als 
Adstringens, Analgen als Antipyreticum, Salophen 
und Aspirin als Antirheumatica, Epicarin als Anti- 
skabiosum, Aristol, Europhen und Protargol als Anti- 
septica, Hedonal und Heroin als Hypnoticum bezw. 
Sedativum sowie Jodothyrin als organo-therapeutisches 


1 u n g e n. 

Präparat erwähnt Für jedes Product sind practische 
Receptformeln mitgetheilt, leider fehlt die Angabe 
des Preises und gerade diesen muss der Arzt bei 
den modernen Medicamenten doch oft so sehr in 
Rücksicht ziehen. G. Ilberg (Grosschweidnitz). 

— Die otitischen Erkrankungen des Hirns, 
der Hirnhäute und der Blutleiter. Von Dr. 
OttoKoerner, o. ö. Professor und Director der 
Klinik für Ohren- und Kehlkopf kranke in Rostock. 
3. vollst. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Wies¬ 
baden 1902. 

Nach der Statistik von Pitt-London kommt ein 
Todesfall durch Ohreiterung auf 158 Sectionen; 
Gruber-Wien und Poulson-Kopenhagen fanden einen 
solchen Fall auf 173 bezw. 303 Autopsien: Büchner 
und Randall berechnen die Häufigkeit der Todes¬ 
fälle in Folge von Ohreiterungen im Verhältniss zur 
Zahl aller Ohrkrankheiten übereinstimmend auf 0,3 °/ 0 . 
Ein Drittel aller Himabscesse ist otitischen Ursprungs, 
zwei Drittel aller Sinusphlebitiden entsteht durch 
Krankheiten des Ohrs und des Schläfenbeins. Die 
otitische Meningitis kommt im Vergleich zu anderen 
Meningitiden selten vor. Die zur Section gekommenen 
Fälle von otitischen Himkrankheiten betreffen grössten- 
theils das Alter von 11 bis 30 Jahren. Der durch 
massenhafte Thatsachen erwiesene Emst der acuten 
und chronischen eiterigen Mittelohrentzündung und 
die Beachtung, welche ihr selbst die Aerzte durch¬ 
schnittlich noch zuwenden, stehen in umgekehrtem 
Verhältnisse zu einander! 

Verf. bespricht in dem nunmehr in 3. Auflage 
vorliegenden, vorzüglichen Werke die eitrige Entzün¬ 
dung an der Aussenfläche der harten Hirnhaut, die 
otitische Pachymeningitis interna, die otitische Lepto- 
meningitis purulenta, die Meningitis serosa in Folge 
von Eiterungen im Ohr und im Schläfenbein, die 
tuberkulösen Hirnhaut- und Hirnerkrankungen bei 
Tuberkulose des Ohrs und des Schläfenbeins, die 
Phlebitis und Thrombose der Sinus durae matris und 
der Vena jugularis, die Himembolie in Folge von 
Carotisthrombose bei Mittelohreiterung und Schläfen- 
beincaries und vor allem den otitischen Himabscess. 
Die Errungenschaften auf dem Gebiet der Behand¬ 
lung der H irnabscesse, die durch Ohrenkrank¬ 
heiten erzeugt sind, sind ja bekanntlich geradezu 


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3ö8 


fSYCttlAtRtSCÖ-NEÜROLOGISCHE WOCHENSCHRIFt. 


[Nr. 2 ? . 


glänzende. Bis October 1901 sind nicht weniger als 
2 68 Abscesseröffnungen mit 137 Heilungen bekannt 
geworden. Ueber operirte Sinusphlebitis hat der 
Verf. nunmehr 308 statistisch verwerthbare Fälle ge¬ 
sammelt; von diesen fanden 180 Patienten Heilung. 

G. Ilberg (Grossschweidnitz). 

— Von der Nervenzelle und der Zelle im 
Allgemeinen. Von Paul Kronthal. Mit 6 chro¬ 
molithographischen, 3 heliographischen Tafeln und 
27 Figuren im Text. Jena, Gustav Fischer, 1902. 

Von der Nervenzelle ausgehend bespricht Verf. 
eine Reihe von äusserst interessanten Fragen über 
die Zelle im Allgemeinen. Die geformten Substanzen 
im Protoplasma wie im Kern erkennt er als das 
Lebendige, während er die ungeformten als Nahrungs¬ 
material auffasst. Er erörtert, wie die Zelle Stoffe 
aufnimmt, verarbeitet und abgiebt und führt aus, dass 
zwar die Zelle, aber nicht die Nervenzelle, 
ein Elementarorganismus im biologischen Sinne ist. 

Es sei mit Rücksicht auf das Interesse, dass wir 
Nervenärzte an den, die Nervenzelle betreffenden, 
biologischen Vorstellungen haben, gestattet, über das 
betreffende Kapitel zu referiren: Die weissen Blut¬ 
körperchen sind identisch mit den Lymphkörperchen 
bezw. den lymphoiden Zellen. Sie durchbrechen die 
Epithelschicht des Centralkanals, dringen durch die 
Wandungen der Gefässe oder wandern längs der Pia 
oder der Piascheiden in die Nervenmasse. Die Lymph¬ 
körperchen des Liquor cerebrospinalis, die sich in 
den Subarachnoidealräumen oder in den adventitiellen 
Lymphräumen befinden, treten in die Masse der 
Nervensubstanz ein, verlieren hiermit ihren Charakter 
als Lymphzellen und werden theils zu Stützkörpem, 
theils zu nervösen Elementen. In letzterem Falle 
treten sie zu den nervösen Elementen in Beziehung. 
So wird die vorher nomadisirende Zelle angesiedelt 
und lebt von da an unter ganz andern physikalischen 
und chemischen Bedingungen. Sie entwickelt nun 
Neigung zum Confluiren mit gleichen Individuen, 
ihr Protoplasma wächst, die protoplasmatischen Zellen 
verschmelzen mit weiteren Lymphzellen und beziehen 
aus deren Kernen ihre chromatischen Substanzen. 
Die Nervenzellen entstehen also durch 
Addition weisser Blutkörperchen. Addirt 
oder einzeln behalten die weissen Blutkörperchen in 
der Nervenmasse die Eigenschaft der amöboiden Be¬ 
wegung bei. Bei ganz gesunden Individuen werden 
die grossen Nervenzellen mit reichlichem Protoplasma 
in sehr verschiedenem Zustande betroffen; namentlich 
muss man die absterbenden Gebilde, bei denen 
die Kernsubstanz von der protoplasmatischen Substanz 
unscharf oder gar nicht gesondert ist, von der Jugend¬ 
form , wo die genannten Substanzen scharf differenzirt 
sind, unterscheiden. Findet Resorption absterbender Ner¬ 
venzellen statt, so sind hieran eigenartiger Weise wieder¬ 
um die Leukocythen in hohem Grade betheiligt. Die 


Nachkommen der aus dem äussem Keimblatt direkt 
stammenden Zellen des Nervenrohrs theilen sich 
zwar, sowie aber Faserentwicklung stattfand, d. h. 
sowie die bisher neutrale Zelle zur Nervenzelle ward, 
theilt sie sich im normalen Gehirn oder Rückenmark 
niemals! Die Kerne der Ganglienzellen werden im 
Gegensatz zu den Kernen aller anderen Zellen, die 
gezeugt und geboren werden, aus den Kemsubstanzen 
anderer Zellen z-u sammeng eschmol zen, sie 
sind nicht Produkt einer Befruchtung, sondern 
Ergebniss der Addition verschieden grosser Zahlen 
von Kernen. Während nun die mitotisch entstandene 
Zelle einen bestimmten Character hat, da sich hier 
die Chromatinmassen in bestimmter gesetzmässiger 
Form gegeneinander lagern, so zeigt die durch Ad¬ 
dition von Kernen entstandene Nervenzelle, in der 
nur eine Vermischung der einzelnen Zellen mitein¬ 
ander stattgefunden hat, nichts von den Charakteren 
ihrer Coinponenten, sie ist charakterlos. Sind die 
Lebenswege der mitotisch entstandenen Zelle begrenzt, 
da sie untergeht, wenn sie aus ihrer Bahn geschleu¬ 
dert wird, so sind die Lebenswege c}cr charakterlosen 
Nervenzelle mannigfaltig. Die Nervenzelle zeigt be¬ 
deutende Widerstandsfähigkeit, wohin sie auch das 
Schicksal ruft Stirbt sie, so geht sie dauernd unter 
und dauernd entstehen durch Verschmelzung von 
Leukocythen Nervenzellen neu. 

G. Ilberg (Grossschweidnitz). 

— Die Thatsachen über den Alkohol. 
Dr. med. H. Hoppe. 2. verbesserte Auflage. Berlin. 
S. Calvary & Co. 5 M. 

H. bespricht zunächst den Alkoholconsum, dann 
das Wesen und die physiologischen Wirkungen des 
Alkohols, den Alkohol als Krankheitsursache, seine 
Beziehungen zu Morbidität und Mortalität, zu Geistes¬ 
störung und Verbrechen, seinen Einfluss auf Familien¬ 
leben und Wohlstand, den ursächlichen Zusammen¬ 
hang zwischen Alkohol und Entartung und zuletzt 
die Verbreitung der Trinksitten und der Trunksucht. 
63 Tabellen sind am Schlüsse angefügt. Es ist ganz 
unmöglich, bei der erstaunlichen Fülle des Stoffes 
und der überaus grossen Reichhaltigkeit des Buches, 
seinen Inhalt auch nur auszugsweise wiederzugeben 
oder auf Einzelheiten besonders hinzuweisen. Be¬ 
ständig hat H. die neuesten Erscheinungen auf dem 
Gebiete der Alkohollitteratur verfolgt und verwerthet. 
Vor Allem aber verdient hervorgehoben zu werden 
der Fleiss, der erforderlich war, um ein Buch zu 
schaffen, in dem eine so gründliche Darstellung ge¬ 
boten wird und das für jeden, der sich eingehender 
mit dem Studium der Alkoholfrage befassen will un¬ 
entbehrlich sein dürfte. Dass bereits 2 Jahre ’nach 
dem Erscheinen der ersten Auflage die zweite noth- 
wendig wurde, beweist, wie sehr das Hoppe’sche Buch 
Anerkennung und Verbreitung gefunden und dass es 
einem thatsächlichen Bedürfniss entsprochen hat. 

Braune (Schwetz a. V.) 


Für den rcdactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt l)r. J. Breslt-r, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

bcrausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ii. Edinger, 

Uchtspringe (Alimark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Quttetadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Ming&zzini, Dr. P. J, Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesiern. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

N 7 r 28 ~ 11. Oktober. 19 Ö 2 . 

Die Psychiatrisch-Neu ro 1 o gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermüssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Eine neue Methode experimenteller Physiognomik. Von Dr. Hallevvorrien in Königsberg (S. 309). — 
Dementia paralytiea bei einem Ehepaar. Von Dr. Hcrman Lundborg (Schluss) (S. 311). — Obermedicinalrath Dr. Ernst 
von Zeller. Nekrolog (S. 313). — Mittheilungen (S. 315). — Referate (S. 315). 


Eine neue Methode experimenteller Physiognomik. 

Von Dr. Hallervorden in Königsberg. 


i. Eigenbericht des Verfassers 
über den am 26. Mai 1 <902 in der Gesellschaft für 
wissenschaftl. Heilkunde in Königsberg gehaltenen 
Vortrag, abgedruckt aus der Deutschen med. Wochen¬ 
schrift IQ02, Nr. 31. 

usgehend einerseits von seiner Wahrnehmung, dass 
die beiden Gesichtshälften häufig mimisch in 
verschiedenem Sinne thätig zu sein scheinen, anderer¬ 
seits von der Auffassung, dass Physiognomik als 
Wissenschaft lediglich Kunsttheorie, ihrem Wesen 
nach aber Kunst sei, hat der Vortragende versucht, 
das physiognomische Kunstvermögen unter Beding¬ 
ungen leichterer Bewährung zu setzen. Es wurden 
Momentphotographicen von Gesichtern genau en face 
und mit Blick aufs Objectiv (also im Bild: auf den 
Beschauer) aufgenommen, ausser den gewöhnlichen 
Abzügen auch einige vom umgewendeten Negativ, 

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also Spiegelbilder, hergestellt und nach Längshalbirung 
der Bilder je eine rechte Gesichtshälfte mit ihrem 
Spiegelbilde und je eine linke Gesichtshälfte mit ihrem 
Spiegelbilde zu vollständigen, künstlichen Gesichtern 
ergänzt. Man erhält also ganze rechtsseitige und 
ganze linksseitige Gesichter, in welchen der störende 
Einfluss der nicht congruirenden Gesichtshälfte eliminirt 
und der früher schwache Eindruck von der einen 
Gesichtshälfte durch ihre Verdoppelung verdeutlicht 
ist. 

Nach diversen Aufnahmen von 18 Köpfen er- 
giebt sich, dass die Formverschiedenheiten und Ver¬ 
zerrungen (Karrikaturen), welche dabei vielfach ent¬ 
stehen und anfänglich den Beobachter verblüffen, 
für den sich schnell übenden Blick eine Nebenrolle 
spielen. Die beiden ergänzten Gesichter unterschei¬ 
den sich dann aber, von jenen Verzerrungen abge- 



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3 IO 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 



sehen, i. vom normalen Gesicht in jedem” Falle 
durch Ausdrucksarmuth, wie Gesichter von Defekt¬ 
menschen; 2. von einander in jedem Falle durch den 
Charakter der Ausdrucksreste. Und zwar ist der 
Charakter aller linksseitigen 
Gesichter von niederer Art 
alsdeijenige der rechtsseitigen. 

Die letzteren sind mehr apper- 
ceptiv oder thätig denkend 
oder lucide oder verständig 
wollend; die linksseitigen etwa 
perceptiv oder affectiv oder 
dunkeln, ungeformten Inhalts 
oder directionslos. Bei dem 
einzigen linkshändigen Men¬ 
schen geht der apperceptive 
Charakter des Ausdrucks auf 
die linke Gesichtshälfte über. 

Es besteht also eine Links- 
hirnigkeit wie für Sprache und 
Hand auch für die Mimik 
des Gesichts; — und wenn 
die Mimik des Gesichtes 
einen Ausdruck des seeli- 


einem einheitlichen und reichen Gesichtsausdruck 
vollziehen wir stets unbewusst und unwillkürlich durch 
unser physiognomisches Kunstvermögen in schöpfe¬ 
rischem Akt Die Untersuchungen werden unter steter 
und kritischer Vervollkomm¬ 
nung der Methode fortgesetzt 
und auf die verschiedenen Ge¬ 
biete der angewandten Psycho¬ 
logie und der Psychopathologie 
ausgedehnt 

2. Beschreibung photo- 
graphischer Einzel- 
h eiten zu i. 

Die Aufnahmen sind von 
Herrn Photographen Kauz in 
Königsberg mit einer SteinheiP- 
schen Atelierkamera, Gruppen¬ 
antiplanet 64 mm, ausgeführt. 
Die Köpfe haben im Bilde 
etwa die Grösse eines silber¬ 
nen Fünfmarkstückes. 

Die aufzunehmende Person 
sitzt in gerader Haltung gegen 
Licht, welches gleichmässig von 


Original. 



Links. Rechts. 

35 jähriger gesunder Arbeiter am Tage der Freisprechung nach langer Untersuchungshaft. 


sehen Lebens darstellt, so liest man vom links¬ 
seitigen Gesicht den Inhalt der Seele rechter Hemi¬ 
sphäre, vom rechtsseitigen den Inhalt der Seele linker 
Hemisphäre ab. Die Synthesis der beiden hetero¬ 
genen Ausdruckscomponenten links und rechts zu 


vom auf sie fällt. Seitliche Beleuchtung oder Beschattung 
ist streng zu vermeiden. Der Blick der Person wird 
womöglich auf den Mittelpunkt des Objektivs (oder 
wenigstens auf die vertikale Mittellinie desselben, 
z. B. bei kleinen Kindern auf ein Fixationsobjekt 


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Gov gle 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3ii 


1902.] 


dicht über dem Objektiv), also auf den Beschauer 
des Bildes gerichtet. Der schärferen Wiedergabe 
aller Details dient eine „kleine Mittelblende“ an der 
Linse. Als Platte ist nicht Glas, sondern Celluloid 
und zwar Film dünnster Qualität (Kodak) — be¬ 
hufs grösserer Deutlichkeit der von der Kehrseite zu 
nehmenden Kopien — etwa in der Grösse von 9 zu 12 
zu verwenden. Nach Einstellung der Mattscheibe in 
den Fokus wird die Filmplatte, zwischen 2 Glas¬ 
scheiben befestigt, eingebracht und um die Dicken¬ 
ausdehnung der vorderen Scheibe dem Objektiv ge¬ 
nähert, also ihrerseits in den Fokus eingestellt. Ex¬ 
positionsdauer mit Blende bis zu mehreren Sekunden. 
Zunächst wird nur eine Kopie gemacht, welche zur 
Gewinnung der Halbirungslinie auf der Platte dient. 
Eine gute Halbirung setzt reine Enfaceaufnahme 
voraus. Die bekannten Asymmetrieen im Bau des 
Gesichts machen dabei nur theoretische Schwierigkeit. 


Man geht am besten von der Augenstellung aus und 
ermittelt die geforderte Kopfhaltung in praxi bald 
mit ziemlicher Sicherheit, kann sie auch auf dem 
Bilde besonders an der symmetrischen Lage der 
Pupillen zu den innern Augenwinkeln controlliren. 
Als beste Theilungslinie des Bildes darf eine senk¬ 
recht auf der Mitte des Pupillenabstandes stehende 
Medianlinie gelten. Darum wird auf dem ersten Ab¬ 
züge von jeder Pupille aus je ein Kreis mit dem 
.Pupillenabstand als Radius beschrieben. Oberer und 
unterer Schnittpunkt beider Kreise markiren die Thei¬ 
lungslinie auf dem Probebild. Hiernach wird sie auf 
der Filmplatte als Kratzlinie ausgezogen. Jede fernere 
Kopie der Filmplatte, sei’s von der Bildseite, sei’s 
von der Kehrseite, zeigt nun die Theilungslinie als 
feine weise Naht und lässt sich darnach sauber hal- 
biren. 


Aus der Irrenanstalt zu Upsala. 

Dementia paralytica bei einem Ehepaar. 

Die Paralyse bei der Frau eine periodische Psychose komplicirend. 
Von Dr. Her man Lundborg. 

(Schluss.) 


Pat. ist orientirt. Sie ist sehr gedächtnissschwach, 
besonders für die Ereignisse späterer Zeit. Das w r eiss 
sie selbst. Bisw eilen kann sie nicht einmal den Namen 
des Pastors oder des Arztes in ihrer Heimath angeben. 
Nicht selten gebraucht sie andere Namen für den sie 
untersuchenden Arzt, trotzdem sie oft zeigt, dass sie 
seinen wirklichen Namen kennt. Solche Irrthümer merkt 
sie zuweilen, zuweilen auch nicht. Infolge ihrer Ge- 
dächtnissschwäche, die sich an verschiedenen Tagen 
verschieden enveist, fällt es ihr oft schwer, einen 
Gedanken auszudrücken. Dazu kommt, dass sie nicht 
selten vergisst, was sie hat sagen wollen. Diese ihre 
Unfähigkeit, einen Gedanken zu Ende zu denken und 
sich dessen zu erinnern, tritt noch deutlicher zu Tage, 
wenn sie einen Brief abfassen will. Sie machte kürz¬ 
lich einen Versuch. Trotz grosser Anstrengung werden 
es nur einige unvollständige Zeilen; hier und dort ist 
eine Silbe zweimal geschrieben. Pat. liest das Ge¬ 
schriebene durch, und merkt sie ein Theil der Fehler, 
so giebt sie den Versuch auf. 

Pat. kann ziemlich tadellos lesen, doch nicht zu 
lange Wörter. Sie kann nicht längere Wörter nach¬ 


sprechen, wie z. B. Artilleriebrigade, ohne sich zu ver¬ 
wickeln. 

Ihre Fähigkeit zu rechnen ist recht mangelhaft, 
nicht einmal einfache Additionen kann sie auf dem 
Papiere richtig ausführen, obgleich sie es selbst glaubt. 

Weder Sinnes- noch Gedankemvahn ist nachzu¬ 
weisen. 

In Bezug auf den Mann giebt sie an, dass er ihr 
in der Ehe untreu gewesen ist. Dies bereitete ihr 
anfangs viel Kummer, nun hat sie ihm indess verziehen. 
Von einer venerischen Krankheit weiss sie nichts, weder 
bei sich selbst noch bei ihm. 

Vom 27. 11. bis 4. 12. hatte Pat. nicht weniger als 
23 epileptiforme Anfälle. Eine Unruheperiode begann 
gleichzeitig mit den Anfällen. Pat. wurde geschwätzig, 
streitsüchtig, polternd und cynisch; sie musste isolirt 
werden. Sprache undeutlicher und verwischter, w r enn 
sie unruhig ist. Schlaf und Appetit schlecht. Unsauber. 
Zuweilen weinerlich, weint und klagt; bisweilen ist sie 
so schwierig, dass mehrere Wärterinnen kaum mit ihr 
fertig werden können. Sie schlägt und beisst, wenn 
sie ankommen kann. Pat. hat mehrere Abende Chloral 


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312 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 


per os oder im Klystir mit recht guter Wirkung be¬ 
kommen. An einigen Tagen ist sie ruhiger, an andern 
dagegen sehr unruhig. Im letzten Monat ziemlich 
ruhig und fleissig, während dieser Zeit keine Anfälle. 

Pat. hat einigermassen regelmässig Jodkalium (i 1 2 g 
täglich vom 28. 11.) genommen. 

Epikrise. 

Pat., welche erblich belastet ist, wurde schon zur 
Pubertätszeit für eine kürzere Zeit geisteskrank. Da¬ 
rauf hat sie fast alljährlich einen ähnlichen Anfall ge¬ 
habt. Hier handelt es sich also um eine periodische 
Psychose, eine manisch-depressive Geisteskrankheit 
nach Kraepelins System oder eine periodische Manie 
nach dem alten. Gewöhnlich gleicht auch bei diesen 
Kranken der eine Anfall dem andern vollständig. 
Aus dem Auszug des Hernösander Journales geht un¬ 
zweideutig hervor, dass zu ihren Anfällen Depression 
wie Exaltation gehört, da sie zuweilen weinerlich 
exaltirt erscheint. Ferner war sie an gewissen Tagen 
stumm und deprimirt, an anderen laut und lärmend 
und solche Wechsel konnten während desselben An¬ 
falles mehrfach beobachtet werden. Es befremdet, 
dass Pat. trotz ihrer häufigen Anfälle von Geisteskrank¬ 
heit verheirathet wurde. Der Mann scheint zu dem 
Zeitpunkt, als er die Ehe einging, frei von Syphilis 
gewesen zu sein, denn er hatte 4 Kinder mit der 
Frau, die noch leben. Später dagegen soll er der 
Frau untreu gewesen sein und hat da wahrscheinlich 
Lues bekommen und diese Krankheit dann auf seine 
Frau übertragen, welche im letzteren Abschnitt der 
Ehe nicht weniger als 5 Missfälle bekam. 

Im Alter von einigen 40 Jahren starb der Mann 
an Dementia paralvtica und Tabes dorsalis. 

Vor 2 1 2 Jahren begann die Krankheit der Pat. 
sich zu verändern, indem sich zahlreiche epileptiforme 
Anfälle in Verbindung mit einer ihrer gewöhnlichen 
Unruheperioden einstellten. Zufolge der Kenntniss 
ihrer Familienverhältnisse lind ihrer Vorgeschichte hätte 
man schon zu dieser Zeit den Verdacht hegen können, 
dass eine Paralyse im Anzuge war, denn es dürfte 
wohl eine höchst ungewöhnliche Erscheinung sein, 
dass epileptiforme Anfälle in einer periodischen Manie 
auftreten. Aus dem Status, den ich hier in der Up- 
salaer Irrenanstalt aufgenommen habe, geht ja mit 
aller Deutlichkeit hervor, dass bei dieser Kranken wirk¬ 
lich eine Paralyse vorliegt. Die eine Pupille ist kleiner 
als die andere und reagiert langsamer ; Pat. zeigt Zittern 
in den Händen und der Zunge und wird von zahl¬ 
reichen epileptiformen Anfällen heimgesucht: littcrale 
Ataxie wird bemerkt; ihre ganze Psyche bietet so 


viele charakteristische Zeichen von Paralyse: Besonders 
zu bemerken sind ihre Euphorie, Gedächtnissschwäche, 
welche zeitweise weniger, zeitweise mehr ausgesprochen 
ist, ihre Unfähigkeit, die allereinfachsten Additionen 
auf dem Papier auszuführen etc. Bei der Aufnahme 
in die Anstalt war Pat. recht ruhig. Die Krankheits¬ 
zeichen, welche dann hervortraten, waren wohl aus¬ 
schliesslich der Paralyse zuzuschreiben. Da keine 
hypochondrischen noch Grössenwahnvorstellungen bei 
ihr bemerkt worden sind, so ist anzunehmen, dass ihre 
Paralyse zu der beim Weibe gewöhnlichsten Form, 
der dementen gehört. Infolge des oben Angeführten 
glaube ich bestimmt behaupten zu können, dass in 
diesem Falle eine Combination von zwei verschiedenen 
Psychosen vorliegt. 

Da dergleichen Fälle recht ungewöhnlich sind, so 
will ich versuchen, denselben in bester Weise anzu¬ 
wenden, ich will nämlich danach streben, zu erforschen, 
in welcher Weise die Paralyse, welche während der 
letzteren Jahre hinzugestossen ist, auf das vorhergehende 
(Krankenbild) Krankheitsbild eingewirkt hat. Dann 
erst dürfte gesagt werden können, dass die ruhigen 
Zwischenzeiten bedeutend verkürzt worden würen und 
dass während derselben nur Zeichen einer Paralyse 
von dementer Art auftreten, die, obwohl nicht gerade 
schnell, progredicirt. 2 1 / 2 Jahr sind bereits vergangen, 
seit sich deutliche Symptome von dieser Krankheit 
zuerst zu zeigen begannen, und trotzdem ist die ganze 
Krankheit gegenwärtig noch nicht weiter vorgeschritten, 
als dass die Pat. arbeiten und sich einigermassen selbst 
bedienen kann. 

Die Unruheperioden sind länger geworden, zeigen 
aber sonst fast denselben Typus wie früher; indess ist 
sie jetzt erheblich cynisch und untermengt ihre exal- 
tirte Rede mit Flüchen, d. h. es leuchtet ein gewisser 
Grad von Demenz hindurch. Ausserdem tritt die 
litterale Ataxie recht scharf hervor. Auch trüben zahl¬ 
reiche epileptiforme Anfälle das Bild. 

Die Prognose für diese Kranke ist natürlich schlecht. 
Indess hat sie bereits längere Zeit gelebt, als den meisten 
paralytischen Pat., die an der dementen Form leiden, 
vergönnt ist. Nach Kraepelins Zusammenstellung über¬ 
stieg der Krankheitsverlauf für solche Pat. in 60 °/ 0 
nicht 2 Jahre; in 17 ,J / 0 trat der Tod bereits innerhalb 
eines halben Jahres ein; von den übrigen lebten nur 
wenige 4 — 5 Jahre. 

In der Litteratur sind verschiedene Fälle erwähnt, 
w'o eine Dementia paralvtica eine andere Psychose 
komplicirt hatte. Dennoch habe ich unter denen, die 
ich angetroffen habe, keinen mit dem von mir be¬ 
schriebenen analog gefunden, obgleich solche möglicher- 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


-weise Vorkommen. Bereits Calmeil*) beschreibt einen 
höchst eigentümlichen Fall, der grosses Interesse bietet, 
recht ausführlich. Später hat Hoestermann**) 3 Fälle 
beschrieben. Voisin***) hat mehrere zusammengestellt. 
Mendelf) berichtet in grösster Kürze über 2 Fälle, 
welche unter seinen 210 paralytischen Patienten vorge¬ 
kommen sind. Frey Svenson erwähnt 3 Fälle unter 
117 Paralysen aus der Stockholmer Irrenanstalt ft), 
Hoogberg fff) glaubt eine solche Combination in 100 
Fällen 6 mal gefunden zu haben. Mehrere der Hoog- 
berg’schen Fälle erscheinen mir indess höchst zweifel¬ 
haft, wie z. B. sein Fall Nr. 14, den er auf Seite 57 
folgen dermassen beschreibt: 

Ehemaliger Stabshauptmann, 43 Jahre, verheirathet, 
auf dem Lande wohnhaft. Wurde den 17. 4. 1877 
ins Lappviker Krankenhaus aufgenommen. Anam- 

*) Calmeil. De la paralysie considöree chez les altenes. 
Paris 1826, 

**> Hoestermann. Ueber secundäre progressive Paralyse. 
AI lg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 32, 1875. 

***) Voisin. Trait6 de la paralysie generale des aliends. 
Paris 1879. 

f) Mendel. Die prögr. Paralyse der Irren. Berlin 1880. 

ft) Frey Svenson. Beitrag zur Statistik der allg. progr. 
Paralyse. (Dementia paralytica.) Psych. Wochenschr. Nr. 14. 
1899. 

*}*‘S~j-) Hoogberg. Beitrag zur Kenntniss der Aetiologie der 
progressiven Paralyse. Helsingfors 1892. 


nese: Keine hereditäre Prädisposition. Im Mai 1875 
brach bei dem Patienten eine Psychose aus, und er 
war vom 22. 6. 1875 bis zum 8- 9- desselben Jahres 
mit der Diagnose Mania cum hallucination. visus et 
auditus ins Krankenhaus aufgenommen und wurde 
als gebessert entlassen. Nach seiner Entlassung war 
er ruhig, deprimirt und apathisch bis an fang des Jahres 
1877, wo wieder ein unruhiger Anfall kam. Status 
praesens und Verlauf: Maniakalisch, prahlend, 
Grössenwahnideen, abwechselnd unruhig und ruhig. 
12. 9. 1878 Apoplektiformer Anfall. Wackelnder Gang. 
Gedächtnissschwach, Sprache ungelenk. Paresis vesicae. 
Insensibel. Anfall von vorübergehender Taubheit. 
Pupillen dilatiert. Decubitus. Somnolent. Schwierig¬ 
keit zu schlingen. Tod den 15. 12. 1879. 

Nun ist es die Frage, ob man zu der Annahme 
berechtigt ist, dass der Anfall von Geisteskrankheit, 
der sich 1873 bei diesem Patienten zeigte, und von 
dem er sich nicht völlig erholte, denn er wurde nur 
als gebessert entlassen, eine primäre Psychose war, 
zu welcher später eine Paralyse hinzustiess, oder ob 
man nicht einfacher das ganze Krankheitsbild als einen 
Ausdruck für einen paralytischen Prozess von Anfang 
bis zu Ende, d. h. von 1875 — 79 erklären kann. 

Der Raum verbietet mir hier, mehr Fälle näher 
zu analvsiren. Indess hoffe ich bei einer andern Ge¬ 
legenheit auf die so interessante Frage betreffend 
kombinirte Psvchoscn zurückkommen zu dürfen. 


Obermedicinalrath Dr. Ernst von Zeller. 

Nekrolog. 

och ist kein Jahr vergangen, seitdem die Kgl. weise in Berlin oblag, im grossväterlichen Hause (Ver- 
Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal sich durch lagsbuchhändler G. Reimer) nicht nur innigen Fami- 
den Tod ihres Direktors verweist sah, und schon lienanschluss, sondern auch einen sehr anregenden 
wieder ist sie von tiefer Trauer erfüllt durch den Verkehr gefunden, dem er manche auch später noch 
Hingang eines Mannes, der zwar seit 2 Jahren nicht hochgehaltene Beziehungen verdankte. 1833 bestand 
mehr in ihrem aktiven Dienste stehend ihr doch bis er zu Tübingen die erste und im folgenden Jahre 
zu seinem Lebensende so innig verbunden geblieben die zweite medicinische Staatsprüfung mit sehr guten 
war, wie er es von Kindesbeinen auf gewesen ist. Noten besonders auch in den naturwissenschaftlichen 
— Der am 18. September d. }. ganz unverm thet Fächern, denen ei immer das regste Interesse und 
uns entrissene Obermedicinalrath Dr. Ernst von Zeller Verständniss entgegengebracht hatte. Seine praktische 
war am 2. December 1830 zu Stuttgart geboren. Thätigkeit hat er dem Beispiel des Vaters folgend 
Er hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet, alsbald in der Irrenheilkunde gesucht, zunächst 1854 
als sein Vater Dr. Albert Zeller zum Vorstande der in Siegburg unter der Leitung des Geheiinrath Dr. 

werdenden ersten Irrenheilanstalt Württembergs er- Jakobi, eines der hervorragendsten Vertreter seines 

nannt nach Winnenthal übersiedelte. Der Aelteste Faches. Die Leistungen in der dortigen Assistenten- 
in einem grösseren Geschwisterkreise hat er hier eine stelle verschafften ihm so vorzügliche Empfehlungen, 
fröhliche Jugend verlebt, auf die allerdings der 1847 dass ihm schon 1857 die selbstständige Leitung der 
erfolgte Tod der geliebten Mutter schon frühe düstere Irrcnabthcilung an der tlmrgauischen Kantonskranken- 
Schatten geworfen hat. Musste er schon zum Zweck anst.ilt zu Münsterlingen übertragen worden ist. Mit 

seiner Vorbildung das Elternhaus verlassen, so hat welch’ primitiven Einrichtungen er sich daselbst zu 

-er während seiner Universitätsstudien, denen er theil- behelfen hatte, wusste er mit köstlichem Humor zu 

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3 M 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 


schildern. Eine vorübergehende Unterbrechung hat 
seine Wirksamkeit in Münsterlingen erfahren durch 
die Mobilmachung des Jahres 1859, über deren 
Dauer er zum Oberarzt beim Festungsspital in Ulm 
■bestellt worden war. Endgültig hat er die dortige 
Stellung trotz nicht unbefriedigender Verhältnisse 1862 
verlassen, um in die bescheidene Rolle eines Assi- 
stenzarzts bei seinem Vater zurückzutreten, für die 
sich geeignete Bewerber nicht gefunden hatten. 

Diesem pietätvollen Entschlüsse ist er auch später 
trotz wiederholter ehrenvoller Berufungen zu selbst¬ 
ständigeren Stellungen treu geblieben, so dass der 
Vater in den Jahren abnehmender Kraft jeder Sorge 
um eine zuverlässige Unterstützung in seinem ver¬ 
antwortungsvollen Berufe überhoben blieb. Wohl 
fand dies äussere Anerkennung durch eine für seine 
Person ausnahmsweise bewilligte definitive Anstellung 
und die Verleihung des Medicinalrathstitels. Neben 
der dominirenden Persönlichkeit seines Vaters be¬ 
deutete sein Entschluss aber den vorläufigen Verzicht 
auf selbstständige Wirksamkeit im Berufe. Ohne unter 
einer solchen Entsagung zu leiden, hat er sich neben 
der treuen Unterstützung des Vaters in anstrengender 
Berufsarbeit sein besonderes Arbeitsfeld zu schaffen 
gewusst. In seinen spärlichen Musestunden hat er 
sich wieder zoologischen Forschungen zugewandt, auf 
die ihn unter Anderem schon seine Inauguraldisser¬ 
tation geführt hatte. Als gründlicher und gewissen¬ 
hafter Beobachter hat er auch auf diesem Gebiete 
einige der schwierigsten Probleme so erfolgreich auf¬ 
zuklären vermocht, dass die Leopoldinisch-Karolinische 
Akademie ihn zu ihrem Ehrenmitgliede ernannt hat. 

Den eigentlichen Berufsaufgaben wurde er durch 
diese Forschungen so wenig entzogen, dass ihm viel¬ 
mehr der hauptsächlichste Antheil zukam an einer 
von 1875 an planmässig eingeleiteten Reorganisation 
der baulichen Einrichtungen in Winnenthal, wozu ihn 
weitgehende technische Kenntnisse, sowie eine künst¬ 
lerische Begabung und Geschmacksrichtung besonders 
befähigten. Diese Aufgabe ist bald ganz in seine 
Hände übergegangen, als er nach dem 1877 erfolg¬ 
ten Tode seines Vaters dessen Nachfolge in der Lei¬ 
tung der Anstalt angetreten hat. 

Dieser Umbau der Anstalt war entsprechend den 
Fortschritten moderner Technik ein so durchgreifen¬ 
der und musste, um den Betrieb ungeschmälert auf¬ 
recht erhalten zu können, auf eine so lange Zeit ver¬ 
theilt w-erden, dass fast die ganze Wirksamkeit Zellers 
als Direktor unter seinem Zeichen gestanden hat. Er 
erfolgte nach dem von ihm entworfenen Programm 
freilich mit mancherlei Abänderungen und Zuthaten, 
wie sie die neuen Anforderungen an die Irren pflege 
und der stets wachsende Zudrang zur Anstalt mit 
sich gebracht haben. Als er in den Ruhestand ge¬ 
treten ist, w’ar dieses Programm in allen wesentlichen 
Punkten durchgeführt. Die Zahl der Plätze in der 
Anstalt war dabei nahezu verdoppelt, alle ihre Ab¬ 
theilungen waren wohnlicher und hygienisch zweck¬ 
mässiger geworden. In manchen Punkten hatten sie 
selbst eine Modernisirung erfahren, die nicht ganz 
nach seinem Sinn war. Er wollte sie nicht verhin¬ 
dern, da er nichts unversucht lassen wollte, woraus 


seinen Kranken etwa Vorth eil erwachsen konnte, auch 
wenn er selbst bei seiner vorsichtigen Beurtheilung 
aller Neuerungen von ihrer praktischen Bedeutung 
noch nicht völlig überzeugt war. Denn nicht vorge¬ 
fasste Meinungen und theoretische Speculationen lei¬ 
teten ihn bei seinem Thun und Lassen, sondern 
humane Bestrebungen, wie sie sich ihm aus gewissen¬ 
hafter Beobachtung und reicher Erfahrung ergaben. 
Hatte er nicht den Ehrgeiz mit Neuerungen anderen 
zuvorzukommen, so war ihm um so mehr daran ge¬ 
legen, das Loos seiner Kranken so erträglich als 
irgend möglich zu gestalten. Aller eitle Schein und 
alle leere Formen waren dabei seiner geraden und 
aufrichtigen Natur so zuwider, dass er sie als Hemm¬ 
nisse für fortschreitende Erkenntniss stets rückhalts¬ 
los verurtheilt hat. 

Mit solchen Gesinnungen war er keine Natur, die 
schon bei der ersten Begegnung für sich einnehmen 
musste. Sie konnte aber nicht verfehlen, zu ge¬ 
winnen, je länger man mit ihm verkehrte, je näher 
man ihn kennen lernte. Dann kam neben der Recht¬ 
lichkeit und Wahrhaftigkeit die herzliche und wohl¬ 
wollende Seite seines Wesens unverkennbar zum Vor¬ 
schein, der eine w r arme Gemüthlichkeit und fröhlicher 
Sinn sich beigesellten, wo er sich unter Gleichge¬ 
sinnten wusste. Ganz besonders sind die gewinnen¬ 
den Seiten seiner Persönlichkeit hervorgetreten im 
Verkehr mit seinen Kranken, von denen jeder Ein¬ 
zelne ihm ein Gegenstand reiflichen Nachdenkens 
und wohlmeinender Fürsorge war, die auch nicht 
abschloss mit dessen Austritt aus der Anstalt, sondern 
sich auch auf die späteren Schicksale der einstigen 
Pflegebefohlenen noch erstreckt hat. So war er ein 
Seelenarzt im vollsten Sinn des Wortes ähnlich seinem 
Vater, von dem dies in so ganz besonderem Maasse 
gerühmt wird, und doch nach mancher Richtung hin 
sehr verschieden von diesem. War jener in seine Lebens¬ 
aufgaben hereingewachsen zu einer Zeit, in der natur- 
philosophische Betrachtungen und Speculationen auch 
die Mcdicin beherrschten und in der die erst wer¬ 
dende Psychiatrie eines moralisirenden Zugs sich 
kaum zu erwehren vermochte, so fiel die Ausbildung 
des Sohnes schon ganz in die Epoche, in der die 
beobachtende Naturwissenschaft die einzige Grund¬ 
lage bilden sollte, für ärztliche Anschauungen und 
ärztliches Handeln. Die tief angelegte Natur Emst 
Zeller's hat sich aber nie durch Zeitströmungen allein 
beherrschen lassen; niemals sich verschlossen gegen 
Andersdenkende, so dass cs nicht erst der ihm eige¬ 
nen kindlichen Pietät und aufrichtigen Verehrung für 
den Vater bedurft hätte, um ihm ein harmonische* 
Zusammenwirken mit demselben durch 1 1 / 2 Jahr¬ 
zehnte zu ermöglichen. So mancherlei Verschieden¬ 
heiten die Krankenbehandlung bei Vater und Sohn 
im Einzelnen zeigen mochte, in den leitenden Ge¬ 
sichtspunkten, in dem Streben nach sorgfältiger Indi- 
vidualisirung und warmherziger Theilnahme für alle 
Leidenden war sie sich gleich geblieben: ein Geist 
hat bei Vater und Sohn durch 67 Jahre hindurch 
in der Anstalt geherrscht und dieser hat sich auch¬ 
übertragen auf alle, die mit unter Ernst Zeller im 
Krankendienste mitzuwirken berufen waren. Liebte 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


-er es nicht direct didaktisch seinen Assistenten gegen¬ 
über aufzutreten, so konnten seine Art und sein Bei¬ 
spiel um so weniger verfehlen, diesen tiefen Eindruck 
zu machen und sie zu aufrichtiger Verehrung gegen 
ihren Chef zu stimmen. 

So sehr ihm seine Anstalt und seine Kranken am 
Herzen lagen, so hat Ernst Zeller doch wenig Ver¬ 
kehr gesucht mit psychiatrischen Kreisen, wie er auch 
litterarisch auf dem Felde seiner Berufsthätigkeit 
nicht hervorgetreten ist Was ihm an Müsse blieb, 
wurde auf das Studium der Naturwissenschaften ver¬ 
wandt, mit denen er in allen ihren Zweigen wohlver¬ 
traut gewesen ist Alle seine gelegentlichen Wahr¬ 
nehmungen im Garten, auf Spaziergängen oder Reisen 
sind ihm sogleich auch zum Gegenstand eines gründ¬ 
licheren Studiums geworden, fast immer haben ihn 
Mikroskop und Präparirbesteck auch im Erholungs¬ 
urlaub begleitet So hat ein Zusammensein mit ihm 
auch draussen des Anregenden und Belehrenden 
immer unendlich viel geboten. 

Als besondere Forschungsgebiete hatte er das 
Leben von Süsswasserthieren und Parasiten, wie die 
Enthomologie sich erkoren. Auf ihnen bewegen sich 
auch die Studien, die er der Oeffentlichkeit übergeben 
hat Seine Inauguraldissertation über „Alveolarkolloid 
<ler Leber“ behandelt einen Fall von Echinococcus, 
dessen wahre Natur er selbst wohl erkannt hatte, die 
auch zu bekennen ihn aber Luschka abgehalten hat 
Besonderes Aufsehen haben seine ganz selbststän¬ 
digen „Untersuchungen über die Entwicklung des 
Diplozoon paradoxon“ erregt, denen er später einen 
Nachtrag über den Geschlechtsapparat dieses Thieres 
folgen Hess. Nicht weniger ausgezeichnet sind seine 
Studien über Polystomum, schmarotzende Opalinen, 
Tritonen und Urodelen u. a. m., auf die hier nicht 
weiter eingegangen werden kann. Sie sind theils in 
-der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, theils in 
den Jahresheften des württembergischen Vereins für 
vaterländische Naturkunde enthalten. 

Der eben genannte Verein hat ihn zu seinen eif¬ 
rigsten und geschätztesten Mitgliedern gezählt. Selten 
fehlte er bei seinen Jahresversammlungen, häufig hat 
er diese durch interessante Mittheilungen und Vor¬ 


M i t t h e i 

— Tagesordnung für die vierte Jahresver¬ 
sammlung des Vereins norddeutscher Irrenärzte am 
Montag den 13. October 1902 in Lübeck. 1. Zwang¬ 
loses Zusammensein der Theilnehmer am Sonntag, den 
12. October, abends 9 Uhr im Hotel Stadt Hamburg. 
2. Sitzung am Montag, den 13. October, vormittags 
9 Uhr im Festsaal der Irrenanstalt: a) Begrüssung. 

b) Wahl des Vorsitzenden und des Schriftführers. 

c) Bestimmung des Ortes der nächstjährigen Ver¬ 
sammlung. d) Vorträge. 3. Frühstück. 4. Besichtigung 
der Anstalt. 5. Gemeinsames Essen im Rathskeller, 
abends 6 Uhr. 


träge belebt und mit besonderem Eifer hat er dessen 
Sammlungen bereichert durch Zuwendungen von 
Funden und von Produkten seiner eigenen Züch- 
tungsversuche. Mit besonderer Vorliebe hat er auch 
zum geselligen Verkehr die Kreise aufgesucht, in 
denen er Interesse und Verständnis für Beobach¬ 
tungen und Forschungen aus dem Gebiet der Natur¬ 
wissenschaften gefunden hat. Hier wurde der meist 
stille und in sich gekehrte Mann lebendig und heiter, 
wie man ihn sonst wohl nur im engsten Kreise seiner 
Familie gesehen hat. 

Ein inniges Familienleben hat Zeller stets ge¬ 
nossen, zunächst im Vaterhause, wo die einzige 
Schwester an Stelle der früh verstorbenen Mutter 
waltend, dem Vater und den Brüdern ein Heim er¬ 
halten hatte, das ein Sammelpunkt der wachsenden 
Familie geblieben ist und wo er nach des Vaters 
Tode als Haupt verehrt wurde. 

Erst 1886 hat er in seiner Cousine Emma geb. 
Reimer auch eine Gattin nach seinem Herzen ge¬ 
funden. 

Im Verkehr mit ihr und dem einzigen Sohn hat 
er sich glücklich gefühlt, ohne wirklich zu altem trotz 
seiner Jahre. In voller geistiger Frische hat er auch 
im Ruhestande noch seinen zoologischen Forschungen 
gelebt, mit sicherer Hand seine Präparate gefertigt 
und nach diesen Zeichnungen, deren Feinheit von 
jeher die Bewunderung der Kenner erregt hat. Kör¬ 
perliche Beschwerden haben in den letzten Jahren 
wohl seine Beweglichkeit beeinträchtigt, nie ihn zum 
Klagen veranlasst. 

Nachdem er erst wenige Wochen vorher in dem 
geliebten Winnenthal noch einen Besuch gemacht 
hatte, allen seinen alten Freunden und Verehrern 
zur herzlichen Freude, hat ungeahnt ein Gehimschlag 
binnen wenigen Stunden seinem reichen Leben ein 
Ziel gesetzt. Was er während desselben gewirkt hat, 
werden weite Kreise in dankbarem Andenken be¬ 
wahren. Dem Dank der hiesigen Anstalt und der 
durch Emst Zeller in die Psychiatrie eingeleiteten 
Aerzte hat bei der Beerdigung am 20. September 
auf dem Pragfriedhof in Stuttgart der jetzige Anstalts¬ 
direktor durch Niederlegen eines Lorbeerkranzes am 
Grabe Ausdruck verliehen. 


1 u n g e n. 

Die Herren Collegen werden gebeten, etwaige 
Vorträge dem Unterzeichneten anmelden zu wollen. 
Lübeck. Wattenberg. 


Referate. 

— AllgemeineZeitschriftf. Psychiatrie 
und psych. ger. Med. Bd. 59, 1. 

Stier (Jena): Ueber Geisteskrankheiten 
im Heere. 

Verf. scheidet scharf zwischen Krankheiten der 
Berufssoldaten (Unterofficiere und Officiere) und denen 


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316 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 28; 


der Pflichtsoldaten. Nur bei den ersteren kommen 
die specifischen militärischen Einflüsse zum Ausdruck. 
Unter 84 Psychosen bei Officieren waren 50 °/ 0 Para¬ 
lysen, Lues war bei allen anzunehmen. Bei Berück¬ 
sichtigung aller Umstände ist die Ansicht von der 
abnorm grossen Häufigkeit der P. bei Officieren als 
noch nicht erwiesen anzusehen. Trauma und Alko¬ 
hol werden bei der Aetiologie überschätzt, Erblichkeit 
unterschätzt. 

Unter den Mannschaften, wo hauptsächlich der 
grosse Eindruck des Eintrittes in das Heer wirk¬ 
sam ist, überwiegen bei weitem die Fälle von Dementia 
praecox, dann kommen männliche Hysterie, Psychosen 
im Anschluss an Hitzschlag, Trauma etc. 

Die Zahl der Psychosen in der deutschen Armee 
betrug 1897/98 nur 268 (0,52 p. in.), war also äusserst 
geringfügig. 

Luther (Neustadt i. H.): ZurCasuistik der 
Geistesstörungen auf dem Boden des chro¬ 
nischen A1 k o h o 1 i s m u s. 

Von den Erscheinungsformen der Alkoholpsy¬ 
chosen werden nur 4 Krankheitsgruppen herausge- 
griffen und mit den Beschreibungen anderer Autoren, 
die theilweise andere Nomenclatur führen, verglichen. 
Es handelt sich um 

1. Formen im Anschluss an Delirium tremens (8 
Fälle), 2. Alkoholische Verwirrtheit (11 Fälle), 3. Hallu- 
cinatorischer Wahnsinn (18 Fälle), 4. Chron. alkohol. 
Grössenwahn (15 Fälle). Das Krankenmaterial stammt 
aus den Angehörigen der arbeitenden Klassen aus 
Vorpommern und Mittelpommern, die Alkohol in 
Form von Schnaps genossen. Irgend eine Erklärung, 
warum sich im einen Fall die, im andern Falle eine 
anders geartete Psychose entwickelte, war nicht zu 
finden. 

Würth (Hofheim): Ueber die Bettbehand¬ 
lung bei chron. Psychosen. 

In Hofheim wurden im April 1901 die Kranken 
der unruhigsten, bisher in Tages- und Schlafräumen 
untergebrachten Abtheilung, ganz unvermittelt, dauernd 
der Bettbehandlung unterzogen. Die ganz einwand¬ 
freie Beobachtung ergab eine zahlenmässig genau an¬ 
gegebene erhebliche Abnahme der Gewaltthätigen, 
der durch Kranke Verletzten, der Isolirungen und 
deijenigen, welche feste Kleidung, Schuhe u. dgl. er¬ 
hielten. Dagegen änderte sich nicht die Durchschnitts¬ 
zahl der Unreinen und Schmierer. 

Kaiser (Altscherbitz): Beiträge zur Diffe¬ 
rentialdiagnose der Hysterie und Kata¬ 
tonie. III. Hysterie mit katatonischen Stuporzu¬ 
ständen. 

Aus 3 ausführlich beschriebenen Fällen wird die 
Lehre gezogen, dass sowohl bei einer Hysterie kata¬ 
tonische Erscheinungen, als auch bei einer Katatonie 
psychogene Symptome auftreten und dadurch die Diag¬ 
nose zu einer schwierigen gestalten können. Aus¬ 
schlag gebend sind nicht einzelne Symptome, sondern 
der gesammte Krankheitsverlauf. 


Schäfer (Blankenhain S.-W.): Ueber das Ver¬ 
halten der Cerebrospi n al flüssigkei t bei 
Dementia paralytica und einigen anderen 
Formendes Sch wachsinns. 

Verfasser hat hauptsächlich in diagnostischer Ab¬ 
sicht Lumbalpunktionen bei Geisteskranken vorge¬ 
nommen und Menge, Druck, Aussehen, Eiweiss- und 
Zuckergehalt der Cerebrospinalflüssigkeit untersucht. 
Bei einem Epileptiker schwanden klonische Zuckungen 
und Benommenheit sehr bald, bei den verschieden¬ 
sten Schwachsinnsformen ergab sich fast durchweg 
eine abnorme Drucksteigerung. Bedingt war dieselbe 
bei Dementia paralytica durch Hydrops ex vacuo 
(Hirnschwund) und entzündlichen Hydrops (Menin¬ 
gitis), bei den übrigen Schwachsinnsformen (4 Fälle 
von Dementia post apoplexiam, 15 Idioten, 20 Im- 
becille, 32 Dementia epilept.) dagegen nur durch 
Hydrops ex vacuo (Hirnatrophie resp. Entwickelungs¬ 
hemmung). Während die übrigen Schwachsinnsformen 
eine Cerebrospinalflüssigkeit mit normalem Eiweissge¬ 
halt ergaben, war dieselbe bei Dementia paralytica, 
infolge der entzündlichen Vorgänge erhöht. 

van Brero (Buitenzorg, Java): Einige Be¬ 
merkungen über den Bau tropischer Irren¬ 
anstalten. 

Kurze Abhandlung, in der nur über 2 belang¬ 
reiche Faktoren beim Bau tropischer Anstalten be¬ 
richtet wird, und zwar 1. über die Höhenlage; unter 
Berücksichtigung der einschlagenden hygienischen und 
ökonomischen Verhältnisse erscheint eine Höhe zwischen 
150 — 500 in über d. M. als zweckmässig, 2. über 
die Aenderungen, welche die Bettbehandlung und die 
Wachsäle in der Anstaltseinrichtung gemacht haben ; 
seit Einführung der genannten Behandlungsmethoden 
an Stelle der früher gebräuchlichen Zellen, sind vor 
allem Bauten aus viel billigerem Material (Bambus 
statt Steine) möglich geworden. Als bequemste Ueber- 
wachungsanlage wird ein durch eine Tafel erläutertes 
Doppelrechteck für 28 — 32 Betten empfohlen. 

Kornfeld (Gleiwitz): A bl ehnu ng einer Ent¬ 
mündigung. Aus der Rechtssprechung der Ver¬ 
einigten Staaten von Nord-Amerika. 

Aus 3 ärztlichen Gutachten vom Jahre 1900 geht 
unzweifelhaft hervor, dass es sich im vorliegenden 
Fall, der in Nord-Amerika Aufsehen erregt hat, um 
Paranoia bei einer Frau handelte (systemat. Grössen-, 
Verfolgungs-, Vergiftungsideen), infolge deren Pat. mit 
allen Personen ihrer Umgebung in Conflikt gerieth, 
sich und ihr Hauswesen im schmutzigsten Zustand 
Hess und in endlosen Processen ihr Geld verschwen¬ 
dete. Auf Grund richterlicher Entscheidung wurde 
die Kranke zwar als excentrische Dame, aber nicht 
als geisteskrank bezeichnet und von der Vormund¬ 
schaft befreit. Dass auch bei uns unter der Herr¬ 
schaft des B. G. B. ein gleicher Ausgang des Pro- 
cesses meist zu erwarten sein würde, wird noch be¬ 
sonders betont. Arnemann. 


Für den redactioncllen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Iircsler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schirms der Inseraten an nah ine 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’schc Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Hallo a, S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

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Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine;). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

I)r. med et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Wiirzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesiern. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Tclrgr.-Adresse*: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 24p 

Nr. 29. 18 . Oktober. 1902. 

Die Psychiatrisch - Neurologische \V o c he n sc h r i f t erscheint j-den Sonnabend und kostet pro (Quartal 4 Mk.* 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 0252), sowie du- Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate weiden fiir die |spnltige Petitzeile- mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässtgung ein. 

Zuschriften fiir die Redaction sind an Obeiar/t Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten. 

Inhalt. Originale: lieber die Berechtigung der forensischen Psychiatrie. Von Dr. Weygandt, Privat-Docent in Wiirzburg 
(S. 317). — Mittheilungen (S. 322) 


Ueber die Berechtigung der forensischen Psychiatrie. 

Von Dr. U'evgandt, Privat-Docent in Würzburg. 


^ chutz des P11 b 1 i c u m s v o r d c n P s v - 
chiateni, betiteln sicli zwei Aufsätze dieser 
Zeitschrift, der eine in Nr. 7 von Dir. Pfaus - 
ler-Valduna, der andere in Nr. 10 von Primar¬ 
arzt Dr. S a 1 g o - Budapest. Der merkwürdige 
Titel kann von vorn herein eine Fülle von 

Associationen wecken, die ungefähre Vermuthungen 
des Inhalts betreffen. Denkt ein Autor etwa an die 
Smht mancher Fachgenossen, jede auffallende histo¬ 
rische Erscheinung sofort in die Kategorien eines 
psychiatrischen Lehrbuchs unterzubringen, wie z. B. 
Lombroso den Entdecker Columbus als Paranoiker 
kostüinirt hat? Oder an die Neigung, alle mög¬ 
lichen Erscheinungen unserer Litteratur auf ihre Zu¬ 
gehörigkeit zu einer der v. Kraflt-Ebing'schcn Gruppen 
der Psychopathia scxualis hin zu prüfen und bei¬ 
spielsweise, wie cs schon gesell ah, Göthes Gedieht 
„Lilis Park“ als ein Muster des Masochismus hinzu¬ 


stellen? Oder vielleicht an die voreilige Sucht, auf¬ 
sehenerregende öffentliche Erscheinungen, wie etwa 
die Fälscherfamilie der Humberts, vor jeder Unter- 
suchungsmöglichkeit schon psychiatrisch abzustempeln ? 

Es handelt sich in jenen zwei Aufsätzen um etwas 
Anderes, um praktischere Angelegenheiten, besonders um 
forensische Dinge. Auch hier läuft manche psy¬ 
chiatrische Ansicht und Stellungnahme mit unter, bei 
der das Publicum, oder besser gesägt, das öffentliche 
Wohl zu kurz kommen kann, so dass jener Hilfruf 
gerechtfertigt wäre. Vor allem wäre hier an die 
mancherorts bei Grcnzfällen vorkommende Verdreh¬ 
ung des § 51 Str. G. B. zu denken, indem gelegent¬ 
lich so geschlossen wird, dass man sagt: Der Rubri- 
kat ist zwar nicht geisteskrank im klinischen Sinne, aber 
doch, etwa durch seinen hysterischen Charakter, nicht 
in der Lage, seinen Willen wie ein Normaler zu be- 
thäligcn; die freie Willensbestimmung ist nicht völlig 


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318 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29. 


vorhanden, folglich ist sie ausgeschlossen. Auf diese 
Weise jeden Psychopathen völlig zu exkulpircn, 
widerspricht durchaus den Intentionen der Gesetzgeb¬ 
ung und hat seine schweren socialen Bedenken. Die 
Folge davon ist, dass viele Hysterische u. s. w. einen 
langjährigen Kreislauf durchleben können, der sie in 
Untersuchungshaft, in die Irrenanstalt zur Begutach¬ 
tung und bald darauf nach der Exkulpirung wieder, 
weil ein Grund zur dauernden Anstaltsbehandlung 
nicht vorliegt, in die Freiheit führt, wo sich dann aufs 
Neue Gelegenheit zur Gesetzesübertretung bietet. 

Wer hier die Fürsorge für den Kranken mit dem 
Sinn des Gesetzes und der Rücksicht auf das allge¬ 
meine Wohl vereinen will, hat im praktischen Fall 
den Richter darauf hinzuweisen, dass es sich um 
ein nicht vollwerthiges, wenn auch nicht um ein im 
klinischen Sinn geisteskrankes und den Voraussetz¬ 
ungen des § 51 ganz entsprechendes Individuum 
handelt, worauf es dann Sache des Richters ist, durch 
das Surrogat der Zubilligung mildernder Umstände 
oder auf andere Weise den geeigneten, relativ besten 
Ausweg zu finden. Im übrigen aber besteht für den¬ 
selben Begutachter . die Pflicht, statt durch eine zu 
weitgehende Empfehlung der völligen Exkulpirung, 
die dem Allgemeinwohl manchmal in das Gesicht 
schlägt und dazu die Psychiatrie nicht selten auf 
das Schwerste im Urtheil der Oeflentlichkeit discre- 
ditirt, vielmehr auch theoretisch für die Einführung 
des Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit 
cinzutreten. So dringend auch nach dieser Richtung 
hin der Kampf de lege ferenda ist, so kann der Sieg 
freilich nur dann erspriesslich sein, wenn gleichzeitig 
auch eine besondere Form der Fürsorge für die als 
in ihrer Zurechnungsfähigkeit vermindert erkannten 
Personen erstritten wird. 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäu¬ 
men, auch gegen die Angriffe Stellung zu nehmen, 
die E* Weyer*) in einer umfangreichen Besprechung 
meines „Atlas und Grundriss der Psychiatrie“ in dieser 
Frage gegen mich unternommen hat. Er sagt (S. 341): 
„Das höchste Erstaunen muss aber endlich der Satz 
W.’s erregen, dass nur während der Dämmerzustände, 
Delirien, Krampfattacken, Stupor- und Schlafzustände 
die Hysterischen den Voraussetzungen des § 51 ent¬ 
sprechen. Das heisst meines Erachtens, das Wesen 
der Hysterie völlig verkennen. 

Gilt denn die weitgehende Acnderung des Ge¬ 
fühls- und V01 Stellungslebens bei der hysterischen 
Geistesstörung gar nichts ?“ Fälle von „Hysteria 
gravis, hysterischer Paranoia, hysterischem Schwach- 

*) Centralblatt ftyr Nervenheilkunde und Psychiatrie. 
XXV. 1902. Mai, S. 373 ff. 


sinn“ u. dgl., wie sie hier und da diagnosticirt werden, 
schalte ich von vornherein aus, da ich sie in ihrer 
Mehrheit zur Gruppe der Dementia praecox rechnen 
muss. Dass ich eine völlige Exkulpirung aller Hyste¬ 
rischen für grundverkehrt und geradezu socialschäd¬ 
lich halte, habe ich oben ausgeführt. Aber deshalb 
alle Hysterischen, die ausserhalb der Attacken mit 
dem Gesetz in Conflict kommen, für völlig zurech¬ 
nungsfähig zu erklären, was nach Meyers Worten an¬ 
genommen werden könnte, ist mir nie und nimmer 
eingefallen, wie sich schon aus der kursorischen Lec- 
türe meiner Ausführungen ergeben muss. Ich habe 
nicht nur in dem Kapitel XIV über Hysterie (S. 257) 
darauf hingewiesen, dass der Richter mildernde Um¬ 
stände zu Geltung bringen kann, sondern in dem 
Kapitel XI, über die forensische Bedeutung der Geistes¬ 
krankheiten, gerade als Beispiel ausführlicher den Fall 
einer hysterischen Angeklagten gebracht, die vor ihren 
Delictcn nur hysterisches Temperament erkennen 
liess, aber erst mehrere Monate nach den Delicten 
Krämpfe, Dämmerzustände u. a. gezeigt hatte. Es 
heisst hierüber S. 156: „Das Gutachten sprach sich 
dahin aus, dass die Frau zeitlebens hysterisch sei, 
weshalb an sic nicht derselbe Maassstab wie an einen 
Vollgcsundcn angelegt werden könne. Während 
allerdings zur Zeit der hysterischen Däfnnterzustände 
und Anfälle die freie Willensbestimmung ausgeschlossen 
war, hat zur Zeit der Begehung der Handlung ein 
Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Stö¬ 
rung der Geistesthätigkeit, durch welche die freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen war, nicht existirt.“ 

Dass in praxi die Anwendung mildernder Um¬ 
stände oftmals nur eine kürzere Freiheitsstrafe und 
damit raschere Rückkehr zur Deliklsgclegenheit erzielt, 
verkenne ich nicht. So lang jene Lücke im Gesetz¬ 
buch wie in der Art der Vollstreckung und Fürsorge 
besteht, kommen wir um ein gewisses Laviren und 
einen Rest von Unausgeglichenheit des Verfahrens 
nicht herum, am wenigsten durch eine zuweitgehende 
Anwendung des § 51. 

Es sei mir gestattet, auch noch gegen die Vor¬ 
würfe zu opponiren, die E. Meyer am gleichen Ort 
vorbringt hinsichtlich meiner Anwendung der Aus¬ 
drücke „Täuschung“ und „Simulation“ auf Hysterische. 
Es geht meines Erachtens mit nicht misszuverstehen¬ 
der Deutlichkeit aus meiner ganzen Darstellung her¬ 
vor, dass ich hier bei Täuschung und Simulation die 
pathologische, hysterische Grundlage überall aner¬ 
kenne. Der Absatz über die gerichtliche Beurtheilung 
der Hysterischen (S. 256) beginnt mit den Worten: 
„Forensisch ist das Vorkommen von Simulation auf 
krankhafter, hysterischer Basis zu beachten“. Von 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 319 


einer pathologischen Simulation und Täuschung zu 
reden, ist ebenso gerechtfertigt, wie etwa die längst 
eingebürgerte Bezeichnung der „pathologischen Lüge“. 
In diesem Zusammenhang ist doch bei den Begriffen 
Täuschung und Simulation eine mala fides, auf die 
offenbar E. Meyer hinzielt, ebensowenig einge¬ 
schlossen, wie etwa in der von dem allgemeinen 
Sprachgebrauch durchaus gedeckten Redewendung „er 
hat sich getäuscht“. Bekanntlich wurde von mancher 
Seite auch der Ausdruck „geisteskranke Verbrecher“ 
und „verbrecherische Geisteskranke“ bemängelt, da 
nach § 51 die That eines Geisteskranken keine straf¬ 
bare Handlung, kein Verbrechen sei und somit der 
Geisteskranke überhaupt kein Verbrechen begehen 
könne; über diese Silbenstecherei ist der forensische 
Sprachgebrauch mit Recht zur Tagesordnung über¬ 
gegangen. 

Nach diesen Exkursen komme ich auf die beiden 
Aufsätze dieser Zeitschrift zurück. Von all den bis¬ 
herigen Erörterungen über den Schutz des Publicums 
vor den Psychiatern haben die 2 Autoren keine im 
Auge gehabt; sie zielten auf etwas anderes. 

Director Pfausler hatte in seinem Aufsatz (S. 80) 
einen Erlass des österreichischen Justizministeriums 
vom Februar 1902 besprochen, wonach bei Begut¬ 
achtung von in Anstalten befindlichen Geisteskranken 
die Beiziehung der ordinirenden Anstaltsärzte zu ver¬ 
meiden sei. Die daraus erwachsenden Missstände 
waren durch einen Fall illustrirt worden. Lebhaft 
machte der Aufsatz Front gegen das durch den Er¬ 
lass den Anstaltsärzten ausgestellte Misstrauensvotum 
und gegen die unberechtigte Ansicht, als sei auf diese 
Weise ein „Schutz des Publicums vor den Psychiatern“ 
zu erstreben. 

In dem 2. Aufsatz (S. 190) erhebt Dr. Saig/» 
Opposition gegenüber den Ausführungen Pfauslers. 
Er giebt zu, dass das Urtheil auch fachmännisch vor¬ 
gebildeter Gerichtsärzte doch nicht so zutreffend sein 
kann wie das der Anstaltsärzte; trotzdem gelangt 
er zu entgegengesetztem Schluss wie Pfausler. Er 
betont den schwerwiegenden Eingriff, den eine Ent¬ 
mündigung darstellt, und die daraus resultirende Noth- 
wendigkeit weitgehender Cautelen bei dem Verfahren. 
Ferner verweist er darauf, dass sich auch ein Anstalts¬ 
arzt optima fide irren kann. Daraufhin schliesst er: 
„Wenn dem so ist, hat man wohl Grund zu sagen, 
dass das Gutachten des Anstaltsdirectors zur Verhängung 
des Curatel, d. h. zur Vernichtung einer Individua¬ 
lität ganz ungenügend sein muss.“ 

Um diese Vergewaltigung der Logik vollkommen 
zu verstehen, sei der Leser daran erinnert, dass in 


Oesterreich wie in Deutschland das Gutachten des 
Sachverständigen keineswegs ausschlaggebend und 
bindend für den Richter ist, sondern dass erst ein 
gerichtlicher Beschluss, der nach freier Würdigung 
des Gutachtens erfolgt, die Entmündigung wirklich 
ausspricht. Ja, genau gesagt, die Cautelen sind in 
Oesterreich noch strenger als in Deutschland, insofern 
dort zur Curatelverhängung, wie übrigens auch in 
kriminellen Fällen bei der Frage der Zurechnungs¬ 
fähigkeit, stets die Untersuchung und Begutachtung 
durch zwei Aerzte vorgeschrieben ist. Uebrigens 
giebt es ja auch Berufung, sowie Rehabilitation. 

Was aber fernerhin zum Widerspruch herausfor¬ 
dert und mich in erster Linie zu meiner Aeusserung 
veranlasst hat, sind die verallgemeinernden Folgerungen, 
die Salgo aus seiner Stellungnahme zieht. 

Er begreift nicht, „wie und warum diese Frage 
eine psychiatrische werden konnte.“ Zunächst sei be¬ 
tont , dass die Frage der Zwangsintemirung und die 
der Entmündigung eines Geisteskranken keineswegs 
so unlösbar verknüpft sind, wie es nach Salgos Aus¬ 
führungen scheint. Weiter wird gesagt, es könne dem 
Irrenarzt gleichgültig sein, wie sich der Jurist mit der 
Entmündigung abfindet; wäre gesetzlich zur Entmün¬ 
digung allein die richterliche Ueberzeugung erforder¬ 
lich, so hätte der Irrenarzt auch dem gegenüber kein 
Recht sich aufzulehnen. Der Psychiater diene seinen 
Kranken vollauf, w’enn er ihre Heilung oder Wartung 
besorge, die Erledigung der an die Geistesstörungen 
geknüpften rechtlichen Fragen sei anderen Kreisen 
zu überlassen. Bedauerlich sei es, dass man über¬ 
haupt von einer „forensischen Psychiatrie“ spreche. 

Hier ist nun aber doch auf das Entschiedenste 
Einspruch zu erheben, auch ohne dass man an das 
von Salgo citirte Selbstgefühl oder die Empfindlich¬ 
keit des Irrenarztes zu appellieren braucht. 

I. Es ist nicht richtig, dass sich die Psychiatrie 
allein eine forensische Nebendisciplin geschaffen hat. 
Die gerichtliche Medicin macht Anleihe bei einer 
Reihe medicinischer Disciplinen, bei der pathologischen 
Anatomie, Chirurgie, Geburtshilfe, Pharmakologie u. s. w. 
Es ist zugegeben, dass das Wichtigste, was der Ge- 
richtsarzt aus diesen Disciplinen wissen muss, ihm 
schon im allgemeinen inedicinischcn Studium geboten 
wird. Keineswegs aber jedes und alles. Die Fragen 
der Leichenschau, des Selbstmords, der Kindesabtreib¬ 
ung u. s. w. werden zum Theil gar nicht, zum Theil 
nur ganz kursorisch von jenen Disciplinen behandelt, 
so dass der Unterricht in der gerichtlichen Medicin 
auch hier noch eine Reihe ganz specieller Aufgaben 
zu erledigen hat, weshalb sehr wohl von einer foren- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20. 


sischen Seite der pathologischen Anatomie u. s. w. 
gesprochen werden kann. 

In ganz analoger Weise hat sich in Deutschland 
seit der Unfallgesetzgebung als wohlberechtigte Dis- 
ciplin die Unfallheilkunde eingebürgert, obwohl die 
rein medicinischen Vorkenntnisse dieses Fachs schon 
beim Studium der Chirurgie, Neurologie u. s. w. er¬ 
worben werden. 

2. Während nur ein geringer Procentsatz der Sek¬ 
tionen oder der Aborte u. s. w. die rechtliche Sphäre 
berührt, ist fast jeder psychiatrische Fall mit recht¬ 
lichen Fragen verknüpft, so dass sich hier eine Zu¬ 
sammenfassung der einschlägigen Fragen zu einer be¬ 
sonderen Disciplin viel eher erklärt als in der patho¬ 
logischen Anatomie, der Geburtshilfe u. s. w. Civil- 
rechtliche Fragen werden ja überhaupt fast nur an 
den Psychiater gerichtet. 

3. Besonders zu betonen ist, dass die den patho¬ 
logischen Anatomen, Chirurgen u. s. w. gestellten 
gerichtlichen Fragen sich doch in einem wesentlichen 
Punkt von den dem Psychiater vor Gericht vorge- 
legten Fragen entscheiden. Der pathologische Ana¬ 
tom, der Geburtshelfer u. s. w. liefert mit seiner Un¬ 
tersuchung und Aussage vor Gericht nur Beiträge 
zum Thatbestand, so gut wie etwa ein Bücherrevisor, 
der in einem Fall von betrügerischem Bankerott als 
Sachverständiger herangezogen wird. Das jedoch, 
was der Psychopathologe in kriminellen Angelegen¬ 
heiten zu eruiren hat, betrifft die Stellung des Sub¬ 
jekts,. die Kernfrage des gerichtlichen Verfahrens, die 
Schuldfrage, mag auch die letzte Entscheidung dem 
Richter überlassen bleiben. 

Seitdem die Psychiatrie im Laufe des XIX. Jahr¬ 
hunderts überhaupt zur Entwicklung gekommen ist, 
haben es die Irrenärzte als eine ihrer Hauptaufgaben 
angesehen, ihre Kranken nicht nur von den Ketten 
und Kerkermauern der alten Anstalt zu befreien, 
sondern sie auch vor den Maassregcln des Straf¬ 
richters und dem Makel der Schuld zu bewahren. 
Noch vor 70 Jahren hatten die Aerzte ihre Compc- 
tenz auf diesem Gebiet vielfach zu vertheidigen. Alle 
Verbesserungen nun, die in der Behandlung wie auch 
in der gerichtlichen Beurtheilung des Irrsinns erzielt 
wurden, sind der Initiative der Irrenärzte zu verdanken. 
In leider recht zahlreichen Fällen beschränken sich 
die Dienste, die der Irrenarzt seinen Kranken über¬ 
haupt zu erweisen vermag, ja grade auf die forensi¬ 
sche Unterstützung, während von einer Heilung oder 
Besserung der Krankheit selbst nicht die Rede sein 
kann. 

Die Behandlung der verwickelten Fragen, die dem 


Irrenarzt von juristischer Seite gestellt werden, er¬ 
fordert eine gewisse Schulung, weshalb die üblichen 
Vorlesungen und Cur.sc über gerichtliche Psychiatrie 
dringend erforderlich sind. Dass die Zurechnungs¬ 
fähigkeit oder freie Willensentschliessung einer medi¬ 
zinischen Methode nicht zugänglich ist, kann kein 
Grund sein, ein ärztliches Urtheii darüber abzulehnen. 
Auch die ärztliche Prognose einer Geisteskrankheit 
ist nicht durch Methoden festzustcllen, sondern sie 
stellt eine Sache klinischer Erfahrung dar. 

Dass die Vorurtheile gegenüber der Psychiatrie 
von einer Verquickung der ärztlichen Wissenschaft 
mit juristischen Begriffen herrühre, ist unzutreffend. 
Diese Vorurtheile beruhen vielmehr einmal auf der 
Furcht und dem Widerwillen vor dem Irrsinn selbst, 
was sich dann auf den Irrenarzt überträgt, ferner auf 
der Furcht vor vermeintlichen Ucbergriffen der Irren¬ 
behandlung in Gestalt von Freiheitsberaubung und 
Misshandlung, und schliesslich auch auf manchen 
Uebertreibungen mit der Exkulpirung in der Weise, 
wie ich oben solche angedeutet habe, oder durch un¬ 
gerechtfertigte Versuche, Begriffe der Kriminalpsycho¬ 
logie, etwa des Delinquente nato, verfrüht auf die lex 
lata anzuwenden. 

Gegen diese Vorurtheile lässt sich nun keineswegs 
dadurch ankämpfen, dass die Irrenärzte die Hände 
in den Schoss legen und sich vor jeder Berührung 
mit juristischen Fragen zurückziehen. Die Juristen 
selbst würden ja wohl bald genug ihr Veto einlegen. Die 
ursprünglich von Mendel*) vertretene Ansicht, wonach 
der Irrenarzt sich nur über die erste Hälfte des £ 
51 im deutschen Str. G. B. auszusprechen habe und 
jede Aeusserung über „Willensfreiheit“ ablehncn müsse, 
verliert übrigens doch immermehr Anhänger zu Gunsten 
der Anschauung von Jollv, dass der Arzt als Berather 
des Richters zum Sachverständigen berufen wird und 
dadurch moralisch verpflichtet ist, mit allen Mitteln 
zur Urtheilsbildung mitzuwirken, mithin auch die 
Frage nach der freien Willcnsbeslimmimg zu beant¬ 
worten. Hatte die resignirtc Mendel sclie Auffassung 
des $ 51 noch eine, wenn auch wenig kräftige Stütze 
in den Motiven des die eine Zweitheilung der Be¬ 
stimmung desselben in freilich recht unklarer Weise 
betonten, so kann auf zivilrechtlichem Gebiet von einer 
Beschränkung des Gutachtens auf eine klinische Aus¬ 
sage keine Rede sein. Dass eine rein klinische Auf¬ 
fassung der Begriffe „Geisteskrankheit“ und „Geistes¬ 
schwäche“ im § () des B. G. B. völlig fehl ginge, ist 
so gut wie allgemein zugestanden. 

*) Der ärztliche Sachverständige und der Ausschluss der 
freien Willensbestimmung des § 51 St. G. B. Vierteljahrsschrift 
f. gerichtliche Medizin, 44, S. 116. 


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I0O2.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 321 


Ein Verzicht auf forensisch - psychiatrische Bc- 
thätigung, wie er durch Salgos Aufsatz empfohlen 
wird, ist nicht nur direct abzuweisen, sondern im 
Gegentheil sollten die Psychiater ihre Anschauung 
noch weit eindringlicher zur Geltung bringen, als es 
bisher geschah. Volle Beistimmung verdient Aschaffen- 
burgs*) Ausspruch: „Auf diesem Gebiet müssen die 
Irrenarzte die Führung zu erlangen suchen und in 
grossen Zügen die Grundlage feststellen, auf denen 
der Strafrechtsichrer seine Gesetze aufbauen kann.“ 
Mag man eine derartige Stellungnahme immerhin „ein 
Aunebnen gegen das Gesetz“ nennen. Jedes Gesetz 
ist eine zeitliche Einrichtung und bedarf der Weiter¬ 
entwicklung, die am besten von denen, die es angeht 
und die Sachkenner sind, angeregt wird. Die es an¬ 
geht, sind in unserem Fall zunächst die Kranken, ihre 
Sachwalter und Sachverständige sollten die Irrenärzte 
sein. Freilich ist immer streng zu unterscheiden, wie 
sich 1. der Psyc hiater als Gutachter in dem einzelnen 
Fall verhalten soll, wo er sich streng an die bestehenden 
Gesetzesformeln zu binden hat und höchstens, wie in 
dem angeführten Beispiel der Begutachtung einer Hyste¬ 
rischen, auf die Punkte Hinweisen darf, die nach dem 
bestehenden Recht eine glatte Erledigung erschweren, 
und dann 2., wie sich im übrigen der Psychiater de 
lege ferenda zu stellen hat. 

Von einem „Schutz des Publicums vor den Psy¬ 
chiatern“ kann man wohl reden in dem Sinne, wie 
ich cs in der Einleitung angedeutet habe. Es sind 
Warnungen in verwandtem Sinne von irrenärztlicher 
Seite schon öfter erhoben worden. Manchmal freilich 
sind Erörterungen über Verantwortlichkeit, Kunstfehler, 
Berufsgeheimniss auch schon mit solcher Schärfe vor¬ 
getragen worden, dass man eher einen Staatsanwalt, 
als einen Irrenarzt zu hören glaubte. 

In der Stellung gegenüber forensischen Fragen 
haben wir jedoch im Interesse unserer Kranken selbst 
keinen Schritt zurückzuweichen. Die angedeutete 
Fortentwicklung der gerichtlichen Psychiatric berührt 
die heutige Praxis noch nicht direct. Dass dabei 
Uebertreibungen zu vermeiden sind, wie sie etwa das 
oft Kritik- und methodcnluse Vorgehen Lombrosos 
zeitigte, ist selbstverständlich. In welchem Sinne die 
Fortentwicklung am gedeihlichsten geschehen kann, 
darüber brauche ich nur auf den Vortrag von Dir. 
Frau k-Mtinsteilingen **J zu verweisen. Vor allem die 
Ausbildung der Aerzte und Juristen ist es, bei der 

*) Hoclies Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. Berlin 
1901. S. 4. 

**) Strafrechtspflege und Psychiatrie, Psychiatrische Wochen¬ 
schrift III, 1901, No. 37, S. 359. 


zuerst der Hebel angesetzt werden muss. „Es 
sollten hierzu,“ sagt Frank u. a., „die Anstalts- 
directoren, besonders natürlich die Universitäts¬ 
professoren besondere practische Curse ertheilen, wie 
das durch Professor Kräpelin in Heidelberg und von 
Speyr in Bern schon geschieht.“ 

Bemerken möchte ich hier, dass in mehreren 
Zeitschriften bei der Besprechung dieses Vortrags der 
Referent hinter die beiden Universitätsnamen in Paren¬ 
these eingefügt hat: „und an den meisten deutschen 
Kliniken!“ Diese Referentenbemerkung ist durchaus 
unzutreffend. Was bisher an den meisten deutschen 
Kliniken in forensischer Hinsicht geboten wird, sind 
einmal rein theoretische Vorlesungen über gerichtliche 
Psychiatric, allenfalls auch Vorlesungen über criminelle 
Anthropologie und Psychologie, und dann Curse, in 
denen wohl forensische Fälle vorgestellt und vom 
Docenten besprochen werden, w'omit aber keineswegs 
das erreicht ist, was Frank im Auge hat. Es sind 
vielmehr in dem Vortrag Curse gemeint, an denen 
Studenten der Medicin und solche der Jurisprudenz aktiv 
theilnehmen; vor jeder Stunde haben sich ein Jurist 
und ein Medicin er die Acten oder ein Actenexzerpt, 
sowie den Rubrikaten anzusehen; im Curs trägt dann der 
Jurist den Thatbestand vor und formuliert die an 
den Sachverständigen zu stellenden Fragen, der Medi- 
ciner versucht sich darauf in einer psychiatrischen 
Beurtheilung des Falls und Formulirung des Gut¬ 
achtens. Darauf greift der Docent ein, der Rubrikat 
wird eingehend demonstrirt und die Corona betheiligt 
sich durch Fragen, ev. Einwände u. s. w. an der 
Klarlegung des Falls. Diese ausgezeichnete didaktische 
Methode ist keineswegs an vielen Kliniken im Ge¬ 
brauch. Noch wirksamer könnte dGr Unterricht sein, 
wenn auch ein kriminalistischer Docent sich an den 
Cursen beth eiligen würde, wie es meines Wissens in 
Prag versucht worden ist. 

Freilich ist die Psychiatric noch eine w r enig fort¬ 
geschrittene Disciplin. Durch Resignation wird sie 
aber nicht besser; viel eher kann das Interesse für 
die psychiatrische Forschung gew r eckt werden durch 
den Hinweis auf die eminenten Aufgaben, die eine 
entwickeltere Stufe unseres Fachs zu lösen oder doch 
wenigstens zu bearbeiten im Stande w r äre. Vorläufig 
sind es nur wolkenferne Zukunftsbilder, die Möbius*) 
in einem anregungsreichen Aufsatz entwarft: „Will 
aber der Psychiater diese Aufgabe recht erfüllen, so 
darf kein Gebiet geistigen Lebens ihm fremd sein, 
er muss überall zu Haus sein, um die Bedingungen 
geistiger Gesundheit zu kennen, wie der Hygieniker 

*) Psychiatrie und Litteraturgeschichte, in Stachyologic, 
Leipzig 1901, S. 54 u. in dieser Wochenschr. I, S. 18. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29. 


322 

die verschiedenen Gewerbe, Fabrikbetriebe u. s. w. 
kennen muss als die Bedingungen körperlicher Ge¬ 
sundheit. Fasst man die Psychiatrie so auf, so wird 
sie aus einer Magd zu einer Herrscherin. Dann aber 
wird sie das, was sie ihrer Natur nach sein soll. 
Der Psychiater wird ein Richter in allen menschlichen 
Dingen, ein Lehrer des Juristen und des Theologen, 
ein Führer des Historikers und des Schriftstellers“. 

Es ist wohl noch nicht vergessen,, wie vor 2 Jah¬ 
ren auf der Versammlung des Vereins deutscher 
Irrenärzte zu Halle, anlässlich der Debatte zu Wollen¬ 
bergs Referat, die Psychiater mehrfach den Zeitpunkt für 
wenig opportun bezeichneten, mit neuen Vorschlägen 
an die Juristen heranzutreten, bis ein anwesender 
Criminalist, Liepmann, darauf aufmerksam machte, dass 
man auf juristischer Seite vielfach darauf warte, ob 
nicht die Psychiater die Initiative ergreifen würden; 
die damals in Aussicht genommene Enquete betreffs 
eines der actuellsten Probleme, wie die Häufigkeit 
der Fälle, in denen die verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit psychiatrisch angebracht erscheint, ist freilich 
rasch in Vergessenheit gesunken. Es bleibt jedem, 


dem die Fortentwicklung des Fachs am Herzen liegt, 
nichts anderes übrig, als immer von neuem seiner 
Ueberzeugung von der Berechtigung und Dringlich¬ 
keit der nächsten Aufgaben Ausdruck zu geben. 
Gerade solchen resignirten Acusserungen gegenüber, 
wie sie Salgo laut werden Hess, erscheint die dringende 
Mahnung an die Fachgenossen angebracht: tua res 
agitur!*) 

*) Während der Drucklegung dieses Aufsatzes erschien am 
7. 10. die allgemeine VeifÜgung des preussischcn Justizmini¬ 
steriums, wonach als Sachverständige bei Entmündigungssachen 
regelmässig der Gerichtsarzt, erforderlichen Falls sein Assistent 
zugezogen werden sollen, andre Personen nur dann, wenn be¬ 
sondere Umstäude es erfordern, gegenüber der Verfügung vom 
28. 11. 1899, die als Sachverständige in erster Linie solche 
Personen bestimmt, die auf dem Gebiet der Irrenheilkunde be¬ 
sondere Erfahrung besitzen. Auch jener Neuerung gegenüber, 
die sowohl für die Kranken, wie auch für die Psychiater ihre 
bedenklichen Seiten hat, gelten die Ausführungen Dir. Pfauslers, 
sowie meines obigen Aufsatzes. Es wäre dringend angebracht, 
wenn die verschiedenen psychiatrischen Versammlungen, die 
demnächst in Dresden, Stuttgart u. s. w. tagen, sofort in 
Resolutionen gegen die Verfügung vom 7. 10. Stellung nehmen 
würden. 


-ww- 


M i t t h e i 

— Programm der am 26.—27. Oktober in 
Budapest stattfindenden II. Landesconferenz 
der Irrenärzte Ungarns. 

25. Oktober. 

Begrüssungsabend (Hotel „Istvan Jöhcrczeg“ V. 
Akademia u.) 

26. Oktober. 

Vormittag. I. Constituirung. 2. Sekretärsbericht. 
3. Referate: a) ,.Die Grundprincipien des Irrenge¬ 
setzes“, Ref. v. Schwartzer. b) „Die neueren Grund¬ 
sätze der Irrenbehandlung“, Ref. Lechner und von 
O 1 a h. 

Nachmittag. Referate: „Die Unterbringung ver¬ 
brecherischer Geisteskranker.“, Ref. Moravsik. b) „Der 
Rechtschutz der Geisteskranken“, Ref. Konrad und 
Markus, c) „Alkoholismus“. Ref. Stein und von 
Reusz. 

27. Oktober. 

Vormittag. 1. Referat: „Die sexuellen Perversitäten 
vom psychiatrischen und strafrechtlichen Gesichts¬ 
punkte“, Ref. Salgo und Baum garten. 

2. Vorträge: Schaffer: „Weitere Beiträge zur 
Rindentopographic der Paralyse.“ v. Sarbo: „Die 
Bedeutung des Achillessehnenreflexes bei der progr. 
Paralyse.“ Donath: „Durch Spiritismus hervorge¬ 
rufene Fälle von Hvsteroepilepsie.“ B a 1 i n t: „Die 
diätetische Behandlung der Epilepsie“. 

Nachmittag. 1. Vorträge: Kentle: „Ueberdie Für¬ 
sorge der Schwachsinnigen und Idioten in den Staaten 


1 u n g e n. 

Europas“. Hajos: „Ueber die wissenschaftliche Er¬ 
kennung des normalen psychischen Lebens“. Decsi: 
„Ueber die Pflegerfrage“. Hollos: „Beiträge zur 
Paralyse in Ungarn“. Frey: „Histologische Präpa¬ 
rate eines Falles von Idiotismus“. 2. Eventuelle An- 
träge. 3. Sekretärs-Bericht. 4. Schlussrede. 

28. Oktober. 

1. Besichtigung des elektromagnetischen Instituts 
(Varosligeh Jasor 13.) 2. Ausflug nach Pomaz behufs 

Besichtigung der Dr. Martin’schen Heilanstalt. 

Die Sitzungen finden im Lokale des Kgl. Acrzte- 
vereins. (Bentkiralyintoxa 21) statt. 

— VII. Jahresversammlung des Vereins 
abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets 
zu Karlsbad. 1. Sitzung am 24. September 1902. 
Professor K a s s o w i t z (Wien) spricht über „Nahrung 
und Gift“. Von der Ansicht ausgehend, dass die 
Nahrung als Heizmaterial für die Lebewesen diene, 
und unter Zugrundelegung des Princips der Kraftum¬ 
wandlung wurde schon von R. Meyer rein theoretisch 
deduziert, dass der Alkohol, da er im tierischen oder 
menschlichen Körper verbrenne, auch die Funktionen 
einer Nahrung ausüben müsse. Diese Deduktion 
steht oder fällt aber mit der Voraussetzung, dass die 
Nahrungsmittel im Körper einfach verbrennen. Hier¬ 
für ist jedoch der Beweis nirgends gebracht worden. 
Dagegen wissen wir sicher, dass die Nahrung wenigstens 
zum Theil als Baumaterial für den Körper 
dient, während uns keine einzige Thatsache zu der 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1902.] 


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Annahme nötigt, dass irgend ein Nahrungsstoff im 
Körper verbrennt, ohne sich vorher an seinem Auf¬ 
bau, d. h. in erster Linie am Aufbau der Protoplasmas 
betheiligt zu haben. Es ist nun die Frage zu beant¬ 
worten, ob neben dem metabolischen Stoffwechsel, 
der dadurch characterisirt ist, dass die Nahrung zu¬ 
nächst das lebende, assimilirende Protoplasma auf baut, 
und dass die Stoffwechselprodukte erst durch Zerfall 
dieser Protoplasmas entstehen, und der für einen ge¬ 
wissen Teil der Nahrung ganz sicher vorhanden ist; 
ob neben dem bewiesenen metabolischen auch der 
katabol isehe Stoffwechsel m öglich ist, d. h. der 
unmittelbare Zerfall, die direkte Verbrennung der 
Nahrungsstoffe. Die Untersuchungen über den Alhohol 
beweisen, dass ein solcher katabolischer Stoffwechsel 
nicht stattfindet. Dass der Alkohol ein narkotisches 
Gift ist und jedes lebende Protoplasma zerstören kann, 
ist eine bekannte Thatsache. In der Anschauung, 
die seit R. Meyer rein dogmatisch geglaubt wird, dass 
der Alkohol, der ein Gift ist, zugleich ein Nahrungs¬ 
stoff, ein Stärkungsmittel sei, sehen wir ein Paradoxon, 
das von einem anderen Gifte zu behaupten keinem 
Menschen einfällt. Andererseits giebt es keinen wirk¬ 
lichen Nahrungsstoff, der zugleich das Protoplasma 
zerstört. Das Experiment kann die Frage entscheiden. 
Chauveau liess einen Hund bei bestimmter Nahrung 
arbeiten; das Thier leistete täglich eine bestimmte Ar¬ 
beitsmenge und nahm dabei am Körpergewicht zu; 
die Nahrung des Hundes wurde dann so verändert, 
dass, während alles übrige gleich blieb, eine bestimmte 
Menge von Kohlenhydrate durch eine Alkoholmenge 
ersetzt wurde, die, unter Voraussetzung deskatabolischen 
Stoffwechsels, den fortgelassenen Kohlenhydraten gleich¬ 
wertig war. Wenn auch der Alkohol nährend wirkte, 
hätte sich nichts ändern dürfen. Das Versuchsthier 
leistete jedoch in der Alkoholperiode täglich nicht nur 
weniger Arbeit, was mit auf Rechnung der einschläfernden 
Wirkung des Alkohols zu setzen ist, sondern es 
magerte auch ab! während doch bei geringerer 
Arbeitsleistung und gleicher Nahrung eine noch grössere 
Zunahme des Körpergewichtes hätte stattfinden müssen. 
Der Versuch beweist also, dass der Alkohol als Gift 
nicht nährend wirken kann, sondern nur das Proto¬ 
plasma schädigt. Aus dieser Erkenntniss heraus werden 
wir wohl in Zukunft auch darauf verzichten, schwache 
und kranke Menschen mit Alkohol stärken zu wollen 
und in Spitälern und Krankenhäusern für Alkohol 
grosse Summen auszugeben, die besser anders ver¬ 
wandt werden können, zu wirklicher Aufbesserung der 
Ernährung. 

Die Wissenschaft kann irren; ein folgenschwerer 
Irrthum ist die Proklamirung des Alkohols als Nahrungs¬ 
und Stärkungsmittel gewesen. Aber die Wissenschaft 
selbst wird durch ihren Fortschritt ihren Irrthum und 
so auch den Alkoholirrthum wieder korrigiren. 

In der Discussion sagt Prof. Hueppe (Prag), dass 
zwischen Nahrung und Gift doch kein solcher principieller 
Gegensatz bestände, da die wichtigsten Nahrungsmittel, in un¬ 
geeigneter Form eingeführt, schwere Gifte seien; dabin ge¬ 
hörten Pepton und Fettsäuren, die trotzdem jeder Mensch täglich 
in Mengen aufnähme. Man müsse die Entgiftungsfähigkeit des 
Körpers berücksichtigen, die auch den» Alkohol gegenüber vor¬ 
handen sei. Theoretisch liege die Sache so, dass der Körper 


mit bestimmten kleinen Mengen Alkohol wohl fertig werde, 
wie er mit dem Pepton fertig werde; practisch jedoch so, 
dass es trotz des Entgiftungsmechanismus nicht günstig sei, ihn 
zu viel in Anspruch zu nehmen, da die Gefahr bestände, die 
Grenzen nicht einzuhalten und nebenbei die Giftwirkung her¬ 
vortreten zu sehen. Redner selbst habe bei sich und andern 
die Erfahrung bedeutend erhöhter Le is tu ngsfähigkeit 
bei Abstinenz gemacht. Er weist schliesslich auf die Wich¬ 
tigkeit der Körperübungen im Kampfe gegen den Alkohol hin. 

Prof. Rosemann (Greifswald) übt Kritik an den Ex¬ 
perimenten Chauveaus, betont jedoch, dass der Alkohol, wenn 
ihm auch theoretisch eine nährende Funktion zuertheilt werden 
müsste, praktisch doch kein Nahrungsmittel sei, da 
bei den nöthigen Mengen die Giftwirkung in den Vordergrund 
träte. 

Dr. Sicking er (Brünn) weistauf die Erfahrungen unter 
den österreichischen Weinbauern hin. 

Dr. Rumpf (Graz) erwähnt die Abstinenz der meisten 
Bergführer bei Ausübung ihres Berufes. 

Dr. Lenzmann (Duisburg) betont den Unterschied zwischen 
Stoffen wie Pepton und Alkohol, die sich gar nicht so ohne 
weiteres vergleichen lassen Der Körper mache aus dem Pepton 
eine Substanz, die zum Aufbau diene, aus dem Alkohol aber 
eben nicht. Kleine Mengen Alkohol schädigen allerdings z. B. 
noch nicht die gröberen Leberzelleu, aber in sehr merkbarer Weise 
doch die am feinsten organisirten Nervenzellen des Gehirns. 

Prof. K a s s o w i t z kommt auf den fundamentalen 
Unterschied zwischen Pepton und Alkohol zurück: 
Pepton wird während der Aufsaugung im Verdauungs¬ 
organ verändert, im Blute findet sich kein Pepton mehr; 
der Alkohol dagegen wird unverändert resorbirt und 
ist als Gift im Blute vorhanden. Seiner Ansicht, 
dass kein Stoff zugleich Nahrung und Gift sein könne, 
sei durch keine empirische Thatsache der Boden ent¬ 
zogen worden. Die Abstinenz, zumal der Aerzte, 
sei jetzt aber practisch das Wichtigste, was in der 
Alkoholfrage geschehen könne. (Schluss folgt.) 

— Zum neuesten preussischen Justizministe¬ 
rialerlass für das Entmündigungsverfahren. Der 

preussische Justizministerialerlass vom 28. XI. 1899 
über das Verfahren bei Entmündigungen wegen Gei¬ 
steskrankheit oder wegen Geistesschwäche besagte: 
„Die Wahl von Sachverständigen ist in erster 
Linie auf solche Personen zu richten, welche auf 
dem Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf 
besonderer Erfahrung besitzen. Sind solche 
Personen nicht zu erreichen, so ist die Wahl, wenn 
möglich, auf einen Kreisphysikus (Kreisarzt) oder 
wenigstens auf einen zu diesem Amte geprüften Arzt 
zu richten“. Kaum sind drei Jahre verflossen, und 
wir sehen seitens derselben Behörde diesen Erlass 
aufgehoben und durch einen anderen, vom 7. d. Mts. 
datirten, ersetzt, der gemäss dem § 404, Abs. 2 der 
neuen Civilprocessordnung („Sind für gewisse Arten 
von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so 
sollen andere Personen nur dann gewählt werden, 
wenn besondere Umstände es erfordern“) bestimmt, 
dass der Gerichtsarzt (Kreisarzt) als der für medici- 
nische Angelegenheiten *) öffentlich bestellte Sachver¬ 
ständige, erforderlichenfalls dessen Assistent, zu Ent¬ 
mündigungssachen regelmässig zu wählen ist. — 
Sofern dieser Wandlung der Dinge etwa die Ansicht 
zu Grunde liegen sollte, dass die Kreisärzte — diese 
Institution als Ganzes genommen — zufolge ihrer 
Vorbildung und Erfahrung im Stande sind, die Irren- 

*) doch nicht für alle möglichen! 


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324 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20. 


ärzte von Fach, also die Specialärzte, bei der Be¬ 
gutachtung krankhafter Geisteszustände zu ersetzen, 
so waltet ein folgenschwerer Irrthum ob. Die bei 
den Kreisärzten vorhandene Kenntniss der gericht¬ 
lichen Psychiatrie beruht auf deren Studium in der 
psychiatrischen Klinik einer Universität oder im gün¬ 
stigeren Falle auf einem 1 / i — 1 / 2 jährigen informato¬ 
rischen Cursus in einer Irrenanstalt; später, im Amt, 
haben sie nur immer vereinzelt mit psychiatrischen 
Fällen zu thun. Sie haben daher gar nicht ein¬ 
mal Gelegenheit, sich d e n Grad der practischen 
Erfahrung und wissenschaftlichen Vertiefung in Bezug 
auf psychiatrische Dinge zu erwerben, wie die An¬ 
staltsärzte und überhaupt die Specialärzte, welche 
mitten in dieser Wissenschaft darin stehen, die was 
sie ist und was sie wird, eben den Irrenärzten ver¬ 
dankt, aber nicht im Geringsten den Kreisärzten. 
Oder hat an den Hand- und Lehrbüchern der ge¬ 
richtlichen Psychiatrie von Hochc, Cramer, 
Delbrück, v. Krafft-Ebing etc., überhaupt an den vielen 
Lehrbüchern der Psychiatrie ein Kreisarzt mitgearbei¬ 
tet? Wenn in der deutschen Irren- und Nervenheil¬ 
kunde so intensiv gearbeitet wird, dass die sieben 
bis acht Fachzeitschriften den Stoff kaum bewäl¬ 
tigen, haben die Kreisärzte etwa daran einen A11- 
theil? Sind sie überhaupt in der Lage, sich gegen¬ 
über so intensiver Forschung mit ihren Kenntnissen 
auf der Höhe der Zeit zu halten ? Es ist wahrlich 
etwas Anderes, bacteriologische oder Brunnenwasser- 
untersuchungen zu machen und den Geisteszustand 
eines kranken „Ichs“ zu analysiren. 

Da nun aus obigen und sonstigen Gründen der 
neue Erlass, dessen Zweck, wie ein Berliner Blatt 
meint, kaum ein anderer sei, als das vielfach sehr 
magere Einkommen der Kreisärzte aufzubessern, nicht 
als Fortschritt, sondern als Rückschritt auf dem 
Gebiete des Irrenrechts bezeichnet werden muss, so 
sei bei dieser Gelegenheit aus der Praxis heraus 
ein besserer Reformvorschlag gemacht, dessen In¬ 
halt zu dem früheren Erlass (vom 28. XI. 1899) 
hinzuzufügen wäre und mit welchem dem Publikum 
und auch den Richtern gedient sein wird : 1. Bei 
denjenigen Amtsgerichten, an deren Sitz 
oder in deren Bereich sich zugleich eine 
grössere Irren-Epileptiker - oder Idioten- 
Anstalt befindet, bei denen also die Ent¬ 
mündigung eines der gewöhnliebsten Ge¬ 
schäfte bildet, ist ein Richter anzustellen, 
der durch einen l / 2 bis ijährigen Cursus 
an einer grossen Anstalt sich einen tieferen 
Einblick in die Wissenschaft von den Geistes¬ 
störungen und ihren concretcn Erscheinungen 
verschafft hat. 2. Bei Entmündigung von 
nichtinternirten Personen ist wenn irgend 
thunlich ein Facharzt als Sachverständiger 
zuzuziehen. Bresler. 

— Der neue preussische Justizministerial- 
Erlass in der Tagespresse. — Vossische Zeitung 
(Berlin), 15. X. 1902. Uns wird geschrieben: Die 


Aenderung, welche der Justizministcr in dem Ver¬ 
fahren bei Entmündigung wegen Geisteskrankheit ge¬ 
troffen hat — es ist darüber in der Montagsausgabe 
berichtet worden —, verdient beachtet zu werden. 
Worin besteht die Aenderung? In § 14 der All¬ 
gemeinen Verfügung vom 28. November. 1899 wird 
den Amtsgerichten für die Wahl des Sachverständigen in 
Entmündigungssachen das folgendeV» »rgehen empf< >1 ilen : 
„Die Wahl des Sachverständigen ist in erster Linie 
auf solche Personen zu richten, welche auf dem Ge¬ 
biete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Erfahrung' 
besitzen. Sind solche Personen nicht zu erreichen, 
so ist die Wahl, wenn möglich, auf einen Kreisphysikus 
oder wenigstens auf einen zu diesem Amte geprüften 
Arzt zu richten.“ Fortan aber soll als Sachverständiger 
in Entmündigungssachen der Gerichtsarzt, d. i. der 
Kreisarzt oder sein Assistent, zugezogen werden. Mit 
anderen Worten: die Gutachterthätigkeit in Entmün¬ 
digungssachen wird das Monopol der Kreisärzte. Alle 
anderen Aerztc — und wären es auch die erfahrensten 
und geschätztesten Irrenärzte — sind, von sicher 
ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, von der Mit¬ 
wirkung bei Entmündigungen ausgeschlossen. Die 
bisherige Bestimmung war ohne Zweifel die zwcck- 
mässigstc. Sie zieJte darauf ab, als Sachverständige 
in Entmündigungssachen gerade diejenigen Aerztc 
zu gewinnen, die nach ihrer Ausbildung und ihrem 
Können am ehesten befähigt sind, dem Gerichte die¬ 
jenige Hilfe zu leisten, die eine saehgemässe Durch¬ 
führung der Bestimmungen über die Entmündigung 
am ehesten verbürgt. Und das liegt im Interesse der 
Rechtspflege und ist zugleic h ein Mittel, etwa auf¬ 
tauchende Beschuldigungen, ein Geisteskranker sei zu 
Unrecht entmündigt worden, von vornherein zu ent¬ 
kräften. Kann von den Kreisärzten durchgängig an¬ 
genommen werden, dass sie in der Beurtheilung 
Geisteskranker in der Regel die Erfahrung eines ge¬ 
schulten Irrenarztes haben, eines Arztes, „der auf 
dem Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer 
Erfahrung besitzt“, wie cs in der Justizministerial-Ver- 
fügung von 1899 heisst? Durchaus nicht. Wohl sind 
unter ihnen eine Reihe von Aerzten, die als Assistenten 
an Irrenanstalten thätig waren. Die meisten von ihnen 
aber haben nur ganz dieselbe Ausbildung in der Irren¬ 
heilkunde genossen wie die nicht kreisärztlich geprüften 
Aerzte. Ihre klinische Erfahrung beschränkt sich auf 
das, was sie als Praktikant der psychiatrischen Klinik 
sich zu eigen gemacht haben. Der Zweck der neuen 
Bestimmung des Kultusministers ist kaum ein anderer, 
als das vielfach sehr magere Einkommen der Kreis¬ 
ärzte aufzubessem; denn trotz des Kreisarztgesetzes 
ist an den alten Zuständen nicht allzu viel geändert. 
Ob es aber gerechtfertigt ist, um dieses Sonderzweckes 
willen eine durchaus gute und im allgemeinen Besten 
liegende Anordnung abzuändern , kann nicht fraglich 
sein. Noch eines: Die neue Bestimmung erweitert 
noch die Kluft zwischen der grossen Masse der aus¬ 
übenden Civilärzte und den Kreisärzten. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich; Oberarzt Dr. j . liresler, Kraschnitz (Sch esien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inscratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Ilevnemann’sche Ruchdruckerei (Ge.br. WoliT) in Halle, a, S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 

Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. JL Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I* Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Mcercnberg (Holland). Frankfurt a. M, 

Prof. Dr. A. Guttotadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Brßsler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 30 . 25. Oktober. 1902. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhotd in Halle a. S*. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzcile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erraüssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: A propos du Congres d’Anvers. Par M. le Dr. A. Marie, M&lecin en chef des asiles de la Seine a 
Villejuif (S. 325). — Mittheilungen (S. 329). 


A propos du Congres d’Anvers. 

Par M. le Dr. A. Marie , Mädecin en chef des asiles de la Seine ä Villejuif. 


y j i question de l’hospitalisation des alienes, fut, 
et cela se comprend, une des plus discutees au 
congres d’Anvers. 11 y a, en effet, tant & faire encore 
ä ce sujet dans toutes les nations civilisees pour arri- 
ver a la perfection! Et cette perfection ne consiste 
pas, comme on pourrait le croire, exclusivement en 
des ameliorations interieures d'asilc. Elle reside, sour- 
tout, en des ameliorations morales. II y a diverses 
sortes d’alienes: les dangcreux et les malades. Eh 
bien! le malade a droit a des attenuations du regime, 
fi une liberte qu'il faut lui donner pleine, entiere et 
heureuse. Nous sommes deja arrives en France, avec 
nos colonies, ä fournir a nos pauvres malades plus 
que l’illusion de la libre existcnce. Nos hospitalises 
vivent sans contrainte, au grand soleil des pleiues 
campagnes, dans latmosphere, reconfoitante et qui 
guerit, de la vic familiale chez les particuliers. 

Mais il faut commencer par le commencement. 


Ce qui a fait l’objet, au congres d’Anvers, de longues 
discussions c’est que l’assistance des alienes est fondee, 
actuellement en beaucoup de pays sur les etablissements 
centralises ou asiles fermes qui sont de plusieurs 
sortes: les quartiers d’hospices et asiles prives faisant 
fonction d’etablissements publics, et les asiles publics 
proprement dits. 

Ccs derniers sont di rectement regis par les depar- 
tements, a la difference des premiers qui hospitalisent 
par traite, a un prix d’adjudication a la joumee, 
en quelque Sorte, ä Tentreprise. Or, c’est de la que 
vient tout le mal, toute la defectuosite du regime. 

Four le departement de la Seine seul, le nombre 
total des alienes est d’une quinzaine de mille; la 
moitie sculement est assistee directement par le de¬ 
partement de la Seine. 

Le rcste, exactemcnt 5,940 est adjuge aux eta- 


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326 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30. 


blissements prives ou publics des autres departcmcnts 
voire aussi a quelques quartiers d’hospices. 

Ce stock de 5,940 est en grande partie compose 
de ehroniquegt qui ont dautant moins de cbances 
d’etre elargis par sortie ou placemcnt familial qu'ils 
constitucnt pour res etablissements qui en entrepren- 
nent l’assistance a forfait, une Source de revenus de 
la part de la Seine en ineme temps que du fait du 
travail de cos chroniques generalement bons automates. 

Hcureuscmcnt que l’intervention medicale sait 
s’affranchir de telles considerations et restc juge en 
demiere analyse des maintenues. Cependant on peut 
reprocher a cc point de vue a tous les etablissements 
privcs faisant fonctions d'asiles publics rinsuffisante 
independance des medecins qui choisis par l’etablisse- 
ment lui meine et appointes par lui perdent de ce 
fait une partie de Pautorite preponderante qui doit 
legitimcinent leur revenir. 

A premiere vue ces etablissements prives se char- 
geant des premieres mises d’installations et prenant 
a forfait des malades a la journee semblent constituer 
des institutions avantageuses et economiques. 

Neanmoins a les examiner de pres ils reviennent 
souvent a une speculation qui consistc essentiellement 
a clepc nser pour le malade une somrae quotidienne 
infericure a celle qui est allouec par Petat, tous frais 
gencraux compris et amortissement des premieres 
mises. 

On peut donc dire qu’a prix egal ces etablisse¬ 
ments sont fatalement inferieurs aux etablissements 
geres par Petat et dont les bonis peuvent etre appli- 
ques a des ameliorations generales exclusivem ent. 

Si Pon compare dans ces etablissements la part 
budgetaire des frais mcdicaux et administratifs, d’en- 
tretiens et ameliorations de locaux et mobiliers, de 
pecule aux travailleurs et excedents divers utilises, on 
remarque qu’elle est bien moindre que dans les eta¬ 
blissements publics analogues geres par les departements. 

La preponderance de Pelement medical en nombre 
comme en autorite reelle y est egalement tres differente. 

L’ avenir de P assistance d’ alienes me semble 
donc resider dans la reforme des etablissements a 
Pentrcprise. Celle reforme a pour pivot la pre¬ 
ponderance de Pautorite medicale et Paugmentation 
du personnel competent corrcspondant. Ses moyens 
seront la mise en regio toutes les fois que cela sera 
possiblc des etablissements faisant fonctions d'asiles 
publics sous Pautorite direetc des pouvoirs publics 
s’inspirant uniquement de vues medicales et du bien 
des malades. 

Le desencombrement des etablissements divers 
existants tant en regie qu’ä Pentrcprise devra etre 


opere a l’aide de Passistance familiale comme regime 
corrollaire employe sur la designation des malades par 
les medecins seuls. 

Lorsque j'ai cree dans le Cher la premiere colonie 
familiale francaise, j’ai choisi dans tous nos Services 
de Paris les malades qui me paraissaient les plus calmes, 
hommes et femmes; je les ai emmenes et installes 
chez Phabitant, suivant mon principe. Je me bäte 
de dire, en passant, que les resultats ont ete exeellents 
et <]ue, sur plusieurs centaines de ces alienes, bien 
peu ont trompe les esperances que j’avait mises en 
eux. A peinc avons-nous su compfer quelques suicides 
d'hypocondriaqucs. Les conditions realisees la ont 
d’ailleurs pu etre appreciees par nos confreres allemands 
qui nous ont fait le grand honncur de les visiter; 
en particulier Messieurs les Drs. Paetz et Alt. 

Je resolus donc de demander au departement de 
la Seine de desencombrer les asilcs prives qu'il four- 
Tiit de malades et de m’cn conficr un certain nombre 
pour nos colonics. On m’y autorisa, je partis donc 
pour la Bretagne. 

J’arrivai dans le Finistere, dans un hospicc dirige 
par des religieux et dont le medecin, ancien major 
de la marine, assumait tont le Service medical, ce qui 
est notoirement insuffisant vu le contingent des ma¬ 
lades de Pasile. 

J’exposai le but de ma visite, qui consistait a re- 
prendre, pour les emmener dans une colonie, tous les 
hospitalises de la Seine qu’on voudrait bien me sig- 
naler comme absolument inoft’ensifs. 

L’administration fit la grimace, puis, comme j’ 
insistais, le docteur vint a Ja recousse et me declara 
que presque tous ses pensionnaires etaient dangereux. 

Je voulus les voir et je fis bien, car j’en eramc- 
nai le quart c’est a dire deux Cents qui, aujourd’hui, 
sont libres quoique sous la tuteile administrative. 
Ils ne sont plus astreints aux besognes qui, sans etre 
obligatoires, sont peut-etre force es, ce qui est moins 
un paradoxe que qa n’en a l'air. 

On comprend que l’administration de l’hospice 
dont je parle (ils sont legion dans ce cas-la) ne 
voyait pas sans deplaisir partir de chez eile deux 
Cents pensionnaires pour qui Paris paie un fr. 25 c. 
par jour, dont les soins ne necessitent que Tentre- 
tien d’un medecin local a faibles honoraires, et dont 
le travail rapportc cncore quelques menus avantages. 
Eh bien! c'est ce (pi’il ne faut pas laisser subsister. 
Le malade ne doit pas etre un chair exploitable. II 
faut lui soigner le moral tout autant que le physique 
et lui donner le bien-etre a defaut de la raison re- 
courree. Et n’est-ce pas, la plupart du temps, le bien- 
etre qui guerit? 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


En France, nous avons la dualite du Systeme et 
j’espere arriver, avec l’assentiment des savants qui 
etudient la question, a faire reduire l’hospitalisation 
dans les asiles du genre de ceux dont je parle. 
Mais, en Belgique, la Situation est plus grave. Je 
m’en suis explique au Congres, et ce n’est pas sans 
quelque diplomatie, car j’arrivais pour critiquer les 
aimables confreres qui nous avaient invites. J’ai du 
prendre, courtoisement d’ailleurs, mais nettement, ä 
paitie ceux, qui monopolisent chez nos voisins, dans 
leurs etablissements religieux presque tous les alienes. 
Vous comprenez bien que l’Etat beige envoyant ses 
pensionnaires aux religieux, ceux-ci ont tout interet 
a les garder. Ils constituent un rapport, une affaire, 
une maison de commerce. Et, a cote de cela, l’Etat 
beige est desarme, car, ä la moindre objurgation, les 
religieux peuvent lui dire: »Vous voulez vos malades? 
Reprenez-les!« C’est bientot dit! Mais, ou les mettre, 
puisque nos voisins n’ont pas pour ainsi dire d’asiles 
publics ? 

Et c’est pour cela qu’il fallait agiter cette grave 
question au Congres. Je dois dire que si la Belgique 
en grande partic du moins, nous a combattu, les 
autres Congressistes se sont rendus aux arguments que 
mon excellent collegue le Dr. Alt et moi avons devc- 
loppes, notamment les Hollandais, qui, apres avoir 
visite aussi nos colonies d alienes, il y a quelques 
annees, en ont installe de semblables, je dirai meme 
plus, de superieures. 

Voici le texte du voeu adopte, a ce sujet: 

Le congres einet le voeu que tous les etablisse¬ 
ments fermes publics ou prives soient pourvus de 
medecins en nombrc süffisant (medecins cbcfs, et 
assistants residents) et d’organisations annexcs permet- 
tant l’application du regiine familial sous une surveil- 
lance medicale effective, pour tous les malades actu- 
ellement internes qui pourraient en benelicier, suit 
commc moven curatif de convalescence, soit comme 
moven d’assistance des chroniques tranquillcs aptes 
a une libcrte surveillec. 

Comme on le voit, c’est le principe de l’assistancc 
familiale libre que nous avons devcloppe. Quant a 
ce que nous voulons combattre, c’cst la methode d’un 
autre age, qui consiste a ne pas considerer les alienes 
comme des malades ordinaires meritant des ameliora- 
tions materielles, mais a les considerer, un peu trop, 
comme une source de benefices. 

II ne s’agit pas de supprimcr reffort des initiatives 
privees pour y substituer purement et simplement l’Etat; 
le 2 doivent coexister et l’initiative privec a fourni 
d’admirables et respectables eflbrts. 

Mais il faut denoncer cette fausse charite, qui 


a y regarder de pres revicnt a une ingenicuse specu- 
lation. Et ce que je dis est vrai des orphelinats, d’ 
enfants, de vieillards, des sourds tnuets, des aveugles, 
des idiots comme des alienes et sur toute la ligne 
la meme distinction est a faire, c’est partout le meine 
Systeme. Mon rapport sur les asiles prives s’applique 
ä toutes les categories precitees aussi bien qu’a la 
question des alienes. 

Cette fausse charite concentre, entre ses inains 
sous le masque de la foi, d’un cote tout l’effort de la 
charite privec a qui on fait verser le maximuin 
pour etablir des batisscs qui au lieu d’appartenir aux 
misereux sont inscrites au nom de tel particulier ou 
de tel ordre, puis ce proprietaire reclame a letat un 
prix de journcc par chaque tete d’assiste, prix d’en- 
tretien qui rapporte ä son tour des soinmes dont les 
benifices vont aussi a la caisse premiere qui en peut 
faire tous les virements possibles. Ces bonis defen- 
dables pour les pensionnats payants le sont moins 
pour les indigents. De la soite on confisque a son 
profit moral et materiel reffort de la charite privee 
ainsi que la contribution publique, enfin on exploite 
ä volonte le travail de ces serfs d’un nouveau genre 
reconstitues au XX em e siede sur le dos de la societc. 

Pour les orphelinats religieux il a fallu en France 
c^uhin eveque (!) Monseigneur Turinaz de Nancy jette 
lui meine le cri d’alarme que Tabus etait flagrant. 
Il existe dans l’ordre d’idees des asiles des etablisse¬ 
ments analogues qu’il importe de reformer ou de sup- 
primer; on peut dire que la majorite de ces etablisse¬ 
ments reste encore a un niveau insuffisant. 

Un caractere commun a tous ces etablissements 
religieux consiste non pas taut dans l’insuffisancc 
materielle du regime et des installations locales que 
dans la non comprehension des principes generaux 
c[ui doivent dominer essentiellemcnt l’assistance des 
malades alienes. 

L’autorite medicale est visiblcment tres secondaire 
dans ces etablissements, et les medecins sont trop peu 
independants des communautes qu’ils deviennent ainsi 
incapables d'orienter dans le sens d’un regiine plus 
scientifique et plus moderne. Les quartiers sont fre- 
quemment en bordure d’une cour commune de 120 
a 150 malades dont 1’alimentation et la survcillancc 
sont faites en bloc par un nombre aussi minime ejue 
possiblc de religieuses, dont l’aptitudc physique est 
generalement insuffisante. 

Enfin une pratique egalement abusive consiste dans 
l’exploitation exageree du travail des malades sans 
remuneration süffisante et cela par des moyens de- 
tournes tcls que: »Inscriptions au compte recompenses 
en nature< de certains vetements ou de certaines 


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328 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30. 


rations de remplacements; ce qui permet de faire 
payer ainsi ä la fois aux malades et au departement 
certaines foumitures de vetements et d’alimentation. 
Ces critiques suffisent semble-t-il, ä caracteriser les 
vices du r£gime d’assistance dans les etablissements 
religieux. 

En Belgique, il y a trop. d’asiles, Systeme caserne, 
ou un grand nombre d’alienes sont rasscmbles pele- 
mele dans un espace restraint. Ce sont des serres- 
chaudes oü les folies les plus diverses fermentent et 
s’excitent, des milieux d’une desesperance effroyable 
pour qui conserve encore une lueur de conscience. 

A cette Situation penible, se joint la monotonie 
d’une existence oü tout est prevu, regle a des heures 
fixes, oü rien des emotions ordinaires qui entretien- 
ncnt les sentiments affectifs ne vient reveiller la sen- 
sibilite emoussee de ces cerveaux malades. Le travail, 
cet heureux derivativ des cxcites et des delirants, 
n’est pas, ou du moins, est insuffisamment organise. 

Le Service medical est incomplet; il n’y a pas de 
medecins speciaux: ce sont des medecins civils ordi¬ 
naires qui se Chargent en meme temps du Service me¬ 
dical de I’asile erige dans le voisinage. Ces medecins 
ne demcurent pas dans I’asile meme corame cela 
devrait etre, et leur clientele civile les empeche de se 
consacrer, sans arriere-pensec, a l’amelioration du 
sort des alienes. Au surplus, ces medecins dnivent se 
contenter de traiter les malades, car ils n’ont aucunc 
autorite rüelle et la direction du Service general de 
I’asile leur echappe totalement. C'est 1 c contre-pied 
de ce qui se passe dans les autres pays oü le medecin 
seul tient la direction de l’asile. 

Cette absence du medecin dans Padministration 
meme de l’asile se revele immediatement dans la qua- 
lite moindre des gardes-malades et dans les soins dont 
on entoure les alienes; les gardes-malades ne re<^oivent 
aucune * instruction professionnelle, et on ne semble 
meme pas se douter des progres realises a ce point 
de vue dans les autres pays. 

Chez tcrus les peuples civilises les moycns de con¬ 
trainte disparaissent progressivement; en Hollande, 
ils sont radicalement supprimes dans plusieurs asilcs; 
dans d’autres ils sont si rarem ent employ es qc.', dans 
le demier rapport triennal officiel, on designc indivi¬ 
duellement les cas oü Fapplication de contraintes fut 
jugee necessaire. Chose inou'ie, en Belgique et d’apres 


les demiüres statistiques, Fapplication des moyens de 
contrainte augmentent pfogressivement. Voila quel¬ 
ques points k mediter pour tous ceux qui s’interessent 
au sort des alienes. 

D’oü proviennent toutes ces defectuosites? Elles 
decoulent de ce principe meme de l’assistance des 
ali&nüs que n’importe qui, peut, sauf certaines forma- 
lites legales, ouvrir, gerer et exploiter un asile d’alie¬ 
nes. La est le fond de la question. 

Du haut en bas de Pechelle aucune garantie de 
competence speciale n’est exlgee. Les medecins peu 
nombreux, peu payes, non loges et non spccialiscs 
sont obliges de s’appuyer sur la ciientüle ordinaire 
pour vivre, et l’asile reste une garderie sacrifiee au 
lieu de devenir l’hopital des alicncs. 

A l’appui de ces vues et de ces critiques je me 
suis abrite dans mon rapport sous des temoignages 
nombreux dont je ne retiendrai ici que 3 que je me 
borne a citer en terminant sans autre commentaire. 

„En Belgique, le regime est defectueux. Les 
maisons d alienes sont aux mains des particuliers. Je 
voudrais refondre tout cela.“ (M. Le Jeune, ministre 
d’Etat, au Congres d’Amsterdam, 1901.) 

„Les traitements des medecins d’asile de\raient 
etre fixes d’une fa^on uniforme et non pas au prorata 
du nombre des malades. Vous devinez le motif: 
Dans la Situation actuel e, les medecins ont interet 
a retenir dans Tasilc des malades qui sont en etat 
d etre rendus a la liberte; or, il est toujours mauvais 
de placer un homme entre ses iutercts et sa conscien¬ 
ce. . . N’v a-t-il pas lieu de craindrc que dans les 
etablissements prives, les alicncs ne soient victimes 
de la cupidite, de l’exploitation ?“ (M. le Dr. Masoin, 

a la Socicte de medecine mentale de Belgique, 21 
fevrier 189b.) 

„L’avenir de lassistance des alienes semble donc 
rcsider dans la reforme des etablissements a l’entre- 
prise. Cette reforme a pour pivot la preponderance 
de Pautorite medieale et l’augmeniation du personnel 
competent correspondent. Ses moyens sont la mise 
en regie, toutes les fois que cela sera possible, des 
etablissements faisant fonction d’asiles publics sous 
Pautorite directe des pouvoirs publics s’inspirant uni- 
quement de vues medicalcs et du bien des malades.“ 
(M. le Dr. Lcntz, a la meine Societc, 25 avril 1896.) 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 329 


Mittheilungen. 


— VII. Jahresversammlung des Vereins 
abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets 
zu Karlsbad. 2. Sitzung am 25. September 1902. 

Auszug aus dem Vortrag von Dr. Ad. Frick. 
Ottingen*Zürich. Ueber Behandlung fieberhafter 
Krankheiten ohne Alkohol. Die heute noch fast 
allgemein übliche Behandlung fieberhafter Krankheiten 
mit Alkohol ist von England ausgegangen. In Deutsch¬ 
land haben namentlich Binz und seine Schüler sie 
theoretisch zu begründen gesucht. Seither sind die 
Indicalionen zwar wieder wesentlich eingeschränkt 
worden, in der Praxis ist die Alkoholbehandlung aber 
noch sehr verbreitet. Die dem Alkohol zugeschriebenen 
Eigenschaften halten jedoch einer sorgfältigen Kritik 
nicht Stand, wie für die Eigenschaften als inneres 
Antisepticum, Antipyreticum, Excitans im Einzelnen 
ausgeführt wird, und namentlich ist der Alkohol 
endgültig aus der Reihe der Nahrungsmittel gestrichen, 
als welches er beim Fieber besonders empfohlen 
worden ist. Die allgemeine Beliebtheit des Alkohols 
ist vielmehr auf seine Eigenschaft als Narcoticuin 
zurückzuführen. Dag egen hat der Alkohol eine 
Reihcvon Eigenschaften, diese hwcreCon- 
traindicationen gegen seine Verwendung 
am Krankenbette überhaupt und ganz be¬ 
sonders bei der Behandlung fieberhafter 
Krankheiten bilden. Laitinen und Andere 
haben experimentell nachgewiesen, dass der Alkohol 
die Widerstandsfähigkeit des thierischen Körpers gegen 
Infcctionsstoffe herabsetzt. Mit diesen Experimenten 
stimmt die allbekannte Thatsache überein, dass Säufer 
gegenüber allen Infectionskrankheiten eine viel ge¬ 
ringere Widerstandsfähigkeit besitzen als Nichttrinker. 
Auch die klinische Beobachtung zeigt, dass die Resultate 
der Behandlung fieberhafter Krankheiten besser sind, 
wenn die Kranken keinen Alkohol erhalten. Man 
darf dabei nicht nur keinen Alkohol verordnen, sondern 
auch allen Alkoholgenuss während der Krankheit strenge 
verbieten. Dem steht das allgemeine Vorurtheil ent¬ 
gegen, dass es gefähilich sei, Trinkern den Alkohol 
plötzlich zu entziehen. Diese Meinung ist aber durch¬ 
aus unrichtig. Forel und andere haben nach¬ 
gewiesen, dass es nicht nur ganz ungefährlich 
ist, Trinkern den Alkohol plötzlich zu ent¬ 
ziehen, sondern dass auch Delirium tremens 
schneller heilt und seltener zum Tode 
führt, wenn dem Pat. sofort der Alkohol 
gänzlich entzogen wird. Der Vortragende hat 
selbst seine fiebernden Patienten seit mehr als 10 J. 
ohne Alkohol behandelt, und auch Trinkern dabei 
den Alkohol sofort vollständig entzogen, mit dem 
besten Erfolg. Als Hauptvortheile der Behandlung 
Fiebernder ohne Alkohol beobachtet man: Viel 
weniger Delirien, viel weniger Schwierigkeiten 
mit der Ernährung und wesentlich abge¬ 
kürzte Reconvalescenz. Collapse kommen 
dabei viel seltener vor und die Mortalitäts¬ 
verhältnisse sind günstiger als wenn die 
Kranken Alkohol bekommen. Besonders schäd¬ 


lich wirkt der Alkohol bei solchen fieberhaften Krank¬ 
heiten, die das Herz schädigen, wie Diphtherie, 
oder die Anforderungen an das Herz steigern, wie die 
Lungenentzündung, da der Alkohol bekannter- 
massen selbst schädlich auf das Herz wirkt. Auch 
bei Blutvergiftung und Puerperalfieber ist ein 
Nutzen des Alkohols nicht nachgewiesen, und die Er¬ 
fahrung zeigt, dass diese Krankheiten ohne Alkohol 
besser verlaufen. Ebenso verhält es sich mit den 
anderen fieberhaften Krankheiten. Beim Scharlach 
liegt ein besonderer Grund zur Verwerfung des Alko¬ 
hols darin, dass der Alkohol notorisch die Nieren 
schädigt und für sich allein schon Nierenentzündung 
hervorzurufen vermag. Da nun die Hauptgefahr des 
Scharlachs in der Schädigung der Niere liegt, muss 
dabei der Alkohol streng vermieden werden. Der 
gleiche Grund gilt mehr oder weniger für alle In¬ 
fectionskrankheiten , da fast alle Infectionsgifte die 
Nieren schädigen und gelegentlich Nierenentzündung 
hervorrufen. Besonders ausführlich werden die Re¬ 
sultate der Behandlung der Lungenentzündung be¬ 
sprochen. Dieselbe verläuft ohne Alkohol viel besser 
und führt dabei auch bei Trinkern viel seltener zum 
Tode, als wenn Alkohol gegeben w’ird. 

Von den an Lungenentzündung leidenden Kranken 
starben 


im Kantonsspital Zürich bei Behandlung 

mit Alkohol .19,5 °/ 0 

in der Behandlung von Dr. Frick ohne 

Alkohol . 9>8°/ ft . 


Die Lungenentzündung wird mit zunehmendem Alter 
des Patienten immer gefährlicher. 

Im Alter unter 50 Jahren starben in 


Zürich (mit Alkohol).13,6°/ 0 , 

bei Dr. Frick (ohne Alkohol) o. 

Im Alter über 50 Jahre starben in Zürich (mit 
Alkohol). 45 » 4 °/o 


bei Dr. Frick (ohne Alkohol) . 26,1%. 

Dabei w r ar das Durchschnittsalter der letzteren 
Patienten bei Dr. Frick ein höheres als in Zürich. 

(Eigenbericht.) 

ln der Discussion erwähnt Dr. Haenel (Dresden), dass 
das Vorkommen der Abstinenzdelirien doch nicht ganz geleugnet 
werden könne. Bonnhöffer (Breslau) habe häutiger nach plötz¬ 
licher Entziehung des Alkohols leichte Delirien auflreten sehen. 
Auch die Möglichkeit, dass der Alkohol trotz seiner lähmenden 
Wirkung vorübergehend excitirend wirken könne, könne nicht 
von vom herein bestritten werden. Man denke an die ähn¬ 
lichen Verhältnisse beim Morphium. 

Prof. Aschaffenburg (Halle a. S.) hat auch Delirien 
beobachtet, die er als zweifellose Abstinenzdelirien aufiassen 
musste; er betont jedoch ihren leichten, harmlosen Character. 

Dr. Frick hält die Frage, ob Abstinenzdelirien 
verkommen oder nicht, für weniger wichtig als die 
nach dem Endresultat. Wenn, wie es thatsächlich 
der Fall ist, die alkoholfreie Behandlung der In- 


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330 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 30. 


fectionskrankheiten, auch bei Potatoren, eine bessere 
Mortalitätsstatistik ergiebt als die Behandlung mit 
Alkohol, so ist diese Thatsache allein für unser the¬ 
rapeutisches Handeln bestimmend und muss uns 
zwingen, den Alkohol bei der Behandlung der In- 
fectionskrankheiten aufzugeben. G. K. 

— 74. Versammlung Deutscher Naturfor¬ 
scher und Aerzte zu Karlsbad, 21—26. Sep¬ 
tember 1902. 

19. Abtheilung: Neurologie und Psychiatrie. 

1. Sitzung, 22. September. Vorsitzender: v. Wagner 
(Wien). 

1. Eulenburg (Berlin): Ueber einige 
neuere elektro therapeutische Methoden; 
knüpft an den Entwicklungsgang der wissenschaft¬ 
lichen Elektricitätslehre, namentlich die Arrhenius- 
sche Iventheorie und die Hertz’sche Wellenlehre, und 
die darauf beruhenden Errungenschaften der moder¬ 
nen Elektrotechnik an, wodurch auch die medicinische 
Elektrotechnik und ihre Anwendungsformen zu Heil¬ 
zwecken mächtige Anregung und Förderung erhielten. 
E. bespricht kurz das Princip und die Anwendung 
der Tesla’schen und d’Arsonval’schen Apparate bei 
Nervenkrankheiten und geht dann noch auf einige 
neuere Verfahren näher ein, mit denen er gleichfalls 
eigene Versuche bei Nervenkranken angestellt hat, 
nämlich: 1. die sog. monodischen Voltströme 
von Jodko-Narkicwicz, die in allgemeiner Form („Volt¬ 
bad“) und in localer Form (Massage, oder punktför¬ 
mige Reizung) zur Anwendung kommen; 2. die sog. 
elektromagnetische Therapie, System Konrad, 
die bisher nur an eigenen Instituten in Berlin, Wien, 
Budapest, Hamburg u. s. w. geübt wird, (hervorragende 
sedative, antineuralgische und schlafmachende Wirkung) 
und endlich 3. das elektrische Vierzellenbad 
von Schnee in Karlsbad (von Noorden bei Complicatiuncn 
des Diabetes, von Lossen bei mannigfachen Nach¬ 
zuständen chirurgischer Verletzungen u. s. w. em¬ 
pfohlen; E. selbst erhielt bei 17 Fällen chronischer 
Nervenerkrankungen meist befriedigende, wenn auch 
nur palliative Resultate). Im Allgemeinen ist, wie E. 
meint, ein forsches und lebenskräftiges Aufblühen der 
Elektrotherapie gerade während des letzten Decen- 
niums — anderweitigen trüben Vorhersagungen über 
diesen Zweig der physikalischen Therapie gegenüber 
— nicht zu verkennen. 

2. Anton (Graz): Wahre Hypertrophie 
des Gehirns mit Befunden an Thymus¬ 
drüse und Nebennieren. 

Das untersuchte Gehirn stammte von einem im 
Status cpileplicus gestorbenen 20jährigen, hereditär 
schwer belasteten Individuum von normaler Intelligenz 
und auch im übrigen normalen Hirnfunktionen. Es 
wog 2055 g, war dabei in jeder Hinsicht wohl pro- 
portionirt gebildet. Das Schädeldach war auf fast 
Papierdünne reducirt. — Die Thymus war in auf¬ 
fallender Grösse vorhanden, die Nebennieren cystisch 
degenerirt, ihre Marksubstanz völlig geschwunden. — 
Ein Zusammenhang zwischen Nebennieren und Thy¬ 
mus einerseits und Gehirnentwicklung andrerseits ist 
schon wiederholt beobachtet worden, sodass darin 


wohl eine gewisse Gesetzmässigkeit erkannt werden 
kann. 

Diskussion: Herr Obersteiner erinnert an 
ein von ihm beschriebenes Gehirn von 1920 g Ge¬ 
wicht, bei dem ebenfalls die Intelligenz keine Defecte 
hat erkennen lassen. 

Herr St ekel glaubt, dass auch in der Migräne¬ 
pathologie ein solcher Zusammenhang zwischen Neben¬ 
nieren- und Gehirnfunktion in Betracht komme. 

3. Pilcz (Wien): Ueber Ergebnisse elek¬ 
trischer Untersuchungen an Geistes¬ 
kran ken. 

Vortr. ging von dem Gedanken aus, dass be- 
kanntermaassen ein und dieselbe Schädlichkeit Poly¬ 
neuritis mit Psychosen hervorrufen kann; so kann 
man vielleicht auch bei Psychosen anderer Art, die 
nur allgemein auf toxischem Boden entstehen, eine 
Mitbetheiligung peripherer Gebiete erwarten. Vortr. 
lenkte zum Nachweis der letzteren seine Aufmerk¬ 
samkeit vor allem auf die Zuckungsträgheit, und 
durch myographische Aufzeichnung gelang es ihm, 
auch geringe Grade einer solchen nachzuweisen und 
zahlenmässig zu messen. Er fand nun bei 10 Fällen 
von Amentia 6 mit galvan. und farad. Zuckungs¬ 
trägheit. Bei Delir, tremens, acut, hallucinat. und 
Alkohol-Psychose stellten sich bei ersterem die schwe¬ 
reren peripheren Veränderungen heraus (neben gal¬ 
vanischer auch faradische Trägheit). Auch bei pro- 
gress. Paralyse wurde einigemale träge Zuckung nach¬ 
gewiesen, doch ist zu weitergehenden Schlüssen hier¬ 
bei das Material noch zu klein. 

2. Sitzung, 23. September Vormittags. Vorsitzender: 
(j b e r s t e i n e r (Wien). 

4. Marinesco (Bukarest): Untersuchungen 
über spinale Lokalisation. 

Vortr. hat sowohl an Hunden experimentirt als 
auch Erfahrungen aus der menschlichen Pathologie 
gesammelt, die ihn zu folgenden Ansichten geführt 
haben: in den einzelnen Segmenten des Rückenmarks 
sind nicht sowohl die Extremitätenabschnitte oder 
die Nervenstämme, sondern die Muskeln durch 
distincte Ganglienzellgruppen vertreten, diese aber 
nur insoweit, als sie eine isolirte Function besitzen, 
einer gesonderten Bewegung fähig sind. So hat z. B. 
der M. Sterno-cleido-inastoid. eine andere Kemgruppe 
als der Trapezius, obwohl beide vom N. accessorius 
versorgt werden, der M. pectoralis major eine andere 
als der M. serrat. anticus major; dagegen haben der 
N. medianus und ulnaris, die beide der gleichen 
Function vorstehen (Flexion am Unterarm und Hand) 
auch die gleichen Kerne. Muskeln, die nur associirt 
in Thätigkeit treten, haben auch keine differenten 
Ganglienzellgruppcn. An den untern Extremitäten 
liegen die Verhältnisse ganz dem entsprechend. Im 
Allgemeinen haben die der Medianlinie näher liegenden 
Muskeln auch in ihrer Vertretung im Rückenmark 
eine mehr mediane Lage. 

Discussion: Herr Roth mann fragt, wie es 
mit diesen den Muskeln und ihrer Function ent¬ 
sprechenden Zellcentren wird, wenn die peripheren 
Nerven kreuzweis vernäht werden („greffe nerveuse“)? 

Herr Marinesco will später auch darauf achten. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 331 


5. Münzer (Prag): Zur Lehre vom Neuron. 

Vortr. hat den Versuch nachgeprüft, über den 

B e t h e im vorigen Jahre berichtete: Durchschneidung 
eines peripheren Nerven bei einem jungen Thiere, 
Verhinderung der Verheilung beider Stümpfe, trotz¬ 
dem Neubildung von functionstüchtigen Nervenele- 
menten im peripheren Stumpfe. Er fand, dass das 
proximale Ende des peripheren Stumpfes kolbig an¬ 
schwillt und mit der umgebenden Muskulatur fest 
verwächst. Bei mikroskopischer Untersuchung dieser 
Verwachsungsstelle konnte er eine enge Verbindung 
und Verflechtung der neuen Fasern mit solchen 
zwischen den benachbarten Muskelbündeln nach- 
weisen, und nimmt an, das die jungen Nervenfasern 
nichts als Auswachsungsproducte dieser intramusku¬ 
lären Fasern sind. Da wahrscheinlich auch in den 
Bcthe’schen Versuchen eine solche Verwachsung 
stattgefunden hat, hält er den Beweis für die Mög¬ 
lichkeit autochthoner, vom Central-Organ unabhängiger 
Entstehung resp. Regeneration von Nerven noch 
nicht für erbracht, darum auch einen Grund dafür, 
die Neuronenlehre an dieser Stelle für widerlegt zu 
halten, nicht für vorliegend. 

Discussion: Herr Rai mann ist bei Nach¬ 
prüfung der Bethe’schen Versuche zu demselben 
Resultate wie der Vortr. gekommen: Es sprach alles 
dafür, dass trotz aller Bemühungen, dies zu verhin¬ 
dern, doch von neuem Verbindungen zwischen cen¬ 
tralen Gebieten und peripherem Stumpfe sich wieder 
hcrgestellt hatten. 

Herr Lilien st ein erinnert daran, dass Bethe’s 
Versuch nur an neugeborenen Thieren gelungen ist 
und fragt, ob bei dem Vortr. dasselbe der Fall war. 

Herr Obersteiner hält nach dem Gehörten 
das Argument Bethe’s gegen die Neuron-Lehre für 
hinfällig. 

6. Sträussler (Prag): Ucbcr eine Missbil¬ 
dung des Centralnervensystcms und ihre 
Beziehung zu f oetaler H y d roc eph al i c. (Mit 
Demonstrationen). 

Bei einem neuntägigen Kinde mit einem enormen 
Hydrocephalus internus und einer lumbosacralen 
Rhachischisis wurde makroskopisch eine Unterent¬ 
wicklung des Kleinhirns und Verlagerung der Medulla 
oblongata, mit einem Einschluss im Centralkanal, 
welcher sich mikroskopisch als Kleinhirn erwies, 
in den Wirbelkanal beobachtet. Der Befund ent¬ 
sprach einer Missbildung, welche Chiari zuerst als 
Folgezustand congenitaler Hydrocephalie beschrieb; 
der Fall unterschied sich, wie aus der mikroskopischen 
Untersuchung hervorging, von den Beobachtungen 
Chiari’s nur dadurch, dass der Einschluss von 
wohl differenzirter Kleinhirnsubstanz 
sich über den grössten Th eil des Medul- 
larrohres erstreckte; im Aquaeductus Sylvii befand 
sich Kleinhirnsubstanz und war von hier durch den 
Centralkanal des Nachhirnes bis in den caudalen 
Theil des Rückenmarkes zu verfolgen. 

Ueber das ganze Centralnervensystem waren Ent¬ 
wicklungsstörungen verbreitet: Im Vorderhirne be¬ 


stand eine gemeinsame Hemisphaerenhöhle — Balken 
und Fomix fehlte; Verbildung des Kleinhirnes und 
eine breite Verwachsung desselben mit dem Gehirn - 
stamme, Persistenz der Deckplatte des Nachhirncs, 
Verlagerung von Olivensubstanz, Hetcrotopieen grauer 
Substanz und Verwachsung des unteren im Wirbel¬ 
kanal gelegenen Theiles des Nachhirnes mit dem 
oberen Theile des Rückenmarkes zeugte von schwerer 
Entwicklungsstörung des 3. Gehirnbläschens; Persi¬ 
stenz der embryonalen Mcdullarplatte in der Rhachi¬ 
schisis, Verdopplung des Rückenmarkes, Verdopplung 
und Verlagerung von Spinalganglicn vervollständigte 
die Kette der mannigfachen Zeichen gestörter Ent¬ 
wicklung. 

Der Annahme Chiari’s, dass die Missbildung des 
3. Gehimbläschens und die Kleinhirn Verlagerung in 
einem Theil des Central kanales des Medullarrohres 
durch eine Raumbeengung in der Schädelhöhle in 
Folge Hydrocephalie des Grosshirnes hervorgerufen sei, 
setzt der Vortragende die Auffassung entgegen, dass 
die Gesammtheit der Entwicklungsstörungen einheit¬ 
lich zu beurtheilen sei und für die Erkenntniss der 
Ursachen der Missbildung die aus der experimen¬ 
tellen Teratologie gewonnenen Erfahrungen maass- 
gebend sein müssen. 

Gegen die Annahme des Hydrocephalus als Ur¬ 
sache der Bildungsstörung des 3. Gehimbläschens ist 
insbesondere anzuführen: 

1. Das Bestehen einer grossen Anzahl von Ent- 
wicklungsstörungen, über das ganze Centralnerven¬ 
system verbreitet, welche durch die Hydrocephalie 
nicht zu erklären sind; in den Fällen Chiari’s er¬ 
streckten sich Bildungsstörungen auch auf andere 
Organe. 

2. Die für die Missbildung characteristischen Stö¬ 
rungen in der Entwicklung des Hinterhimes und 
Nachhimes mit der Verlagerung von Kleinhirn in 
den Centralkanal des Medullarrohres konnten nur in 
einer sehr frühen Entwicklungsperiode zu Stande 
kommen; das Bestehen der Rhachischisis beweist, dass 
bereits zur Zeit des Verschlusses des Medullarrohres 
irgendwelche Schädlichkeiten auf das Ei eingewirkt 
hatten, welche den normalen Verschluss verhinderten; 
analog der Entw’icklungsstörung der dorsalen Par¬ 
tie eil des Schwanzendes des Medullarrohres, wäre 
das Einsetzen der Störung in der Entwicklung der 
Deckplatte des 3. Gehirnbläschens in die früheste 
Entwicklungsperiode, wahrscheinlich in die Zeit des 
Verschlusses des Kopfthcilcs der Medullarrinne zu 
verlegen; eine Raumbeengung in der Schädelhöhle 
kann zur Erklärung der Missbildung also nicht in Be¬ 
tracht kommen. 

3. Ist die Verlagerung des Kleinhirnes in dem 
vom Vortr. beobachteten Falle nicht nur distal, vom 
Sitze des Kleinhirnes aus, sondern auch proximal — 
im Aquaeductus Sylvii vorhanden, was gegen die 
mechanische Beeinflussung der Wachsthumsrichtung 
des Kleinhirnes durch eine Raumbeengung in der 
Schädelhöhle spricht. 

Der bestehende Hydrocephalus ist in dem Falle 


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[Nr. 30- 


332 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


des Vortr. secundär durch die Kleinhimbildung be¬ 
dingt, indem durch Hineinreichen des Kleinhirnes 
bis an den Boden des 4. Ventrikels die Communi- 
cation zwischen den Höhlen des Grosshimcs und des 
Rückenmarkes aufgehoben wurde; eine Rolle mag 
auch die in dem Falle wie bei allen Missbildungen 
vorhandene Erweiterung und Vermehrung von Blut¬ 
gefässen gespielt haben. Zunächst sccundäre Folge 
der Kleinhirnmissbildung kann der Hydrocephalus 
vielleicht später an der weiteren Ausgestaltung der 
Missbildung mitgewirkt haben. 

7. v. Leonova (Würzburg): Ucber die Ent¬ 
wicklungsabnormitäten des Central-Nerven- 
sytems bei Cyclopie. 

Es bestand im untersuchten Falle neben Cyclopie 
Microcephalie und Arhinencephalie; das Kleinhirn 
war verkümmert, erhalten nur das Rückenmark, die 
Medulla oblong., die Vierhügel und das Zwischenhim. 
Es bestanden zahlreiche Heterotopien grauer und 
weisser Substanz. Vortr. erinnert an die Theorie von 
Dareste über die Pathogenese der Cyclopenbildung, 
woraus das häufige Zusammentreffen dieser Missbil¬ 
dung mit Microcephalie bis zu einem gewissen Grade 
erklärlich sei. 

Discussion: Herr Sternbeig weist auf das 
Verhalten der Hinterstränge hin, die gut entwickelt 
sind, obgleich die Hinterstrangkeme fast fehlen. Es 
muss also neben dem Ursprungskem auch dem „End- 
kem“ in der Entwicklung des Nervensystems eine 
Bedeutung zukommen, was in gewissem Sinne gegen 
die Neuronen-Theorie spricht. 

Herr Anton bestreitet, dass die Amnion-Theorie 
von Dareste für Missbildungen wie die vorliegende 
eine genügende Erklärung gebe; beim sich entwickeln¬ 
den Organismus wirken eben andere Wachsthums¬ 
kräfte als beim Erwachsenen. Auch er w r eist auf die 
Bedeutung für die Neuron-Frage hin; die Incongruenz 
zwischen Kernen und Fasern spricht für eine Wachs¬ 
thumsunabhängigkeit beider, der Zusammenhang wird 
erst mit der Function gegeben. 

3. Sitzung, 23. September Nachmittags. 

8. Marburg (Wien) : Zur Pathologie der 
Hirngefässe. 

Vortr. fand in Uebereinstimmung mit Jones, bei 
jugendlichen Individuen (6 und 24 J.), die keinerlei 
Zeichen einer Gefässerkrankung im Leben dargeboten 
hatten, isolirte Verkalkung der Elastica, glaubt dass 
dieselbe u. A. in der Aetiologie von Früh-Apoplexien 
eine Rolle spielen könne. Ferner fand er bei End- 
arteritis der Hirngefässe in der gewucherten Intima 
echte Knorpelbildung, die auf dem Wege einer reinen 
Metaplasie zu Stande gekommen war. 

— Der preussische Justizministerial-Erlass 
vom 7. d. Mts. und der Richterstand. — Das 

Corrclat der „freien Bew'eisw'ürdigung“ des Richters 


ist bekanntlich dessen Rechtspflicht, alles aufzubieten, 
um die Fähigkeit zur Bildung eines sachgemässen 
Urtheils zu erlangen. Durch obigen Ministerialerlass, 
wonach nicht mehr der Specialarzt, sondern der Kreis¬ 
arzt das „Mädchen für Alles“ (sc. für alles Medici¬ 
nische) , bei Entmündigungen wegen Geisteskrank¬ 
heit und Geistesschwäche „regelmässig“ zu „wählen“ 
ist, wird den Richtern eine Beschränkung bei der 
Beweisführung auferlegt, abgesehen, wo „besondere 
Umstände“ eine Ausnahme erfordern. Man denke 
sich den Fall, dass zur Beurtheilung einer Erkrankung 
der Augen und Ohren und ihrer rechtlichen Folgen 
von den Justizbehörden die regelmässige Wahl, nicht 
des Augen- bezw. Ohrenarztes, sondern des „Kreis¬ 
arztes“ vorgeschrieben wäre, und man ward zugeben 
müssen, dass nicht bloss auf dem Gebiete der Irren¬ 
kunde, sondern auf allen Gebieten der medicinischen 
Wissenschaft, welche eine specialistischc Sonderstellung 
und Vertretung haben, der Richter, w'enn er seinem 
Verantw'ortlichkeitsgefühl folgt, stets denjenigen Sach¬ 
verständigen ward wählen wollen, der das betreffende 
Fach am besten beherrscht. Und in diesem ge¬ 
sunden Bestreben sollte ihm, im Interesse der Recht¬ 
sprechung, freie Hand gelassen werden. Es ist 
also eine alsbaldige Abänderung des obigen Erlasses 
vom Standpunkt des Richters erforderlich, um 
so mehr, als auch jeder Richter w-eiss, dass die Be¬ 
gutachtung von krankhaften Geisteszuständen nicht, 
wie diejenige hygienischer und köq)erlicher Verhält¬ 
nisse, Sache einer in kurzer Zeit zu erlernenden tech¬ 
nischen Methode, sondern in erster Linie Sache lang¬ 
jähriger Erfahrung und umfangreichen Wissens ist 

— Zum Ministerial-Erlass vom 7. October 
1902. — Die Tages presse beschäftigt sich weiter 
mit dem Erlass. Selbst ein Blatt, das die Entmün¬ 
digung überhaupt in die Hände eines Laienkollegiums, 
nicht in diejenigen des Richters und Arztes gelegt 
wissen will, das also wirklich keine Sympathie für die 
Irrenärzte übrig hat, bedauert, dass durch diese Re¬ 
form die Rechtsunsicherheit, die auf dem Gebiete 
des Irrenrechts bestehe, in nicht unbedenklichem 
Maasse vermehrt w-ird. — Wir beabsichtigen, dem¬ 
nächst sämmtliche Pressstimmen über den Erlass in 
einer Nummer zu vereinigen — Eine Seitens eines 
Collcgen an die Redaction der psych.-neurolog. 
Wochenschrift gerichtete Zuschrift verdient besondere 
Beachtung: „Zu erwägen dürfte auch sein, ob nicht 
eine Versammlung der preussischen Irren¬ 
ärzte oder eine ausserordentliche Sitzung des 
Vereins deutscher Irrenärzte mit möglichst zahl¬ 
reicher Betheiligung in Berlin zu veranstalten wäre, 
zu welcher der Justizminister eingcladen würde und 
in welcher in Gegenwart von Vertretern der Presse 
die Führer der deutsc hen Irrenärzte eingehende Be¬ 
richte über die nachtheilige Wirkung der Verfügung 
vom 7. d. Mts. zu erstatten hätten.“ Red. 


Für den rcdactioncllen Theil verantwortlich: Oberar/t I)r. J. liresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heyocmann’sche Buchdruckerci (Gebr. WolflF) in Hallo a. S. 


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Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien', zu richten. 

Inhalt. Originale: Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen und daraus abzuleitende Forderungen nach 
Weiterausgestaltung derselben. Von Dr. Ernst Kalmus, k. k. Polizeiarzt in Prag (S. 333). — Zum Capitel „Familien¬ 
pflege“ (S. 337). — Mittheilungen (S. 338). 


Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen 
und daraus abzuleitende Forderungen nach Weiterausgestaltung derselben*). 

Von Dr. Ernst Kaltnus , k. k. Polizeiarzt in Prag. 


AÄ/ enn m * r heute erlaube, hier ein Thema zu 
* ’ besprechen, das mehr oder weniger nur von 
local beschränkter Bedeutung ist, so geschieht dies 
einerseits deshalb, weil ich wohl ein gewisses allge¬ 
meineres Interesse für die sanitären Einrichtungen des¬ 
jenigen Landes voraussetzen kann, in welchem die 
diesjährige Naturforscherversammlung stattfindet, dann 
aber und hauptsächlich deshalb, weil ich aus meiner 
kurzen Darstellung der gegenwärtigen Verhältnisse 
einige Wünsche und Forderungen abzuieiten gedenke, 
welche ich einer so sachverständigen Versammlung 
zur gütigen Kritik vorlegen möchte, um ihnen an 

*) Vortrag, gehalten in der neurologisch-psychiatrischen 
Section der 74. Versammlung der Naturforscher und Aerzte in 
Karlsbad, am 25. September 1902. 


maassgebender Stelle eine grössere Autorität zu ver¬ 
leihen. 

Die Irrenfürsorge in Böhmen ist durchaus nicht 
neuen Datums, sondern beginnt, wie in allen mittel¬ 
europäischen Staaten, schon zu Ende des 18. Jahr¬ 
hunderts. Unter der Regierung Kaiser Josef II. wurde 
in Prag ein heute noch stehender, jetzt allerdings 
anderen Zwecken dienender Tract des allgemeinen 
Krankenhauses der Irrenpflege speciell gewidmet, wie 
eine heute noch leserliche Inschrift auf demselben: 
Custodiae mente Captorum: Josephus II. Leopoldus II. 
Augusti 1790 bezeugt. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die histo¬ 
rische Entwickelung des Irrenwesens in Böhmen vor¬ 
zuführen ; doch seien mir, bevor ich auf mein eigent- 


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334 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 31. 


liches Thema eingehe, folgende kurze Bemerkungen 
gestattet: 

Unter den gegenwärtigen für die Irrenpflege noch 
in Verwendung stehenden Bauten aus früherer Zeit 
ist jener Theil der Prager Irrenanstalt bemerkenswert!!, 
welcher in den Jahren 1840—1844 aufgeführt, im 
Kasemenstile als zweistöckiges Corridorgebäude erbaut, 
heute noch als „Neues Haus“ bezeichnet wird. Er 
stellte seinerzeit als erster derartiger Bau auf dem 
Continente ein Muster der damals üblichen Irrenan¬ 
stalten dar und war auch für viele Anstalten des In- 
und Auslandes (ich erwähne z. B. die Anstalt Nietleben) 
vorbildlich. — In demselben sind heute noch die 
beiden psychiatrischen Kliniken (die deutsche und 
die böhmische) untergebracht. 

Erwähnenswerth scheint mir ferner auch eine am 
Ende der sechziger Jahre (1856—57) getroffene Ein¬ 
richtung, welche nach dem Berichte des Landesaus¬ 
schusses als erste „Irrencolonie“ anzusehen wäre, „wie 
sie zu jener Zeit weder in Oesterreich noch in einem 
Nachbarstaate eingeführt war“. Es ist dies die Er¬ 
werbung der Sluper Gründe, eines 20 Joch grossen 
Grundstückes in unmittelbarer Nähe der Prager An¬ 
stalt, auf welchem eine beträchtliche Zahl von Geistes¬ 
kranken mit Gartenbau beschäftigt wurde, beziehungs¬ 
weise noch beschäftigt wird. Diese Einrichtung schien 
mir schon deshalb erwähnenswerth, weil sie demnächst 
verschwinden wird, da die Grundstücke vom Staate 
zum Zwecke der Errichtung einiger Universitätsinstitute 
angekauft wurden. 

Sehr wesentliche Erweiterungen und Verbesserungen 
erfuhr die Irrenfürsorge Böhmens seit dem Jahre 
1861, in welchem die Verwaltung der bis dahin 
staatlichen Irrenanstalt in Prag an das Land Böhmen 
überging und nun dieses, beziehungsweise dessen 
Körperschaften, der Landtag und der Landesaus¬ 
schuss für die Unterbringung der immer zahlreicher 
werdenden Aufnahme in Irrenanstalten suchenden 
Geisteskranken zu sorgen hatte. 

Ausser verschiedenen kleineren Veränderungen 
wurden im Jahre 1869 die Anstalt in Kosmanos, 
im Jahre 1880 jene in Dobran (sprich Dobrschan), 
im Jahre 1887 die Filialanstalt in Woporan (sprich 
Woporschan) und 1892 die Filialanstalt in Ober- 
berkowitz neu errichtet. Von diesen Anstalten 
ist Dobran*) die bemerkenswertheste, da sie allein 
unter den derzeitigen Anstalten in Böhmen nicht 
durch Adaptirung sondern als planmässiger, den da- 

*) In der Versammlung wurde eine Planskizze, sowie ein 
photographischer Atlas der Dobraner Anstalt, welchen der 
Landesausschuss zur Verfügung gestellt hatte, demonstrirt. S. 
diesbezügl. den Bericht des Landesausschusses vom Jahre 1897. 


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maligen und wohl auch heutigen Anforderungen voll 
entsprechender Neubau bezw. Neuanlage entstanden 
ist und für andere österreichische Anstalten (ich er¬ 
wähne hier: Troppau, Stemberg in Mähren, Kierling, 
ja in gewisser Beziehung selbst die neueste Anstalt in 
Mauer-Oehling in N.-Oesterreich) vorbildlich wurde. 

Die Dobraner Anstalt ist auf einer kleinen An¬ 
höhe nächst Dobran, einem kleinen Städtchen, un¬ 
weit von Pilsen gelegen. — Die ursprüngliche An¬ 
staltsaue hatte eine Fläche von über 75 Joch = 
4312 Ar und die Gestalt eines gegen Nordost sich 
verengenden Rechteckes. — Heute beträgt sie über 
124 Joch. 

In der Mittellinie des ganzen Complexes sind: 
das Administrationsgebäude, dahinter die Kirche, die 
Küche, das Maschinen- und Waschhaus mit dem 
Centralbadehaus, die Werkstätten, das Lagerhaus, 
das Leichenhaus und eine Portierswohnung gelegen. 

Zu beiden Seiten dieser „Mittelgebäude“ sind die 
einzelnen Krankenpavillons gelagert und zwar ist der 
südliche Theil der Anstalt für Männer, der nördliche 
für weibliche Kranke bestimmt. 

Nach ihrem Zwecke sind die Pavillons in zwei 
Abtheilungen getheilt. 

I. Der Haupttheil mit gedeckten Gängen ver¬ 
bunden, für solche Kranke bestimmt, welche dauern¬ 
der Aufsicht und Pflege bedürfen. 

II. Der Nebentheil: in welchem die zur Arbeit 
fähigen, sowie die minder aufsichtsbedürftigen Kranken 
unterbracht sind. 

Im Haupttheil sind zu unterscheiden: 

I der Pavillon für ruhige, 

II „ „ für minder ruhige, 

III „ „ für unruhige Kranke, 

IV „ „ für somatische Kranke (keine 

Decke bis zum Satteldach vorhanden.) 

Auf weitere Details der Einrichtung der Dobraner 
Anstalt kann hier nicht näher eingegangen und muss 
auf den Bericht des Landesausschusses verwiesen 
werden. Es sei nur noch gestattet, hier zweier aus¬ 
ländischer Fachberichte zu erwähnen, welche der An¬ 
lage der Dobraner Anstalt volle Anerkennung zu theil 
werden lassen und, weil von Ausländem (einem fran¬ 
zösischen und einem englischen Arzte) stammend, 
wohl als unvoreingenommen angesehen werden dürfen. 

Der erstere Bericht stammt von Dagonet, dem 
bekannten Chefarzte der Irrenanstalt St. Anne und 
erschien in den Annales Medico-Psychologiques v. J. 
1885. Sein Schlusssatz lautet: En resume, le nouvei 
asile de Dobran merite la reputation dont il jouit en 
Autriche; son Organisation medicale est des plus seri- 
euses et nous l’avons visite avec le plus grand interet; 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


335 


son importance nous a paru devoir justiner les details 
un peu minutieux, dans lesquelles nous sommes entres. 

Der englische Bericht ist dem bekannten 1564 
Seiten starken Buche des australischen Arztes G. 
A. Tuck er: Lunacv in many lands entnommen; er 
sagt zum Schluss: Nach den modernsten und er¬ 
probten Ideen eingerichtet und geleitet; excellent ver¬ 
waltet; ein bemerkenswerth hoher Procentsatz von 
Patienten arbeitet. 

Beide Berichte heben insbesondere die ärztliche 
Leistung durch die damaligen Aerzte der Dobraner 
Anstalt, die jetzigen Professoren A. Pick in Prag und 
Anton in Graz rühmend hervor. — Leider musste 
im Laufe der Zeit die ursprünglich für 600 Kranke 


Einwohner zählte, im Ganzen fünf öffentliche, in 
der Verwaltung des Landes stehende Anstalten. Die 
drei ausserdem in Böhmen bestehenden Privatheilan¬ 
stalten für Geisteskranke, ich meine: die Idiotenan¬ 
stalt des St. Anna Frauen Vereines mit über 100 Pfleg¬ 
lingen, ferner die nur wohlhabenden Kranken offen 
stehenden Privatanstalten in Bubenc (Dr. Kramer) 
und Krec (Dr. Simsa) kommen für die Frage der Irren¬ 
fürsorge weniger in Betracht; erstere, die Idiotenan¬ 
stalt, soll übrigens als ein rühmenswerther Anfang 
später noch Erwähnung finden. — 

Zu dieser Zeit (Ende 1900) standen nach den mir 
freundlichst zur Verfügung gestellten Berichten der 
Statthalterei in Prag in den 5 öffentlichen Irrenan- 



Kgl. böhm. Landes-Irrenanstalt in Dobran (dem citirten Bericht des Landesausschusses entnommen). 
I. Administration. 2. Kirche. 3. Küche. 4. Maschinenbaus, Waschanstalt, Bäder. 

A. Beamtenhaus. B. Wirthschaftsgebäude. C. Gasanstalt. D. Pumpenhaus. E. Verbindungsgang. 

I. Pavillon für Ruhige. II. Pavillon für Minderruhige. III. Pavillon für Unruhige. IV. Pavillon für somat. Kranke. 

V, VI, VII. Villen für Kranke. 


bestimmte Anstalt immer stärker und stärker belegt 
werden, so dass sie Ende 1901 einen Normalbeleg¬ 
raum von 1500 Betten zählte. Doch beweisst an¬ 
dererseits die Möglichkeit einer derartigen Erweiterung 
wohl die Zweckmässigkeit der ursprünglichen Anlage. 

Die anderen Anstalten Böhmens sind, wie schon 
erwähnt, durch Adaptation anderer, nicht zu derartigen 
Zwecken erbauter Gebäude entstanden, an welche 
man im Laufe der Zeit entsprechende Neubauten, 
wie z. B. in Woporan angliederte. 

Mit Ende des Jahres 1900 hatte Böhmen, das 
nach der Zählung vom December 1900, 6318280 


stalten Böhmens in Summa 4176 Betten zur Dispo 
sition, welche sich folgendermassen vertheilen: 



Bettenzahl. 

Prag 

1119 

Dobran 

150° 

Kosmanos 

858 

Ober- Berk owitz 

415 

Woporan 

284 


4176 

Es kamen somit auf 1000 Einwohner 0,661 Betten, 
eine im Vergleich zu anderen Ländern sehr geringe 
Zahl. (Baden hat 1,28 Plätze, mit Einbeziehung der 
Privatanstalten 1,66 Plätze auf 1000 Einwohner). Durch 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 31. 


Erweiterung der Anstalt in Woporan wuchs die Zahl 
der Betten daselbst im Laufe des Jahres 1901 von 
284 auf 520, so dass mit Ende 1901 in ganz Böhmen 
4412 Betten zur Verfügung standen. Dabei ist jedoch 


und vom Vorjahre Verbliebenen). Seit dem Jahre 
1885 ist die Zahl der Verpflegten von 3360 auf 
6699, also fast auf das Doppelte gestiegen. Ver¬ 
gleichen wir damit die Zahlen (im Jahre 19 01 ) 



I. Die Zahlen der in den böhm. Landesirrenanstalten jährlich Verpflegten. 

II. Die Zahlen der in den böhm. Landesirrenanstalten mit Ende des Vorjahres Verbliebenen. 


die Prager Anstalt mit 1229 Betten eingestellt, während 
ihr normaler Belegraum nur 800 Betten beträgt. 

Betrachten wir nun die Krankenbewegung in diesen 
5 Anstalten, so sei hier zunächst auf das enorme An¬ 
wachsen der Zahlen der jährlich verpflegten Geistes¬ 
kranken in ganz Böhmen hingewiesen (s. beifolgend 
die Curve über die vom Jahre 1850—1900 Verpflegten 


der mit dem Ende des Vorjahres Verbliebenen, welche 
etwa als maximaler Fassungsraum der Anstalten 
angesehen werden kann, wobei auf die in einzelnen An¬ 
stalten bestehende Ueberfüllung später noch Rücksicht 
genommen werden soll, so ergiebt sich: Im Jahre 1885 
waren 2019 Kranke vom Vorjahre verblieben; im 
Jahre 1902 schon 4590 — für welche jedoch, wie 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1902.] 


oben erwähnt nur 4412 Betten bei voller Ausnützung 
des Raumes zur Verfügung standen. — Es waren 
demnach 187 Kranke mehr in den Anstalten, als 
eigentlich darin Raum haben. — 

Geht daher aus diesen Zahlen hervor, dass das 
Land zwar versucht hat durch Vermehrung der Plätze, 
es sind seit dem Jahre 1885 etwa 2400 Betten zuge¬ 
kommen, den Anforderungen gerecht zu werden, so 
beweisen andererseits diese Zahlen auch die Unzuläng¬ 
lichkeit dieser Bemühungen. 

Untersuchen wir nun die einzelnen Anstalten 
genauer auf ihre Krankenbewegung im letzten Jahre, 


speciell auf ihre Überfüllung; so ergiebt sich für Ende 

1901: 

Prag mit 

Ueberbelag 

1119 

Betten (norm, nur 800) hatte 

1445+326 (645) 

1500 

Dobran mit 

„ hatte. 

1417— 83 

858 

Kosmanos mit 
„ hatte. 

806— 52 

415 

Ober-Berkowitz mit 
„ hatte. 

41 1— 4 

520 

Woporan 

„ hatte. 

520 


4412 (4093) 4599+187(4-606) 


Es zeigte demnach Prag die stärkste Ueberfüll- 
ung: 326 Kranke über seinen maximalen Fassungs¬ 
raum, 606 über seinen normalen Belegraum. 

Um diesem Uebelstande wenigstens theilweise abzu¬ 
helfen, beschloss der Landesausschuss am 7. Mai 1902 
9 Bezirkshauptmannschaften, welche bis dahin nach Prag 


gehört hatten, bezw. deren Geisteskranke der Anstalt in 
Kosmanos zuzuweisen, sodass jetzt die Vertheilung der 
einzelnen Bezirke folgende ist: 

Der nordöstliche Theil von Böhmen, 33 Bezirks¬ 
hauptmannschaften inclusive der Stadt Reichenberg 
mit zusammen 2059219 Einwohner, gehören zum 
Aufnahmsbezirke von Kosmanos. 31 Bezirkshaupt¬ 
mannschaften des südöstlichen Böhmen mit 1 830451 
Einw. gehören in den Aufnahmebezirk Dobran, und die in 
der Mitte gelegenen 32 Bezirkshauptmannschaften mit 
der Landeshauptstadt Prag, zusammen 2 428620 Einw., 
gehören in den Aufnahmsbezirk der Anstalt Prag und 
der Filialanstalten Ober-Berkowitz und Woporan. — 
Ausserdem sind, laut einer frdl. Mittheilung des 
Landesausschusses bez. dessen Sanitätsconcipirten 
Doc. d’Matiegka, in Dobran 4 neue Villen für je 50 
Kranke im Bau, von denen jede mit 50000 Kronen 
in den Voranschlag des Landesausschusses aufge¬ 
nommen ist; 4 weitere solche Villen sollen demnächst 
errichtet werden. — Auch in Berkowitz sollen Zu¬ 
bauten geplant sein. 

Ob ein derartiges stückweises Vergrössem der 
ohnehin schon heute kaum zu übersehenden Anstalt 
in Dobran zweckmässig ist, ob kleinere Anstalten 
(von höchstens 1000 Kranken) vom ärztlichen Stand¬ 
punkte aus nicht zweckmässiger wären, mag dahinge¬ 
stellt bleiben. — Jedenfalls möchte ich glauben, dass 
man bei der Neuerrichtung einer Anstalt, an Stelle 
der Prager Irrenanstalt, mindestens bei der Organisation 
des ärztlichen Dienstes auf diesen Umstand Rücksicht 
nehmen sollte. (Schluss folgt.) 


Zum Capitel „Familienpflege. 1 


I Tnter die Zahl derjenigen Anstalten, die Kranke 
in Familienpflege gegeben haben, ist seit dem 
Anfang Juni d. J. auch die Anstalt Brieg, Bez. Breslau, 
getreten. Die bisherigen Erfolge ermuntern nicht nur 
hier, sondern hoffentlich auch an andern Orten zur 
Einrichtung und weiteren Ausgestaltung dieser Ver¬ 
pflegungsart, da sich einmal überall damit Versuche 
in kleinerem Umfange anstellen lassen, andrerseits 
auch sicher überall Kranke sich befinden, die harm¬ 
los, sauber und ruhig sind, sich also für Familienpflege 
eignen, ja in der Familie sogar wohler und besser 
befinden, als in den Räumen unserer zumeist über¬ 
füllten und mit zahlreichen unruhigen, gewaltthätigen 
und unsauberen Kranken belegten Anstalten. 

Es sind sowohl weibliche, wie in letzter Zeit auch 
männliche Kranke hinausgegeben worden und weitere 
Pfleglinge sollen folgen, bis zur Zahl von zwanzig 

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Stellen, die vorläufig als Grenze angenommen ist. 
Gelingen die. weiteren Versuche in dem Maasse, wie 
bisher, dann wird voraussichtlich die Einrichtung weiter 
ausgedehnt werden können, da man nach den ersten 
gelungenen Versuchen muthiger wird und Kranke in 
Pflege zu geben wagt, bei denen zuerst Bedenken 
vorliegen. Allen theoretischen Erwägungen gegenüber 
erweist die Praxis in den meisten Fällen sich über¬ 
legen und man sieht in der Mehrzahl der Versuche, 
dass die Kranken sich draussen wohler fühlen und 
sich besser und rascher einleben, als man erwartet 
hatte, während Misserfolge öfter nicht durch unpassende 
Auswahl der Kranken, als vielmehr durch Täuschung 
in der Wahl von Pflegestellen, die man für geeignet 
hielt, welche sich nachher aber nicht bewährten, her¬ 
vorgerufen weiten. Secundäre Schwächezustände, Zu¬ 
stände von Verwirrtheit, alte paranoische Kranke oder 

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338 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 31. 


Periodici mit langen Remissionen eignen sich sämmt- 
lich und werden natürlich besonders dann gern ge¬ 
nommen , falls sie sich noch etwas beschäftigen. Es 
konnte aber auch beobachtet werden, dass Kranke, 
die sich in der Anstalt gar nicht arbeitsfähig zeigten, 
anfingen, in der Familie zu arbeiten, wegsamer zu 
werden und sich selbst körperlich zu erholen. Die 
Pflegesätze betragen monatlich 20 — 25 Mark, sind 
also recht niedrig bemessen. 

Die weiblichen Kranken sind sämmtlich in der 


Stadt untergebracht, die Männer auf dem unmittelbar 
an die Stadt grenzenden Dorfe, das voraussichtlich 
nächstens eingemeindet wird, und wo sich seit Jahren 
eine Irrencolonie befindet. Pflegestellen sind vorläufig 
genügend vorhanden. Sollte Mangel daran sich geltend 
machen und die Familienpflege weitere Ausdehnung 
gewinnen, so erscheint auch die Anlage von Wärter- 
häusem, welche gleichzeitig zur Aufnahme von Pfleg¬ 
lingen dienen, nicht ausgeschlossen. K. 


Mittheilungen. 


— 74. Versammlung deutscher Natur¬ 

forscher und Aerzte zu Karlsbad. 21. bis 26. 
September. Abth. Neurologie und Psychiatrie. 
(Fortsetzung.) 

9. v. J acksch (Prag): Ueber die im Mangan- 
betriebe vorkommenden nervösen Affec- 
tionen. 

Demonstration mehrerer Kranker, die alle über¬ 
einstimmend das gleiche Symptomenbild zeigen: 
Spastischer Gang, scandirendc Sprache, Zwangslachen 
und Weinen, Demenz, dazu als sehr chaiacteristisch 
eine ausgesprochene Retropulsion beim Gang nach 
rückwärts. Es fehlen Nystagmus, Intentionstremor, 
Ataxie, Romberg’sches Zeichen, jede Sensibilitätsstö¬ 
rung. Als die allein giftige Manganvcrbindung hat 
sich das Mg-Oxydul nachweisen lassen. Die Dauer 
der Einwirkung bis zum Auftreten von Intoxications- 
Erscheinungen ist sehr verschieden (Wochen bis Jahre). 
Die Prognose ist infaust. Vortr. sieht die Bedeutung 
dieser Fälle in ihrer Aehnlichkeit mit der multiplen 
Sklerose. 

Discussion: Herr Marinesco hebt als Unter¬ 
schied zwischen diesen und Fällen von multipler 
Sklerose die Vielgestaltigkeit der letzteren hervor; die 
vorgestellten Fälle zeichnen sich gerade durch ihre 
Einförmigkeit aus. 

Herr v. Wagner muss doch die grosse Aehn¬ 
lichkeit beider Krankheitsbilder hervorheben, die durch 
die einheitliche Aetiologie in den vorgestellten Fällen 
noch an Bedeutung gewinnt. 

Herr Häenei sucht die von Herrn Marinesco 
erwähnten Unterschiede durch die verschiedene Loca- 
lisation des anatomischen Prozesses, der dabei wohl 
bei beiden von der gleichen Art sein könnte, zu er¬ 
klären. 

Herr Obersteiner sieht in dem einen der vor¬ 
geführten Fälle kl einschlägigen Nystagmus in der 
Mittelstellung der Augen. 

Herr Rothmann fragt nach dem Verhalten des 
Babinski’schen Reflexes. Derselbe fehlt hier. 

Herr Jacksch, Schlusswort. 

10. Friedei Pick (Prag): Ue^er klinische 
Temperatursin nsprüfung. 

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Vortr. hat einen kleinen handlichen Apparat con- 
struirt (Erwärmung eines Wasserbehälters durch eine 
vom elektrischen Strom durchflossene Platinspirale, 
Temperaturablesung an eingefügtem Thermometer), 
der eine genaue Abstufung des Wärmereizes und da¬ 
durch die Gewinnung von Schwellenwerthen gestattet. 
Er berichtet über Untersuchungen, die Herr Dr. 
Neu mann mit diesem Apparate bei Gesunden und 
Kranken angestellt hat. 

11. Stern b erg (Wien): Zur Physiologie 
des menschlichen Centralnervensystems 
nach Studien an Hemicepha 1 en. 

Gemeinsam mit Dr. Wilhelm Latz ko hat Vortr. 
die Lebensäusserungen einer hirnlosen Missgeburt 
studirt, und nach ihrem am dritten Tag erfolgten 
Tode das Centralnerven System eingehend untersucht. 
Das Geschöpf besass Rückenmark und Meduila 
oblongata bis in die Gegend des Locus coeruleus, 
sowie ein höchst rudimentäres Kleinhirn. Der innere 
Aufbau zeigte eine gewisse Thierähnlichkeit. Von 
grösseren Bahnen fehlten die Pyramidenbahn, das 
Monakow’sche Bündel, wahrscheinlich auch das Go- 
werssche Bündel, sowie die Kleinhimverbindungen 
der Olive und des Pons. Die Lebensäusserungen 
der Missgeburt unterschieden sich nur in sehr Weni¬ 
gem von denen eines normalen Neugeborenen. Sie 
stiess den ersten Kindesschrei aus, saugte, wurde 
durch die Anregung des Saugens beruhigt, wenn sie 
schrie, sie legte die Arme zurück, wenn man diese 
aus der eingenommenen Stellung brachte. Das Stimm¬ 
centrum reicht daher nicht höher als bis in die Ge¬ 
gend des Locus coeruleus, der Kern des hinteren 
Vierhügels gehört wahrscheinlich nicht mehr dazu. 
Die Beruhigung des Schreiens durch Saugen beruht 
auf einer Reflexhemmung, die sich in der Oblongata 
vollzieht, die Wirkung und Beliebtheit des „Schnullers“ 
beruht auf diesem Reflexvorgange und nicht auf einer 
„Ungezogenheit“. Die ziemlich complicirte Coordi- 
nation, die zum Zurücklegen der Arme erforderlich 
ist, geschieht ohne Mitwirkung der Pyramidenbahn. 
Schob man einen Finger in das Händchen, so ergriff 
ihn die Missgeburt und hielt ihn fest. Diese Bewe¬ 
gung, die Eltern und Pflegerinnen so „herzig“ und 
„nett“ zu finden pflegen, ist also ein tiefstehender 

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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


339 


Reflex. Das Geschöpf führte spontanen und reflec- 
torischen Lidschluss aus. Da der Oculomotoriuskem 
nicht ausgebildet war, kann daher der Augenfacialis 
nicht — wie Mendel’s Hypothese annimmt — von 
diesem Kerne entspringen, sondern muss wohl auch 
im Facialiskem gesucht werden. Auf unangenehme 
Reize reagirte die Missgeburt, wie schon von Flechsig 
in einem ähnlichen Falle gesehen wurde, mit verschiede¬ 
nen Schmerz oder Unwillen ausdrückenden Grimassen 
des Mundes. Es muss daher unterhalb des von 
Nothnagel und Bechterew im Sehhügel nachge¬ 
wiesenen mimischen Centrums noch ein Centrum für 
einige mimische Reflexe in der Oblongata liegen. 
Unter den beobachteten Grimassen ist insbesondere 
jene unwillig schmollende Geberde bemerkenswerth, 
die in Wien „Schnoferl“ genannt. wird. Sie ist nach 
Darwin eine Ausdrucksform, die Chimpansen und 
Orangutangs besitzen, die bei Kaffernweibern häufig 
ist, sich bei Europäern aber noch in der späteren 
Kindheit verliert. Auch das reflectorische Festhalten 
des in die Hand geschobenen Fingers geht in der 
spätem Kindheit verloren und ist wahrscheinlich ein 
phylogenetisch alter Reflex. Er musste für ein Wesen, 
das auf Bäumen lebte und von Ast zu Ast sprang, 
sehr wichtig sein. Während das hirnlose Geschöpf 
alle die aufgezählten Functionen mit dem normalen 
Kind gemein hatte, fehlten ihm die Abwehrbewegungen 
der Extremitäten, die bei gewissen unangenehmen 
Reizen (z. B. Kitzeln der Nasenschleimhaut), auch 
beim Neugeborenen sonst auftreten. Das Fehlen 
dieser Bewegungen, der Reactionen auf Licht und 
Schall, und die ungenügende Temperaturregulirung 
erwiesen gleich im Beginne des Lebens die Mängel 
der Organisation, die das Fortleben unmöglich machen. 

Discussion: Herr Anton erinnert an die Be¬ 
obachtung einer Athmung ohne Medulla oblong, auch 
bei anderen Missgeburten, und wendet sich gegen 
Petren, der solche Fälle durch eine Art Atavismus 
erklären will; die Beschaffenheit des Neuroepithels 
ist maassgebend. Die auch im vorgeführten Falle 
nicht fehlenden Blutungen im Gehirn hält er weder 
durch das Geburtstrauma noch durch eine Asphyxie 
für erklärt; vielleicht spielen auch hierfür die Neben¬ 
nieren eine Rolle. 

12. Wiener, zugleich für Münzer (Prag): Das 
Zwischen - und Mittelhirn des Kaninchens. 

Normal-anatomische Untersuchungen, für kurzes 
Referat ungeeignet. (Ausführliche Veröffentlichung in 
der Monatsschrift f. Psych. u. Neurol. XII, October¬ 
lieft). 

An der Discussion betheiligen sich die Herren 
Rothmann, Wiener, Münzer, Sternberg. 

13. Raimann (Wien): Polioencephalitis. 

Vortr. berichtet über einen Fall von Polioen¬ 
cephalitis sup. acuta nebst Korsakoffscher Psychose 
aussergewöhnlicher Aetiologie. Es war nämlich Alko¬ 
holismus mit Sicherheit auszuschliessen, es ging auch 
keine Infectionskrankheit voraus: hingegen bestand, 
wie die Obduction lehrte, ein chronischer Darmpro- 
cess (Lymphosarcomatose mit Geschwürsbildung) 
und es musste eine auf diesem Boden stehende 
Autointoxication zu der Neuropsychose geführt haben. 


Vortr. weist darauf hin, dass die gastro-intestinale 
Autointoxication in der Aetiologie des vorliegenden 
Symptomencomplexes eine grössere Rolle spielen 
dürfte, als man bisher glaubte. Schliesslich bestä¬ 
tigt der Casus, dass die Cerebropathia Korsakoffs 
nicht nur in Fällen, die auf alkoholischem Boden 
stehen, einer Polioencephalitis superior acuta ent¬ 
spricht. 

4. Sitzung, 24. September Nachmittags, Vorsitzender: 

Meschede (Königsberg). 

14. Rosenfeld (Karlsbad): Kranken-Demon- 
strationen: 

a) Sklerodermie mit Myosklerose. 

b) Raynaud’scher Symptomen comp lex 
und Sklerodermie. 

15. Meschede (Königsbeig): Gruppirung 
der Psychosen (erscheint unter den Originalien 
dieser Wochenschrift). 

Discussion: Herr Aschaffenburg betont 
ebenfalls den Unterschied zwischen Krankheitsbild 
und -Process. Er glaubt aber nicht, dass man mit 
einer Einteilung der Psychosen nach rein logischen 
Gesichtspunkten viel nützen wird; maassgebend in 
der Praxis ist nur der Gesichtspunkt der Prognose. 
Wichtig ist aber hierfür, dass man das Leben der 
Kranken, auch der Entlassenen, jahrelang verfolgt 

Herr Meschede: In der nosologischen Bezeich¬ 
nung ist meist Prognose und Therapie schon mit ent¬ 
halten. 

16. Rothmann (Berlin): Ergebnisse der 
Ausschaltung der motorischen Function 
und ihre Bedeutung für die Pathologie. 

Experimente an Thieren haben gezeigt, dass Aus¬ 
schaltung der Pyramiden-Bahn keinen vollständigen 
Ausfall der motorischen Function zur Folge hat; es 
existiren Nebenbahnen (Monakow’sches Bündel, Vier¬ 
hügel-Vorderstrangsbahn u. a.), die die Leitung über¬ 
nehmen. Auch die Gesamtausschaltung einer ganzen 
Rückenmarkshälfte führt selbst bei Affen zu keiner 
vollkommenen Lähmung, es tritt, eine weitgehende 
Restitution wieder ein. Beim Menschen sind die 
Symptome einer reinen plötzlichen Pyramidenbahn¬ 
unterbrechung, — die gewöhnliche Hemiplegie ist 
keine solche! — vorübergehende leichte Parese, 

Spasmen, erhöhte Reflexe. Bei allmählichem Aus¬ 
fall treten die anderen Fasern auch beim Menschen 
vicariirend ein; in diesem Sinne ist auch die thera¬ 
peutische Bedeutung der Uebung bei Hemiplegikern 
zu verstehen. — Die spastische Spinal-Paralyse ist 
von C har cot und Erb als reine Py.-B.-Erkrankung 
erklärt worden; dass es auch bei dieser selbst nach 
jahrelangem Bestände nicht zu eigentlicher Lähmung 
kommt, spricht im selben Sinne. Auch die Seiten¬ 
strang-Degeneration an sich führt nicht ohne wei¬ 
teres zu Lähmung und Spasmen, wie man andrerseits 
auch spastische Symptomencomplexe ohne Seiten- 
strang-Erkrankung sicher beobachtet hat. 

Im Ganzen sind jedenfalls die Ergebnisse der 
Thierversuche in weitem Umfange auf den Men¬ 
schen übertragbar und haben zur Beleuchtung und 
Erklärung pathologischer Verhältnisse wesentlich bei¬ 
getragen. 


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340 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 31. 


Discussion: Herr Anton weist darauf hin, 
dass der Muskeltonus in seinem Endergebniss ab¬ 
hängig ist von den combinirten Einflüssen von Seiten- 
und Hinterstrang (physiologische Spasmen beim Neu¬ 
geborenen), sowie darauf, dass der Py.-B. ausser ihrer 
motorischen auch sicher eine trophische Function 
ganz besonderer Art zukommt. 

Herr Haenel erinnert an den von ihm unter¬ 
suchten Fall infantiler Hemiplegie mit Athetose, 
in dem die Py.-B. völlig zerstört und degenerirt war, 
dafür aber die entsprechenden Bahnen, die beim 
Thier noch mit unzweifelhaften motorischen Func¬ 
tionen betraut sind, d. h. vor allem das Monakow- 
sche Bündel, eine echte Hypertrophie erfahren und 
ohne Zweifel die im Leben möglichen ausgiebigen 
Bewegungen geleitet hatten. 

Herr Rothmann, Schlusswort. 

17. Stransky (Wien): Ueber disconti nuir- 
liche Zerfall sprocesse an peripherischen 
Nerven. 

Vortr. hat auf der Klinik v. Wagner in Wien 
eine grosse Anzahl von Meerschweinchen experimen¬ 
tell chronisch mit Blei vergiftet und die peripheren 
Nerven untersucht. Er fand Zerfallsprocesse, ähnlich 
denen, wie sie französischerseits von Gombault 
beschrieben worden sind. Sie characterisiren sich 
durch die Discontinuität des Markzerfalls, der sich 
mitten in einer sonst normalen Faser etablirt, durch 
die Feinkörnigkeit desselben, durch die Möglichkeit 
des Erhaltenbleibens des Axencylinders, sowie durch 
die Möglichkeit einer ebenso discontinuirlich wie. der 
Zerfall selbst erfolgenden Restauration. 

Vortr. demonstrirt zur Illustration des Gesagten 
eine Reihe von histologischen Präparaten und weist 
insbesondere darauf hin, dass der Vorgang von der 
Waller’schen Degeneration, die besser als Nekrose 
zu bezeichnen wäre, wohl völlig zu trennen ist. In 
der Neuritislitteratur fänden sich gar nicht selten 
ähnliche Befunde verzeichnet, die aber selten recht 
gewürdigt wörden sind, speciell auf deutscher Seite. 
Nach dieser Richtung hin wäre demnach die Neu¬ 
ritislehre recht reformbedürftig. Zuzüglich einer An¬ 
wendung der erhobenen Befunde auf die Neuronen¬ 
lehre verhält sich der Vortr. zurückhaltend. — Die 
dem Vortrage zu Grunde liegende Arbeit wird ander¬ 
wärts erscheinen. 

18. Fuchs, zugleich für Braun (Wien): Ueber 
neurasthenisches Pulsphänomen. 

Verf. führten durch folgenden Versuch den Nach¬ 
weis, dass die nicht selten zu beobachtende Herzirre¬ 
gularität bei leichter körperlicher Anstrengung bei 
Neurasthenikern ein Vagus-Phänomen ist: 

Sie Hessen bei einem neurasthenischen Indi¬ 
viduum, das in Rückenlage sich befand, ein conti- 
nuirliches Sphygmogramm aufzeichnen, das jede, auch 
geringste, Abnormität des Pulses sofort erkennen liess; 
nach einmaligem Heben des gestreckten Beines gegen 
Widerstand zeigte sich schon eine leichte Arhythmie; 
dieselbe blieb aus nach Darreichung von 0,001 Atro¬ 


pin, das ein Vagusgift ist, kehrte bei allmählichem 
Aufhören der Atropinwirkung wieder. 

19. K almus (Prag): I rrenpflege in Böhmen 
(siehe den Original-Artikel in dieser Wochenschrift). 

20. Löwenthal (Braunschweig): Ueber die 
objektiven Symptome der Neurasthenie. 

Unter den objectiven Störungen sondert Redner 
zwei Klassen ab, 1. die rein objectiven, 2. die be¬ 
dingt objectiven. Den subjectiven Störungen kann 
durch den Nachweis ihrer gesetzmässigen Abhängig¬ 
keit auch ein gewisser objectiver Character verliehen 
werden. Die rein objectiven Störungen setzen sich 
zusammen aus solchen der allgemeinen Ernährung 
und des Stoffwechsels (Körpergewicht fast immer ver¬ 
mindert), ferner aus solchen im Gebiete der glatten 
Muskulatur, sowie der Drüsenthätigkeit BezügHch 
der vegetativen Sphäre stellt Redner den Satz auf, 
dass die erschöpfte Nervenzelle zu Dauercontraktion 
in der glatten Ringmuskulatur neigt und weist dies 
an den Vasomotoren, ferner am Verdauungs-Genital 
und Respirationstractus nach. Zu den rein objectiven 
Störungen in der willkürlichen Muskulatur gehören 
die Veränderung der Sehnenreflexe, der Tremor und 
verwandte Störungen. 

(Schluss folgt.) 

— Obornik (Provinz Posen). Die benachbarte 
N ervenheilanstalt K o w a n o w k o, Eigenthum der 
von Karczewski’schen Erben, ist als alleiniges Eigen- 
thum in den Besitz des Herrn Dr. Adam von 
Karczewski übergegangen. 

— Am 16. Oct. fand bei Geh.-R. Jolly in Berlin 
eine Sitzung des Vorstandes des Vereins 
der Deutschen Irrenärzte statt. Es wurde 
als Ort der nächsten Jahresversammlung 1903 Jena 
in Aussicht genommen und als Zeit der 19. April 
(Begrüssungsabend) und der 20. und 21. April (Sitz¬ 
ungstage). Als Referats-Themata wurden gewählt: 
1. Ueber die Anwendung der Isolirung bei der Be¬ 
handlung der Geisteskranken; Referent Director Dr. 
Mercklin in Treptow a. R.; 2. ein klinisch-foren¬ 

sisches Thema. — Der Vorstand wird den Antrag 
stellen, den Namen des Vereins abzuändem in 
„Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie“, 
und die Jahresversammlung den „Cengress der 
D. G. f. Psych.“ zu nennen. 

Auch der neue Min.-Erlass v. 7. Oct. 1902 
wurde besprochen. Es wurde von berufener Seite 
angeführt, dass die Bestimmung „Andere Personen 
sollen als Sachverständige nur dann gewählt werden, 
w-enn besondere Umstände es erfordern“ — dahin 
zu verstehen sei, dass ein solcher besonderer Um¬ 
stand jedesmal vorliege, wenn ein zu Entmündigender 
Insasse einer öffentlichen Anstalt sei und dass dann 
die Anstaltsärzte gewählt werden müssten. 

Siemens. 


Für den redactioncllen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Br es ler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevmoann’scbe Bucbdruckerei (Gebr. WoHT) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice > Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 32. 8. November. 2 ^1902. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint j**den Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Itestcllungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erniässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), ru richten. 

Inhalt. Originale: Einiges über die Befangenheit der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachverständige. Von Dr. Pfausler, Direk« 
. tor in Valduna (S. 341). — Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen und daraus abzuleitende Forde¬ 
rungen nach Weiterausgestaltung derselben. Von Dr. Emst Kalmus, k. k. Polizeiarzt in Prag (S. 34"). — Mittheilungen 
(S. 350). — Personalnachricht ^S. 352). 


Einiges über die Befangenheit der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachverständige. 

Von Dr. Pfausler , Director in Valduna. 


T Tnser Artikel: „Schutz des Publikums vor den 
Psychiatern“, in Nr. 7 dieser Wochenschrift 1 . J. 
(S. 80), ist bei dem durch den bekannten Justiz- 
Ministerial-Erlass betroffenen Kreise auf verschiedene 
Ansichten gestossen. Ein grosser Theil der Anstalts¬ 
ärzte schloss sich unseren Anschauungen insoweit an, 
dass er eine, von anderer Seite ausgegangene, dies¬ 
bezügliche gemeinsame Beschwerdeschrift an das 
Justizministerium mitfertigte, während ein Theil die 
Mitfertigung ablehnte, ohne auch nur über das Meri- 
torische derselben und die Gründe für ihre Stellung¬ 
nahme sich zu äussem. Leider kam so die geplante 
gemeinsame Aciion nicht zur Durchführung. 

Eine durch den Vorarlberger Landesausschuss an 
das Justizministerium geleitete Beschwerde wurde unter 
Berufung auf den verstorbenen Prof. Dr. Schlager mit 
der Begründung abgewiesen, „dass die Beizieh¬ 


ung der Anstaltsärzte zur Expertise natur- 
gemäss bei Gesunden und Kranken zu der 
Annahme führe, dass die Sachverständigen 
wegen ihrer Beziehung zur Anstalt nicht 
unbefangen seien.“ 

„In dieser Hinsicht Vorsicht zu üben, sei aber zurZeit 
um so mehr angebracht, als das öffentliche Bewusstsein 
hinsichtlich der Zulänglichkeit der gesetzlichen Schutz¬ 
mittel gegen ungerechtfertigte Entmündigung empfind¬ 
lich geworden und wie der Ruf nach Reform be¬ 
weise, beunruhigt sei.“ 

Nachdem das Justizministerium eine anderweitige 
Begründung für seinen einschneidenden Erlass nicht 
bekannt gegeben, so haben wir uns vorläufig nur da¬ 
mit zu befassen, ob die aus unserer Beziehung zur 
Anstalt abgeleitete Befangenheit zu wirklich begrün¬ 
deter Beunruhigung des öffentlichen Bewusstseins 


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342 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32. 


führt und inwieweit der Ausschluss der Anstaltsärzte 
als gerichtliche Experten das öffentliche Bewusstsein 
wieder beruhigen kann. 

Es ist gesetzliche Vorschrift, dass keine Person 
ohne ärztlich bescheinigte Geistesstörung in eine 
Irrenanstalt abgegeben werden darf. Die Anstalts¬ 
leitung hat die Verpflichtung, die zuständige Behörde 
innerhalb 24 Stunden von der erfolgten Aufnahme 
eines Kranken zu verständigen. Sache des Gerichtes 
ist es dann, durch Berufung einer Constatirungs- 
Commission den Geisteszustand eines Internirten zu 
erheben. Nachdem aber zu solcher Aufgabe schon 
durch den Studiengang die Unzulänglichkeit des 
Richters allein dargelegt ist, ist im Gesetze die Zu¬ 
ziehung „vollkommen befähigter und erprobter Ex¬ 
perten“ vorgesehen. Deren Aufgabe ist es, auf Grund 
ihres Fachwissens und eingehender gewissenhafter 
Beobachtung „den Geistes- und Gemüthszustand“ 
eines Kranken in einer auch für den Laien verständ¬ 
lichen Weise darzulegen. Das Gutachten der Ex¬ 
perten trägt somit den Character einer fachwissen¬ 
schaftlichen Leistung, die als solche vom Richter ent¬ 
gegengenommen wird. Es steht dem Richter voll¬ 
kommen frei, sich der durch die Sachverständigen 
dargelegten Anschauung anzuschliessen oder nicht. 
Der Richter wird seine Entscheidung gemäss seiner 
Instructionen auf mehrfache, eventuell auf nicht ärzt¬ 
liche Erhebungen treffen und kommt diesfalls das 
Gutachten der Sachverständigen nur einer fachwissen¬ 
schaftlichen Zeugenaussage gleich. Das Entscheidende 
bleibt also das Urtheil des Richters „und an den 
Spruch der Gerichte, wenn er allzeit von 
Sieg des Rechtes ist, kann die öffentliche 
Kritik, wie umfassend sie sein mag, nicht 
heran“, so sagte unser Ministerpräsident Dr. von 
Korber als Justizminister.*) Das Urtheil des Richters 
schliesst somit jedes ineorrecte Vorgehen aus. 

Es ist aber von grosser Wichtigkeit, dass der Richter, 
„je weniger er ein Sclave des Buchstabens“ sein darf 
und je mehr er „frei nach dem Geiste des Gesetzes zu 
entscheiden berufen ist“,*) sein Urtheil auf die best¬ 
möglichste und zuverlässigste Grundlage innerhalb 
des gesetzlichen Rahmens aufbauen muss und dass 
er in seinem gesetzlich gewährleisteten Rechte (siehe 
Motivenbericht zu g 351 C. P. O.j, welches dem un¬ 
abhängigen Richter die Wahl der Experten freistellt, 
nicht gerade in Bezug auf den hierfür berufensten 
Kreis der Anstaltsärzte beschränkt werde. Und wenn 
Dr. v. Korber den auch in den Staatsgrundgesetzen 

*) Rundschreiben des Ministerpräsidenten als Leiter des 
Justizministeriums vom 18. X. 02 an die Oberlandesgerichts- 
präsidenlen. 


proclamirten Fundamentalsatz: „es soll einerlei 
Recht sein für jedermann“ als den gemein¬ 
schaftlichen Leitstern bezeichnet, so ist dieser Leit¬ 
stern durch den im Gesetze nicht begründeten Justiz- 
Ministerial-Erlass, welcher bei der Berufung praktischer 
Aerztc auch ohne jede psychiatrische Fachkenntniss 
den für die Expertise wissenschaftlich befähigten 
Fachmann, den Anstaltsarzt, vom gleichen Rechte 
ausschliesst, unsichtbar hinter eine Wolke getreten. 

Wir haben das von Docent Dr. Salgo in seiner Ent¬ 
gegnung (Nr. 16 dieser Wochenschrift 1 . J. S. 190) an¬ 
geführte Vorurtheil gegen Irrenärzte und gegen Irren¬ 
anstaltsärzte im Besonderen in der grossen Mehrheit 
des Publikums nicht finden können und halten es 
auch nicht für gerechtfertigt, dass ein Ministerial-Er- 
lass einem wirklich selten auftretenden, „aus Miss¬ 
trauen und B o s h e i t entspringenden Vor- 
urtheile“, in einer das Ansehen der berufensten 
Experten, der Irrenanstaltsärzte, so schwer schädigen¬ 
den Weise Rechnung trägt. 

Die Entmündigung ist ein Gerichts ver¬ 
fall ren und wird vom Gesetze nicht als „eine Vernich¬ 
tung der Individualität“, sondern vielmehr als ein dem 
Individuum zu theil werdender R ech tsschutz auf- 
gefasst. Wie beflissen in dieser Ansicht die Gerichte 
Vorgehen, mag daraus erkannt werden, dass ein in 
unsere Anstalt freiwillig behufs geeigneter Behandlung 
cingetretener Magister pharmaciae, wiewohl seine 
volle Handlungsfähigkeit von uns bescheinigt wurde, 
der Curatelverhängung nur durch ein gestempeltes 
Gesuch an das Gericht entgehen konnte. 

Aber auch der Rechtsschutz der persönlichen 
Freiheit hat beim bisherigen Verfahren in keinem nach¬ 
weisbaren Falle zu einer ungerechtfertigten Internirung 
beziehungsweise Zurückhaltung durch Anstaltsärzte 
geführt. Die Kranken werden ja in Befolgung der 
gesetzlichen Bestimmungen vollkommen unab¬ 
hängig von den Anstaltsärzten auf Grund 
von auswärtigen Aerzten nachgewiesener und beschei¬ 
nigter Geistesstörung der Anstaltsbehandlung zuge¬ 
führt. Im beruflichen Interesse der Anstaltsärzte 
liegt es, den Kranken durch sorgfältige Behandlung 
und Pflege zu heilen oder soweit zu bessern, dass 
er dem häuslichen Kreise, je eher desto besser, wieder 
zurückgegeben werden kann. Zudem steht es den 
Angehörigen und gesetzlichen Vertretern frei, auch 
ungeheilte und unheilbare Kranke jederzeit der An¬ 
stalt zu entnehmen und kein Anstaltsarzt wird da¬ 
gegen Einspruch erheben. Es ist übrigens genugsam 
bekannt, dass gegen Entlassungen nicht geheilter 
Kranker von den Angehörigen und selbst von Be- 


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iqo2 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 

hörden mehr Schwierigkeiten gemacht werden als von Verschleuderungen und geschlechtlichen Ungeheuer- 
den Anstaltsärzten. lichkeiten verhüten, die wir als etwas ganz Selbst- 

Wenn, wie Dr. Salgd uns entgegenhält, es vor- verständliches hinzunehmen pflegen. Wer den trau¬ 
kommen mag, dass auch erfahrene Fachmänner bei rigen Muth findet, diese unerschöpfliche Summe 
bestem Wissen und Gewissen irrthüm iche oder diver- menschlichen Elends noch vergrössern zu wollen, der 
girende Anschauungen über einen gegebenen Fall beweist dadurch nur, dass er keine Ahnung von dem 
vertreten haben, so ist doch damit noch nicht er- zerstörenden Einflüsse besitzt, den schon ein einzelner 
wiesen, dass Anstaltsärzte die Interessen der ihnen Geisteskranker auf die Familie ausübt, die für ihn zu 
anvertrauten Kranken in erster Linie auch den Rechts- sorgen gezwungen ist. Gewiss sind nicht alle Geistes¬ 
schutz der persönlichen Freiheit ausser Acht gelassen kranke gefährlich, aber es giebt wenige, die es nicht 
haben. Zudem muss hervorgehoben werden, dass einmal werden können. Ich habe daher auch über¬ 
psychiatrische Irrthümer an die Zahl der Rechtsirr- all die Schwierigkeiten grösser gefunden, unheilbare, 
thümer nicht heranreichen, abgesehen davon, dass die halbwegs entlassungsfähige Pfleglinge wieder los zu 
aus ersteren sich ergebenden Folgen, wie Entmündigung, werden, als gemeingefährliche Kranke gegen ihren 
von keiner so schweren oder hervorragenden Bedeutung Willen in der Anstalt festzuhalten“, 
sind als die letzteren. Es ist auch keineswegs klargelegt, wieso der Rechts- 

Prof. Dr. Kraepelin hat sogar Gelegenheit ge- schlitz der persönlichen Freiheit durch die Anstalts¬ 
habt, 6 Jahre hindurch alle seine Kranken ohne irgend ärzte gefährdet sein sollte, oder wie durch die Bei¬ 
weiche Papiere aufzunehmen, und sind ihm nach Ziehung der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachver- 
seinem Geständnisse keine nennenswerthen Unzu- ständige die Gefahr einer Entmündigung, welche doch 
träglichkeiten daraus erwachsen. (Siehe Lehrbuch der ein Gerichtsverfahren ist und nicht vom An- 
Psychiatrie, 1899. 6. Auflage, I. Band, Seite 346.) staltsarzt verhängt wird, vergrössert sein soll. Noch 

Er knüpft daran den Satz: „Freilich ist die Ver- weniger scheint uns erwiesen, dass der Rechtsschutz 
an t wo rtlic h k ei t für den Irrenarzt selbst der persönlichen Freiheit und die fachwissenschaftliche 
unter diesen Umständen eine viel grössere, Grundlage im Entmündigungsverfahren durch die Bei¬ 
ais wenn er sich überall auf gesetzliche Vor- Ziehung praktischer Aerzte, welche mit der Psychiatrie 
Schriften berufen kann, aber er ist als Sach- ungenügend oder gar nicht vertraut sind, besser be- 
verständiger auch am meisten dazu befähigt, stellt sein sollte. Prof. Kraepelin schreibt in seinem 
sie zu tragen, und die Kranken befinden sich Lehrbuche (I. Band, S. 301), wo er der Einführung 
dabei ohne Zweifel am wohlsten.“ Wir halten der Psychiatrie als obligatorischer Prüfungsgegenstand 
entgegen von Prof. Kraepelin die Erledigung aller das Wort redet: „Dann endlich wird auch der 
Förmlichkeiten bei Aufnahme eines Kranken nicht empörende Unfug aufhören, dass tagtäg- 
blos „in allen • schwierigen Fällen“, sondern über- lieh Aerzte als Sachverständige auftreten 
haupt in allen Fällen dringend wünschenswerth, und gehört werden in Fragen, von deren 
schliessen uns aber vollends seinen Anschauungen Bedeutung sie auch nicht die leiseste 
über eine Erschwerung der Aufnahmen in die Kennt n iss haben, dass sie für befugt e r - 
Anstalten an, worüber Kraepelin sich folgendermaassen achtet, ja unter Umständen gezwungen 
an gleicher Stelle äussert: „Man versuche aber die werden, ohne weiteres über die Einbrin- 
Durchfiihrung einer solchen „Reform“ auch nur ein g u n g in Irrenanstalten, über Entmündi- 
einziges Jahr lang wirklich in irgend einem Landes- gungen , über Zurechnungsfähigk eit rcchts- 
theile, so werden die papierenen Verbcsscrungsvor- gültige Gutachten abzugeben“. 

Schläge schneidiger Juristen und ihrer sachverständigen Von den zustehenden Behörden wurde uns 

Halbirrenärztc von einem Sturme der Entrüstung über übrigens wiederholt bekannt, wie unzufrieden sie mit 
die mangelhafte Irrenfürsorge hinweggefegt werden. den Ergebnissen der Neuerung, mit der Begutachtung 
Es bedarf nur eines Blickes in unsere Tageszeitungen, durch Nicht-Anstaltsärzte sind. Belege hierfür anzu- 
um einen klaren Begriff von der Grösse des Unheils führen erschiene uns kleinlich, wiewohl wir über die 
zu gewinnen, welches noch jetzt tagtäglich Geistes- Art und die Resultate der jetzigen Expertise die 
kranke in der Freiheit über sich und ihre Umgebung haarsträubendsten Dinge zu berichten w'üssten. 
heraufbeschwören. Rechtzeitige Fürsorge für diese Wie sehr auch die Gerichte das Missliche der ge- 

Unglücklichen könnte ohne Zweifel einen grossen schaffenen Lage zu umgehen und zu bessern suchen, 
Theil der sich immer wiederholenden Selbstmorde, mag daraus entnommen werden, dass sie an die Anstalts- 
Familientödtungen, Angriffe, Brandstiftungen, der Geld- ärzte noch vor Tagung der gerichtlichen Constatirungs- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32. 


commission Fragen stellen, über das Betragen des 
Kranken, ob eine acute oder chronische Geistesstör¬ 
ung vorliege und in welcher Zeit Heilung zu er¬ 
warten sei. Nachdem aber die Beantwortung solcher 
Fragen nur auf Grund unseres Fachwissens in Form 
gutachtlicher Acusserungen geschehen kann, haben 
wir deren Beantwortung unter Hinweis auf den Mini- 
sterial-Erlass abgelehnt und erklärt, dass den Behörden 
in der Fragestellung an die Anstaltsärzte kein weiteres 
Recht mehr zustehe, als es in unserer Pflicht zur 
Zeugenaussage gelegen ist. Darauf wandten sich zwei 
Gerichte Beschwerde führend vergeblich an den Landes¬ 
ausschuss unter dem Hinweis um Hilfe, „sie hätten 
von den Anstaltsärzten kein formelles Gutach¬ 
ten, sondern nur die Beantwortung von für 
die Expertise zweckdienlichen (allerdings!) 
Fragen verlangt, welche den Zweck gehabt hätten, 
die kostspieligere gerichtliche Consta- 
tirungs-C ommissio n eventuell vermeiden 
zu können“. 

Wenn aber der Ministerial-Erlass den Rechtsschutz 
der persönlichen Freiheit im Auge zu haben scheint, und 
die bisherige Befugniss der Anstaltsärzte der strengsten 
Controlle unterworfen wissen will, so klingt die Aeusse- 
rung der erwähnten Bezirksgerichte, „um die kost¬ 
spieligere gerichtsärztliche Untersuchung 
des Geisteszustandes allenfalls vermeiden 
zu können“ zum Gelindesten sehr unjuristisch, 
da doch der Rechtsschutz der persönlichen Freiheit 
weder von der Zeitdauer des Aufenthaltes einer Person 
in der Irrenanstalt, noch weniger vom Kostenpunkte 
abhängig gemacht werden darf. 

Wir haben uns bisher auch geweigert, den begut¬ 
achtenden Aerzten unsere Krankengeschichten zur 
Verfügung zu stellen und können dies vollends recht- 
fertigen. Wenn auch die Zuschrift des Justizmini¬ 
steriums besagt, die Krankengeschichten würden zum 
Zwecke für die Behörden angelegt, so ist dies eben 
eine Meinung, die wir als Nicht - Ministerialbeamte 
nicht theilen müssen. Die Krankengeschichten sind 
das geistige Eigenthum der Anstaltsärzte, tragen in 
allen ihren Theilen das Gepräge ihres Fachwissens, 
ja sie sind gewissermaassen nur durch dieses ermöglicht. 
Eine Einsichtnahme in die Krankengeschichten kommt 
darum indirect einer Vernehmung der Anstalts¬ 
ärzte als Sachverständige gleich. Die Kranken¬ 
geschichten können darum nicht einfach als Zeugen¬ 
materiale angesehen w f erden, in welches Einsicht zu 
nehmen die Behörden auf Grund unsrer Staatsbürger- 
Pflicht zur Zeugen-Aussage ohne weiteres ein Recht 
haben. Und wenn sich gegenüber einer solchen Stel¬ 
lungnahme ein Justizministerial-Beamter zur Aeusse- 


rung veranlasst gesehen hat, „wir würden zur Her¬ 
ausgabe der Krankengeschichten mit seiner Macht 
gezwungen werden“, so ist uns dies nur ein Bew r eis, 
dass bisher ein solch unbedingtes Recht den Behörden 
nicht zusteht. Es wirft übrigens ein eigenartiges Licht 
auf das unbegrenzte Uebergewicht der Juristen im 
modernen Staate, wenn sie einfach, w r o ihnen das 
Recht fehlt, ihre Macht als Argument in das Feld 
führen. Wir getrauen uns dieses Argument nicht bis 
zu seinen letzten Consequenzen zu verfolgen, sind 
aber der Ueberzeugung, dass die Nicht-Juristen in der 
Gesellschaft, welche denn doch nicht gerade in allem 
die von jenen Geführten sein müssen, unter einem 
gewissen zu weit gehenden Ueberdruck der Juristen 
stehen. Wenn wir schliesslich in der Sache unter¬ 
liegen sollten, so werden wir vom erhebenden Be¬ 
wusstsein getragen, dass w r ir mehr der Macht als 
dem Recht gewachen sind. 

Ueberdies dürfen nach den Intentionen des Er¬ 
lasses die Krankengeschichten der Anstaltsärzte für 
die begutachtenden Aerzte nicht jene volle objective 
Sicherheit bieten, dass dieselben für deren Gutachten 
von entscheidendem Belange sind. Die auswärtigen 
Aerzte werden vielmehr gezwungen sein, erst auf 
Grund wiederholter, eingehender eigener 
Beobachtung ihr Gutachten abzugeben und nicht 
bei der eigenen Unkenntniss der Verhältnisse die 
Krankengeschichten einfach abschreiben, abgesehen 
davon, dass sie ja durch dieselben auch irre geführt 
werden könnten. Dann wird es sich aber auch viel 
objectiver und sicherer zeigen, dass deren gutacht¬ 
liche Leistungen in keinem Falle jene wissen¬ 
schaftliche Höhe und objective Sachlichkeit 
erreichen, wie diese bisher bei den Gutachten der 
Anstaltsärzte die volle Anerkennung der Gerichte 
gefunden haben. Und darauf kommt es doch 
in erster und letzter Linie an. 

Aber auch der Rechtsschutz der persönlichen 
Freiheit wird durch den Erlass kaum gesicherter sein, 
als er es bisher schon war, da, abgesehen von bereits 
Besprochenem, auch durchaus nicht einzusehen ist, wie¬ 
so practische Aerzte ungesetzlichen und strafbaren Ein¬ 
flüssen zu Gunsten einer Person oder Sache weniger 
ausgesetzt sein sollten als Anstaltsärzte. 

Aus allem geht hervor, dass der Justiz-Ministerial-Er- 
lass einem unglücklichen Schein-Manöver gleich¬ 
kommt. Die Anstaltsbeobachtung soll, wie auch Docent 
Dr. Salgo hervorhebt, „das S übst rat für das ge¬ 
richtliche Urth eil“ abgeben und „die gerichts¬ 
ärztliche Untersuchung durch Nicht-An- 
staltsärzte nur die Flagge, unter w r elcher 


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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


345 


das Verfahren weiter fortgeführt wird.“ 
Jenes Publikum aber, welches „aus Misstrauen 
und Bosheit“ gegen die Anstaltsärzte Recrimina- 
tionen wegen ungerechtfertigter Internirung erhebt und 
dem zu Liebe die neue Regelung gleichsam als be¬ 
hördliche Sanktionirung dieses Vorurtheiles anscheinend 
erfolgte, wird alsbald über den geschaffenen Schein 
hinwegsehen und seine aus den nie versiegen¬ 
de n Q u e 11 e n „d e s M i s s t r a u e n s und d e r B o s- 
heit“ fliessenden Anschuldigungen gegen 
„die neue Flagge“ um so sicherer erheben, als 
sie die alte sturmerprobte Fahne der Anstalts-Ve¬ 
teranen mit ministerieller Hilfe in den Koth ge¬ 
zogen. Nachdem das Justizministerium der Scylla 
ihr geneigtes Ohr geliehen, wird cs in gleicher Con- 
sequenz auch der Charybdis nic'lit mehr länger wider¬ 
stehen können. Denn andererseits weiden immer 
wieder mehr Stimmen und Beschwerden laut, welche 
die Anstaltsärzte anklagen, dass sie ihre Kranken 
allzu früh wieder „a u f das Publikum los- 
lassen.“ Der Director der Wiener Irrenanstalt Dr. 
Tilkowsky musste beim VIII. internationalen Anti- 
alkohol-Congress in Wien (1901) so manchen dies¬ 
bezüglichen schweren Vorwurf auch von Seite der 
Juristen hören. In gerechter Würdigung auch solcher 
Recriminationen wird das Justiz - Ministerium nicht 
umhin können und auswärtige Aerzte bestellen müssen, 
welchen die Aufgabe zufällt, jeden von den Anstalts¬ 
ärzten zur Entlassung vorgeschlagcnen Kranken gutacht¬ 
lich überprüfen zu lassen. Dann ist vielleicht jenes von 
Dr. Salg/> ersehnte Ziel erreicht und der Anstalts- 
Psychiater ein f ac h wissen schaf t lieber Irren- 
p fl eg er geworden. Aber auch dann wird jenes 
„aus Misstrauen und Bosheit“ schöpfende Publikum 
nicht befriedigt sein, denn heute schon hören wir 
Stimmen, auch von Juristen, laut werden, welche die 
Bei Ziehung von Laien zur Constatirungs- 
Commission verlangen, ähnlich wie bei den Ge¬ 
schworenen - Gerichten; dann werden wir glückliche 
Psychiater jene Scenen mit dem von Prof. Kraepelin 
erlebten Ausspruch dieser Sachverständigen: „Den 
Mann nehmen wir mit, der ist gescheidter als wir 
sind“, an der Tagesordnung linden und die Consta- 
tirungs-Commission wird in hohnlachendem Jubel auf 
die Anstaltsärztc mit dem ihnen entrissenen Opfer 
von dannen ziehen. 

Dass der Justiz - Ministerial - Erlass in der Sache 
keine Besserung in sich schliesst, hat auch Dr. Saig/) 
wesentlich anerkannt, indem auch er glaubt, dass 
„eigentlich die Anstaltsbeobachtung das Substrat für das 
gerichtliche Urtheil und die gerichtsärztliche Unter¬ 
suchung nur die Flagge abgiebt, unter welcher das 


Verfahren weiter fortgeführt wird“. Seine falsch ge¬ 
zogenen Schlüsse und seine irrthümliche Anschauung, 
„dass mit der Frage der Geistesstörung die der zwangs¬ 
weisen Detenirung unlösbar verknüpft sei“, hat in¬ 
dessen von Docent Dr. Weygandt (s. Nr. 29 dieser 
Wochenschr. 1 . J.) die gebührende Würdigung gefunden, 
dessen Ausführungen ich mich nur anschliessen kann. 

Geradezu herausfordernd ist, was Dr. Salgo über 
die forensische Psychiatrie sagt. Es heisst die 
ganze Entwicklung derselben nicht kennen, wenn er 
glaubt, dass die Psychiatrie sich selbst eine 
forensische N ebendisciplin geschaffen habe. 
Nicht der Arzt ist es, welcher in einem gegebenen 
Strafrcchtsfall sich mit seinem Wissen und seiner An¬ 
schauung an den Richter herandrängt, sondern der 
Richter beruft im Gefühle der durch seinen 
Studiengang gegebenen eigenen Unzuläng¬ 
lichkeit für die Bcurthcilung einer Indi¬ 
vidualität d e n fach Wissenschaft liehen Sach¬ 
verständigen, den Psychiater. Es darf dabei 
auch nicht übersehen werden, dass die sonst nicht 
allzu bescheidenen Juristen nicht über eigenen An¬ 
trieb allein zur Anhörung von Sachverständigen 
sich herbcigclassen haben. Hierbei spricht eben auch 
die gesamrntc Gesellschaft als solche mit, welche auf 
die Fortschritte in allen Wissensgebieten Bedacht 
nimmt und ihnen, wenn rechtsdienlich, gesetzlichen 
Ausdruck zu verleihen strebt. Die solchermaassen aus 
der Gesellschaft hcrausgewachsenen Gesetze erweisen 
sich als eine lebenskräftige Wohlthat für die Gesell¬ 
schaft, machen sie frei, während rein juristische 
Schöpfungen, welche nicht der Volksseele ent¬ 
sprossen sind, jener nur einen unleidlichen Zwang 
anthun und infolge Mangel für deren Verständniss 
wieder verkümmern. Ist schon der Arzt überhaupt 
zum Verständniss und zur Beurtheilung menschlicher 
Dinge gemäss seinem Studiengang unter allen gebil¬ 
deten Ständen am besten befähigt, so ist es in ganz 
besonderem Maasse der Psychiater. Die Gesellschaft 
braucht darum auch unsere Mitarbeit, und es ist 
unsere Pflicht, allen menschlichen Dingen unser Augen¬ 
merk zuzuwenden, unser Wissen und unsere Erfahrung 
nicht bloss bei den uns anvertrauten Kranken anzu¬ 
wenden, sondern der ganzen Gesellschaft als solchen 
dienstbar zu machen. Mag darum auch Dr. Salgo 
sich in resignirter Ruhe bescheiden, wir werden es 
uns nicht nehmen lassen, im Sinne von Möbius an 
der Entwicklung und dem Ausbau der Psychiatrie 
mitzuwirken, auf dass der Psychiater zum Richter 
in allen menschlichen Dingen, zum Lehrer 
des Juristen und Theologen, zum Führer 
des Historikers und des Schriftstellers werde. 


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34ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32. 


Nach diesen Darlegungen müssen wir mit Be¬ 
dauern noch auf einen besonderen Umstand hin- 
weisen. Bei den im Laufe dieses Jahres tagenden 
Enquete-Berathungen zur Schaffung eines neuen Irren¬ 
gesetzes waren die Meinungen der hierzu Berufenen 
über die Beiziehung der Anstaltsärzte zur Expertise 
über Kranke in den Irrenanstalten getheilt. Soviel 
uns bekannt, waren in die Enquete drei Anstalts¬ 
direktoren und vier bezw. fünf Professoren berufen. 
Zur Annahme gelangte der Antrag von Prof. D r. 
v. Wagner, der dahin ging, dass „die zur Unter¬ 
suchung beizuziehenden Aerzte nicht Aerzte 
der Irrenanstalt, wenigstens nicht derselben 
Irrenanstalt, in der die Untersuchung statt¬ 
findet, sein sollen, aber wirkliche Sachver¬ 
ständige sein müssen“. Von solchen Sachver¬ 
ständigen verlangt Prof. v. Wagner eine 4 jährige Aus¬ 
bildung auf Irrenklinik oder Anstalt. Eine andere 
Begründung hierfür als die des verstorbenen Professor 
Dr. Schlager w-urde, soweit uns bekannt, nicht ange¬ 
führt. Auch ist keine Erwähnung, wie es bei den 
Irren kl in i ken gelten soll, ob auch die Psychiater 
der Klinik von der Begutachtung ihrer Kranken aus¬ 
geschlossen sein sollen. Es soll somit unverkennbar 
ein doppelter Standpunkt gelten: die Anstaltsärzte 
sind von der Expertise auszuschliessen, so bestimmt 
es auch der Erlass und begründet dies damit, „dass 
die Beiziehung der Anstaltsärzte naturgemäss bei Ge¬ 
sunden und Kranken zur Annahme führe, dass die 
Sachverständigen wegen ihrer Beziehungen zur Anstalt 
nicht unbefangen seien“, und von der Irrenklinik ist 
nirgends die Rede. Haben vielleicht die Psychiater 
an den Kliniken keine Beziehung zu ihrer Klinik, 
welche den Schein des „Nichtunbefangen seins“, 
der Befangenheit über sie legen könnte? Wir glauben, 
dass zwischen den Psychiatern an den Kliniken und 
ihrer Klinik ebensolche Beziehungen bestehen müssen, 
wie zwischen den Anstaltsärztcn und den Irrenanstalten. 
Sollte dem aber nicht so sein, so könnte der Grund 
dazu nur in Zweifachem liegen: Die Verhältnisse an 
den Kliniken müssten anders geartete sein, als die 
einer Irrenanstalt; dann verlangen wir: man stelle 
die Irrenanstalten auf die gleiche oder eine ähnliche 
Rechtsgrundlage wie die Irrenkliniken, damit auch 
von uns der Schein der Befangenheit hinweggenommen 
werde; oder aber die Psychiater an den Kliniken 
müssten wesentlich andere Menschen sein als die 
Psychiater an den Irrenanstalten. Wieso dies? Sind 
denn nicht schon häufig Anstaltsärzte Professoren der 
Klinik geworden ? Haben nicht sehr viele Professoren 
der Psychiatrie als Anstaltsärzte ihre Laufbahn be¬ 
gonnen und als solche auch als psychiatrische Ex¬ 


perten fungirt? Gewiss. Die Professoren v. Wagner 
und Pick, welche die neuen Enquete-Vorschläge ge¬ 
schaffen haben, werden diesen Beginn ihrer Laufbahn 
noch im Gedächtniss haben. Ja, von Prof. Pick ist 
uns berichtet worden, dass er seinerzeit als Direktor 
in Dobran gegen den dortigen Stadtarzt, welcher sich 
für die Expertise in der Anstalt meldete, Stellung ge¬ 
nommen hat. Nun fragen wir diese Herren, welche 
inneren und äusseren Wandlungen muss so ein An¬ 
staltsarzt, dem infolge seiner Beziehung zur Anstalt 
Befangenheit anhaften soll, durchmachen, um dieselbe 
auf dem Wege von der Irrenanstalt bis zum akade¬ 
mischen Katheder abzustreifen? „Es soll einerlei 
Recht sein für Jedermann“ sagte unser Justiz¬ 
minister Dr. v. Kürber. 

Nach unseren Ausführungen vermögen wir in der 
Expertise durch die Anstaltsärzte keine Gefahr für 
den Rechtsschutz der persönlichen Freiheit 
zu erkennen. Die Expertise ist ein Gerichts¬ 
verfahren und schliesst das richterliche Ur- 
theil, dem „das aus dem Geiste der Gerech¬ 
tigkeit fliessende Recht als Richtschnur gilt“, 
jedes incorrecte Vorgehen aus. Der Richter ist 
durch seinen Studiengang veranlasst, gar häufig Sach¬ 
verständige zu Rathc zu ziehen. Dass er in seinem 
gesetzlich gewährleisteten Rechte zur freien Wahl der 
Experten nicht beschränkt werde, liegt im Interesse 
einer guten, einwandsfreien Rechtspflege. Je mehr 
„der Richter frei nach dem Geiste des Gesetzes zu 
entscheiden berufen ist“ und je weniger er ein Automat 
der starren Paragraphe sein darf, desto zuverlässiger 
muss im gegebenen Falle die Erforschung der Indi¬ 
vidualität durchgeführt werden. Dass sich hierfür die 
Anstaltsärzte als geeignete, „vollkommen befähigte und 
erprobte“ Sachverständige bewährt haben, wurde auch 
von den Gerichten bisher rückhaltlos, ja lobend an¬ 
erkannt. Es muss als bedenklich erscheinen, an deren 
Stelle wissenschaftlich unzulängliche und bezüglich der 
„aus Misstrauen und Bosheit“ fliessenden Anschul¬ 
digungen keineswegs einwandsfreiere Sachverständige 
heranzuziehen, und ein richterliches Urtheil muss als 
unsicher bezeichnet werden, wenn seine Voraus¬ 
setzungen auf schwankendem Boden gegründet sind. 
Wenn der Justiz-Minister Dr. v. Körber sagt: „Wer 
kein ganzer Richter sein kann, ist besser 
keiner“, so sagen wir: „Wer kein ganzer Sach¬ 
verständiger sein kann, ist besser keiner“. 

Die Quellen „des Misstrauens und der Bosheit“, 
aus denen gegen die Irrenärzte unbegründete Recri- 
minationen erflossen sind, wird auch der neue Erlass 
nicht zum Versiegen bringen. Durch ein solch schwäch- 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 347 


liches Nachgeben der berufenen Kreise wird jenen 
der Schein der Berechtigung amtlich aufgedrückt, der 
noch bösere Früchte zeitigen wird und gegen den 
wir energisch protestiren müssen. 

Wir Psychiater von Beruf werden indessen unge¬ 


hindert durch juristische Missgriffe dahin streben 
müssen, dass die von Director Dr. Frank in seinem 
Aufsatze: „Strafrechtspflege und Psychiatrie“ (s. diese 
Wochenschrift 1901, No. 37, S. 359) gekennzeichneten 
Ziele erreicht werden. 


Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen 
und daraus abzuleitende Forderungen nach Weiterausgestaltung derselben. 

Von Dr. Ernst Kalmus , k. k. Polizeiarzt in Prag. 

(Schluss.) 


Hier sei noch hervorgehoben, dass an massgeben¬ 
der Stelle, speciell bei den Staatsbehörden, die volle 
Einsicht betreffs der bestehenden Uebelstände be¬ 
steht und der Irrenfürsorge vollste Aufmerksamkeit 
geschenkt wird. Der Staat hat zunächst durch Auf¬ 
nahme der Psychiatrie als obligaten Prüfungsgegenstand 
in die neue Rigorosenordnung, für eine bessere und 
allgemeinere Ausbildung der Aerzte gesorgt und da¬ 
durch indirect einen bedeutenden Fortschritt in derlrren- 
fürsorge angebahnt. Weiteres fanden im Frühjahre d. 
J., wie ich theils aus Zeitungsnotizen, theils aus frdl. 
Mittheilungen Prof. Wagners von Jauregg in Wien, er¬ 
sehen, Berathungen in den Ministerien statt, welche 
sich mit der Irrenfürsorge, insbesondere der Frage 
der Unterbringung crimineller Geisteskranker, den 
Aufnahmsbedingungen in Irrenanstalten, der Entmün¬ 
digung, der Irrenstatistik, beschäftigen. 

Auch die staatlichen Landesbehörden Böhmens 
haben schon seit längerer Zeit der Irrenfürsorge 
Böhmens ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Schon 
im letzten im Drucke erschienenen Sanitätsberichte, 
über die Jahre 1896 — 98, führt Hofrath Pelc, der 
derzeitige Sanitätsreferent der Statthalterei, bezüglich 
der Irrenfürsorge an der Hand der Zahlentabellen 
ungefähr folgendes aus: 

Diese Verhältnisse (der grosse Ueberbelag in 
Prag und Dobran) hängen einerseits mit der immer 
mehr angesuchten Hospitalisirung der Kranken, mit 
der bessern Evidenz und der grösseren Verbreitung 
der Geisteskrankheiten zusammen, andererseits sind 
sie darin begründet, dass für die Unterbringung von 
Irrensiechen, Alkoholikern und Epileptikern in aus¬ 
wärtiger Pflege im Lande keine Vorsorge getroffen 
ist und diese Kranken, nebst den periodischen 
Formen in Irrenanstalten zurückbehalten werden 
müssen. 

Namentlich auf den psychiatrischen Kliniken war, 
wie der Bericht weiter sagt, die Ueberfüllung eine 
solche, dass schon in den Jahren 1897 und 1898 


die Aufnahme wiederholt sistirt werden musste. 
Uebrigens steht durch Uebergang der Sluper Gründe 
noch eine Reducirung des Raumes in der Prager 
Irrenanstalt bevor. — 

Weiteres fordert der Bericht eine weitere Ausge¬ 
staltung der Irrenfürsorge überhaupt, welche sich 
nicht nur auf Schaffung weiterer Belegräume be¬ 
schränken dürfe, sondern auch für Colonisirung und 
familiäre Verpflegung der Geisteskranken zu sorgen 
hätte. 

Er bespricht dann noch die Verhandlungen, welche 
bezüglich der neu zu errichtenden psychiatrischen 
Kliniken in Prag schweben. Diese sollen auf dem 
Platze der IV. Abtheilung der Prager Irrenanstalt, 
(dem sogen, alten Gebärhause) errichtet werden. 
Der Bericht giebt der Erwartung Ausdruck, dass dieser 
Bau in den nächsten Jahren thatsächlich ausgeführt 
und hierdurch einem allseitig empfundenen Mangel 
in der Irrenanstalt für die Dauer abgeholfen werden wird. 

Auch die autonomen Landesbehörden erkennen 
die Unzulänglichkeit der bestehenden Einrichtungen 
für Geisteskranke an, wie u. a. die Berathungen der 
Budgetkommission des Landtages (Ref. Dr. Zintl) 
und die Ausführungen des San.-Referenten Dr. Greger 
des Landesausschusses im Juli d. J. beweisen und es 
besteht, so weit ich mich informiren konnte, die Ab¬ 
sicht, an Stelle der Prager Anstalt eine grosse, etwa 
2000 Kranke fassende Irrenanstalt zu errichten. Es 
dürften hierbei wohl mehr administrative und finan¬ 
zielle als ärztliche Gründe maassgebend gewesen sein. 
Uebrigens verweise ich auf die Ausführungen Star- 
linger’s, im Heft Nr. 9 der Psychiatrischen Wochen¬ 
schrift bezw. die dort citirten Artikel, wonach es den 
Anschein hat, als ob auch die Aerzte sich mit den 
„grossen“ Anstalten werden abfinden müssen. 

Habe ich im Bisherigen nur von den in Irrenan¬ 
stalten verpflegten bezw. zu verpflegenden Geistes¬ 
kranken gesprochen, so sei auch noch kurz der ausser- 


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348 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32. 


halb der Anstalten befindlichen Geisteskranken Er¬ 
wähnung gethan. 

Diese werden, soweit es geht, von den Bezirks¬ 
hauptmannschaften in Evidenz gehalten u. z. auf 
Grund von Ausweisen der Gemeindevorsteher. — 
Die Gesammtsummen der in Evidenz befindlichen 
schwankten in den letzten Jahren um 5000 Geistes¬ 
kranke in ganz Böhmen; betrugen im Jahre iqoi 
4999, davon 414 in Versorgungsanstalten unterge¬ 
bracht, während 4585 sich in Privatpflege meist bei 
ihren Angehörigen befanden. — Dazu kommen noch 
etwa 2000 Cretins. 

Es ist wohl selbstverständlich, dass diese Zahlen nicht 
den Thatsachen entsprechen und die Zahl der wirk¬ 
lich vorhandenen Geisteskranken bedeutend grösser 
ist. Dies erhellt schon aus dem Volkszählungsresultat 
vom Jahre 1890^ das in Böhmen 10368 Irre und 
2651 Cretins ergab. Für dieses Jahr betrug das 
2,22 ° 00 . 

Die psychiatrischen Ergebnisse der Zählung von 
1900 liegen leider noch nicht vor. Doch ist die Prozent¬ 
zahl gewiss noch grösser geworden ; — aber selbst 
wenn man nur nach diesem die Zahl nach der Be¬ 
völkerungsziffer vom Dcccmbcr 1900 berechnet, cr- 
giebt das 13899,6 also rund 13900 Geisteskranke 
in Böhmen, von denen aber nur 11 693 in Evidenz 
waren u. z. 6694 in Anstalten und 

4999 nicht in Irrenanstalten verpflegte 
11 693. 

Es existirt diese Unmöglichkeit der genauen Evi- 
denzführung ja nicht nur in Böhmen, sondern ganz 
allgemein und ich möchte diesbezüglich Dr. Scholz 
zustimmen, der in seiner Brochüre: Irrenfürsorge und 
Irrenhilfsvereine, wohl mit Recht behauptet, dass 
selbst die tactvollst vorgehende Behörde kaum zu 
einer verlässlichen Evidenzliste aller in einer Ge¬ 
meinde wohnhaften Geisteskranken kommen kann 
und dass eher im Wege der Vertrauensmänner von 
Irre 11 hilfsvereinen etwas zu erreichen wäre. 

Uebrigens beschäftigt sich die schon erwähnte 
Enquete im Ministerium auch mit der Frage der 
Evidenzhaltung der Geisteskranken und es ist auch 
wohl zu hoffen, dass die allmählich besser werdende 
psychiatrische’ Ausbildung der Aerzte bald zur rich¬ 
tigeren Kenntniss der wirklich vorhandenen Geistes¬ 
kranken und ihrer Zahl führen wird. 

Fasse ich das bisher allerdings nur in groben 
Zügen skizzirte über die Irrenfürsorgeverhältnisse in 
Böhmen zusammen, so ergeben sich folgende Wünsche 
und zwar nicht nur irn Interesse der Geisteskranken 
selbst, sondern auch ihrer oft so hart mitbetroffenen 


Angehörigen, sowie in weiterer Folge auch der ge¬ 
summten Bevölkerung des Landes: 

I. Dem Mangel einer Beobachtungsstation 
für Geisteskranke und Irrsinnsverdächtige in Prag, 
möge zunächst durch Errichtung selbstständiger Ge¬ 
bäude für die beiden psychiatrischen Kliniken ehe- 
thunlichst Rechnung getragen werden. 

Inwieweit hier auch criminelle Geisteskranke Auf¬ 
nahme finden sollen oder ob nicht für solche eine 
eigene Beobachtungsabtheilung etwa in engerem C011- 
tacte mit der Polizei- bezw. Strafbehörde errichtet 
werden sollte, möge gleichzeitig mit der Feststellung 
der Aufnahmsmodalitäten für die psychiatrischen Kli¬ 
niken in Berathung gezogen werden. 

II. Der immer unerträglicher werdenden Ueber- 
füllung in der Prager Irrenanstalt möge durch schleu¬ 
nigste Errichtung einer, eventuell zweier neuer 
Irrena n s t a 11 e n in der Nähe von Prag begegnet 
werden. 

Diese Anstalt, bezw. diese Anstalten müssten zu¬ 
sammen für mindestens 2000 Kranke Platz bieten, 
da eine Verringerung der Plätzezahl in der Prager 
Anstalt schon für das Jahr 1004 bevorsteht, in wel¬ 
chem Jahre die Sluper Gründe in den Besitz des 
Staats übergehen und eine weitere Einengung auch 
dadurch zu erwarten ist, dass die psychiatrischen 
Kliniken auf einem Theile der Gründe der bisherigen 
Irrenanstalt (an Stelle des sogenannten „alten Gebär¬ 
hauses“) errichtet werden sollen. — Vom ärztlichen 
Standpunkte scheint die Errichtung zweier Anstalten zu 
je 1 < >00 Betten zweckmässiger, als die einer grossen, 
ärztlich nicht mehr zu übersehenden Anstalt von 
etwa doppeltem Belagraum. Diesem Standpunkte 
scheint in der seither stattgehabten Sitzung des Landes¬ 
ausschusses Rechnung getragen worden zu sein. 

III. Mit Erfüllung der sub I und II angeführ¬ 
ten, wohl allgemein anerkannten Forderungen, welche 
den jetzt schon grossen Aufwand für Irrenanstalten 
(2800527 Kronen nach dem Voranschläge für 1902) 
bedeutend steigern würde, wäre jedoch nur ein 
Schritt vorwärts gethan. — Von den meisten Fach¬ 
leuten wird heute wohl mit Recht behauptet, dass 
eine „irgendwie ausreichende Irren Versorgung eines 
Landes nicht gewährleistet werden kann, so lange 
nicht für Zwecke der AnstaltsVersorgung 2 Plätze 
in eigentlichen Irrenanstalten auf 1000 Men¬ 
schen der Bevölkerung kommen.“ — Für Böhmen 
würde das 12 600 Plätze bedeuten; es ergiebt 
dies selbst nach Erfüllung der obgenannten Forde¬ 
rungen noch einen Mangel von über 6000 Plätzen 
für Geisteskranke. 


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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


IV. Da bei den gegenwärtigen Verhältnissen aus 
öffentlichen Mitteln derartige grosse Lasten vom Lande 
nicht aufgebracht werden können, wäre es wünschens¬ 
wert, dass, wie in anderen Ländern, auch in Böh¬ 
men Irrenhilfsvereine entstünden, welche sich 
der nicht in Anstalten unterzubringenden Geistes¬ 
kranken werkthätig annehmen müssten, aber auch 
sonst das Irrenwesen im Lande nach Kräften zu för¬ 
dern hätten. 

V. Was die für specielle Kategorieen 
von Geisteskranken bestimmten Anstalten betrifft, so 
hat Böhmen nur eine einzige derartige Anstalt: Es 
ist die vom St. Anna-Frauenvereine erhaltene Heil- 
und Pflegeanstalt für Schwachsinnige auf dem 
Hradschin in Prag. 

So anerkennenswerth die mehr als 25 Jahre zu¬ 
rückreichenden Bestrebungen dieses Vereines sind, 
der im Jahre 1901 schon 102 Zöglinge (davon 27 
auf Landeskosten) verpflegte — so wäre hier wohl 
eine ausgiebigere öffentliche Fürsorge wünschens- 
werth u. z. wie ich glaube, in dem Sinne, dass man 
möglichst viele in eigenen Anstalten unter¬ 
bringt. 

Dieser Modus der Versorgung der Schwachsinnigen 
ist, wie u. a. Kraepelin in seinen „psychiatrischen 
Aufgaben des Staates“ (pag. 17) hervorhebt, schon 
mit Rücksicht auf die dadurch gegebene Verhütung 
der Fortpflanzung derartiger Kranker der zweck- 
mässigste und eben aus diesem Gesichtspunkte be¬ 
trachtet , nach den Ausführungen des niederöster¬ 
reichischen Landesausschussmitgliedes Gerenyi auf dem 
letzten (VIII.) Antialkoholcongresse in Wien, durchaus 
nicht der theuerste. — Für bildungsfähige Schwach¬ 
sinnige wären „Hilfsschulen“ zu errichten. 

Zwei weitere Arten von Special-Anstalten fehlen 
in Böhmen derzeit noch vollständig, trotzdem von 
ärztlicher Seite schon wiederholt auf ihre NothWen¬ 
digkeit hingewiesen wurde: 

Ich meine die Anstalten für Epileptiker und 
Alkoholiker. 

Bezüglich der ersteren hat Prof. A. Pick in 
einem Artikel der „Bohemia“, vom 22. October 1901, 
sich sehr warm für die Errichtung von Epilep- 
tikercolonien eingesetzt. 

Bezüglich der Trinkerheilanstalten und 
Trinkerasyle wurden im Vorjahre verschiedene 
Vorschläge vom Landescomite zur Vorbereitung des 
VIII. internationalen Antialkoholcongresses ausge¬ 
arbeitet. 

Wie noth wendig beide Kategorieen von Anstalten 


wären, geht wohl schon daraus hervor, dass Prof. 
Pick die Zahl der Epileptiker in Böhmen auf 12 bis 
15000 schätzt, während durch die Erhebungen im 
Vorjahre über 25000 notorische Trinker in 
Böhmen sichergestellt wurden. 

Ich glaube, durch meine kurze Darstellung ge¬ 
zeigt zu haben, dass Behörden und Aerzte in Böh¬ 
men bemüht sind, den grossen Anforderungen der 
Irrenfürsorge im weiteren Sinne des Wortes gerecht 
zu werden, dass trotz schwieriger Verhältnisse Man¬ 
ches geleistet wurde, dass aber noch Vieles zu thun 
übrig bleibt. Möge wenigstens das Noth wendigste 
bald gethan werden. 

Litteratur. 

1. Bericht über die sanitären Verhältnisse und Ein¬ 
richtungen des Königreiches Böhmen in den Jahren 
1896 — 98, verfasst von Dr. IgnazPelc, k. k. 
Hofrath und Landessanitätsreferenten, Prag 1900. 
Verlag der k. k. Statthalterei. 

2. Derselbe Bericht über das Jahr 1900, (lithographirt, 
nicht im Drucke erschienen). 

3. Bericht des Landesausschusses des Königr. Böhmen. 
I. Bericht über die Königl. böhm. Landesirren¬ 
anstalten für das Jahr 1897. 

4. Jahresbericht des St. Anna-Frauenvereines, Gründers 
. und Erhalters der Lehr- und Erziehungsanstalt für 

Schwachsinnige (Idioten) in Prag, Hradschin Nr. 
57. Prag 1899. Druck von Dr. Ed. Gregr. 

5. Daimer. Handbuch der österreichischen Sani¬ 
tätsgesetze. Leipzig u. Wien, Deuticke. 1896 u. 
1898, I. u. II. Theil. 

6. Scholz. Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. Halle, 

Verlag von Marhold 1902. 

7. Fischer. Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Ge¬ 
biete d. Irrenfürsorge. München, Seitz & Schauer. 

8. Kraepelin. Die psychiatrischen Aufgaben des 
Staates. Jena. Verlag von Fischer 1900. 

9. A. Pick. Ueber die dringend notwendige Für¬ 
sorge für Epileptische. Bohemia, 22. October 1901. 

10. Annales medico-psychologiques. Paris 1885, 
pag. 242. 

11. G. A. Tuck er. Lunacy in many lands. Sydney, 
Charles Potter, Go vernement Printer 1887. 

12. Dannemann. Bau, Einrichtung und Organisa¬ 
tion psychiatrischer Stadtasyle. Halle a. S., Ver¬ 
lag von Marhold 1901. 

13. Landesvoranschlag des Königreiches Böhmen für 

das Jahr 1901. (V. Jahressession des Landtages 

des Königreiches Böhmen vom Jahre 1895. Druck 
III, Nr. 26, Ldtg). 

14. Vorläufige Ergebnisse der Volkszählung. 

15. Wien. Klin. Wochenschr. 1902. Verein f. Psy¬ 
chiatrie und Neurologie in Wien. pag. 27 u. 110. 

16. Die Irrenfürsorge in Baden von Max Fischer, 
Illenau. Psychiatr.-Neurologische Wochenschrift 
1902, Nr. 8, 9, 10. 


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3,so PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32. 


M i t t h e i 

— Programm der 70. ordentlichen General- 
Versammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am Samstag den 15. November 1902, 
Nachmittags 1 l j 2 Uhr in Bonn im Hotel Kley. 

1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Aufnahme neuer 
Mitglieder. Zur Aufnahme in den Verein haben sich 
gemeldet: Dr. Borchert-Coblenz, Dr. Goerlitz-Düssel- 
dorf, Dr. Hoffmann-Elberfcld, Dr. Rixen-Andernach, 
Dr. Schmidt - Düsseldorf, Kreisarzt. 3. Vorträge: 
a) Brosius-Sayn: Die Psychosen der Juden, b) Sauer¬ 
mann-Bonn : Zur Prognose und Therapie der Trunk¬ 
sucht. c) Schnitze-Andernach : Casuistischer Beitrag 
zur Lehre der Augenmuskellähmung. d ) Thomson- 
Bonn: «) Zur circulären Psychose, ß) Ueber Salz- 
entziehungskuren. Gemeinschaftliches Mittagessen 
4‘/* Uhr: 

Pelmann. Oebeke. Umpfenbach. 

Auch der preussische Justiz-Minis teria 1 - 
Erlass vom 7. Octobcr 02 wird in der Hauptver¬ 
sammlung zur Besprechung kommen. 

— Der preussische Justizministerial-Erlass 
vom 7. October 1902. 

Die „Nordd. Allg. Zeitung“ schreibt: 

„Die Presse hat sich in letzter Zeit mehrfach mit 
einer Allgemeinen Verfügung des Justizministers vom 
1. Oktober 1902 über die Zuziehung von Sach¬ 
verständigen im Entmündigungsverfahren 
beschäftigt und darin eine Anordnung der Justizver¬ 
waltung gefunden, dass fortan statt eines erfahrenen 
Psychiaters der Kreisarzt als Sachverständiger zuge¬ 
zogen werden solle. Diese Auffassung ist irrthümlich. 
Der Justizministcr hat seinerseits keine Anordnung ge¬ 
troffen, vielmehr nur auf Anregung des prcussischen 
Medicinaibcamtenvercins und nach Benehmen mit der 
Medicinalverwaltung die Gerichte auf die Sachlage 
hingewiesen, welche durch das am 1. April 1901 in 
Kraft getretene Gesetz, betreffend die Dienststellung 
des Kreisarztes u. s. w., vom 16. September 1899 
gegeben ist. Nach § 633 Abs. 2 der Zivilproccssord- 
nung kommt für die Vernehmung von Sachverstän¬ 
digen im Entmündigungsverfahren der § 404 Abs. 2 
desselben Gesetzes zur Anwendung, Hiernach sollen, 
wenn für gewisse Arten von Gutachten Sachverstän¬ 
dige öffentlich bestellt sind, andere Personen nur 
dann vom Gerichte gewählt werden, wenn besondere 
Umstände es erfordern. Da nach 9 des Gesetzes 
v<>m Ib. September 1800 der Kreisarzt der Gerichls- 
arzt seines Bezirkes, d. h., wie sich aus der Begründ¬ 
ung zum Entwürfe des Gesetzes ergiebt, für diesen 
öffentlich bestellter ärztlicher Sachverständiger ist, so 
ist es eine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht der Ge¬ 
richte, ihn regelmässig auch im Entmündigungsver- 


1 u n g e n. 

fahren zuzuziehen. Ob im einzelnen Falle in der 
hervorragenden psychiatrischen Befähigung eines an¬ 
deren Arztes oder in sonstigen Verhältnissen ein „be¬ 
sonderer Umstand“ zu finden ist, der eine Abweich¬ 
ung von der gesetzlichen Regel rechtfertigt, unterliegt 
lediglich dem Ermessen des Gerichts, welches die All¬ 
gemeine Verfügung vom 1. October 1902 nicht be¬ 
schränkt und nicht hat beschränken wollen.“ 

Wir möchten dazu noch Folgendes bemerken: 
§ 404 der C. P.-O. lautet: „Sind für gewisse Arten 
v o n G u t a ch t c n Sachverständige öffentlich bestellt, 
so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, 
wenn besondere Umstände es erfordern“. Wenn das 
Gesetz den Kreisarzt als Gerichtsarzt, d. h. als öffent¬ 
lich bestellten ärztlichen Sachverständigen bezeichnet, 
so bleibt noch immer die Nothwendigkeit der Inter¬ 
pretation des Ausdrucks „für gewisse Arten von Gut¬ 
achten“. Nach obiger Auffassung müsste man 
darunter die auf sämmtliche medicinischen 
Fächer sich erstreckenden Gutachten verstehen. Der 
Kreisarzt wäre also für alle medicinischen Angelegen¬ 
heiten „sachverständig“. Diese Behauptung werden 
aber die Kreisärzte selbst nicht aufstellen wollen. Die 
einzelnen Zweige der medicinischen Wissenschaft haben 
trotz des festen inneren Zusammenhangs eine solche 
Ausdehnung erreicht, dass ein Genie dazu gehört, 
sie so zu beherrschen, dass Einer in allem vor Gericht 
als Sachverständiger gelten kann. Die logische Folge 
davon wäre, dass der Kreisarzt auch in seiner Privat¬ 
praxis — die Kreisärzte sind ja z. Thl. noch auf 
Praxis angewiesen, also vom Publikum nicht ganz un¬ 
abhängig — als Specialarzt für jedes einzelne Fach 
der Medicin gilt. Sollte ein solcher Überarzt den 
Gesetzgebern vorgeschwebt haben ? Die gesetzliche 
Pflicht der Gerichte, den Kreisarzt in allen medi¬ 
cinischen Angelegenheiten als Sachverständigen zu 
wählen, beruht also auf einer utopistischen Construction 
verschiedener medicinischer Fähigkeiten und Fertig¬ 
keiten in einer Person. — Auch die Auffassung der 
preussischen Justizverwaltung, falls sie in der Nordd. 
Allg. Zeitung hinreichend zum Ausdruck kommt, dass 
die Abweichung von der „gesetzlichen Beweisregel“ 
ins „freie Ermessen“ des Richters gestellt wird, ist 
wohl nicht erschöpfend; über dem „freien Ermessen“ 
steht doch ein höherer Begriff, nämlich die 
nicht blos technisch-juristische, sondern allgemein 
ethische Verpflichtung, zur Auffindung der Wiihrheit 
den sichersten Weg zu wählen. — Alles in Allem 
sieht man, dass der erörterte Gegenstand eine weit 
über die Frage der Entmündigung hinaus in die 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Rechtsprechung im Allgemeinen hineinreichende Be¬ 
deutung hat. — 

Der „Strassburger Post“ (i. n. 02) wird „zur 
Frage der ärztlichen Sachverständigen bei Gericht“ 
geschrieben: 

Ein neuer preussischer Justizministerialerlass (vom 
7. October) betreffend das Entmündigungsverfahren, 
macht, weil er allgemeine Interessen tangirt, eine 
öffentliche Besprechung nöthig. Nach diesem Erlasse 
sollen entgegen früheren Bestimmungen als Sachver¬ 
ständige im Entmündigungsverfahren nicht mehr die 
auf dem Gebiete der Irrenheilkunde erfahrensten, 
d. h. die Irrenärzte, sondern regelmässig die Gerichts¬ 
ärzte (Kreisärzte) , bezw. deren Assistenten gewählt 
werden. Was für Erwägungen dieser Aenderung zu¬ 
grunde liegen, entzieht sich unserer Kenntniss. Es 
ist aber klar, dass damit der Sache selbst ein grosser 
Schaden zugefügt wird. Denn, auch die beste Aus¬ 
bildung in den so verschiedenartigen Dienstzweigen 
beim Kreisärzte vorausgesetzt, in psychiatrischen 
Fragen wird er naturgemäss dem Irrenarzte von Beruf 
immer nachstehen. Besonders aber auf dem diffizilen 
Gebiete der Unterscheidung der Geisteszustände nach 
den verschiedenen Abstufungen der Entmündigungs¬ 
reife (wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Pfleg¬ 
schaft wegen geistiger Gebrechen) dürften seine Kennt¬ 
nisse in der Psychiatrie in den meisten Fällen unzu¬ 
reichend sein. Hier kann nur eine langjährige aus¬ 
schliessliche Beschäftigung in der Psychiatrie und eine 
in täglicher Uebung frisch erhaltene, practische Er¬ 
fahrung den richtigen Maassstab der Beurtheilung 
liefern, ob und in wie fern im einzelnen Falle der 
bestehende Geisteszustand die Geschäftsfähigkeit des 
Betreffenden alterirt. Die Folgen einer unrichtigen 
Entscheidung in dieser Hinsicht sind wichtig genug, 
um jede Vorsicht zu rechtfertigen. Darum sollten 
denn auch die sachverständigen Feststellungen im 
Entmündigungsverfahren durchaus dem Irrenarzte über¬ 
lassen bleiben. Liegt diese Forderung einerseits im 
Interesse der Wahrung der psychiatrischen Berufsehre, 
so hat andererseits doch die Oeffentlichkeit, das Publi¬ 
kum selbst das grösste Interesse daran, dass der 
Schutz seiner geisteskranken Mitglieder in civilrecht- 
licher Beziehung auf die bestmögliche Weise gewähr¬ 
leistet wird. Sehr bedenklich scheint uns aber schliess¬ 
lich die durch den betreffenden Erlass ausgesprochene 
Einschränkung der Gerichte in der Wahl der Sach¬ 
verständigen. Das ist unserer Ansicht nach ein Punkt, 
gegen den der Richterstand selbst um seiner Unab¬ 
hängigkeit im Beweisverfahren willen Grund genug 
hätte, energische Gegenvorstellungen zu machen. 
Angesichts der Neigung der Bundesregierungen, 


preussische Erlasse zu übernehmen, erscheint die 
Mahnung berechtigt, dass diese Neuerung in Würdigung 
der vorgetragenen Bedenken nirgendwo Nachahmung 
finden möge! Soweit darf schliesslich die Absage vom 
Partikularismus nicht gehen, dass Neuerungen, auch 
wo sie Verschlimmerungen bedeuten, unbedenklich 
übertragen werden! Halten wir daran fest, dass in 
Fragen der Beurtheilung der Gcistesthütigkeit der 
Irrenarzt der erste, gegebene Sachverständige ist. 
Dazu bestimmt ihn seine Ausbildung, seine Wirksam¬ 
keit und Erfahrung, kurz sein Beruf. 

Die 33. Versa m m 1 u n g s ü d w e s t d e u t s c h e r 
Irrenärzte hat in ihrer Sitzung vom 2. ds. Mts. 
in Stuttgart zu der Angelegenheit des Erlasses 
folgende Resolution gefasst: Die 33. Ver¬ 
sammlung südwestdeutscher Irrenärzte bedauert den 
Erlass des Königlich Preussischen Justizministeriums 
vom 7. Oktober d. J., der anordnet, dass der Gerichts¬ 
arzt als der für medicinische Angelegenheiten öffentlich 
bestellte Sachverständige, erforderlichen Falls dessen 
Assistent, zu Entmündigungssachen regelmässig zu 
wählen sei. Ohne einer Beurtheilung dieser Verfügung 
vom richterlichen Standpunkte aus vorgreifen zu wollen, 
müssen die Irrenärzte, die sich bisher als die durch 
den Erlass desselben Ministeriums vom 28. November 
1899 im Entmündigungsverfahren bevorzugten Sach¬ 
verständigen betrachten zu dürfen glaubten, weil bei 
ihnen doch wohl „auf dem Gebiete der Irrenheilkundc 
besondere Erfahrung“ vorausgesetzt werden kann, in 
einer solchen durch nichts begründeten Aenderung 
eine Zurücksetzung erblicken. Vor allem aber müssen 
sie für die ihrer Fürsorge anvertrauten Kranken Ver¬ 
wahrung dagegen einlegen, dass irgend welche andere 
Interessen als die der zu Entmündigenden selbst auf 
die Wahl der Sachverständigen von Fanfluss werden. 

— Von der psychiatrischen Klinik in Wien. 
Der bisherige Vorstand der ersten psychiatrischen 
Klinik in der niederöstereichischen Landesirrenanstalt 
Professor Dr. Julius Ritter v. Wagner-Jauregg, der be¬ 
kanntlich an Stelle des in den bleibenden Ruhestand 
getretenen Hofrathes Professors Dr. Freiherm v. Krafft- 
Ebing zum Ordinarius der zweiten psychiatrischen 
Klinik im allgemeinen Krankenhause ernannt worden 
war, hat die Leitung dieser Klinik übernommen. Zum 
Supplenten und interimistischen Leiter der ersten 
psychiatrischen Klinik, an der das Ordinariat erst 
nach Fertigstellung der für die medicinische Facultät 
bestimmten Neubauten besetzt werden wird, wurde 
der Docent Dr. Emil Rai mann ernannt. 

— 74. Versammlung deutscher Natur¬ 

forscher und Aerzte zu Karlsbad. 21. bis 2 6. 
September. Abth. Neurologie und Psychiatrie. 
(Schluss.) 

Als bedingt objectiv bezeichnet L. diejenigen 
Symptome, welche das Product aus einem experi- 


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352 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32 


mentellen Reize und der Angabe des Untersuchten 
darstellen. Von solchen Störungen erwähnt Vortr. 
die von ihm gefundene nachweisbare Herabsetzung 
der Reizschwelle für faradischen Schmerz; auf dem 
Gebiete der Motilität die feineren Coordinationsstö- 
rungen. Ein Theil der Symptome, die sonst als 
hysterisch gedeutet werden, wird vom Vortr. der Neu¬ 
rasthenie zugewiesen. Für die Lokalisation der ob- 
jectiven Symptome zieht Redner die Edinger’sche 
Theorie des ungenügenden Ersatzes heran. 

21. Marina (Triest): Ueber die Pupillen- 
r e a c t i o n bei der Convergenz. 

Um die Abhängigkeit der Pupillenreaction von 
der Convergenzbewegung zu studiren, hat Vortr. bei 
Affen den M. obliquus super, sowohl als auch den 
M. rect. extern, an Stelle des abgelüsten M. rect. 
intern, transplantirt und anheilen lassen. Es fand 
sich, dass nach Verlauf einiger Zeit die Convergenz¬ 
bewegung von den neuen Muskeln wieder in norma¬ 
ler Weise ausgeführt wurde, und dass die Pupillen¬ 
verengerung dabei auch jetzt eintrat. Selbst wenn 
er eine Convergenz dadurch erzielte, dass er den 
blossgelegten Muskel faradisch reizte oder auch mit 
der Pincettc zog, trat die Pupillenreaction ein, war 
also dabei unabhängig vom Central-Nervensystem zu 
Stande gekommen. 

Vortr. schiiesst daraus, dass es eigentlich gar keine 
Convergenz-, sondern nur eine Accommodations-Re- 
action giebt, die Annahme eines Convergenz-Centrums 
ist überflüssig; das Gehirn kennt nur Richtungen und 
Bewegungen, keine Muskeln und Nerven. 

H. Haenel-Dresden. 

— Ein Schulfall verminderter Zurechnungs¬ 
fähigkeit In Nr. 10 der „Feuerpolizei“, Monatsschrift 
für Polizei und Verwaltungsbehörden, findet sich auf 
S. 147, 148 ein Artikel, der die Ueberschrift trägt: 
Ein systematischer Brandstifter. Dieser 
Artikel ist geeignet, das Interesse der Fachgenossen 
zu erwecken. Es handelt sich um den 24jährigen 
Sattlergehilfen Joh. Ulrich, der am 1. Juli d. J. vor 
dem Schwurgericht in Tübingen stand. U. ist un¬ 
ehelich geboren, zeigte in früher Jugend grossen 
Hang zum Stehlen, wurde deshalb in einer 
Zwangserziehungsanstalt erzogen und war später ein 
tüchtiger Arbeiter, aber „ein verlogener Bursche“. 
Mitte Januar 1902 sah er eine grosse Feuersbrunst; 
der Anblick machte ihm grosse Freude. „Diese Freude 
am Feuer beherrschte ihn so, dass er sich geradezu 
willenlos zu Brandstiftungen hinreissen liess; meistens 
überfiel ihn der innere Drang Feuer anzulegen, wenn 
er angetrunken war“. So brannte er Ende d. J. 
eine Scheuer nieder. Im Februar wurde er wiederum 
„über seinen inneren Trieb nicht mehr Herr“. Er 
„musste“ eine Ziegelei und im März d. J. bez. April 
je eine Scheuer in Brand setzen. Im April brannte 
er noch eine in der Nähe der Wohnung seiner momen¬ 
tan abwesenden Geliebten befindliche Scheune an, 
wohl weil er durch den Brand die Rückkehr des 
Mädchens hervorzurufen hoffte. 


Aus den Brandlegungen zog Ulrich keinerlei Vor* 
theil. „Die Freude am Feuer allein hat ihn zum Brand¬ 
stifter gemacht, willenlos ist er unterlegen“, schreibt 
die Feuerpolizei noch einmal. Herr Med.-Rat Prof. 
Dr. Oesterlen als Sachverständiger erklärte, wie der 
betr. Berichterstatter mittheilt, vor dem Schwurgericht, 
dass die vom Angeklagten behauptete Sucht Feuer 
anzulegen kein krankhafter Trieb sei, und vertrat die 
Ansicht, die Lust am Brandlegen entspreche der leb¬ 
haften Phantasie, dem Uebennuth und dem Leichtsinn 
des Thäters, der an keiner krankhaften Störung der 
Geistesthätigkeit mit Aufhebung der freien Willensbc- 
stimmung leide, aber allerdings in Folge seiner Nervosität, 
der Alkohol Wirkung und sexueller Erregung ein seelisch 
minderwerthiger Mensch sei. 

Hierauf verneinten die Geschworenen die 
Frage nach dem Vorhandensein mildernder Um¬ 
stände und vcrurtheilten Ulrich zu 12 Jahren 
Zuchthaus, sowie zu 10 Jahren Ehrverlust. 

Ich zweifle nicht daran, dass die meisten der 
Fachgenossen mit mir erstaunt sein werden über diese 
in einer Universitätsstadt stattgehabte Behandlung 
der Sache und mit mir daran zweifeln werden, ob 
der Angeklagte mit Recht in dieser Weise für seine 
Handlungen verantwortlich gemacht wird. Zum 
mindesten ist Ulrich ein Schulfall von verminderter 
Zurechnungsfähigkeit. Ohne den betr. Menschen ge¬ 
nauer zu kennen, wird man nicht mehr behaupten 
dürfen und wollen. Natürlich konnte man einen so 
gefährlichen Menschen nicht in der Freiheit lassen, 
aber ihn ins Zuchthaus auf 12 lange, lange Jahre zu 
stecken, das ist doch ganz gewiss unbegreiflich hart 
angesichts der von Haus aus bestehenden abnormen 
V eranlagung und der offensichtlich pathologischen 
Motive zu den ausgeführten Brandstiftungen. Er¬ 
fahrungsgemäss besteht bei Personen mit solchem 
Trieb Rückfallsgefahr. Das Bestreben, Feuer anzu¬ 
zünden taucht eben immer und immer wieder auf und 
überwältigt die Betr. namentlich nach Alkoholgenuss. 
Der Trieb ist eben ein Symptom der Degeneration, 
also ein krankhaftes Element, für dessen Ent- 
äusserung der daran Leidende nicht voll verantwortlich 
gemacht werden kann. 

Meine Ausführungen fussen auf der eingangs mit¬ 
geteilten Quelle; ist letztere nicht korrekt, so lesen 
wir vielleicht demnächst eine Berichtigung. Ist aber 
dort alles richtig angeführt, so möchten doch die be¬ 
theiligten Königl. Württemberg. Behörden hiermit ge¬ 
beten sein, dem im hohen Grade als pathologisch 
verdächtigen Geisteszustand des zu so ausserordent¬ 
lich strenger Strafe Vcrurtheilten ihr ernstes Interesse 
hochherzig zuzuwenden! 

Georg Ilberg (Grossschweidnitz in Sachsen). 


Personal nachricht. 

— Dr. Alexander Pilcz hat sich als Privat - 
docent für Psychiatrie und Neurologie an der Wiener 
Universität habilitirt. 


Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, K rasch nitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psycbiatriscta^Neurologisohe 

Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Xj. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzbnrg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz fSchlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.'Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 33. 15 - November. 1902. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: War Mohammed Epileptiker? Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey (S. 353). — Mittheilungen (S. 357). 
— Personalnachrichten (S. 360). 


War Mohammed Epileptiker?*) 

Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey , I. Assistent der Prof. Dr. Schlösser’sehen Augenheilanstalt in München. 


r\ie Frage, ob die Seelen- oder Geistesthätigkeit 
des Propheten Mohammed, zu dessen Religion 
sich über dreihundert Millionen Menschen bekennen, 
etwas Abnormes aufzuweisen hatte, beschäftigte die 
abendländischen Biographen desselben seit den ältesten 
Zeiten. Die Resultate ihrer Forschungen sind ziem¬ 
lich verschieden, trotzdem alle ausnahmslos dieselben 
Quellen benutzten, nämlich: die Biographieen und 
die Traditionsschriften muslinischer Schriftsteller. 

Während die Einen, wie Gagnier und Sprenger, 
von Hypochondrie und Hysterie sprechen, erklären 
ihn Andere, wie Noel de Berges und Lombroso für 
tollsüchtig oder irrsinnig. Noch Andere, und dies 
ist eine ziemlich grosse Anzahl Forscher, von denen 
ich unter Andern Theophanes Confessor, Hugh 
Brougthon, Waschington Yrrwing, Weil und Arnold 

*) Nach dem in der Münch. Orientalischen Gesellschaft 
am 22. Mai 1902 gehaltenen Vortrage. 


Mühleisen, erwähnen möchte, behaupten: er litt in 
seiner Kindheit oder im späteren Alter an der Fall¬ 
sucht, „Epilepsie“. 

Die Angaben dieser letzten Autorengruppe, die 
das uns interessirende Thema behandelten, stützen 
sich auf laienhafte Argumentation und leiden an 
mangelhaften Sach- und Fachkenntnissen. Und wenn 
man bedenkt, welche Schwierigkeiten einem Fachmann 
die Aufgabe bereitet, die Aufstellung einer Diagnose 
unter diesen Verhältnissen zu rechtfertigen, so wird 
man leicht begreifen, dass ein Laie eigentlich nicht 
in der Lage ist, sich einer solchen Aufgabe zu unter¬ 
ziehen, ohne die gröbsten Fehler zu begehen. 

Es war daher interessant für mich, einer gütigen 
Anregung des Herrn Medicinalrathes Professor Dr. 
Bumm’s*) Folge leistend, die Frage von Neuem auf- 

*) Prof, der Psychiatrie u. Vorstand der psychiatrischen 
Universitätsklinik in München. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


354 


[Nr. 33 - 


zuwerfen und mehr vom medicinischen Standpunkte 
aus zu untersuchen. 

Der Untersuchungsplan muss in einem solchen 
Falle natürlich anders ausgedacht werden, als man es 
gewöhnlich thut, da ja der angebliche Patient schon 
«eit dreizehn Jahrhunderten nicht mehr unter den 
Lebenden sich befindet und man ihn in Folge dessen 
nicht fragen oder beobachten oder gar direct unter¬ 
suchen kann. Hier sind die uns zu Gebote stehen¬ 
den Mittel und Behelfe beschränkt. Wir sind ge- 
nöthigt, uns damit zu begnügen, ihn indirect, durch 
Vermittlung dritter Personen — und die sind auch 
Laien —, zu befragen, aus diesen anamnestischen 
Angaben die Symptome zu ermitteln und so das 
Krankheitsbild zu construiren. 

Ich verfuhr folgendermaassen: Ich stellte mir 
einen Kranken im Geiste vor, dessen Anamnese, 
Krankheitsgeschichte, ich aufnehmen soll; ich frug 
ihn zuerst über den Gesundheitszustand seiner Eltern, 
die Krankheiten, die sie in ihrem Leben durchmach¬ 
ten, welches Alter sie erreichten und an welcher 
Krankheit dieselben starben ; ob er Geschwister ge¬ 
habt hatte, welches Alter sie erreichten, u. s. w. die 
übrigen Fragen. Dann kam er an die Reihe. Diese 
und andere Fragen wurden auch ihm gestellt und 
ich trachtete aus der vorhandenen Litteratur die Ant¬ 
wort zu erhalten, d. h. ich studirte die Quellen — 
die Biographien und Traditionsschriften, wobei ich 
die Fragen nie aus dem Auge verlor, Alles sammelnd 
und aufnotirend, was sich irgendwie auf das uns inter- 
essirende Thema beziehen kann. 

Die Resultate meiner Untersuchung will ich Ihnen 
heute gerne, aus begreiflichen Gründen nur in aller 
Kürze, mittheilen, da ich eine ausführliche Abhand¬ 
lung darüber später zu veröffentlichen gedenke. 

Von den Grosseltern Mohammed s wissen wir nur, 
dass sein Grossvater, namens Abdul-Muttalib, lebens¬ 
lang als Schirmherr der Kaaba, des Heiligthums der 
Araber, fungirte, Handelsgeschäfte mittelst grosser 
Karaw r anen mit Syrien trieb und hochbetagt im Alter 
von zweiundachtzig Jahren in Mekka starb. Sein 
jüngster Sohn, der Vater des Stifters des Islams, war 
mit Amina, aus dem in Madyna sesshaften Stamme 
der Beni-El Naggar, verheirathet. Abdullah, so hiess 
der Vater Mohammeds, erkrankte in der Nähe der 
Stadt Madyna, als er von einer Handelsreise nach 
der syrischen Stadt Ghazza zurückkehrte, musste dort 
zur Pflege bei den Verwandten seiner Frau von der 
Karaw'ane zurückgelassen werden, und verschied nach 
einmonatlicher Krankheitsdauer im Alter von fünf¬ 
undzwanzig Jahren; er wurde daselbst begraben. 
Amina, die Mutter des Propheten überlebte ihren 


Mann und verschied auf der Rückreise nach der 
Stadt Makka, nachdem sie ihre Verwandten in Ma¬ 
dyna besucht und bei ihnen einen Monat verbracht 
hatte. 

Es scheint, dass die Todesursache der beiden 
Letztgenannten, Vater und Mutter Mohammeds, eine 
akute, ja höchstwahrscheinlich infectiös-fieberhafte Er¬ 
krankung gewesen ist, was daraus zu entnehmen, 
dass Beide sich die Krankheit in Madyna bezieh¬ 
ungsweise in der Nähe dieser Stadt geholt haben 
und Madyna mit seiner Umgebung damals wegen 
ihrer „schlechten, krankmachenden und todbringen¬ 
den“ Luft unter den Arabern verrufen w*ar. In der 
vorhandenen Litteratur findet sich keine einzige An¬ 
gabe, die darauf -hinweisen könnte, dass die Eltern 
oder die Grosseltern Mohammed’s an einer für ihre 
Nachkommenschaft erblichen, resp. belastenden Er¬ 
krankung gelitten hätten; aber auch nichts, was eine 
solche Annahme ausschliesst. 

Montag, den 12. Rabi-ul-Aw'al des Elephanten- 
jahres*) (20. April 570) erblickte Mohammed das 
Licht der Welt. Nach den übereinstimmenden An¬ 
gaben aller arabischen Biographen verlief der Geburts¬ 
act sehr leicht und ohne jede Schwierigkeit, oder wie 
wir uns heute auszudrücken pflegen, ganz normal. 
An seinem Körper sind keine Missbildungen beobach¬ 
tet worden. Einige Tage nach der Geburt wurde 
das Kind einem Beduinenweibe, Namens Halima, 
w’ie es bei den Bewohnern Mekka’s Sitte war, zur 
Pflege gegen Entgeld übergeben. Halima stillte das 
Kind an ihrer Brust und entwöhnte es erst, nach¬ 
dem es zwei Jahre alt w'ar. 

Ueber das Gedeihen ihres Pflegekindes erzählt 
Halima, dass es sich während dieser Zeit ausser¬ 
ordentlich gut entwickelte, derart, dass es besonders 
stark heranwuchs, wie kein anderer Knabe in seinem 
Alter. **) Als er zwei Jahre und einige Monate alt 
war, trug ihn Halima zu seiner Mutter zurück, die 
über die frühzeitige Zurückgabe des Kindes über¬ 
rascht w'ar, zumal ja die Pflegemutter kurz vorher 
gebeten hatte, das Kind bei sich länger behalten zu 
dürfen. Und als sie über den Beweggrund ihres 
veränderten Entschlusses befragt wurde, da erzählte 
sie folgende Episode: 

*) So nannten die Bewohner Makka’s jenes Jahr, in dem 
ein abyssinischer Feldherr, welcher einen Elephanten mitführte, 
Makka belagert hatte. 

**) Abdel-Malik Ibn Hischam, das Leben Mohammed’s 
nach Mohammed ibn lshak, herausgegeben von Dr. Ferd. 
Wüstenfeld, Band I, erster Theil, Seite 105. 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


355 


„Einige Monate nach unserer Ankunft mit ihm 
zu Hause und während er mit seinem Milchbruder 
die Heerde hinter unseren Zelten bewachte, da kam 
sein Milchbruder ganz erschrocken und erzählte mir 
und dem Milchvater: »Sehet da, meinen Bruder, 
den Koraischiten, nahmen zwei weiss angekleidete 
Männer, legten ihn nieder, schlitzten seinen Bauch 
auf und fahren fort ihn zu martern und zu peinigen/ 
Wir, ich und sein Pflegevater, gingen auf der Stelle 
zu ihm hin und fanden ihn mit bleichem Gesichte 
aufrecht stehend. Wir gesellten uns zu ihm und 
frugen: ,Was ist Dir mein Sohn zugestossen? 4 Er 
antwortete: ,Zwei Männer mit weissem Gewand kamen 
zu mir her, streckten mich nieder, schlitzten mei¬ 
nen Bauch auf und holten etwas, das mir unbekannt 
ist, heraus/ 

Wir kehrten mit ihm heim. Da sagte mir sein 
Vater: ,Du Halima, ich fürchte, dass ihm ein Un¬ 
glück zugestossen ist, führe ihn zu den Seinigen zurück, 
bevor es bekannt wird/ Wir brachten ihn zu seiner 
Mutter, welche verwundert sich äusserte: ,Was hat 
Dich Pflegemutter jetzt hierher geführt, nachdem Du 
für Deinen Säugling und für sein ferneres Verweilen 
bei Dir sehr eingenommen warst? 4 Halima sagte 
ihr: »Gott hat meinen Sohn gedeihen lassen und ich 
that meine Schuldigkeit. Da ich aber von Seite der 
Kinder für ihn fürchte, so bringe ich ihn Dir wohl¬ 
behalten, wie Du cs nur wünschen kannst, zurück/ 
Anima erwiederte: ,Das kann nicht der Grund sein, 
Du musst aufrichtig gegen mich sein und mir die 
wahre Ursache angeben/ Halima, die Pflegemutter, 
berichtet weiter: und sie liess mich nicht los, bis ich 
ihr die volle Wahrheit er öffnete, worauf sie (Anima) 
dann frug, ob ich für das Kind vom Satan etwas 
fürchte? Und als ich diese Frage bejahte, da sagte 
sie: ,Im Gegentheil, bei Gott, der Satan kann keinen 
Einfluss über ihn besitzen, denn mein Sohn wird 
sicher zu einer ansehnlichen Würde gelangen.“ *) 

Ueber dieselbe Episode später befragt, erzählte 
Mohammed Folgendes: 

„Ich bin bei den Beni Saad ibn Bakr gesäugt 
worden. Als ich einmal mit einem meiner Milch¬ 
brüder hinter unseren Zelten unser Vieh hütete, da 
kamen zwei Männer auf uns zu. Sie trugen weisse 
Kleider und brachten ein goldenes mit Eis gefülltes 
Becken mit. Sie ergriffen mich, schlitzten meinen 
Bauch auf, holten mein Herz heraus, schnitten es 
auf und zogen einen schwarzen Blutklumpen heraus, 
warfen ihn weg und wuschen mit dem Eis mein 
Herz und meinen Leib, bis sie dieselben reinigten.“**) 

*) Ibn Hischam, Band I, erster Theil, S. 105 und 106. 

**) Ibn Hischam, B. I, 2. Theil, S. 106 u. 107. 

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Mohammed blieb von nun an bei seiner Mutter 
Anima in Mekka, wie der Schlusssatz des stattge¬ 
habten Gespräches zwischen ihr und seiner Amme 
ganz klar und unzweideutig es bestätigt, indem Anima 
der Pflegemutter sagte: „lass ihn hier und scheide, 
auf dem rechten Pfade wandelnd.“ 

Als der Knabe sechs Jahre alt war, während wel¬ 
cher Zeit man in der Litteratur nichts findet, was 
sich auf unser Thema beziehen kann, verschied seine 
Mutter Anima. Sein Grossvater Abdul-Muttalib nahm 
ihn auf. Nach zwei Jahren ereilte der Tod auch 
den Grossvater 'und Mohammed, acht Jahre alt, 
wurde von seinem rechten Oheim, Namens Abu 
Taleb, gemäss der letztwilligen und öfters vor seinem 
Tode geäusserten Verfügung des Grossvaters aufge¬ 
nommen. 

Als Knabe, noch nicht dreizehn Jahre alt, be¬ 
gleitete Mohammed diesen seinen Oheim auf einer 
Handelsreise nach Syrien, und es scheint, dass diese, 
nach den damaligen Verhältnissen recht beschwer¬ 
liche Reise ohne jeden Nachtheil für ihn verlaufen 
ist. Denn Angaben, welche von Ueberanstrengung, 
körperlicher oder geistiger Schwäche, oder von irgend¬ 
welcher Körperverletzung, wie Knochenbruch oder 
Fall auf den Kopf sprächen oder irgendwie andeuten, 
sind nirgends aufzufinden. Auch andere, uns inter- 
essirende Ereignisse, sind nirgends aufgezeichnet, als 
eine Jugenderinnerung Mohammed’s, die er später 
erzählte. Dieselbe lautet nach allen Biographen 
folgendermaassen: „Ich befand mich einst unter den 
Knaben Koraisch’s; wir trugen Steine von einem Ort 
zum andern, wie halt die Kinder im Spiele zu thun 
pflegen. Wir Alle entblössten unsere Leiber und 
warfen die Gewänder derart 11m den Hals herum, 
dass wir die Steine darüber trugen. Ich lief hin und 
her, als ein L’nsichtbarer mir einen schmerzhaften 
Stoss versetzte und darauf sagte: „Lass Dein Gewand 
herunter! 44 Ich that es, trug die Steine weiter und 
war unter den Kameraden der Einzige, welcher in 
sein Gewand gehüllt hin und her ging.“ 

Im Alter von fünfzehn Jahren nahm Mohammed 
an der Schlacht des „Sünder“*) (Harb-El-Fuggar) in Ge¬ 
sellschaft seiner Oheime Theil. Diejenigen Biographen, 
welche diese Schlacht erwähnen, berufen sich auf 
eine, wiederum spätere Aeusserung Mohammed’s. 
Dieselbe lautet nach Ibn Hischam: „Ich hatte in der 
Schlacht die Aufgabe zu erfüllen gehabt, meine Oheime 
gegen feindliche Pfeile zu vertheidigen, wenn sie da¬ 
mit beworfen wurden.“ 

*) So genannt, weil sie veranlasst wurde durch eine blu¬ 
tige That in den heiligen Monaten, in welchen die Araber 
das Blutvergiessen als die grösste Sünde betrachteten. 

Original from 

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356 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 33. 


Bis zum Alter von 20 Jahren enthält die vor¬ 
handene Litteratur der Biographen Mohammed’s 
nichts Besonderes ausser seiner Theilnahme an der 
Gründung des Fremdenschutzbündnisses, auf das ich 
zurückkommen werde. 

In den darauf folgenden vier Jahren leitete Mo¬ 
hammed die Handelsgeschäfte einer gewissen Chadiga. 
Dieselbe lebte zu Makkä als eine ehrbare, wohl¬ 
habende Wittwe, welche die von ihrem Manne er¬ 
erbten Handelsgeschäfte auch nach seinem Tode 
noch fortführte. Mohammed, im Alter von vierund¬ 
zwanzig Jahren, verdingte sich der genannten Wittwe 
und machte in ihrem Aufträge und Interesse mehrere 
Handelsreisen nach verschiedenen Gegenden. So zog 
er für sie auf die Messe von Suk Hubascha, das 
südwestlich von Mekka, am rothen Meere liegt, wo 
abissynische Waare gegen Producte Arabien’s aus¬ 
getauscht wurde. Auch reiste er nach dem da¬ 
mals berühmten Ledermarkt, Gurasch genannt, süd¬ 
lich von Makka gelegen und wahrscheinlich auch 
nach Bog-a, der Hauptstadt des Hawaranenlandes, 
welche in den allerersten Zeiten eine der Haupt¬ 
schrannen für die Araber war, von der sie Getreide 
nach Mekka gebracht haben sollen. 

Chadiga war nicht mehr jung; sie hatte das Alter 
von 37 Jahren erreicht; dennoch scheint sie das 
menschliche Gefühl nicht verloren zu haben, jenes 
Gefühl, welches bei den Evakindem „Herzenswunsch“ 
genannt wird. Was ihr an jugendlicher Anmuth 
fehlte, ersetzten ihre Tugenden, ihre gesellschaftliche 
Stellung und vielleicht ihr Reichthum. Mohammed 
war ein blühender, vielversprechender junger Mann 
von fünfundzwanzig Jahren, aber nicht reich. Was 
ihm an Reichthum fehlte, ersetzten seine geachtete 
Stellung, sein Ansehen als tugendhafter, gesitteter 
Mensch, seine adelige Abstammung und vielleicht 
seine Jugend. Chadiga stellte Mohammed einen 
Heirathsantrag. Er schlug ein und die Hochzeit 
wurde ohne Verzug gefeiert, nachdem Chadiga, die 
Braut, die Einwilligung ihres Vaters, auf kluge Weise 
erreicht hatte. 

Von ihrer Seite war es eine Heirath der Liebe 
und Achtung, die sie ihm auch bis an ihr Ende treu 
bewahrte. Er erwiederte ihre Zuneigung und lange 
nach ihrem Tode pflegte er von ihren Tugenden zu 
erzählen und sie öfters als Muster der Frauen zu er¬ 
wähnen ; bisweilen schlachtete er ein Schaf und ver¬ 
theilte das Fleisch unter die Armen zu ihrem An¬ 
denken. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Chadiga 
an geistigen Anlagen und Bildung, Seelengüte und 
Edelmuth ihre damaligen Landsmänninnen weit über- 

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traf. Bal’amy zufolge, soll sie sogar lesen und schrei¬ 
ben gekonnt haben, was in jener Zeit zu den gröss¬ 
ten Seltenheiten in Arabien gehörte. 

Nach der Heirath verliess Mohammed das Haus 
seines Oheims und lebte von nun an mit seiner Frau 
in ihrem eigenen Hause. Es stand in dem vor¬ 
nehmsten Theil der Stadt, etwas nördlich von der 
Kaaba, umgeben von den Häusern seiner und seiner 
Frau Verwandten, also lauter gute und angenehme 
Nachbarn, die in den späteren Jahren, nachdem 
Mohammed mit seiner Mission öffentlich auftrat, 
recht böse wurden, ihm und seiner Frau Freundschaft 
und Verwandtschaft kündigten und sich für seine Tod¬ 
feinde erklärten. 

Mohammed trieb die Handelsgeschäfte weiter und 
war in recht guten Verhältnissen bis zum Jahre 612, 
in welchem Jahre das Stocken seiner Geschäfte und 
beinahe der Ruin seines und seiner Frau Vermögen 
eintrat, verursacht durch das Auftreten Mohammeds 
und durch die daraus entstandene Verfeindungen und 
Verfolgungen seitens der Grössen Mekka’s. 

Die Ehe Mohammed’s mit Chadiga war mit sechs 
Kindern — zwei Knaben und vier Mädchen — ge¬ 
segnet. Die Knaben starben in der frühesten Kind¬ 
heit, der eine kaum ein halbes Jahr, der andere über 
ein Jahr alt. Die Mädchen blieben am Leben und 
erreichten die IJahre der Reife und verheiratheten 
sich alle. Die drei Aeltesten starben im Alter von 
33, 24 und 27 Jahren, ohne Erben zu hinterlassen. 
Nachkommen blieben nur von der jüngsten Tochter, 
Namens Fatimah, welche den Tod ihres Vaters er¬ 
lebte und im Jahre Ö32 n. Ch. im Alter von 28 Jah¬ 
ren starb. 

Wenn man die vorhandenen Quellen durch¬ 
mustert, so findet man, trotz des peinlichsten Suchens, 
nichts, was irgendwie darauf hin weist oder ausgelegt 
werden könnte, dass die Kinder Mohammed’s irgend 
welche ererbte Krankheit mit auf die Welt brachten. 
Auch enthalten dieselben Quellen keine Angaben, 
welche irgendwie dahin gedeutet werden könnten, 
dass dieselben Anomalitäten geistiger oder körper¬ 
licher Art zeigten. Im Gegentheil enthalten die uns 
überlieferten Quellen Vieles, was zwar ihre Anlagen 
und Konstitution nicht besonders hervorhebt, aber 
dieselben nicht herabsetzt. Wenn man die Lebens¬ 
geschichte der länger am Leben Gebliebenen studirt, 
so gelangt man leicht und ohne jeden Zwang zu der 
Anschauung, dass sie ganz gewöhnliche, normale 
Durchschnittsmenschen waren. Die direkte Todes¬ 
ursache, die Krankheiten, an denen sie starben, sind 
leider nirgends aufgezeichnet. An der Hand vieler 

Original frnm 

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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


357 


anderer Nebenerzählungen, die sich indirekt auf die 
Todesursachen beziehen, lässt sich mit Leichtigkeit 
und annehmbarer Genauigkeit ermitteln, dass es 
meistens akute, also keine chronischen oder periodi¬ 
schen Krankheiten waren. 


Nachdem ich die Periode im Leben Mohammed’s 
vom ersten bis zum achtunddreissigsten Lebensjahre 
mit dieser nur das allerwichtigste enthaltenden Skizze 
geschildert habe und bevor ich auf die zweite, für 
das Thema uns weit mehr interessirende Periode 
übergehe, will ich Manches über sein äusseres Aus¬ 
sehen, seinen Charakter und seine gesellschaftliche 
Stellung aus den Quellen citiren: 

Aus der Legende über seine Pflegschaft bei der 
Amme Halyma ist zu entnehmen, dass nicht nur 
keine Hemmung in seinem Wachsthum beobachtet 
wurde, sondern dass Mohammed als Kind ganz gut 
gedieh, so dass es mit zwei Jahren recht stark heran¬ 
wuchs wie kein anderer Knabe in seinem Alter. Dass 
er als Knabe die Reise nach Syrien mitmachte und 
als Jüngling von fünfzehn Jahren an dem Krieg der 
„Sünder“ sich betheiligte, bestätigt die Annahme, 
dass er kein Schwächling war und wahrscheinlich eine 
gute Konstitution besass, die solche Anstrengungen, 
welche damals mühsam und recht beschwerlich sein 
mussten, ganz gut vertrug. Ausser diesen Bemer¬ 
kungen enthalten die Quellen verschiedene Angaben, 
welche theilweise sein Aeusseres beschreiben und 
theilweise sich auf seinen Charakter beziehen. Ich 
lasse einige davon hier folgen. 

Ibn Hischam, der erste Biograph Mohammed’s sagt: 
„Er (Mohammed) wuchs schnell zum Jüngling heran. 
Die Vorsehung bewachte, behütete und bewahrte 
ihn vor den Sünden der Unwissenheit seiner Aera 
— die Zeit vor dem Islam. Im Mannesalter war er 
menschlicher, gesitteter und geschätzter, sanftmüthiger 
und einsichtsvoller, wahrhaftiger und aufrichtiger, 
treuer und zuverlässiger, als seine Altersstammesge¬ 


nossen.“ „Er war auch ein zuverlässiger Beschützer, 
weit davon entfernt, sein Wort zu brechen, schänd¬ 
liche Thaten oder gottvergessene Handlungen oder 
Unsittlichkeiten zu begehenwelche die Mannesehre 
besudeln, oder die Keuschheit des Jünglings entweihen, 
lauter Vorzüge, die den meisten Zeitgenossen, jungen 
und älteren, ganz und gar fehlten. Er wurde von 
dem Volke wegen dieser unübertroffenen guten Eigen¬ 
schaften mit dem Beinamen Al-Amin, der Zuver¬ 
lässige belegt. *) 

An anderer Stelle bei Ein Saad lesen wir Fol¬ 
gendes : Und als er zum Manne herangewachsen 
war, zeichnete er sich vor allen Anderen durch seinen 
Edelmuth, durch die Reinheit der Sitten, durch feines 
Benehmen und edles Handeln, durch Friedfertigkeit 
gegen seine Nachbarn, durch Nächsten- und Wahr¬ 
heitsliebe aus, und er wurde allgemein Al-Amin, 
der Zuverlässige, geheissen, weil er alle guten Eigen¬ 
schaften in sich vereinigte.“ 

Eine Thatsache aus der frühen Geschichte Mo¬ 
hammed’s, welche die gesellschaftliche Stellung und 
vielleicht den Charakter dieses Mannes beleuchtet, 
mag hier Beachtung finden. Es wird nämlich er¬ 
wähnt, dass Mohammed mit einigen ritterlichen Män¬ 
nern von Mekka ein Bündniss schloss zum Schutze 
Reisender und Fremder, die etwa in Mekka betrogen, 
geschädigt oder misshandelt wurden. Mohammed 
erinnerte sich später als alter Mann der Thätigkeit 
dieses Bündnisses öfters und pflegte seiner Erzählung 
hinzuzufügen: „Wenn heute Jemand kommen würde 
und gestützt auf dieses Bündniss meinen Schutz in 
Anspruch nimmt, so bin ich bereit ihm denselben 
sofort zu gewähren.“ 

Als Chadiga ihn für die Führung ihrer Geschäfte 
erwähltej stand er, wie Ibn Hischam und Andere 
angeben, in grossem x\nsehen wegen jener Sittlichkeit, 
Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die überall von 
ihm gerühmt wurde. (Fortsetzung folgt.) 

*) Ibn Hischam, Bd. I, erster Theil, Seite 117. 


M i t t h e i 

— Aus Ostpreussen. Die von mir in dem 
Aufsatze: Die Entwicklung des Irrenwesens in Ost¬ 
preussen (Psych. Wochenschrift 1899, I., Nr. 19) aus¬ 
gesprochene Vermuthung, dass sich im Auschluss an 
die Pfleglings-Abtheilung (Landarmen- oder Landpflege- 
Anstalt) Tapiau eine Irrenpflegeanstalt entwickeln 
werde, hat sich schnell verwirklicht. Bereits 1901 
war dem Provinziallandtag ein entsprechender Antrag 
vorgelegt worden, zu dessen Motivirung Folgendes 
ausgeführt wurde: 

Die Belegungsfähigkeit der beiden Provinzialirren- 

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1 u n g e n. 

anstalten Allenberg und Kortau beträgt nach der in 
den Jahren 1894 bis 1899 stattgehabten Vergrösse- 
rung beider Anstalten in Allenberg 890, in Kortau 
1000, zusammen 1890 Kranke. Hierzu tritt die 
Irrenabtheilung in Tapiau mit 68 Köpfe, so dass im 
ganzen 1958 Kranke, und zwar 948 Männer und 
1015 Frauen in diesen drei Anstalten untergebracht 
werden können. Unter Hinzurechnung von etwa 50 
in Familienpflege untergebrachten Geisteskranken 
können somit rund 2000 Kranke in und bei den 
genannten Anstalten Aufnahme finden. 

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35 » 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


LNr. 33 - 


Zur möglichsten Entlastung der Irrenanstalten 
wurden bereits 1899 59 männliche Geisteskranke 
aus diesen in die - neuerbaute Männerabtheilung der 
Landpflegeanstalt Tapiau überführt und ausserdem 
hier noch 15 idiotische Männer und 11 epileptische 
Männer aus Rasten bürg bezw. Carlshof untergebracht. 
Die Aufnahme dieser männlichen Kranken hat an¬ 
geblich zu bemerkenswerthen Unzuträglichkeiten nicht 
geführt, da die bei den Neubauten der Männerpfleg- 
lingsabtheilungen getroffenen baulichen Anordnungen 
es ermöglichen, diese Kranken in besonderen, von 
den eigentlichen Pfleglingen gesonderten, Abtheilungen 
unterzubringen. 

Im Anschluss an diesen Versuch, neue Plätze für 
Geisteskranke ohne Aufwendung erheblicher Mittel 
zu gewinnen, hat auch in der Frauenpflcglingsabthei- 
lung allmählich eine grössere Anzahl geisteskranker 
Frauen, welche zwar nicht einer Behandlung in einer 
Irrenanstalt, aber w r egen ihres körperlichen und gei¬ 
stigen Zustandes doch einer Anstaltspflege bedürfen, 
Aufnahme gefunden. Inzwischen hat es sich jedoch 
als unangängig erwiesen, diese Kranken, wenigstens 
der grössten Mehrzahl nach, unter den in der Frauen¬ 
pfleglingsanstalten vorliegenden baulichen Verhältnissen 
und in Rücksicht auf die ganze Art des Anstaltsbe¬ 
triebes dauernd dort zu belassen. Die Frauenabthei¬ 
lung ist mit 163 Frauen bis zum äussersten belegt. 

Im Hinblick auf die geringe Zahl der in den Irren¬ 
anstalten noch verfügbaren Plätze erschien es daher 
unabweisbar, in eine Prüfung der Frage einzutreten, 
in welchem Umfange die Schaffung neuer Plätze für 
Geisteskranke zur Zeit überhaupt in Aussicht zu 
nehmen ist und in welcher Weise dies am zweckent¬ 
sprechendsten und unter Aufwendung mög¬ 
lichst geringer Mittel zu geschehen haben wird. 

Der Krankenzuwachs in den Provinzialirrenan- 
staltcn in den elf Jahren 1887 97 hat 1090 Kopfe 
oder im Durchschnitt jährlich 1)3, in den letzten Jahren 
1898—1000 2052 — 1812 = 240 oder 80 jährlich 
betragen. 

Gegenüber der durchschnittlichen Zunahme in den 
vorangegangenen elf Jahren mit je 03 Kranken ist 
hiernach eine Abnahme um etwa 15 0 0 eingetreten. 
Eine weitere Abnahme des jährlichen Zuwachses 
werde in Zukunft auch m i t R ü c k s i c h t auf d i c 
Erhöhung des P f 1 e g e g e 1 d e s erwartet werden 
können. *) Andererseits werde der Zuwachs an Kranken 
jetzt nicht plötzlich aufhören und werde mit den vor¬ 
handenen Krankenplätzen keinesfalls auszukommen 
sein. Es wird daher nach der Ansicht des Provin¬ 
zialausschusses nicht zu umgehen sein, alsbald für 
eine Vermehrung der Plätze zur Unterbrigung von 
Geisteskranken Sorge zu tragen, da die im Jahre 1901 
begonnene Bauten frühestens zum Winter 1902 3 
benutzbar und die in den Anstalten Allenberg und 
Kortau noch verfügbaren Plätze schon bis dahin voll¬ 
ständig besetzt sein werden. 

*) Im Jahre 1901 hat der Zuwachs wieder 94, weiterhin 
aber bis zum 16. August 1902 (wo der Gesammtkrankenbestand 
2250 betrug), also in 7 1 ,, Monaten, nicht weniger als 104 
betragen. Anstatt der erwarteten Abnahme ist also eine erhöhte 
Zunahme des jährlichen Zuwachses eingetreten. 

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Nachdem bei den Anstalten Allenberg und Kortau 
je vier Krankengebäude ausgeführt sind, seien beide 
Anstalten an der Grenze angelangt, bis zu welcher 
eine Vergrösserung durch die Einrichtung einzelner 
neuer Gebäude möglich erscheint. 

Die für den gesammtenWirthschaftsbetrieb der Anstal¬ 
ten vorhandenen Einrichtungen,Wirthschaftsgebäude mit 
Kochküche, Waschküche, Verwaltungsgebäude, Wasser¬ 
versorgung, seien schon jetzt im äussersten Maasse in 
Anspruch genommen, und es würden bei der Errich¬ 
tung weiterer Krankengebäude auch kostspielige Er¬ 
weiterungen und Neubauten für Wirthschaftszwecke 
nicht zu umgehen sein. Abgesehen davon erscheine 
bei beiden Anstalten die Errichtung weiterer Neubauten 
in einer für den gesammten Anstaltsbetrieb annehm¬ 
baren Verbindung mit den vorhandenen Gebäuden 
kaum ausführbar. Es bleiben mithin nur die beiden 
Möglichkeiten übrig, entweder eine neue besondere 
Anstalt zu bauen, oder die nothwendigen Erweite¬ 
rungsbauten an eine andere bestehende Provinzialan¬ 
stalt — und als solche kommt nur die Pfleglingsab¬ 
theilung in Tapiau in Frage — anzugliedern. Letz¬ 
teres erscheine insbesondere vom finanziellen Ge¬ 
sichtspunkte aus als das bei weiterem günstigere. 
Grundsätzliche Bedenken lägen gegen die Unter¬ 
bringung von Geisteskranken im Anschluss an die 
Pfleglingsabtheilung in Tapiau nicht vor, sofern für diese 
Kranken besondere Gebäude bezw. von den Pfleg¬ 
lingen getrennte Abtheilungen eingerichtet werden. 
Die heilbaren, die gemeingefährlichen und unruhigen 
Kranken werden nach wie vor in den Anstalten 
Allenberg und Kortau, bezw. in der Irrenabtheilung 
Tapiau Aufnahme finden. Die neuen Abtheiluugen 
bei der Pfleglingsabtheilung werden dagegen demnächst 
im Allgemeinen für unheilbare ruhige und halbruhige, 
insbesondere sieche, Kranke zu dienen haben, da 
ruhige arbeitsfähige Kranke aus Allenberg und Kortau 
mit Rücksicht auf die wirthschaftlichen Verhältnisse 
dieser Anstalten nicht in grösserer Zahl abgegeben 
werden können und es dort auch besonders an 
Plätzen für halbruhige sieche Kranke mangelt. Die 
auf eine normale Belegung von 484 Köpfen einge¬ 
richteten, zur Zeit vorhandenen Bauten der Pfleglings¬ 
abtheilung in Tapiau, können insgesammt im Höchst¬ 
fälle 404 Pfleglinge aufnehmen (331 Männer, 103 
Frauen). Eine all m ä h 1 i c h e V ergrösserung 
der Anstalt durch die Aufnahme von Gei¬ 
steskranken bis zu einer Gesammtzahl 
v o n etwa 1000 K ö p f e n erscheine bei den 
vorliegend e 11 V e rh ä 1 1n iss en angä ngig. Es 
würde sich sonach für etwa 500 Geisteskranke 
Platz gewinnen lassen. Damit würde alsdann die 
Zahl der in Provinzialanstalten unterzubringenden 
Geisteskranken auf 800 (Allenberg) -f- 1000 (Kortau) 
+ 68 (Irrenabtheilung Tapiau) -f- 500 (Irrenpflege¬ 
abtheilung Tapiau) -f- 42 (Familienpflege) = 2500 
gesteigert werden können. 

Da die Herstellung der einzelnen neuen Kranken¬ 
häuser für eine verhältnissmässig grosse Kopfzahl im 
vorliegenden Falle angängig und im finanziellen Inter¬ 
esse liegend erscheine, sei die Unterbringung der Ge¬ 
sammtzahl von 500 Kranken in vier Gebäuden für 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


359 


1902.] 


je 125 Köpfe annähernd in die Grösse und Aus¬ 
stattung des zuletzt erbauten Pfleglingshauses in Aus¬ 
sicht genommen, von welchen je 2 für die Aufnahme 
von geisteskranken Männern und Frauen zu dienen 
haben werden. 

Ausser Krankengebäuden ward die Erbauung eines 
Wirtschaftsgebäudes notwendig, in welchem im 
Wesentlichen eine Kochküche mit den zugehörigen 
Nebenräumen unterzubringen sein werde. 

Es werde ferner erforderlich werden, mindestens 
für einen unverheirateten Arzt Wohngelegenheit in der 
Anstalt zu schaffen. 

Die Baukosten je eines Gebäudes für 125 Köpfe 
sind auf 150000 M. berechnet (1040 M. für den 
Kopf). 

Das erforderliche besondere Kochküchengebäude 
ist bei 500 Quadratmeter Grundfläche auf 45 000 M. 
Baukosten berechnet. 

Für die erforderlichen Nebenanlagen, Wasser¬ 
versorgung, Wasserableitung, Herstellung von Wegen, 
Einrichtung und Einfriedigung von Stationsgärten sind 
bei Ausführung der gesammten Anlagen weitere 
34 000 M. erforderlich. Hierzu tritt noch die innere 
Einrichtung des Kochküchengebäudes mit 15000 M., 
so dass sich die Gesammtkosten der Erweiterungsbauten 
für 500 Köpfe — ohne Berücksichtigung etwaiger 
Grund erwerbskosten und der Kosten für Inventarbe¬ 
schaffung — auf 634000 M. t mithin für den Kopf auf 
1268 M., stellen werde. 

Der Antrag des Provinzialausschusses, in Anschluss 
an die bei der Landesarmenanstalt Tapiau befindliche 
Pfleglingsabtheilung, Gebäude für (500) unheilbare Gei¬ 
steskranke zu errichten und zwar zunächst 2 Gebäude für 
je 125 Kranke, das Wirtschaftsgebäude und die zuge¬ 
hörigen Nebenanlagen, wurde vom Provinziallandtag 
debattelos angenommen. 

Dass damit eine principielle Acnderung in der 
provinzialen Irrenversorgung inaugurirt worden ist, 
wozu allerdings die Anfänge schon ein Jahr vorher 
auf dem Verwaltungswege durch Ueberführung von 
unheilbaren Geisteskranken in die Pfleglingsabtheilung 
Tapiau gemacht worden sind, scheint dem Provinzial¬ 
landtag nicht zur Erkenntniss gekommen zu sein, 
ebensowenig die schweren Bedenken, die gegen eine 
solche, von dem Minister v. Altenstein im Jahre 
1832 als verwerflich und von dem Minister Eichhorn 
1845 als Rückschritt bezeichnete, Verbindung in 
psychiatrischen Kreisen herrschen und welche noch 
Ludwig-Heppenheim kurz vorher in seinem Vortrage: 
„Die hessischen Provinzialsiechenanstalten und die Gei¬ 
steskranken“ präcisirt hat, wobei er sich auf das schärfste 
gegen die Verquic kung von Siechenanstalten mit der 
Verpflegung von Geisteskranken ausgesprochen hat. 
Bei der neuen Tapiauer Irrcnpflegeabtheilung, deren 
Bau bereits so weit gefördert ist, dass sie wohl Ende 
dieses Jahres wird bezogen werden können, fällt noch 
besonders schwer ins Gewicht, dass die Leitung der 
Pfleglingsabtheilung, in welcher jetzt bereits über 100 
Geistcskrankeuntergebra« litsind, und nach Fertigstellung 
aller Bauten als« > öo< > Geisteskranke sich befinden werden, 


in den Händen eines Laien, des Directors der Korri¬ 
gendenanstalt Tapiau liegt. Vom 1. April d. J. ist 
neben dem bisher einzigen Arzt der Tapiauer An¬ 
stalten (Oberarzt) 1 jüngerer Assistenzarzt angestellt 
worden. Die beiden letzten Gebäude für je 125 
Kranke sollton nach Beschluss des Provinziallandtages 
1902 auch bald begonnen und bis 1904 fertig gestellt 
werden. 

Die Fürsorge der Provinz für Epileptische wird 
nach einem, vom letzten Provinziallandtag angenom¬ 
menen Anträge des Provinzialausschusses in derselben 
Richtung, wie sie bereits seit 10 Jahren eingeschlagen 
worden ist, nämlich durch Verträge mit Privatge¬ 
nossenschaften,*) erweitert werden. Zur Zeit sind 
sämmtliche, der Anstaltspflege bedürftigen Epileptiker, 
ohne Unterschied des Glaubens, in der unter Leitung 
eines evangelischen Geistlichen stehenden Epileptiker¬ 
anstalt zu Carlshof untergebracht. Nunmehr wird 
auch eine katholische Epileptikeranstalt 
errichtet. Der Erzpriester Hinzmann zu Wormditt 
steht in Begriff, den seit längerer Zeit erwogenen 
Plan zu verwirklichen, in der Diöcese Ermland eine 
Heil- und Pflegeanstalt für katholische Epileptiker 
ins Leben zu rufen, in welcher die bereits in Carls- 
hof befindlichen und die später einzuweisenden Epi¬ 
leptiker katholischen Glaubens untergebracht werden 
sollen. Die neue Anstalt, von der bereits das Frauen¬ 
haus in Angriff genommen ist, wird auf einem 10 
Minuten von der Stadt Wormditt gelegenen Platz er¬ 
richtet, zu welchem die Stadt ein 8 l / i Morgen grosses 
Ackerstück unentgeltlich hergegeben hat. Das Frauen¬ 
haus, das mindestens für 80 Kranke Platz bieten 
soll, sollte bereits im April bezogen werden. Es soll 
nunmehr auch der Bau des Männerhauses in Angriff 
genommen werden, so dass in 3—4 Jahren die An¬ 
stalt fertig sein und sämmtlichen katholischen Epilep¬ 
tikern Ost- und Wcstpreussens Platz bieten wird. 
Vorläufig sollen auch Männer im Frauenhause Platz 
finden, allerdings unter vollständiger Trennung der 
Geschlechter. Die Aufnahme der katholischen Pro¬ 
vinzialpfleglinge in die neue Anstalt soll unter den¬ 
selben Bedingungen erfolgen, wie sic bisher in Carls¬ 
hof geschehen ist. (Schluss folgt.) 

*) Diese Angelegenheit spielt in die Politik hinein. Wäre 
nicht im ostpreussischen Landtage das conservativ-orthodoxe 
und das conservativ-clericaie Element so stark vertreten, so 
würde inan nicht dem kirchlichen Unternchmerthum in dieser 
Weise die Hand bieten, sondern besser durch Errichtung eigener 
Anstalten für Unterbringung der auf dem Wege der öffentlichen 
Armenfürsorge zu verpflegenden Kranken Sorge tragen und da¬ 
durch die gesetzliche Verpflichtung hierzu in einer Weise erfüllen, 
die sich gegenüber der Unterbringung dieser Kranken in Privat¬ 
anstalten, als vom administrativen wie vom ärztlichen Stand¬ 
punkt einwandfrei bezeichnen darf. Im Interesse der medi¬ 
zinischen Wissenschaft und ihres Fortschritts fordern wir, dass 
man die Krankenhäuser nicht unter Leitung von Laien, sondern 
von Aerzten stellt. Der M i 1 i tärv er w a 11 un g fällt es auch nicht 
ein, ihre Lazarette von Offizieren, geschweige von Geistlichen 
verwalten und leiten zu lassen. Für die ostpreussischen Aerzte 
aber ist es angesichts der nächstjährigen Reichstags wählen 
wichtig festzustellen, von welchen Parteie sie vorkommenden Falls 
(z. B. bei der Krankenkassengesetzgebung und beim Reichs¬ 
irrengesetz) eine Berücksichtigung ihrer Wissenschaft und 
ihres Standes nicht gerade zuversichtlich erhoffen dürfen. 

Red. 


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360 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 33. 


— Die Büste Karl Westphals, die dem lang¬ 
jährigen Leiter der Irren- und Nervenabtheilung der 
Charitee vor der Neuen psychiatrischen Klinik in 
Berlin errichtet worden ist, wurde am 8. d. Mts. 
feierlich enthüllt. 


Referate. 

— Archives de Neurologie 1901. 

Note relative a l’etude des effets phy- 
siologiques de la rachi-coca’inisation et 
de la ponction lombaire par A. Pitres et J. 
Aba die. Nr. 70, S. 289. 

Die Verfasser konnten bei 50 Fällen von Cocaini- 
sirung des Rückenmarks folgende- Ergebnisse fest¬ 
stellen : es wird die Leistungsfähigkeit der hintern 
Wurzeln in der Weise beeinflusst, dass sie ganz un¬ 
regelmässig durch die Cocainwirkung betroffen werden, 
die Analgesie tritt ganz allmählich auf, Schmerzem¬ 
pfindlichkeit, Temperatursinn und Empfindung für 
Berührung kommen nacheinander zum Verschwinden, 
letztere kann sogar z. Th. erhalten bleiben. Die 
Rückkehr dieser Funktionen erfolgt in umgekehrter 
Reihenfolge. Das Lagegefühl der Extremitäten bleibt 
im Allgemeinen erhalten, ebenso die viscerale Sensi¬ 
bilität. Die Hautreflexe sind in den analgetischen 
Bezirken aufgehoben, kehren ungleich mit der Sensi¬ 
bilität zurück. Vorher normale Sehnenreflexe werden 
gesteigert, während vorher abgeschwächte oder ge¬ 
steigerte PR verschwinden. Keine ausgesprochenen 
Erectionen, kein epileptoides Zittern, keine Störung 
der Coordination und der motorischen Kraft. Schweiss- 
absonderung bes. in der oberen Körperhälfte. — 
Unter 15 Fällen von Lumbalpunktion wurden Stö¬ 
rungen der Sensibilität nicht gefunden, die Reflexe 
waren in nicht gesetzmässiger Weise verändert, sonst 
keinerlei Erscheinungen wie bei Cocainisirung, ausser 
Kopfschmerz, der zu Unrecht von anderer Seite 
nicht der Lumbalpunktion, sondern der Cacainwirkung 
zugeschrieben wird. 

Delire aigu et uremie par A. Cullere. 
Nr. 72, S. 449. 

Mittheilung zweier Fälle, die der Verfasser als 
acutes Delir in Folge Urämie auffassen zu müssen 
glaubt. Das Vorkommen von katatonischen Erschei¬ 
nungen im 2. Falle veranlasst ihn zu der Bemerkung, 
dass katatonische Erscheinungen bei Kranken über 
40 Jahren auf die Möglichkeit einer latenten Urämie 
hin wiesen. 

Contribution a l’etude des stereotypies 
par Al. Cahen. Nr. 72, S. 476. 

Von den Stereotypien wird folgende Definition 
gegeben: ils sont les attitudes, des mouvements, des 
actes de la vie de relation ou de la vue vegetative, 
qui sont coordonnes, qui, n’avant rien de convulsif, 
ont au contraire l’apparence d’aetes intentionnels ou 


professionnels, qui se repetent longtemps, frequem- 
ment, toujours de la meme facon, qui, au debut, sont 
conscients, volontaires et qui deviennent plus tard 
automatiques et subconscients par le fait meme de 
leur longue duree et de leur repetition. Im An¬ 
schluss an die allgemeine Eintheilung in akinetische 
und parakinetische, werden die einzelnen Erschei¬ 
nungsformen der Stereotypien besprochen. In typi¬ 
scher Form finden sie sich bei den systematisirten 
Paranoiaformen (delires systematiques), und zwar be¬ 
dingt durch Wahnideen, verhältnissmässig selten auf 
Grund von Verfolgungsideen, hychochondrischen und 
mystischen Wahnvorstellungen, sehr oft dagegen durch 
Grössenideen veranlasst, am häufigsten bei Abwehr¬ 
wahn Vorstellungen (idees de defense). Sie entwickeln 
sich parallel mit dem Wahn, so dass auf die Phase 
der Systematisirung der Wahnvorstellungen, die der 
Stereotypien folgt, die schliesslich automatisch werden. 
Die andre Ansicht, dass die Stereotypien primär sind 
und Wahnideen nur zur Erklärung dran geknüpft 
werden, genügt nur für gewisse Fälle, reicht aber 
nicht aus. Stereotypien finden sich weiter nicht selten 
bei Dementia präcox (die Katatoniefrage wird dabei 
nur gestreift), bei secundärer Paranoia, bei secundären 
Formen von Demenz mit Wahnbildung, bei nihilisti¬ 
schen, systematisirten Wahnsinnsformen, bei Paralyse 
sehr selten, im Verlauf von manchen Zwangsvorstellungs¬ 
psychosen (obsessions), bei folie du doute, auch bei den 
einfachen Ticerkrankungen (tic d’habitude), sehr selten 
bei Erschöpfungszuständen und der psychischen 
Desequilibration. Differential - diagnostisch kommen 
athetotische Bewegungen, Zittern, tic convulsif, im¬ 
pulsiver raptus, automatische Bewegungen bei Hysterie 
und Epilepsie , tics mentaux in Betracht. Unter be¬ 
stimmten Voraussetzungen geben die Stereotypien 
eine ungünstige Prognose. 


Personalnachrichten. 

—- An der Universität Bonn hat sich Dr. med. 
Fo erst er mit einer Antrittsrede „Ueber die Wand¬ 
lungen der psychiatrischen Therapie im Laufe des 
vorigen Jahrhunderts“ und Dr. med. R. Finkelnburg 
mit einer Rede über „Unsere gegenwärtigen Kennt¬ 
nisse in der Frage der Gehimlokalisation“ habilitirt 

— Personalveränderungen an den nassau- 
ischen Irrenanstalten. 

I. Eichberg: 

Geh. Medicinalrath Dr. Schrötter, bisher Director, 
trat am 1. X. 02 in den Ruhestand. An seine Stelle 
trat als Director der bisherige Oberarzt Dr. A. Bothe. 
Oberarzt wurde Dr. K. Schmelzeis, vorher Assistent 
in Weilmünster. 

II. Weilmünster: 

Die durch die Ernennung von Dr. Lantzius-BeniDga 
zum Director frei gewordene Stelle des Oberarztes 
wurde am 1. X. 02 durch Dr. Resch, bisher Assistent 
an der Frankfurter Anstalt, besetzt. 


Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. j. lirosler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schirms der Inseratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’scho Puchdruckerei (Gebr. Wnlffl in Halle a S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Quttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. Q. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygaqdt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 34. 22. November. 1902. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Halbseitiges Delirium. Von Prof. Dr. E. Bleuler, Burghölzli-Zürich (S. 361). — War Mohammed Epilep¬ 
tiker? Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey (S. 367). — Leopold Kaplan f (S. 374). — Mittheilungen (S. 374). 


Halbseitiges Delirium. 

Von Prof. E. Bleuler, Burghölzli-Zürich. 


|^er Paralytiker L. lag am Vormittag des 13. IX. 

1902 in seinem Bette auf dem Rücken; die linke 
Hand hielt er ganz ruhig — meist, aber nicht immer, 
unter dem Kopf. Der rechte Arm machte unauf¬ 
hörlich weitausgreifendc, kräftige, wenn auch etwas 
ungeordnet erscheinende Bewegungen, ähnlich wie ein 
Delirant mit lebhaftem Beschäftigungsdelir, nur kräf¬ 
tiger und ohne starken Tremor. Ein Theil dieser 
Bewegungen war nicht verständlich, wenn er auch 
das Gepräge von Handlungen trug. Andere waren 
sehr deutlich: die Hand ergriff Stricke, zog sie aus 
der Höhe herab, hackte, wie wenn sie eine Axt oder 
ein ähnliches Werkzeug hielte, sie säete etwas (auf 
Anfrage, was er thue, antwortete Patient, er säe 
Gerste); die Hand machte Greifbewegnngen, oft mit 
grosser Kraft — man sah dann dem Patienten die 
Anstrengung im Gesichte an —, schleuderte die (ein¬ 



gebildeten) Sachen fort, oder legte sie an einen ande¬ 
ren Ort. 

Manchmal bekam dabei die Hand die Decke 
oder das Kissen zu erfassen und riss es weg. Dann 
machte die linke Hand wieder Ordnung, schob das 
Kissen zurecht, zog die Decke herauf, einmal wischte 
sie auch den durch Suppe nass gewordenen Mund, 
alles, während die rechte Hand ungestört weiter 
arbeitete. 

Einige wenige Male griff die linke Hand auch 
nach rechts hinüber und streifte etwa 5 cm über dem 
rechten Arm in der Luft, ohne diesen zu berühren, 
von der Mitte des rechten Unterarmes bis zur Mitte 
des Oberarmes. Gewöhnlich ist der rechte Arm in 
diesem Momente relativ ruhig; es scheint in diesen 
wenigen Sekunden der linke Arm an dem Delir des 
rechten Theil zu nehmen. Gelegentlich treffen sich 

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psychiatrisch-neurologische Wochenschrift. 


[Nr. 34. 


beide Hände — offenbar zufällig — dann fasst etwa 
die Eine die Andere wie einen fremden Gegenstand; 
doch hat nur einmal die linke die rechte Hand 
längere Zeit festgehalten, während diese sich los zu 
reissen suchte. 

Am gleichen Vormittag schlief Patient längere 
Zeit (schnarchte): während dessen arbeitete der rechte 
Arm fort. 

Mittags 12 Uhr. Auf Berühren, Stechen, 
Streichen der linken Körperseite und Extremitäten ant¬ 
wortet die linke Hand meist und zwar richtig; es wird 
gut lokalisirt. Dann und wann nimmt die rechte 
Hand an Abwehrbewegungen der linken theil, meist 
macht sie bei Reiz der linken Seite nur ihre Arbeit 
energischer; selten macht sie auch Abwehrbewegungen, 
die nach Art und Ort ganz unpassend sind, schlägt 
z. B. bei Stich in die linke Körperseite nach rechts 
in die Luft hinaus. 

Beide Beine zeigen — wie schon am Vormittag 
— Zuckungen ohne Locomotion, doch kommt das 
rechte Bein etwa über den Bettrand hinunter, wird 
spontan heraufgezogen oder vom Wärter hinaufgethan. 
Auf Stechen und Kitzeln des linken Fusses regel¬ 
mässig einfaches Zurückziehen; rechts komplicirtere, 
aber nicht verständliche Bewegungen, worauf das Bein 
ungefähr in seine ursprüngliche Lage zurückkehrt. 
Ebenso bei Reiz durch Wasseranspritzen. 

Stechen, Kneifen, Bespritzen von Rumpf, Gesicht 
und Arm rechts verursachen energische Kampfbe¬ 
wegungen des rechten Armes mit deutlichem Angriff 
(nicht bloss Abwehr). Der Patient scheint gegen ein 
Phantom zu seiner rechten Seite zu kämpfen mit 
Greifen, Schleudern, Boxen, Faustschlägen. Die rechte 
Hand trifft die gereizte Stelle sehr selten und an¬ 
scheinend nur zufällig. 

Der linke Arm nimmt nur ausnahmsweise daran 
theil. Bei Reiz rechts am Kopfe greift er etwa auf 
die rechte Seite hinüber, aber dann verspätet. 

Sich selbst überlassen, kümmert sich die rechte 
Seite kaum um die Wirklichkeit. Die rechte Hand 
erfasst zwar gelegentlich die Decke, aber offenbar nur 
zufällig, da sie überallhin Greifbewegungen macht 
Dann ist sie auch im Stande, die Decke in mehreren 
Griffen rasch in die Höhe zu ziehen, neben das Bett 
zu werfen und Aehnliches. 

Die linke Hand hält sich für gewöhnlich ruhig, 
reagirt aber immer richtig auf die Wirklichkeit. Sie 
zieht das Leintuch vom Gesicht, ordnet das Kissen, 
seltener auch die Decke, wenn die rechte Hand die 
Dinge in unbequeme Lage gebracht hat. Doch zeigt 
sie nicht gerade eine grosse Intelligenz; das unbe¬ 
quem liegende Kissen wird z. B. häufiger ganz weg¬ 


gezogen oder fortgeschoben, als unter den Kopf ge¬ 
legt. Auch sind die Bewegungen nicht immer, aber 
meist, etwas tappig oder incoordinirt (paralytisch). 
Patient kann in der linken Hand ein Glas halten 
und trinken, verschüttet indessen einen Theil des In¬ 
haltes, aber mehr in Folge der Erschütterungen 
durch die beständigen Bewegungen des rechten 
Annes, als durch die Incoordination des linken. 

Um alle diese Thätigkeit kümmert sich die rechte 
Hand gar nichts. 

Nachmittags ca. 2 Uhr. Die Trennung der 
beiden Seiten zeigt etwas mehr Ausnahmen als vor 
2 Stunden, aber immer nur für ganz kurze Hand¬ 
lungen von wenigen Sekunden. 

Der linke Arm kommt etwa der rechten Hand 
zu Hülfe, namentlich wenn diese anscheinend Stricke 
aus der Luft herunterholt oder vom Kopfe weg zieht. 
Gelegentlich wehrt die linke Hand die rechte ab wie 
eine fremde, wenn sie stärker nach links herüber 
kommt und den Körper berührt, oder sie hält die 
Decke oder das Kissen zurück, das die Rechte fort¬ 
schieben will, aber nie lange. 

Die zur Berührung nahe gebrachten Gegenstände 
erfasst die rechte Hand nie. Die Linke ergreift gut, 
doch ohne etwas damit zu machen, wenn Fat. nicht 
besonders dazu aufgefordert wird. (Später fasste auch 
die Rechte etwas, warf aber den Gegenstand sofort 
wieder weg.) 

Ein auf das Gesicht gelegter Hut wird von der 
linken Hand jeweilen fortgeschoben, oder fortgelegt, 
w-enn auch meist nicht sehr prompt. Durch dieses 
Bedecken des Gesichtsfeldes wurde der rechte Arm 
in seinen Handlungen nicht gestört. 

Beim Versuch, den Patienten auf die Ftisse zu 
stellen, macht er incoordinirte Bewegungen mit beiden 
Beinen und kann sich nicht aufrecht halten. Es 
schien, wie w f enn das linke Bein nach links, das 
rechte nach rechts gehen wollte. 

Dieser Zustand blieb den ganzen Nachmittag; 
nur ist zu bemerken, dass Patient einmal weinte, 
ohne über den Grund Auskunft zu geben. Die Ar¬ 
beitsbewegungen des rechten Armes setzten keinen 
Augenblick aus. 

Am späteren Nachmittag gab Patient auf Auffor¬ 
derung durch Worte oder Geberden regelmässig die 
linke Hand, die rechte nie. Einmal, als ich gerade 
ins Zimmer getreten war, begrüsste mich die linke 
Hand sehr lebhaft und während sie meine Hand 
schüttelte, klopfte mir die rechte des Patienten freund¬ 
lich auf die Brust. Das Experiment mit dem Hut 
wurde noch oft wiederholt mit dem gleichen Erfolg 
wie früher. Einmal setzte die linke Hand, einer kurz 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


363 


vorher gegebenen mündlichen Aufforderung ent¬ 
sprechend, den Hut auf den Kopf. Da dies im Liegen 
des Patienten nicht leicht ging, — der Kopf hob 
sich im richtigen Moment, aber nicht genug — so 
kam die rechte Hand mit einem kleinen Schubbs zu 
Hülfe, um dann sofort ihre sonstige Thätigkeit wieder 
fortzusetzen. 

Abends kurz vor dem gleich zu schildernden An¬ 
fälle hatten die beiden Hände einander etwas mehr 
unterstützt als vorher, namentlich beim Stricke aus 
der Luft holen. Hierbei gutes Zusammenarbeiten, 
wenn auch nur während wenigen Sekunden, so dass 
eine stärkere Coordinationsstörung oder choreatische 
Bewegung mit Sicherheit ausgeschlossen war. 

Bei Reizung der rechten Seite nahm die linke 
etwa im Sinne der Handlung der rechten Seite theil. 
Sie griff und wehrte dann nicht nach der gereizten 
Stelle, sondern nach der von der rechten Hand an¬ 
gegriffenen oder vertheidigten. Sie nahm anschei¬ 
nend von der rechten nicht nur eine falsche Lokali¬ 
sation, sondern eine deliröse Auslegung an. Immer 
aber bildete das Zusammenarbeiten beider Arme nur 
eine ganz vorübergehende Ausnahme; die beobachte¬ 
ten Ausnahmen sind alle hier erwähnt. 

Abends zwischen 8 und 9 Uhr bekam Patient 
plötzlich einen Anfall mit verschiedener Reaction auf 
beiden Seiten, ohne dass die eine Seite einmal in 
die Thätigkeit der anderen eingegriffen hätte (wohl 
verschiedene Hallucinationen beiderseits). Patient 
fing ganz plötzlich an mit dem rechten Arme sehr 
energisch dreinzuschlagen, die Geberden zu machen, 
wie wenn er Thiere (etwa von der Grösse von Mäu¬ 
sen und Ratten) erhaschte und sic fortschleuderte. 
Dann kämpfte er mit einem Mann in der Luft, dem 
er (mit Worten) drohte, den Schnurrbart auszureissen. 
Etwa 30 Mal machte er — oft unterbrochen durch 
andere Kampfbewegungen — eine Geberde, w r ie 
wenn er mit grosser Kraft und drohender Bewegung 
etwas ausreissen und dann fortwerfen würde. „Gelt, 
Dir luib ich den Schnurrbart ausgerissen“, sagte er 
dann mehrmals, zuletzt sagte er statt „ausgerissen“ 
einmal „abgeschnitten“, doch hat er immer nur die 
Bewegung des Ausreissens gemacht. 

Genau gleichzeitig mit der stärkeren Kampfbe¬ 
wegung rechts, fing er an, wie wild mit der linken 
Hand etwas vom Kopfe abzuwehren, wie wenn ein 
Wespenschwarm sich darauf niederliesse. 

Die beiden Thätigkeiten (rechts Kampf mit Thieren 
und dem Mann, links Abwehr eines offenbar haupt¬ 
sächlich gefühlten Feindes am Kopfe (Wespen?) 
wurden nie confundirt. 

Nach ca. 5 Minuten drehte sich Patient (liegend) 

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in Verfolgung der rechtseitigen Hallucinationen nach 
rechts um seine Achse. Er wäre aus dem Bett ge¬ 
fallen, wenn man ihn nicht gehalten hätte. Schliess¬ 
lich kam er mit unserer Unterstützung aus dem Bett. 
Hierbei keine deutliche richtige (unterstützende) Be¬ 
wegung mit der linken Hand. Die rechte setzte den 
Kampf derweilen fort. Einmal fest auf dem Boden 
strebte ganz deutlich das rechte Bein nach rechts, 
das linke nach links in unsicheren kleinen Schritten, 
so dass Patient die Beine sehr weit spreizte und ge¬ 
halten werden musste. Dann bekam das rechte Bein 
die Oberhand und zog das linke nach, und Patient 
fing an in einem ziemlich grossen Kreis nach rechts 
herumzugehen, das Gesicht peripher und etwas nach 
rechts gedreht, den Rücken nach der Innenseite des 
Kreises, beständig mit der rechten Hand nach einem 
Feinde greifend. Die linke war unthätig. Das linke 
Bein wurde immer nachgezogen. Schliesslich stiess 
Patient an ein Bett und kam zu Falle. Auf dem 
Boden machte er auf allen Vieren halb Uhrzeiger-, 
halb Man ege-Be wegungen, den Kopf voraus oder 
etwas radiär gerichtet. Schliesslich kletterte Patient 
(ungeschickt) mit unserer Hülfe ins Bett, verlangte, 
dass man ihn „herunterhole“, sprach einmal vom Bett, 
so dass man merkte, dass er wusste, was er wollte, 
und wurde schliesslich ins Bett gelegt. Daselbst be¬ 
ruhigte er sich rasch ganz, nahm rechts die frühere 
Thätigkeit wieder auf. Dauer des ganzen Anfalls 
vielleicht 10 Minuten. Später lag Patient längere 
Zeit auf der linken Seite; die linke Hand unter der 
linken Wange, mit der rechten arbeitete er. Hierbei 
kam der Kopf gegen den linken Bettrand. Vor 10 
Uhr lag er auf dem Rücken, die linke Hand auf der 
Brust, die rechte arbeitete. Auch leichte Reize der 
linken Hand wurden nur träge beantwortet, Reize 
der rechten Seite zwei Mal mit einer Bewegung, die 
anscheinend richtige Lokalisation und Auslegung 
voraussetzte. 

Bald nach 10 Uhr sehr starke Beschäftigung 
rechts und zwar nun auch mit dem Bein, offenbar in 
Coordination mit den Armbewegungen. Die Be¬ 
wegung wurde so stark, dass Patient zum Schutze 
gegen Contusion 2 gr Chloral bekommen musste, 
worauf er die ganze Nacht schlief. Nur einmal, 
gegen morgen, wieder kurz dauernde Bewegung bei¬ 
der rechten Extremitäten, ohne dass Patient die Augen 
geöffnet hätte. 

Während seines Delirs, d. h. während des ganzen 
Tages hatte Patient auf Anreden wenigstens mit 
Drehung des Kopfes und des Blickes geantwortet. 
Er verstand sicher einfache Aufforderungen, wenn er 
ihnen auch nicht immer folgte. Er gab z. B. die 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34. 


linke Hand. Die Aufforderung die Zunge zu zeigen, 
verstand er am Mittag, kam ihr aber nicht nach 
und wurde schliesslich, als man insistirte, zornig. Er 
schrie mehrmals, er habe keine Zunge mehr, und 
brüllte nachher auch „nein“ auf die Frage: Wie 
heissen Sie? 

Abends 4 Uhr zeigte Patient unter anderem die 
Zunge auf Geheiss. Daneben war nun eine gewisse 
Perseveration in den sprachlichen Aeusserungen 
deutlich. 

Hielt man die linke Hand, so blieb er ruhig; 
hielt man die rechte, so wurde er zornig und lärmte. 
Spontane deliriöse Aeusserungen. z. B. „Zehntausend“. 
Er nannte auch den Namen seines Hcimathsortes 
und ähnliches. 

Pupillen gleich, mittelweit, auf Licht nicht 
reagirend. Die Augen waren meist halb geschlossen 
und wie der Kopf nach rechts gedreht. Auf Anrede 
von der linken Seite drehte er indess beides gut nach 
links. Auch passive Bewegungen in dieser Richtung 
fanden meist keinen wesentlichen Widerstand. Das 
rechte Auge war leicht zugekniffen (offenbar activ, 
nicht blosse Ptosis), doch so, dass Pat. noch damit 
sah. Annähcm eines brennenden Streichholzes von 
links bewirkte Augenzwinkern. Prüfung rechts war 
nicht möglich, theils wegen der Stellung der Augen 
und des Kopfes, theils weil Patient auf alle Versuche, 
das Lid zu heben oder überhaupt von der reihten 
Seite auf ihn einzuwirken, mit heftigen Bewegungen 
des rechten Armes und schliesslich auch des Kopfes 
reagirte. 

Desswegen war auch ein Unterschied zwischen 
Auffassung durch linkes und rechtes Ohr nicht zu 
prüfen. 

Geruch und Geschmack natürlich nicht zu 
prüfen. 

Die bis jetzt und im Folgenden geschil¬ 
derte einseitige Reaction auf die Aussen- 
weit bezog sich also fast nur auf das Tast¬ 
gefühl. Doch nahm das Gesicht jedenfalls theil 
und auf Anrede wurde viel häufiger eine nicht deliriöse 
Action in Wort oder Handlung (oder dann gar keine) 
erhalten als eine deliriöse. Spontane Aeusserungen 
des Patienten waren meist deliriös und unverständlich. 

Die Unterlippe war ein wenig nach rechts ver¬ 
zogen. Das Mienenspiel war beweglich: zornig bei 
Reiz rechts, gleichgültiger bei Reiz links. 

Patient lag den ganzen Tag meist etwas schief, 
mit dem oberen Theil des Körpers nach rechts ge¬ 
wandt; erst in der Nacht einmal schief nach links 
(siehe oben). 


Aus der Krankengeschichte sind noch folgende 
Details erwähnenswerth. 

L. geb. 26. X. 51. Fuhrmann und Händler. Wahr¬ 
scheinlich keine Heredität. Bis im Herbst 1900 gesund. Dann 
Schlaganfall ohne Bewusstseinsverlust; 2 Tage dauernde Läh¬ 
mung rechts. Anscheinend vollständige Erholung. Herbst 1901 
zwei Anfälle: bewusstlos, nicht gelähmt, einen Tag lang sprachlos. 
Nachher verwirrt, „stotterte“, kannte die Umgebung nicht; aus 
dem Spital, wohin er gebracht worden, sprang er in der Nacht 
durch das Fenster, lief heim mit den Kleidern eines andern 
Kranken. Seither hat er unregelmässig gearbeitet und viel ge¬ 
trunken. Im Juli 1902 mähte er die Wiesen ganz unregel¬ 
mässig, nur stellenweise ab, liess Geschirr und Kleider liegen, 
riss den Nachbarn Gemüse aus, schlug Obst herunter, melkte 
alle Augenblicke die gleiche Kuh, schimpfte unmotivirt mit 
den Kindern, machte mit einem anderen Blödsinnigen Verträge 
über Hausverkäufe u. s. w., lief nachts immer mit einem Licht 
im Hause herum, sah schliesslich Mäuse und Ratten. 

Den 19. VIII. 02 wurde L. ins Burghölzli gebracht, wo 
er sich die ersten Wochen nicht veränderle. 

Narben in der Schenkelgcgend, nach seiner Angabe von 
einer Geschlechtskrankheit herrührend. ( Alkoholische) Telangi- 
ectasien an Nase und Wange. Reflectorische Pupillenstarre, 
Pupillen gleich. Patellarreflexe verstärkt, Silbenstolpern, starker 
Tremor. — Augenschluss begleitet er mit krampfhaften Con- 
tractionen aller Gesichtsmuskeln. Statt einfacher Bewegungen 
der Arme und Beine tritt der ganze Körper in Aktion. 

Oertlich orientirt. Kommt in die Anstalt, weil er 
zeitweise verrückt sei; er wolle alles töten. Als er aus dem 
Spital lief, sei es ihm gewesen, wie wenn ihm jemand nach¬ 
springe. In seiner Verrücktheit sei er einmal über das ganze 
Meer gerannt. 

Zeitlich vollständig desorient ir t. 

Wechselnde Grössenideen. Vermögen von 2 Millionen. 
Er ist 4 Ctr. schwer gewesen. In 14 Tagen hat er 35 Pfund 
zugenommen. Er ist auf dem Mond gewesen. Euphorisch. 
Leichtes Umspringen des Affectes. Schlechte Auffassung. 

Verlässt etwa das Bett, um Holz zu führen, findet kein 
Holz, verschiebt dann seine Arbeit auf morgen und geht wieder 
ins Bett. Auch sonst motorisch oft stark erregt. 

Anfangs IX. schlechter; man musste ihm das Essen ein¬ 
geben , weil er zu viel verschüttete, oft den Mund mit dem 
Löffel nicht fand. Immerhin schreibt er seinen Namen, so 
dass man ihn erkennen kann; doch macht er die Worte nicht 
fertig. 

Einmal vorübergehend deprimirt. Er hat einigemal Chloral 
und Hyoscin mit Morphium bekommen wegen starker moto¬ 
rischer Aufregung. 

Am 12. IX. vormittags war er sehr aufgeregt, dann spon¬ 
taner Schlaf. Nach dem Erwachen sass Patient im Bett, 
konnte nicht reden, kaum schlucken, den Löffel nicht halten. 
Die rechten Extremitäten bewegungslos, leisteten passiver Be¬ 
wegung einigen Widerstand. Aufgefordert zu schreiben, nimmt 
er den Bleistift in die linke Hand, schreibt drei einander ähn¬ 
liche Schnörkel, spiegelschriftähnlich, doch unverständlich. 
Anderen gesprochenen Aufforderungen kommt er nicht nach. 
Auf Anrufen seines Namens reagirt er mit „ja“. Gelegentlich 
äussert er Bruchstücke anderer Worte, die perseverirend wieder¬ 
holt werden. Er giebt die linke Hand, wenn man es durch 
Zeichen verlangt. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 365 


Wird ärgerlich, dass man ihm während der Untersuchung 
das Essen wegstellt, holt es mit der linken Hand. 

Auf starke Reize leichte chronische Zuckungen in beiden 
Beinen. Kopf fast immer nach rechts gewendet; auf Anrufen 
kann er ihn auch nach links drehen. Das rechte Auge etwas 
zugekniffen. Sieht — ob mit dem ganzen Gesichtsfeld, ist 
nicht zu prüfen. 

Bemühungen, ihn mit der rechten Hand essen zu lassen, 
haben perseverirende Klopfbewegungen zur Folge. 

Auf Nadelstiche links reagirt Pat. prompt durch abwehren 
mit der linken Hand und zurückziehen des gestochenen Glie¬ 
des. Rechts zieht er das gestochene Glied nur spät und wenig 
zurück, macht etwas verspätete unpassende Abwehrbewegungen 
mit der linken Hand, die schliesslich zu einer perseverirenden 
Bewegung werden, wie wenn er Kaffee mahlte. Auf Kitzeln 
der Fusssohlen wird das linke Bein prompt zurückgezogen. 

Nachmittags Schlaf. Abends Temperatur 38,5. 

13. IX. 02. In der Nacht zwei Mal Erbrechen. Später 
traten zuckende Bewegungen in der rechten Zehe auf, dann im 
Knie, dann im Arm. Nach und nach wurden die Bewegungen 
im Letzteren ausgiebiger. Am Morgen sagte er auf alle Fragen 
und Aufforderungen ja, ohne letztere auszuführen. Bemüht 
sich auf Aufforderung durch Gesten, die rechte herumfuchtelnde 
Hand zu reichen. Wird Patient mit seinem Namen gerufen, 
dreht er den Kopf prompt nach dem Untersucher. Er folgt 
sonst Aufforderungen nicht. 

Es folgt nun der oben beschriebene Zustand. 

Nachheriges Verhalten. 14. IX. 02. Für gewöhn¬ 
lich nicht mehr delirirend. Konnte, wenn auch sehr unge¬ 
schickt , morgens selbst essen. Beiderseits Coordinationsstö- 
rungen, merkte es, wenn er die linke Hand ins Leintuch ver¬ 
wickelte, während er rechts unbekümmert darum die Hand 
zu geben versuchte. Patient erlaubte die Prüfungen der Tri- 
cepsreflexe links ohne Widerstand, rechts sträubt er sich stark. 
Hört rechts hinten oben klopfen. Echolalie. Perseveration. 

Ueber den Anfall ist nichts herauszubringen, 
er ist offenbar vergessen. 

Abends mit der Hand unverständliche Bewegungen, durch 
die die Decke verschoben wird; letztere wird mit der linken 
Hand immer wieder heraufgezogen. 

15. IX. 02. Macht mit der rechten Hand noch viel un- 
nöthige, ataktisch erscheinende Bewegungen. Giebt die rechte 
wie die linke, spricht undeutlich, aber noch verständlich. Eu¬ 
phorie. 

Liest abends Geld mit der rechten Hand von der Decke 
ab und reicht es dem Arzt. Aufgefordert, es mit der Linken 
zu geben, sucht er einen Moment mit der Linken, braucht 
dann die Ausrede: cs sei im Kasten, man solle es holen. Giebt 
mit der rechten Hand dem Wärter (eingebildetes) Geld, damit 
er für 5 Fr. Wein hole. 

Oertlich einigermaassen orientirt. Sehr starke Persevera¬ 
tion im reden. Schreibt mit der rechten Hand unverständ¬ 
liches Strichgeschlinge. Nimmt nachher, ohne den Irrthum zu 
merken, mit der rechten Hand den Finger des Arztes und 
macht damit Schreibbewegungen, wie wenn der Finger ein 
Schreibstift wäre. 

Bei geschlossenen Augen erkennt er mit der linken Hand 
Gegenstände, führt ein Stück Brod zum Munde, isst es u. s. w. 
Giebt aber viele falsche Antworten in Folge der Perserveration. 
Mit der rechten Hand erkennt er weniger gut (gar nicht?). 
Er hält z. B. eine Streichholzschachtel für eine Kelle und rührt 
damit in entsprechender Weise herum. 

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Er wird durch Stiche aufgeregt, flucht „aber nicht wegen 
des Stechens, sondern wegen des beständigen Redens“. Geht 
zum Nachtstuhl, steckt aber zuerst den Fuss in den Topf. 

17. IX. 02. Euphorie. Beiderseits gleiches Verhalten in 
Bezug auf Sensibilität und Motilität. Grössenwahn, Confabu- 
lation, motorische Erregung. (Patient zeigt von nun an das 
Bild des gewöhnlichen erregten Paralytikers.) 

24. IX. 02. Macht sich in den letzten Tagen beständig 
mit der Decke zu schaffen, uncoordinirte Bewegungen beider¬ 
seits, aber rechts meist etwas lebhafter als links. Sonst kein 
Unterschied zwischen links und rechts. — Psychisch unklar 
erregter Paralytiker. 

Im vorliegenden Falle haben wir es natürlich mit 
etwas principiell anderem zu thun, als mit blossen 
einseitigen Hallucinationen, auf welche eine einheit¬ 
liche Psyche antwortet. 

Rechte und linke Extremitäten unseres Patienten 
zeigten einen ganzen Tag lang ein total verschiedenes 
Verhalten: Der linke Arm reagirte richtig 
auf die Aussen weit, d. h. so wie dieser Pa¬ 
ralytiker im gewöhnlichen Dauerzustände 
reagirte. Der rechte Arm markirte eine* 
Beschäftigung, die mit den wirklichen Ver¬ 
hältnissen keinen Zusammenhang hatte 
und reagirte auf die Reize von aussen 
inadäquat genau wie ein D e 1 i r i re n d e r. 
Dass ein Delirium wirklich vorhanden war, daran 
kann man nicht zweifeln, nachdem der Patient selber 
sich mehrmals im Sinne des Delirs geäussert hat. 

Vorübergehend delirirten einmalbeide 
Körperhälften, aber in ganz verschiede¬ 
nem Sinne. Sprachliche Aeusserungen über den 
Inhalt des Delirs kennen wir aus dieser Zeit aller¬ 
dings nur von rechts, aber die Handlungen beider 
Seiten waren so absolut verschieden und vollständig 
getrennt — wollten doch die functionell so eng ver¬ 
bundenen Beine nach verschiedener Richtung gehen 
— wie wenn 2 Personen vorhanden gewesen wären. 

Einmal schlief Patient, während der rechte Arm 
weiter arbeitete. 

So interessant der Fall ist, so unbefriedigend ist 
er vorläufig. Der Zustand des Patienten, das Delir 
selbst, erlaubte eine genaue Untersuchung nicht. 
Die Amnesie, die Confabulation, die Perseveration, 
der ganze paralytische Blödsinn machte eine Katam- 
nese und damit ein Eindringen in die psychischen 
Verhältnisse unmöglich. 

Was wir Neues daraus ersehen, ist, 
dass beide Hirnhälften g 1 ei ehzei tig unab¬ 
hängig von einander die Eindrücke der 
Aussenwelt verschieden verwerthen und 
entsprechende kompliz irte Handlungen 
ausführen können. 

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366 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34. 


Die rechte Seite des Patienten war beständig in 
typischem Beschäftigungsdelir begriffen, die linke er¬ 
fasste und behandelte die Umgebung richtig. Mei¬ 
stens verliefen die beiden Aktionen vollständig ge¬ 
trennt, und dann und wann, für ein kurzes Hand¬ 
lungsrudiment, riss die eine Hälfte die andere mit 
sich und wurde die Thätigkeit der activeren, deliri- 
renden Hälfte häufiger der anderen Seite mitgetheilt, 
als umgekehrt. 

Alle Muskeln am Kopfe (Augen, Mimik etc.), 
sowie die Beweger des Kopfes waren im Dienste 
beider Hälften. War der Patient sich selbst über¬ 
lassen, so waren sie meist von der rechten Seite in 
Besitz genommen. Erlangte die Wirklichkeit durch 
Anreden grösseren Einfluss, oder wurde die linke 
Seite gereizt, so reagirten Blick, Miene, Sprache, im 
Sinne der Wirklichkeit, um nachher rasch wieder von 
der deliriösen Gchirnthätigkcit in Anspruch genommen 
zu werden. 

Es sei besonders darauf aufmerksam 
gemacht, dass die nicht d e 1 i r i r c n d e Seite 
(die rechte Hirn hälfte) auch ein wenig, 
wenn auch sei te n, über die Sprache ver¬ 
fügte. 

Wie sich das „Bewusstsein“, die Psyche, dabei 
verhielt, bleibt dunkel. Durch die sprachlichen Acussc- 
rungen liess sich mit der Sicherheit, womit man über¬ 
haupt bei anderen Menschen etwas über das Be¬ 
wusststein konstatiren kann, feststellen, dass eine 
Psyche im Sinne des Delirs und eine zweite, etwas 
paralytisch unklare, aber nicht delirirende Psyche 
nacheinander, d. h. miteinander abwechselnd, 
vorhanden waren. Die Betrachtung des Patienten 
machte ein gleichzeitiges Vorhandensein beider 
Bew'usstseinskomplexe äusserst wahrscheinlich. Zu be¬ 
weisen war dies natürlich nicht. 

Da w r ir von den Gehirnfunktionen noch fast nichts 
wissen, ist es sehr leicht, sich eine Vorstellung von 
diesem Mechanismus halbseitiger Delirien zu bilden, 
ohne mit bekannten Thatsachen in Widerspruch zu 
gerathen. 

Wir müssen uns natürlich denken, dass während 
des Bestehens der Anomalie jede Hirnhälfte für sich 
arbeitete, dass die Einwirkungen der einen Hemi¬ 
sphäre auf die andere für gewöhnlich aufgehoben 
und dass nur dann und wann bei einer intensiveren 
Action die Thätigkeit der einen Hemisphäre die an¬ 
dere influirte. 

Wir wissen, dass eine Hirnhälfte genügt, um eine 
psychische Persönlichkeit zu erhalten. Einer aufge¬ 
regten Katatonika z. B. wurde durch eine Embolie 
in die Basalarterien die rechte Hemisphäre so zer¬ 


stört, dass es ein Jahr später bei der Section unmög¬ 
lich war, in dem sie ersetzenden, schwappenden 
Piasack Himtheile zu erkennen. Die Kranke war 
natürlich links vollständig gelähmt gewesen, hatte 
aber psychisch keine Veränderung gezeigt Sie sang 
kurz nach dem Insult eine ganze Nacht durch mit 
lauter Stimme eine Menge Lieder, schimpfte und 
fluchte wie früher u. s. w. — Ein normales Kind 
bekam eine Lähmung der rechten Seite, die dann in 
der Entwicklung ziemlich stark zurückblieb (Rumpf 
und Extremitäten). Patient wurde aber Hausirer und 
brachte sich Jahrzehnte lang durch, bis er wegen 
Alkoholismus in Rheinau versorgt werden musste. 
Nach seinem Tode war die 1 . Hemisphäre enorm ge¬ 
schrumpft und in ihren Elementen in einem Zustand, 
der eine wesentliche Antheilnahine an den psychischen 
Funktionen unwahrscheinlich machte. 

Wenn nun die Funktion einer einzelnen Hemi¬ 
sphäre einen Menschen repräsentiren kann, sobald 
die andere zerstört ist, so ist es auch möglich, dass 
jede Hemisphäre gleichzeitig einen anderen 
Thätigkeitscomplex besitze, von denen jeder eine 
Persönlichkeit repräsentirt, wenn die funktio¬ 
nelle Verbindung beider Hemisphären 
unterbrochen ist. 

Die Möglichkeit, das ein Schädel zwei Personen 
enthalte, ist also nicht auszuschliessen, wenn sie auch 
noch nicht direkt bewiesen ist. Unser Fall fordert 
aber auf, mit ihr zu rechnen. Liesse sich z. B. in 
Licpmann’s hochwichtigem Falle von einseitiger 
Apraxie das Verhalten des Patienten, der rechts 
apraktisch war, aber dennoch nur mit dieser Seite 
auf die Aussemvelt reagirte und seine Fehler gar 
nicht merkte, am einfachsten so erklären, dass die 
apractische Hirnhälfte für gewöhnlich zwar nicht 
allein arbeitete, aber die Führung übernahm, dass 
diese jedoch an die andere nicht apraktische, aber 
weniger erregbare Seite abgegeben werden musste, 
wenn äussere Hindernisse sich ihrer Thätigkeit wider¬ 
setzten ? Das Ich des Patienten wäre bei dieser An¬ 
nahme in wichtigen Coraponenten ein anderes bei 
den apractischen Handlungen als bei den linksseitigen 
normalen. 

Ueberlasscn wir indess die weitere Verwerthung 
des Falles der Zukunft. Er braucht noch vielseitiger 
Ergänzungen durch neue ähnliche Beobachtungen, 
bevor er sich als Baustein im Fundament einer 
Theorie wird verwerthen lassen. 

Nachschrift: Bis zum 15. XI. 1902 hat die Verblödung 
des Patienten langsam zugenommen. Die r. Seite blieb meist 
thätiger als die 1., beschäftigte sich z. B. sehr viel mit unge- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


367 


1902.] 


ordnetem Heraufziehen der Decke, wobei die 1 . Hand dann und 
wann zur Hülfe zugezogen wurde. — Vereinzelte Handlungen 
wurden mit der r. Hand unrichtig ausgeführt, ob im Sinne der 
Apraxie oder einer deliriösen Auffassung, lässt sich nicht ent¬ 
scheiden. Z. B. zerknitterte Patient einmal eine in die r. Hand 
gegebene Zeitung und versteckte sie sorgfältig unter der Decke, 
während er unmittelbar nachher auftragsgemäss zu lesen anfing. 


als ihm die Zeitung in die 1 . Hand gegeben wurde. — Manch¬ 
mal reagirte die r. Hand gar nicht auf äussere Reize oder Auf¬ 
forderungen, z. B. wenn die Handfläche mit Gegenständen be¬ 
rührt wurde, die hätten angefasst werden sollen. — Vorüber¬ 
gehend bestand mehrmals totale oder partielle Astereognosie 
rechts; links fehlte dieses Symptom oder war viel weniger aus¬ 
gesprochen als rechts. 


- • m - 

War Mohammed Epileptiker? 

Von Dr. med. AI. L. Moharrem Bey , I. Assistent der Prof. Dr. Schlösser'sehen Augenheilanstalt in München. 

(Schluss.) 


An anderer Stelle erzählt Ibn Ishak: „Da Chadiga 
gehört hatte, dass Mohammed so wahrheitsliebend, treu 
und tugendhaft sei, schickte sie zu ihm und Hess ihm 
anbieten, mit ihren Waaren als Geschäftsführer nach 
Scham zu gehen und versprach, ihn besser zu entlohnen, 
als sie einen andern Agent bezahlen würde. Er unter¬ 
nahm, von ihrem Sclaven Moysara begleitet, die Reise 
nach Scham, . . . verkaufte die mitgenommenen 
Waaren und machte neue Einkäufe. Dann trat er 
wieder in Gesellschaft Moysara’s mit der Karawane 
die Rückreise an. Als sie in Mekka bei Chadiga an- 
gekommen waren, verkaufte sie die Waaren, die er 
mitgebracht hatte, und machte zweimal so viel Profit 
als gewöhnlich.“ *) 

Der Heirathsantrag, den Chadiga ihm gestellt hatte, 
soll auch mit ähnlichen Ausdrücken eingeleitet worden 
sein. Er lautet: „Mein Vetter, sagte sie, ich begehre 
Dich wegen Deiner Verwandtschaft zu mir, wegen 
des Ansehens, das Du in Deinem Stamme geniesst, 
wegen der Reinheit Deiner Sitten und der Wahr¬ 
haftigkeit Deiner Sprache.“ 

Auch die Einwilligung der vier Koraischstämme, 
dass Mohammed**) als Schiedsrichter fungieren solle, 
da sie beim Wiederbau der Kaaba nicht einig werden 
konnten, welchen Stammesrepräsentanten die Auf¬ 
stellung des schwarzen Steines***) übertragen werden 
sollte, und die freudige Aufnahme seines Schieds¬ 
spruches bestätigt das, was Chadiga an ihm gepriesen 
hatte. Ueber dieses Vorkommniss wird wie folgt bei 
allen Biographen berichtet: „Vier Tage lang blieben 
die Koraischiten entzweit und rathlos. Der Streit 
drohte zu Thätlichkeiten zu führen, wenn nicht Abu- 
Uinaya, der damals der Aelteste des ganzen Stammes 
war, ihnen folgendes vorschlug: „Ihr Koraischiten, 
sagte er, bestellt den Ersteintretenden in dieses Heilig¬ 
thum als Schiedsrichter in der strittigen Frage und 

♦) Ibn Hischam S. 119 u. Ibn Saad fol. 29 u. 24. 

**) Er war damals schon 35 Jahre alt. 

***) Ein Stein, den die Araber vor und nach dem Islam 
als heilige Reliquie betrachteten. 


unterzieht euch seinem Urtheil. Sie nahmen den 
Vorschlag an. Der Ersteintretende war Mohammed. 
Als sie ihn sahen, riefen sie alle aus einer Kehle: 
„Der ist ja der Amin, der Zuverlässige — wir ver¬ 
trauen ihm die Entscheidung an und befolgen seinen 
Schiedsspruch“. Als er sich ihnen näherte und sie 
ihn über den Sachverhalt unterrichteten, sagte er ohne 
Zögern: „Schafft mir ein Gewand herbei“. Sie thaten 
es. Dann nahm er den Stein, legte ihn mit eigener 
Hand darauf und sagte: Jeder Stammesvertreter soll 
an einer Ecke halten und alle sollen ihn gleichzeitig 
in die Höhe heben/ Sie thaten es. Und als sie die 
für den Stein bestimmte Stelle erreichten, schob ihn 
Mohammed mit eigener Hand hin und es wurde darauf 
gebaut. Die Koraischiten nannten ihn immer, bevor 
die göttliche Offenbarung auf ihn herabkam, al-Amin, 
der Zuverlässige.“*) Noch eine Ueberlieferung will 
ich mittheilen, die sein Aeusseres etwas genauer be¬ 
schreibt und manche seiner Characterzüge schildert. 
Dieselbe lautet nach Ibn Hischam**) wie folgt: „Die 
characteristischen Eigenschaften des Gesandten Gottes 
sind nach der von Ibrahim ibn Mohammed ibn Ali, 
ibn Abi Taleb, dem Omar, dem Sclaven Guffra’s ge¬ 
machten Aussage, dass Ali ihn, den Propheten, wie 
folgt zu schildern pflegte: ,Er war von mittlerem 
Wuchs, nicht zu gross und nicht zu klein, gedrungen, 
hat kurzes, krauses nicht schlichtes Haar, nicht fett¬ 
leibig oder behäbig. Sein Gesicht ist schön rund und 
voll, aber nicht gedunsen oder fleischig. Seine Haut¬ 
farbe ist matt weiss. Die Augen waren gross, dunkel 
und mit langen, zierlichen Wimpern versehen. Der 
Hals ist schön rund und zart und die stark und 
kräftig gebaute Brust trägt schwaches seidenes Haar. 
Die Handfläche und die Flusssohle sind weich und 
fein. Seine Gangart war leicht, geschickt und elastisch. 
Wenn er sich umschaute, so drehte er sich ganz um. 

*) Ibn Hischan Band 1 erster Theil, S. 122 u. 123 u. 
Ismael Abulfeda de vita Moharnmedis Cap. VI, Pag. 13 u. 15 
u. Andere. 

**) Seite 266 u. 267. 


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368 


Keiner übertraf ihn an Freigebigkeit und Wohlthätigkeit, 
an Kühnheit und Muth. Er war immer wahrhaftig 
und aufrichtig, ehrlich und rechtschaffen, freimüthig 
und treu und im höchsten Grade gewissenhaft. Er 
hatte nie gegen ein Versprechen, jemanden in 
Schutz zu nehmen, verstossen. Er hatte ein sanftes 
Gemüth und ein gutes Herz und war in seinem Um¬ 
gänge edel und grossmüthig. Demjenigen, der ihn 
nicht kannte, flüsste er Respekt und Ehrfurcht ein, 
wenn man ihn aber kennen lernte und mit ihm ver¬ 
kehrte, so gewann man ihn schnell recht lieb.“ Es 
lassen sich noch mehrere andere Legenden und Ueber- 
lieferungen citiren, die von seiner Milde und Güte, 
Nüchternheit und Bedächtigkeit, Leutseligkeit und 
Schlagfertigkeit, Gastfreiheit und Freigebigkeit, Opfer¬ 
willigkeit und Wohlthätigkeit u. s. w. sprechen, auf 
die aber wegen der kurzbemessenen Zeit verzichtet 
werden muss. 

Und nun wende ich mich zu der für das Thema 
weitaus wichtigeren zweiten Periode des Lebens 
Mohammeds, jener Periode, die mit seinem Auftreten 
als Gottesgesandter beginnt und mit seinem Ableben 
endigt. 

Er war schon 40 oder 41 Jahre alt, als er die 
ersten Offenbarungen wahrnahm, die seine Botschaft 
an gekündigt haben sollen. 

Ueber den Beginn seiner Mission erzählt Aischa, 
seine zweite Frau, dass Mohammed seiner Zeit niemals 
etwas träumte, was sich nicht auffallend bewahrheitet 
hätte, und fügt dazu, dass Gott ihm die Zurückge¬ 
zogenheit derart beliebt machte, dass er die Einsamkeit 
allem andern vorzog. *) Und über den Anfang der 
Offenbarungen und das Herabsteigen Gabriels (Gibrils) 
erzählt Ibn Hischam nach der von Obeid dem 
Wahb ibn Kaisan gemachten Mittheilung,* dass Mo¬ 
hammed die Gewohnheit hatte, jährlich einen Monat 
im Berge Hira **) zu verbringen, wobei er immer vor¬ 
beiziehenden Armen allerlei Nahrungsmittel schenkte 
und fortbetete bis zum Monate Ramadan des Jahres 
seiner Sendung, in welchem Gott ihn begnadete und 
sich der Menschheit erbarmte und ihm Gabriel herab¬ 
sandte, worüber Mohammed selbst sich folgender- 
massen äusserte: Währenddem ich schlief, kam er 
(Gabriel) mit einer beschriebenen Tafel aus Seide 

*) Ibn Hischam, I. Theil Band r. S. 151, — Ibn Saad 
fol. 37; — Muslim, Bd. r S. 112; Buchari Band 1 Seite 3; 
— Ismael Abulfeda Cap. VII, pag. 14, Tabary S. 86. 

**) Heute unter dem Namen Gabal-Emur bekannt, und 
etwa 2 km von Mekka entfernt gelegen. Vide al Mischkat 
von Abd-Elhack Bd. 4 S. 555. Unter diesem Namen findet 
man ihn auch in Sossan’s Panorama von Mekka; table l’Em- 
pire Ottomane. 


[Nr. 34 - 


und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: „Ich kann nicht 
lesen“, worauf er mich damit derart presste, dass ich 
es für den Tod hielt. Dann liess er mich los und 
sagte: „Lies!“ Ich erwiderte: „Ich kann doch nicht 
lesen“, worauf er mich damit derart presste, dass ich 
es für den Tod hielt. Dann liess er mich frei und 
sagte von Neuem: „Lies!“ Ich sagte ihm diesmal: 
„Was soll ich denn lesen?“ Ich sagte dies nur des¬ 
wegen, um mich dadurch von ihm zu befreien und 
damit er das nicht wiederhole, was er mir vorhin 
angethan hatte. Da sagte er aber: „Lies im Namen 
des Herrn, der den Menschen durch die Schrift lehrte, 
was er nicht wusste.“ Der Ueberlieferer theilt mit, 
dass Mohammed weiter erzählte: Ich las es, wo¬ 
nach Gabriel seine Aufgabe vollendet hatte und sich 
entfernte. Ich erwachte dann aus dem Schlafe mit 
dem Gefühle, als ob die Worte in meinem Herzen 
eingeschrieben seien. Ich trat dann heraus und ging 
bis ich die Mitte des Berges erreichte, dann hörte 
ich eine Stimme vom Himmel rufen: ,Mohammed, 
Du bist der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel.* 
Ich stand still und schaute zu ihm ohne mich von 
der Stelle zu rühren und versuchte mein Gesicht nach 
den verschiedenen Richtungen des Himmels zu wenden. 
Ich konnte aber nirgends hinblicken, ohne ihn in der 
gleichen Gestalt wie zuvor zu Gesicht zu bekommen. 
Ich that keinen Schritt vorwärts und keinen zurück, 
bis Chadiga ihre Leute mich zu suchen schickte. 
Diese erreichten die Höhen Mckka’s und kehrten 
wieder zurück ohne mich zu finden, während ich 
noch immer auf demselben Fleck wachstand. Dann 
verliess er (Gabriel) mich und ich kehrte zu den 
Meinigen zurück. Ich kam zu Chadiga und setzte 
mich dicht neben sie. Sie frug: „Wo warst Du 
Abul-Kacin ? *) Bei Gott, ich schickte nach Dir meine 
Leute, die bis zu den Anhöhen Mekka’s gingen und 
erfolglos zurückkehrten“. Da erzählte ich was ich 
erlebte, worauf sie sagte: „Freue Dich ob der Bot¬ 
schaft, Sohn meines Oheims, und bleibe fest“.**) 

Chadiga soll nach der Angabe Ibn Ischak noch 
Folgendes mitgetheilt haben ***): „Vermagst Du, mein 
Vetter“, hat Chadiga Mohammed gefragt, „mich von 
der Ankunft Deines Genossen (des Engels) zu unter¬ 
richten in dem Augenblicke seines Erscheinens“. Mo¬ 
hammed bejahte es, worauf sie sagte: „Also, wenn 

*) Abu heisst Vater und Kacim ist der Name des ersten 
Sohn’s Mohammed’s. 

**) Ibn Hischam S. 152 u. 153, Ibn Schayba S. 12, Mus¬ 
lim Bd. 1 S. II2, Tabary, S. 86, Ibn Ischak bei Tabary S. 
91, Ibn Abi Schayba S. 14, Bochari cairenser Ausgabe 1312 
d. Iligra Bd. 1 S. 3 u. Baghwoy, Tafsir 74, 1. 

***) Ibn Hischam Bd. 1 R. 154 u. Icaba noce Chadiga 
aus abu Noaym’s Dalayil al Nobusvah. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 369 


er ankommt, theilst Du es mir gleich mit“. Als Gabriel 
ihm wie gewöhnlich erschien, rief Mohammed: „O, 
Chadiga, da ist er gekommen!“ Sie erwiederte: 
„stehe auf, mein Vetter, und setzte Dich auf mein 
linkes Bein nieder“. Er stand auf und setzte sich 
hin. Sie frug ihn, ob er den Engel sehe. Er bejahte 
es, worauf sie ihm sagte: „Aendere Deinen Sitz und 
komme auf die rechte Seite“. Er that es, und nach¬ 
dem sie auf die Anfrage, ob er ihn noch sehe, die¬ 
selbe bejahende Antwort erhielt, da sagte sie: „lasse 
Dich jetzt auf meinen Schooss nieder“. Er Hess sich 
darauf nieder, und noch einmal erwiederte er ihre 
Frage mit der Antwort, dass er ihn noch sehe. Da 
cntblösste Chadiga ihre Anne und legte ihr Kopftuch 
ab*), während Mohammed noch auf ihrem Schooss 
blieb, und fragte: Siehst Du ihn noch? Er verneinte 
es, worauf sie sagte: „Sei festen Sinnes und muthig, 
Sohn meines Oheims, und freue Dich darüber“**). 

Bei Bei-dowi finden wir folgende Legende, die 
zu den ersten Offenbarungen gehört, welche Mohammed 
selbst erzählt haben soll. Dieselbe lautet: Als ich 
einmal promenierte, hörte ich eine Stimme vom 
Himmel rufen. Ich richtete meinen Blick aufwärts 
und sah jenen Engel, der mich in Hira aufgesucht 
hatte. Er sass auf einem Thron zwischen Himmel und 
Erde. Ich erschrak bei dessen Anblick, kehrte zitternd 
zu den Meinigen zurück und bat: „Wickelt mich ein, 
wickelt mich ein“ ***). 

Es scheint, dass Mohammed nach diesen ersten 
Offenbarungen dessen sich nicht bewusst war, was 
eigentlich mit ihm vorging und sogar einige Zeit 
in grossem Zweifel über die Bedeutung solcher Ge¬ 
sichts- und Gehörswahrnehmung blieb, bis seine 
Umgebung, seine Frau Chadiga und ihr Anver¬ 
wandter Waraka, ihn darüber aufgeklärt hatten. 
Diese zwei Personen, besonders Waraka, der Christ 
sein soll und die hl. Schrift lesen konnte, haben ihm 
nicht nur die Sorge und das Bekümmern iss verscheucht, 
welche Mohammed von den Folgen dieser ihm un¬ 
bekannten Wahrnehmungen fürchtete, sondern sie 
brachten ihm die Ueberzeugung bei, dass es nur die 
in den alten Schriften verheissene göttliche Botschaft 
sein kann und es auch ist. Ich führe die getreue 
Uebersctzung dieser Traditionen hier an, ohne dieselben 

•) Nach einer andern Tradition soll diese Stelle lauten: 
Chadiga hat ihn zwischen ihr Ilernd und ihren Leib geschoben. 

**) Mit dieser Manipulation wollte Chadiga diesen An¬ 
kömmling prüfen. Die Araber glaubten nämlich, dass die 
Satane das Unästhcthische lieben und die Engel als reine und 
keusche Kreaturen Unästhethisches vermeiden und fortfliegen. 

***) Dieselbe Legende finden wir auch bei Ibn Hischam, 
Buchari, Muslin und Ibn Saad. 

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abzukürzen oder etwa Wiederholungen zu meiden, 
da dadurch der zusammenhängende Sinn irgendwie 
geschädigt wird und verloren geht. 

Thabari hat die folgende, ziemlich ausführlich auf¬ 
gezeichnete Legende uns übermittelt; dieselbe lautet:*) 
„Der Prophet pflegte jedes Jahr einen Monat im 
Berge Hira mit religiösen Andachten zuzubringen. 
Hira war einer der Plätze, in denen die Koraischiten 
das Thahannoth zu verrichten pflegten. „Thahannoth“ 
bedeutet „sich heiligen“. Der Prophet brachte also 
jährlich einen ganzen Monat daselbst zu, und speiste 
die Armen, die vorüberkamen. Wenn er zurück¬ 
kehrte, nach Verlauf des Monats, ging er sieben Mal 
um die Kaaba herum, bevor er sich nach Hause 
begab. Als der Monat heranrückte, in dem Gott 
beschlossen hatte seine Wunder an ihm zu thun, d. h. 
der Ramadhan des Jahres, in dem er seine Sendung 
erhielt, ging er mit seiner Familie seiner Gewohnheit 
gemäss nach Hira. In der Nacht, in welcher ihn 
Gott begnadete und sich der Menschheit erbarmte, 
kam der Engel Gabriel zu ihm. Mohammed erzählt 
das Weitere mit folgenden Worten: Er kam zu mir, 
währenddem ich schlief und brachte eine beschriebene 
Tafel aus Seide und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: 
„Ich kann nicht lesen.“ Er drückte mich damit derart, 
bis ich glaubte, es sei aus mit mir. Dann Hess er 
mich los und sagte: ,Lies!‘ Ich erwiderte: „Ich 
kann nicht lesen.“ Er drückte mich nochmals da¬ 
mit derart, bis ich glaubte, es sei aus mit mir. Dann 
Hess er mich wieder los und sagte: „Lies!“ Ich ant¬ 
wortete: „Was soll ich denn lesen.“ Ich gab diese 
Antwort blos um dem zu entkommen, was er mir 
vorher angethan hatte. Er sprach aber: „Lies“, im 
Namen deines Herrn, welcher erschaffen hat etc. Ich 
las es. Nun hatte er vollendet und verliess mich. 
Ich erwachte aus dem Schlafe, mit dem Gefühl, wie 
wenn es in meinem Herzen eingestrichen wäre. Ich 
hasste nichts mehr in der Welt als Dichter und Be¬ 
sessene und konnte ihren Anblick nicht ertragen. Ich 
sagte daher zu Chadiga: Der, von welchem man es 
nicht gedacht hätte, ist entweder ein Dichter oder 
von einem Ginn**) beherrscht. Damit meinte er sich 
selbst. Sage es ja den Koraischiten nicht. Ich gehe 
auf die Spitze eines Berges hinauf und stürze mich 
hinab. Ich bringe mich halt um’s Leben, um Ruhe 
zu finden. Um dieses Vorhaben auszuführen, ging 
ich bis auf die Mitte des Berges. Dort angelangt, 
hörte ich aber eine Stimme vom Himmel rufen: 
„O, Mohammed, du bist der Gesandte Gottes und ich 

*) S. 91 Thabari folgt der im Werke Ibn Ishak’s nach 
dem Texte Salama’s überlieferten Legende. 

**) Dem Begriffe Genius gleichbedeutend. 

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370 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34 


bin Gabriel.“ Ich stand still und schaute ihn an. 
Dies hielt mich von meinem Vorhaben ab. Ich ging 
weder vorwärts noch rückwärts. Dann sah ich mich 
am ganzen Horizonte um und wo ich immer hinblickte, 
sah ich ihn in derselben Gestalt. Ich blieb stille 
stehen, ohne einen Schritt vorwärts oder rückwärts 
zu thun, bis Chadiga Leute nachschickte mich zu 
suchen. Sie gingen nach Makka und kamen dann 
nach Hira zurück, während ich noch am selben Platze 
stand. 

Endlich verschwand der Engel und ich kehrte zu 
den Meinigen zurück. Ich setzte mich Chadiga auf 
den Schooss und schmiegte mich fest an sie. Sie frug: 
„Wo warst Du Abul Ka»;im gewesen. Ich habe meine 
Leute Dich zu suchen geschickt. Sie sind bis nach 
Makka gekommen, und haben Dich nicht gefunden.“ 
Ich sagte zu ihr: „Der von dem man geglaubt hätte 
ist entweder ein Poet oder vom Ginn besessen.“ Sie 
sprach: „Gott ist mein Schutz, Abul Ka(;im. Gott 
wird Dir so etwas nie wiederfahren lassen, denn Du 
sprichst die Wahrheit, beobachtest Treue, hast reine 
Sitten, und hältst mit Deinen Verwandten. Was kann 
Dich auf diesen Gedanken gebracht haben, hast Du 
vielleicht etwas Besonderes gesehen.“ Ich antwortete: 
„Ja“ und erzählte ihr, was ich gesehen habe. Sie 
sprach: „Freue Dich, mein Vetter, und sei guten Muth’s. 
Er, in dessen Hand das Leben Chadigas ruht, ist mein 
Zeuge, dass Du der Prophet dieses Volkes sein wirst.“ 
Dann stand sie auf, kleidete sich an und ging zu 
ihrem Vetter Waraka. Dieser Waraka hatte sich zum 
Christenthum bekehrt und konnte die Bibel lesen und 
hatte die Christen öfters angehört. Sie erzählte ihm, 
was ihrem Manne geschah und Waraka rief gleich 
aus: „Heilig! Heilig! Wenn das, was Du mir sagst 
wahr ist, so kommt zu ihm der grösste Engel, der 
zu Moses gekommen ist und er wird der Prophet 
dieses Volkes sein. Theile ihm das mit und sage 
ihm, er möge standhaft bleiben.“ Chadiga kehrte zum 
Propheten zurück und verkündigte ihm, was Waraka 
gesagt hatte. Sie beschwichtigte zum Theil seine 
Aufregung. 

Als die Zeit, die er (Mohammed) zu Hira zu ver¬ 
bringen pflegte, verlaufen ist, kehrte er nach Makka 
zurück und seiner Gewohnheit gemäss ging er um die 
Kaaba herum, wo er dem Waraka zufällig begegnete. 
Auf die Anfrage des Letzteren erzählte ihm Mohammed, 
was er gehört und gesehen hatte, worauf Waraka sagte: 
„Ich schwöre bei dem, in dessen Hand das Leben 
Warakas steht, Gott hat Dich zum Propheten dieses 
Volkes ausgewählt und der grösste Engel ist zu Dir 
herabgekommen, jener Engel, der einst zu Moses 
herabkam. Man wird Dich einen Lügner heissen, man 


wird Dich verfolgen, man wird Dich vertreiben und 
man wird Dich bekämpfen. O, dass ich bis auf jenen 
Tag leben möchte, ich würde Dir Beihilfe leisten. 
Darauf küsste er ihn auf die Stirn. Der Prophet ging 
nach Hause, und die Versicherung Waraka’s war ein 
grosser Trost für ihn und verminderte seine Beklommen¬ 
heit.“ 

Eine zweite Tradition lautet: Der Prophet sagte: 
„O Chadiga, ich sehe ein Licht und höre eine Stimme, 
ich fürchte, ich bin ein Kaliin.“*) Chadiga antwortete: 
„Gott wird Dir das nicht wiederfahren lassen, denn 
Du hältst es mit Deinen Verwandten, sagpä die Wahr¬ 
heit und beobachtest Treue.“**) 

Eine dritte Tradition lautet: Der Prophet sagte: 
„O Chadiga, ich höre eine Stimme und sehe ein Licht, 
ich fürchte, dass Wahnsinn in mir ist.“ Chadiga sagte: 
„Gott wird Dir das nicht wiederfahren lassen, Sohn 
Abdul-lalvs.“ Dann ging sic zu Waraka und erzählte 
es ihm. Waraka sagte: „Du hast recht, (er ist nicht 
wahnsinnig) dies ist ein Emgel, wie der Engel des 
Moses. Wenn er seinen Ruf als Prophet erhält und 
ich bin noch am Leben, so will ich ihm helfen und 
an seine Botschaft glauben.“ ***) 

Eine Vierte lautet: „Nachdem die Offenbarung 
auf ihn, während seines Aufenthaltes auf dem Berge 
Hira herabkam, verstrichen mehrere Tage ohne dass 
Gabriel ihm wieder erschien und er war so sehr traurig, 
dass er bisweilen den Berg Thabir und bisweilen den 
Berg Hira bestieg, um sich hinabzustürzen. Als er 
in diesem Zustand war, und nach einem dieser Berge 
ging, vernahm er eine Stimme vom Himmel. Er blieb 
stehen, denn er war von der Wucht der Stimme er¬ 
griffen und erhob sein Angesicht und siehe da, Gabriel 
sass auf einem Thron zwischen Himmel und Erde 
und rief aus: „<), Mohammed, Du bist in Wahrheit 
der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel“. Der 
Prophet kehrte dann zurück. Gott hatte sein Herz 
erfreut und ihn mit Muth erfüllt, darauf erfolgte Offen¬ 
barung auf Offenbarung.“ +) 

Und eine Fünfte lautet: „Während der Prophet 
in diesem Zustande war, und sich in Aggad (unweit 
von Mekka) befand, sah er einen Engel, der mit einem 
E'usse über den andern gelegt am Himinelshorizont 
sass und lief: „O Mohammed, o Mohammed, ich bin 
Gabriel. 1 * Der Prophet erschrak und so oft er gegen 
Himmel sah, erblickte er den Engel. Er eilte zu 
Chadiga und erzählte ihr dies Vorkommniss und sagte: 
„Nichts ist mir so verhasst, als diese Abgötter und 

*) Bedeutet „Weissager.“ 

**) Ibn Saad. fol. 37. 

***) lbn Saad, fol. 37. 
f) lbn Saad, fol. 37. 


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1902J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Weissager! Ich fürchte, dass ich am Ende selbst 
ein Weissager bin.“ Sie erwiederte: „Ach, sage dies 
nicht, Gott wird Dir solches nicht wiederfahren lassen, 
Sohn meines Oheims. Du hältst es mit deinen Ver¬ 
wandten, sprichst die Wahrheit, beobachtest Treue, 
und hast einen edlen Character. Dann begab sie 
sich zu Waraka. Dies war das erste Mal, dass sie 
in dieser Angelegenheit zu ihm ging und erzählte 
ihm, was sie vom Propheten gehört hatte. Waraka 
sagte: „Dein Mann spricht die Wahrheit; dies ist der 
Anfang eines Prophetenthums und er erhält den Besuch 
des grössten Engels. Sage ihm, er soll guten Mutlies 
sein. 4 '*) 

Die sechste dieser Traditionen lautet: Der Prophet 
sägte zu Chadiga: „Wenn ich allein bin, höre ich 
rufen, ich fürchte, dass es mit mir nicht richtig sei.“ Sie 
antwortete: „Gott ist unsere Zuflucht, er wird Dir solches 
nicht wiederfahren lassen, denn Du beobachtest Treue, 
hältst es mit Deinen Verwandten, und sprichst die 
Wahrheit.“ Als Abu Bakr darauf kam, erzählte sie es ihm 
und sagte: „Geh mit Mohammed zu Waraka.“ Als 
Mohammed nach Hause zurückkam, nahm ihn Abu 
Bakr bei der Hand und sie gingen mit einander zu 
Waraka. Mohammed erzählte ihm, dass, wenn er 
allein sei, er hinter sich rufen höre: „O, Mohammed, 
o, Mohammed“ und dass er, wenn er es höre, davon¬ 
laufe. Waraka sagte: „Thue das nicht mehr, sondern 
warte und höre, was die Stimme Dir sagt, und er¬ 
zähle es mir.“ Als er wieder allein war, hörte er 
rufen: „O Mohammed“ sprich: „Im Namen Allah’s, 
des Milden, des Barmherzigen, das Lob sei Gott, dem 
Herrn der Welten etc.“, die erste Sura des Korans. 
Mohammed kam zu Waraka und erzählte es ihm; 
Waraka sagte: „Freue Dich, freue Dich, ich bezeuge, 
dass Du derjenige bist, den der Sohn der Maria die 
Gewähr verheissen hat, worauf Du Dich stützest, ent¬ 
spricht dem Namus**) des Moses.“***) 

Ueber eine Fahrt von Mekka nach Jerusalem, die 
Mohammed in einer Nacht gemacht haben soll, wird 
Folgendes nach der Mittheilung Mohammeds selbst 
überliefert: „Währenddem ich im Iligrt) schlief, 
kam Gabriel zu mir und stiess mich mit seinem Fusse 
an, worauf ich mich aufrichtete; aber da ich Nichts 
vor mir sah, kehrte ich zu meinem Lager zurück. 
Er kam zum zweiten Male und stiess mich wieder 
mit seinem Fusse an. Ich richtete mich auf und als 


*) Nach Wackidi, bei Ibn Saad, fol. 37. 

**) Das Wort,,Namus*‘ stellen die Ausleger der Traditionen 
dem Begriff Engel gleichbedeutend hin. 

***) Oyun alathr. S. 4 u. L,aba unter Warka. 
y) Eine Stelle in der Nordseite der Kaaba, des Heilig¬ 
thums der Araber. 


ich wiederum Nichts sah, kehrte ich zu meinem Lager 
zurück. Er kam zum dritten Male zu mir und stiess 
mich mit dem Fusse an. Ich richtete mich wiederum 
auf, worauf er mich beim Arme nahm. Ich stand 
auf und ging mit ihm zum Thor des Heiligthums 
hinaus, wo ein weisses Thier, ein Mittelding zwischen 
Esel und Maulesel stand. Es hatte an seinem Schenkel 
zwei Flügel, mit denen es an seinen Füssen scharrte, 
und seine Vorderfüssc hätten gereicht, soweit sein Auge 
sieht.*) Gabriel hob mich darauf und ging mit mir, ohne 
mich zu verlassen, und ich verliess ihn auch nicht.“ 
Nach der Uebcrlicferung Kithadah’s erzählt Ibn lshak, 
dass Mohammed noch Folgendes hinzugefügt haben 
soll: Als ich mich ihm, dem Tliiere näherte, um es 
zu besteigen, wurde es störrig. Da legte Gabriel die 
Hand auf seine Mähne und sagte: „O Burak**) 
schämst du dich nicht, das zu thun. Bei Gott, es 
hat dich kein Diener Gottes vor Mohammed geritten, 
den er mehr begnadet hatte!“ Es schämte sich derart, 
dass es wie in Schweiss gebadet dastand, und ich 
es besteigen konnte. 

Der Traditionist fährt weiter: „Der Gesandte Gottes 
und Gabriel gingen weiter, bis sie die heilige Stätte 
von Jerusalem erreichten. ErfMohammed) fand dort 
Ibrahim (Abraham), Mu^a (Moses), Ai(,a (Jesus) und 
eine Anzahl anderer Propheten versammelt. Der Ge¬ 
sandte Gottes stellte sich vor ihre Reihen und betete 
mit ihnen. Nun wurden zwei Gefässc gebracht, in dem 
einen befand sich Wein und in dem anderen Milch. 
Der Gesandte Gottes nahm das Gefäss mit der Milch, 
trank daraus und Hess das mit dem Wein unberührt. 
Da sprach Gabriel zu ihm: „Geführt sollst Du werden 
auf dem rechten Heilsweg zum Wohle und Heile 
der Schöpfung und begnadet Dein Volk, der Wein 
aber wird euch verboten werden.“***) 

Befragt über die Art und Weise, wie die Offen¬ 
barung zu ihm komme, antwortete Mohammed wie 
folgt: „Bald kommt sie wie ein Glockengeklingel, und 
dies ist für mich das am schwersten zu Ertragende. 
Dann trennt er sich, meint Gabriel, nachdem ich den 
Inhalt (dessen, was er überbrachte.,) aufnahm, d. h. 
mir ins Gedächtniss eingeprägt habe. Bald erscheint 
er in Mannesgestalt, redet mich an und ich präge mir, 
was er sagt, ein.“ Aisrha, die Ueberlieferin dieser 
Tradition, fügte hinzu: „Ich habe ihn gesehen, wie 
auf ihn in sehr kalten Tagen die Offenbarung herab- 

*) Eine arabische Redewendung, welche bedeutet, dass das 
Thier bei jedem Schritt die Grenze seines Horizontes erreichen 
kann. 

**) So soll das Thier geheissen haben. 

***) Ibn Hischam Bd. I, Th. 1 S. 264 und Buchari Bd. TI. 
S. 198 der Caireser Ausgabe' 1312 d. H. 


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37J 

kam, und beobachtete, dass nachdem sie vollendet 
war, seine Stirne von Schweiss tropfte.“*) 

Mohammed verfiel während einer solchen Offen¬ 
barung in einen Zustand, den ich vorderhand nicht 
Anfall nennen möchte, um den Thatsachen nicht 
vorzugreifen. Dieser Zustand überkam ihn, wenn er 
allein und wenn er in Gesellschaft Anderer war. 
Dieser Zustand war mehr an gewisse äussere Um¬ 
stände, als an bestimmte Perioden geknüpft. Dieser 
Zustand wurde an ihm öfters an einem und demselben 
Tage beobachtet; es vergingen aber Tage, ja sogar 
Wochen, in denen er davon nicht befallen wurde. 
Immer stellte sich dieser Zustand ein, w r enn eine 
Frage gelöst, eine Entscheidung gefällt oder eine 
Maassregel getroffen werden sollte. 

Während diesem Zustand wiederholten sich 
immer die gleichen Erscheinungen, wie aus fol¬ 
genden Citaten ersichtlich, die Einzigen, die ich in 
den umfangreichen Quellen der Traditionisten fand, 
und von denen ich nur den Th eil der Legenden an¬ 
führe, welcher für unser Thema eine Bedeutung hat. 
Dieselben lauten : 

1. „Während er noch mitten unter uns sass, geschah 
es, dass vor unseren Augen, seine Sinne, von Gott 
wie schon oft, umnebelt wurden. Man bedeckte ihn 
mit einem Gewand und schob ihm ein ledernes 
Kissen unter das Haupt. Bald darauf erwachte er 
wieder, richtete sich selber auf, wischte sich die 
schweisstriefencle Stirn ab und sagte: (folgt die Offen¬ 
barung.)“**) 

2. „Es überkam ihn die göttliche Offenbarung wie 
gewöhnlich, wobei er durch die Wucht der Offenbarung 
vom Schweiss triefte. Als der Zustand gewichen war, 
hub er sogleich lächelnd zu sprechen an: (folgt die 
Offenbarung.)“ ***) 

3. „Es wurde ihm offenbart in einem Augenblicke, 
als ich zufällig neben ihm sass und mein Bein unter 
dem seinigen lag. Sein Bein lastete auf mir derart, 
„dass ich eine Quetschung fürchtete. Bald erwachte 
er und sagte sofort: (folgt die Offenbarung.)“!) 

Mohammed starb im Alter von 63 Jahren nach 
kurzer Krankheitsdauer, etw'a 5—6 Wochen. Man 
kann mit ziemlicher Sicherheit die Annahme aufstellen 
und auch begründen, dass es eine fieberhafte mit 
Kopfschmerzen verbundene Erkrankung gewesen war, 
während welcher er, bis kurz vor dem Eintritte des 
Todes, das Bewusstsein bewahrte. Wir lesen nämlich 

*) Buchari Bd. I. S. 3 und 129. 

**) Ibn Hischam, Bd. 1, Th. 2, S. 735. Bucharie Bd. 2, 
S. 65. 

***) Buchari, Bd. II., S. 65. 

f) Buchari, Bd. II., S. 88. 


[Nr. 34. 

bei Ibn Hischam, *) dass Mohammed während seiner 
Krankheit mit verbundenem Kopfe gesehen wurde, 
dass er sich mit kalten Übcrgiessungen behandelte, 
dass er sich nach jedem kalten Bade kräftiger und 
wohler fühlte, dass er sogar nach einer solchen kalten 
Uebergiessung von 7 Ledersehläuchen **) kalten Wassers, 
welche einige Tage vor seinem Tode stattfand, der¬ 
art gestärkt und gekräftigt wurde, dass er aufstand, 
in die Moschee mit Unterstützung ging, die Kanzel 
allein bestieg und eine lange Predigt hielt. Wir 
finden aber auch in allen Traditionsschriften, welche 
die Sprüche Mohammeds uns übermittelten, dass er 
immer das kalte Wasser gegen das Fieber empfahl, 
indem er bei ähnlichen Anlässen zu sagen pflegte: „Das 
Fieber ist höllisches Feuer, löschet es mit dem Wasser.“ 
Welcher Art diese fieberhafte Erkrankung gewesen 
sein mag, lässt sich leider nicht genau feststellen. Es 
können jedenfalls hier nur jene akuten Krankheiten 
in Betracht gezogen werden, bei denen das Bewusst¬ 
sein nicht stark in Mitleidschaft gezogen wird und 
denen andere Erscheinungen, wie Hautausschläge, 
(Exantheme), Bluthusten oder Durchfall fehlen. Ich 
bin persönlich geneigt diese fieberhafte Erkrankung 
in die Kategorien derjenigen Infectionskrankheiten 
hinzustellen, die in Tropen und Subtropen endemisch 
auftreten und die man Tropen lieber und Sumpffieber 
zu nennen pflegt, zumal ja Madyna, der langjährige 
Wohnort Mohammeds als Stätte solcher endemischer 
Erkrankungen berüchtigt und damals auch von Sümpfen 
zeitweilig umgeben war. 


Soviel über das Leben Mohammeds. Es ist zwar 
in knappester Form geschildert worden, enthält aber 
fast alles, was in der umfangreichen Traditions- und 
Biographie-Litteratur sich auf unser Thema be¬ 
ziehen kann. Und bevor ich zum Schluss schreite, 
will ich das Wesentliche über die Krankheit Epilepsie 
ins Gedüchtniss zurück rufen. 

Man pflegt eine traumatische und eine angebome 
Epilepsie zu unterscheiden. Das Wesen dieser Krank¬ 
heit äussert sich in den sogenannten epileptischen 
Anfällen. Ein solcher Anfall setzt urplötzlich ein, 
ohne dass der Kranke durch ihm bewusste Vorboten 
an den nahen Eintritt des x\nfalles gemahnt, oder 
irgendwie auf denselben aufmerksam gemacht w'ird. 
Die aufmerksame Umgebung des Epileptikers kann 
die Prodrome des Anfalles, welche in Verworrenheit, 
Zerstreutheit und mässiger Veränderung des Gesichts¬ 
ausdruckes bestehen, trotz der Kürze ihrer Dauer, 

*) Bd. I, Th. 2, S. 105 und folg. 

**) Ein Lederschlauch würde nach dem heutigen Maass 
etwa 20—25 Liter messen. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 373 

beobachten. Der Anfall selbst zeichnet sich dadurch Verfall in einen anscheinend bewusstlosen Zustand; 
aus, dass der betreffende Epileptiker, der vielleicht also Momente, die die heutige Wissenschaft als anor- 
vorher sass, und irgendwelche Arbeit verrichtete, auf male Erscheinungen, Symptome, anspricht und welche 
einmal bewusstlos umfällt, sich krampfhaft niederstreckt nicht nur bei Epilepsie, sondern auch bei einer 

und von Zeit zu Zeit Krämpfe aufweist. Nach ver- grossen 'Anzahl anderer Erkrankungen beobachtet 

schieden langer Dauer beginnen die erstarrten Mus- werden, aber nicht die wesentlichen Merkmale der 

kein zu erschlaffen und nach und nach stellt sich das Epilepsie bilden. 

Bewusstsein wieder ein, so dass er zuerst auf starke, Bei Mohammed sahen die ausschlaggebenden 

dann auf minderstarke Laute reagirt; aber er kann Merkmale des anfallweisen Zustandes ganz anders 

sich noch nicht allein aufrichten. Getragen oder aus. Er wusste nach dem Erwachen aus diesem Zu¬ 
kräftig gestützt, wird er auf ein Lager gebettet, auf stände genau zu erzählen, was er erlebt hat; ja die 

welchem er dann das sogenannte postepileptische Worte, die er gehört, sind in seinem Gedächtnisse 

Stadium durchmacht. In diesem Stadium beobachtet ebenso gegenwärtig gewesen, wie jene Gestalten, die 

man regelmässig eine deutliche, tiefe und lang an- er gesehen hat. 

dauernde Benommenheit, Beschädigung der Verstan- Wenn noch aus dem spätem Leben Mohammed’s 
desthätigkeit und Bewusstseinstrübung. Diesen Er- ausdrücklich erwähnt wird, dass der Ausdruck seiner 

scheinungen folgen dann Verworrenheit, Zerfahrenheit glühenden Augen ein so bedeutender und energischer 

und Umherschweifen des Blickes. Manche Epilep- gewesen sei, dass er auf seine Umgebung den tiefsten 

tiker werden von einer ängstlichen und zornigen Er- Eindruck gemacht habe, dass er stets im Stande ge- 

regung ergriffen, erheben sich mit der Miene der wesen sei, sich vollständig zu beherrschen, dass sein 

Ueberraschung und Scham, um auf ihren Beinen zu Erinnerungsvermögen nie gelitten hat, dass seine 

wanken. Andere dagegen scheinen eine grosse Mü- Seelen- und Geistesthätigkeit immer die gleiche blieb, 

digkeit nicht zu verspüren, richten sich sicher, aber dass seine körperliche und sittliche Energie keine 

langsam auf und fangen an fort und fort zu gähnen, Schwankung und Schwäche zeigten, dass endlich die 

wie wenn sie aus einem langen, tiefen Schlafe er- Todesursache in gar keiner Beziehung zu diesen Zu¬ 
wacht wären. Keiner dieser Kranken hat die Er- ständen steht, so stimmt dies wirklich in keiner Weise 

innerung seines Zustandes, wie sicher keiner auch mit den Beschreibungen zusammen, welche erfahrene 

eine Empfindung desselben gehabt hat. Sie verlieren Aerzte von der Epilepsie und den Folgen derselben 

alle jene Erinnerung an das, was während der An- auf die Kranken machen. Auch die somatischen 

fälle mit ihnen vorgefallen ist; ja, nach heftigen An- Erscheinungen, die sich nach den eigentümlichen 

fällen verschwindet nicht selten das ganze Gedacht- Anfällen, welche er erlitt, einstellten, wie z. B. diese 

niss. In anfallsfrcicn Zeiten weisen die Epileptiker Art von Frostanfällen, welche ihn zu der Bitte, ihn 

oft entweder eine gesteigerte oder eine herabgesetzte zuzudecken, nötigten, berechtigen doch augen- 

Gemüthsreizbarkeit auf. Als die gewöhnlichste, fast scheinlich durchaus nicht zu der zuerst von byzanti- 

ausnahmslos eintretende Folge dieser Krankheit wird nischen Schriftstellern, wie z. B. Theophones Con- 

immer angegeben, dass die Gesichtszüge solcher fessor*) u. A. in die Welt lanzirte und durch spätere 

Kranken gröber werden, dass die Epileptiker ganz Schriften zu Missionszwecken**) verbreitete Ansicht, 

habituell in ihrem Blicke etwas Unsicheres bekommen, dass Mohammed Epileptiker gewesen sei. 

dass bei ihnen die sittliche und geistige Energie lang- Und falls es mir gestattet ist, hier am Schlüsse 

sam, aber fortschreitend aufhört, dass die körperlichen eine kurz zusammengefasste Antwort auf die Frage: 

Kräfte successive schwinden und dass sie im Anfall War Mohammed Epileptiker? zu geben, so würde 

endlich ihr Leben aushauchen. dieselbe dahin lauten: Zweifellos weist uns die, von 

_ den Traditionisten und Biographen überlieferte Lebens¬ 
beschreibung Mohammed’s Erscheinungen auf, weiche 

Wenn wir nun jetzt das uns über Mohammed einzeln betrachtet, bei gewöhnlichen normalen Durch - 

Ueberlieferte in einen Rahmen zusammengefasst be- schnittsmenschen nicht vorzukommen pflegen; als 

trachten und dasselbe mit dem Krankheitsbilde der Ganzes aber lassen sich dieselben in den Rahmen 

Epilepsie vergleichen, so finden wir, dass beide Bilder des Krankheitsbildes der Epilepsie nicht zusammen¬ 
sich gar nicht decken. Wir finden zwar, dass das fügen und folglich sind wir nicht berechtigt den Mann 

Leben Mohammed’s Momente aufweist, wie das für einen Epileptiker zu erklären. 

Glöckcliengeklinge, das Hören von Stimmen und das *) B buhte zwischen 750 und 8!7 in Byzanz. 

Sehen von Gestalten und andere Dinge, und den **) Wie Mühleisen Arnold, Dr. Gorman u. a. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. .34 


Leopold 

m 20. September 1002 verstarb im Hamburger 
Krankenhaus zu Eppendorf Leopold Kaplan 
im jugendlichen Alter von 30 Jahren, tief betrauert 
von allen, die ihm im Leben nahe gestanden haben. 
Ein liebenswürdiger Mensch, ein warmherziger Arzt, 
ein strebsamer Jünger der medicinisehen und spceiell 
der psychiatrischen Wissenschaft, ist mit ihm ins Grab 
gegangen. 

Geboren zu St »rau N.-L. am 23. Octobcr 1S71 
bestand er im Alter von 24 Jahren das Staatsexamen 
in Erlangen. Nach ^jähriger Thätigkeit an der 
Nervenpoliklinik des Herrn Professor Dr. Mendel 
trat er am 9. September 1893 als Volontärarzt an 
der Irrenanstalt Herzberge ein und rückte dort all¬ 
mählich zum 1. Assistenzarzt auf. Anfang dieses 
Jahres fing er an zu kränkeln; er schien sich erholt 
zu haben, doch auf einem S<munerurlaub erkrankte 
er von neuem, um an einer schnell sich entwickeln¬ 
den acuten Miliartuberkulose zu Grunde zu gehen. 

In der Anstalt Herzberge hatte Kaplan eine 
Thätigkeit gefunden, welche seinen Neigungen und 
Bestrebungen entsprach. Neben der ärztlichen Thä¬ 
tigkeit hatte er hier Gelegenheit wissenschaftlich zu 
arbeiten und seine Kenntnisse auf den verschieden¬ 
sten Gebieten, insbesondere auch in der Chemie, 
und die ihm angeborene technische Gcwandheit zu 
verwerthen. In der That bewies er in seinen klini¬ 
schen Arbeiten eine scharfe Beobachtungsgabe und 
ein kritisches Urtheil, während er auf mikroskopischem 
Gebiete speciell eine innige Vertrautheit mit der ge¬ 
summten Färbetechnik zeigte. Diese Beschäftigung 
führte ihn dazu neue Färbemethoden anzugeben und 
sich an der Construction eines neuen Mikrotoms zu 
betheiligen. Auch den practischcn Fragen der Irren - 
pflcge trat er näher. Er interessirte sich für die 
Ausbildung des Wartepersonals und unterstützte seinen 
von ihm sehr verehrten Chef, Herrn Geheimrath Pro¬ 
fessor Dr. Modi beim Unterricht des Personals. 

Endlich sei noch erwähnt, dass er dieser Wochen¬ 
schrift seit Jahren ein treuer Mitarbeiter war, indem 


M i t t h e i 

— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 10. November 
1002. Vor der Tagesordnung widmet der Vorsitzende 
Herr Jollv dem verstorbenen Ehrenmilglicde der 
Gesellschaft R u d o 1 ph V i r c h o w, s< »wie den versh>r- 
benen Mitgliedern W ul ff e r t und K a p 1 a n, einen 
warmempfundenen Nachruf. 

Tagesordnung: 

1. Herr S. Kalischer.. Vorstellung eines 14j.. 


Kaplan. 

er die Berichte über die Sitzungen des Berliner psy¬ 
chiatrischen Vereins regelmässig erstattete. 

Die von Kaplan publicirten Arbeiten sind fol¬ 
gende: ,,L T eber functionelle psychische Erscheinungen 
bei einem Falle von Hirntumor. Psych. Verein am 
26. VI. 07.“ — Lebet Trauma und Paralyse. Eben¬ 
da am 18. XII. 97. — Kopftrauma und Psychosen. 
Ebenda am 18. III. 99. — Juliusburger und K. : 
Anatomischer Befund bei einseitiger Oculomotorius¬ 
lähmung im Verlaufe von progressiver Paralyse. (Neu¬ 
rologisches Centralblatt 1800.) — K. und Finkeiburg: 
Beiträge zur Kenntniss des sogenannten ventralen 
Abducenzkerns. (Arcli. für Psych. und Nerv. 1900.) 
— K. und Meyer: 2 Fälle organischer Psychosen 
auf Grundlage von hereditärer Lues. Psych. Verein 
i(). XII. 90. — Mönkemöllcr und K.: Eine neue 
Methode der Fixirung von Fussspuren zum Studium 
des Ganges. Ebenda. — K. und Finkeiburg: Ana¬ 
tomischer Befund bei traumatischer Psychose mit 
Bulhärerschcinungen. (Zugleich Beitrag zur Kennt¬ 
niss des hinteren Längsbündels.) Monatsschrift für 
Psvch. und Neurol. 1900. — Axencylinderfärbung. 
Neurologisches Centralblatt 1901. — Methoden zur 
Färbung des Nervensystems-: I. Neuiokeratinfärbung. 
II. Axencylinderfärbung. Vortrag auf der Jahresver¬ 
sammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte in 
Berlin am 22. und 23. April 1901. Ebenda. — 
Nci venfärbung (Neurokeratin, Markscheide, Axen- 
cylinder). Ein Beitrag zur Kenntniss des Nerven¬ 
systems. Arcli. f. Psych. und Ncrvenk. 1901. — 
Der Unterricht des Pflegepersonals. — Die Kranken¬ 
pflege 01 02/9 

Nach so fruchtbarer Thätigkeit war man berech¬ 
tigt mehr als gewöhnliche Erwartungen an die Per¬ 
sönlichkeit Kaplans zu knüpfen. Anders hat es das 
Schicksal gefügt. Dem arbeitsfreudigen Manne war 
eine frühe Ruhe bcschiedcn. 

Möge ihm die Erde leicht sein! 

*) Die Vollständigkeit der Liste ist nicht absolut sicher. 


1 u n g e n. 

seit der Kindheit an einer eigenthümlichen Gangstörung 
leidenden Mädchens. Der Gang ist schwerfällig, 
watschelnd und hat sich in den letzten Jahren ver¬ 
schlimmert. Vor 1 Jahre zweimal tetanischc Krämpfe 
in den Annen, jetzt hin und wieder Krampf beim 
Sc hreiben. Es besteht Schwäche der Lendcnmuskeln 
und Hüftbeugcr, fast völliges Fehlen der Patellarreflexe, 
von Tetaniesymptomen Faeialisphänomen, gesteigerte 
mechanische und elektrische Erregbarkeit, Trous- 



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iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 375 


se au’sch es Phänomen. Die Tetanie war demnach 
bis vor kurzem latent, hatte aber schon vorher die 
erwähnte Muskelschwäche und Gehstörung erzeugt. 
Vortr. verweist auf verwandte frühere Beobachtungen 
J. Hoffmann’s und geht weiter auf die bei Tetanie 
beobachteten Muskelstörungen ein; Vortr. hat Tetanie 
bei Kindern in Berlin aus dein Material der Naumann- 
schen Poliklinik relativ oft beobachten können, während 
sie bei Erwachsenen daselbst recht selten ist. Jenseits 
des Alters von 4 Jahren sah er Tetanie fast nie, und 
die Annahme, dass die Tetanie der Säuglinge in das 
spätere Alter hinein chronisch-recidivirenden Character 
gewinnt, muss sehr zweifelhaft angesehen werden. 
Den Begriff der symptomatischen Tetanie möchte 
Vortr. eingeschränkt wissen, es handelt sich hier meist 
um zufällige Complicationen oder symptomatologisch 
ähnliche Krampfzustände, für deren Beurtheilung das 
elektrische Verhalten massgebend bleiben muss. Meist 
ist die Tetanie der Ausdruck einer infectiösen bezw. 
toxischen Allgeincinerkrankung. 

Discussion: Herr Jap ha ergänzt die Mittheil¬ 
ungen des Vortr. über das Vorkommen und die Häufig¬ 
keit der Tetanie und verweist besonders auf den Einfluss 
der Ernährung auf ihr Zustandekommen. 

Herr T. Cohn fragt nach Aenderungon des 
Zuckungsablaufes und der Zuckungsformel und ver¬ 
weist auf die Untersuchungen Man lös. 

Herr Kali scher bemerkt, dass er Manns Be¬ 
obachtungen mit bestätigen konnte. 

2. Herr Bernhardt stellt einen 39J, vor 23 J. 
schon einmal demonstrirten Kranken (Berl. klin. 
Wochenschr. 1880 No. 23) vor, der im 13. Jahre 
nach Masern und einer Darmerkrankung eine links¬ 
seitige Hemiplexie bekam. Mit Wiederkehr der will¬ 
kürlichen Beweglichkeit, die jetzt als normal kräftig 
und ausgiebig bezeichnet werden kann, Auftreten von 
rythmischen Zuckungen im linken Arm, die nur im 
Schlaf verschwänden, bei intendirten Bewegungen sehr 
störend wärken und nur selten Ruhepausen machen. 
Im übrigen völlig normaler Befund. Linker Vorder¬ 
arm etwas voluminöser als rechter. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren 
Schuster, Rothmann, Oppenheim, Remak, Jollv und 
der Vortr. 

3. Herr Jacobsohn (für Herrn Dr. Taniguchi) de- 
monstrirt mikroskopische Präparate von dem Gehirn 
einer 14]. Japanerin, die an Distomum pulmonale 
gelitten hat. Klinisch bestanden während des 2 l ; A J. 
dauernden Leidens Jackson’sche Anfälle links, Kopf¬ 
schmerzen, Schwindel, Ohrensausen links, allmählich 
zunehmende linksseitige Hemiparese mit erst chorei¬ 
formen, dann athetotischen Bewegungsstörungen 
der Extremitäten, Reflexe links gesteigert. Bei 
der Obduction fanden sich in der rechten Hemi¬ 
sphäre des Gehirns massenhaft Cysten an den ver¬ 
schiedensten Stellen des Hirns, meist im Marklager 
gelegen. Vortr. demonstrirt die Einzelheiten der 
Structur dieser cystischen Bildungen, die er für durch 
embolischc Processe thrombosirte und dann entzündlich 
veränderte Gefässe hält; in ihnen sind massenhaft 
Parasiteneier nachweisbar. Elastische Fasern waren 
nicht mit Sicherheit nachweisbar. Vortr. hält die Mög¬ 


lichkeit, dass es sich um parasitäre Bildungen handelt, 
da Vergleichsobjekte in der Litteratur nicht vor¬ 
liegen, nicht für amgeschlossen. 

Discussion: Herr Oppenheim neigt mehr 
der letzterwähnten Möglichkeit zu, zumal er ähnliche 
Beobachtungen bei Cysticerken gemacht hat. 

Herr Henneberg hat ähnliche Bilder bei alten 
Abscessen gesehen und fragt, ob elastische Fasern 
nachgewiesen worden sind. 

Herr Jacobsohn hält den Vorrednern gegen¬ 
über an seiner Ansicht fest, da er ähnliche Gefäss- 
veränderungen bei Ziegler gesellen hat und da in 
anderen anatomisch untersuchten Fällen mit Aus¬ 
nahme eines einzigen Falles stets nur Eier, nie der 
Parasit selbst, gefunden wurden. Elastische Fasern 
konnten mit Sicherheit nicht nachgewiesen werden. 

Dr. Martin Bloch (Berlin). 

— Aus Ostpreussen. (Schluss.) 

Unter den Motiven der diesbezüglichen Vorlage 
war übrigens betont, dass durch diese Neueinrichtung 
sowohl den Wünschen des Vorstandes von Carlshof 
entsprochen werde, weil trotz aller Bemühungen cs 
nicht ausbleibe, dass leicht erregbare Pfleglinge unter* 
einander, um ihres Bekenntnisses wällen, in Reibungen 
gerathen, (hauptsächlich wohl eine Folge des spezifisch 
kirchlichen Geistes, welcher in Cailshof herrscht), als 
den Wünschen der Provinzialverwaltung resp. dem 
Platzmangel und dem neuerdings wieder hervorgetre¬ 
tenen Bedürfniss nach Vermehrung der Provinzial- 
pflegestcllen entgegengckoinmen w T erdc. Die zuletzt 
i. J. 1900, laut Beschluss des Provinziallandtages, auf 
500 vermehrten Pflegestellen zu Carlshof (auch in der 
Idiotenanstalt Rastenburg sind die Provinzialstellen 
um 100, von 270 auf 370, vermehrt w’orden) genügen 
nicht mehr, um die aus dem Gesetz vom 11. Juli 
1891 bestehende Verpflichtung zur Gewährung von 
Anstaltspflege zu ei füllen. Die Zahl der hülfsbe- 
dürftigen und der Anstaltspflege bedürftigen Epilep¬ 
tiker ist noch stetig im Zunehmen begriffen, so dass 
wiederum über 20 Epileptiker wegen Raummangels 
als Anwärter auf frei werdende Stellen haben vorge¬ 
merkt werden müssen. Unter diesen Umständen ist 
auch der Antrag des Provinzialausschusses, die Pro¬ 
vinzialstellen um weitere 20, also auf insgesammt 
520 Stellen zu vermehren, genehmigt worden. Bei 
dieser ausserordentlich hohen Zahl von Provinzial¬ 
pfleglingen in Carlshof, (wozu noch die in der nahe 
gelegenen Idiotenanstalt untergebrachten ca. 300 Pro¬ 
vinzialpfleglinge kommen), wird wohl die Provinz die 
Uebernahme dieser Anstalten in eigene Verwaltung 
nicht umgehen können. Der Ausweg, den eine andere 
Provinz bei einer ähnlichen Anstalt ergriffen, indem 
sie einen ihrer Anstaltsärzte zum Oberarzt derselben 
bestellte, um die Gewähr einer auf der Höhe der 
Zeit stehenden Behandlung ihrer Pfleglinge zu haben, 
ist gänzlich verfehlt und liegt weder im Interesse 
der Provinzialverwaltung, noch der Provinzial-Irren- 
ärzte, sondern nur im Interesse der kirchlichen Privat¬ 
anstalten. Letzteren ist natürlich ein beamteter Arzt 
sicherer als ein Privatarzt. Ja es könnten die 
kirchlichen Anstalten durch Versetzung eines Pro¬ 
vinzialarztes an dieselben in den Augen des Publikums 


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376 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34 


den Eindruck einer Normalanstalt d. h. einer unter 
Verwaltung und Leitung eines Facharztes stehenden 
Anstalt erwecken; einer s< >lchcn staatlichen Anstalt 
sind sie natürlich in keiner Beziehung ebenbürtig. 
Die Provinzialärzte aber, welche an eine solche Anstalt 
versetzt werden, gerathen in eine unerquickliche Zwitter¬ 
stellung und in ein Doppclbeamtcnthuin, das man ihnen 
unmöglich zumuthen kann. — Als Arzt der Worm- 
ditter Epileptikeranstalt ist ein praktischer ArztderStadt 
ausersehen, welcher sich den „erforderlichen Befähi¬ 
gungsnachweis“ durch einen vierteljährigen Studien¬ 
aufenthalt in der Irrenanstalt Kortau erworben hat. 
Eine solche vierteljährige *) Vorbildung wird also für 
genügend erachtet, um einen Psychiater herzustellcn, 
der die ärztliche Leitung einer Epileptikeranstalt 
übernehmen kann. 

Die mit der Epileptikeranstalt Carlshof resp. mit 
der daselbst befindlichen Arbeiterkolonie verbundene 
Trinkerheilanstalt, welche im Jahre 1889 von 
dem Verein zur Begründung einer Trinkerheilanstalt 
in Ostpreussen daselbst, auf Grund eines Abkommens 
mit dem Vorstand, mit 10 Plätzen begründet wurde, 
soll nun auch wesentlich erweitert werden. Es haben 
in den Jahren 1890 — 09 zusammen 54 Personen 
Aufnahme gefunden, welche nach dem Bericht des 
Vorstandes grösstentheils geheilt oder gebessert ihren 
Familien zurückgegeben werden konnten. Für ihr 
Fortkommen und für den Nachweis geeigneter Stellen 
wurde, wo es noth that, nach Möglichkeit gesorgt. 
Doch war die Benutzung der Anstalt bis 1899 eine 
verhältnissmässig geringe. Die Einführung des bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs zeigte sehr bald ihre Wirkung in 
vermehrter Anmeldung von Trinkern, namentlich auch 
von entmündigten. So wurden i. J. i<>oo bereits 13 
und im Jahre 1901 18 Männer (aus einer Mittel¬ 

stadt allein 6) der Trinkerheilanstalt überwiesen. 
Diesem vermehrten Andrange genügten die bisher 
miethsweise von der Anstalt Carlshof beschafften 
Räume nicht mehr, und es ergab sich hieraus die 
Nothw'endigkeit, ein eigenes Gebäude für die Trinker 
zu errichten. Dasselbe soll 40 Plätze enthalten und 
sofort in Angriff genommen werden. Die Baukosten 
(rund 32000 M.) werden zum grossen Theil durch 
Sammlungen und durch die bereits bewilligte Kirchen¬ 
kollekte gedeckt werden. Den Fehlbetrag hofft die 
Vereinsleitung durch Mitgliederbeiträge und weitere 
Kollekten nach und nach zu decken, weshalb sich 
der Verein, an dessen Spitze der Landeshauptmann 
steht, an die öffentliche Mildthätigkeit wendet. Be¬ 
merkenswerth ist, dass die erste und noth wendigste 
Bedingung für eine erfolgreiche Trinkerbehandlung, 
die Alkoholabstinenz an Haupt und Gliedern, in der 
Anstalt Carlshof fehlt. — 

Während in Ostpreussen die Gründung eines 
Hilfsvereins für Geisteskranke, wie in manchen andern 
Landcstheilen Deutschlands, bei der mangelnden 
Initiative der Directorcn noch immer ein frommer 

*) Meines Wissens ist Herr Dr. Hankein mit der ärztlichen 
Leitung in Wormditt betraut. Derselbe war 1895 96 ein Jahr 
und 1901 wiederum ca. ein halbes Jahr in Uchtspringe als Arzt 
thätig und ist daher besonders in der Behandlung der Epilep¬ 
tiker ausgebildet. Alt. 


Wunsch ist, dessen baldige Erfüllung im Interesse 
des gesammten Irrenwesens dringend noth thut, ist 
in Königsberg in Folge eines Vortrags des Herrn 
Dr. Hallervorden im Handwerkerverein über Hilfs¬ 
schulen (Königsberg besitzt bereits 2 Hilfsschulen, 
eine 3. soll demnächst errichtet werden) ein Ver¬ 
ein zur Fürsorge für Schwachsinnige im 
Januar d. J. gegründet worden, welcher zunächst be¬ 
sonders die aus den Hilfsschulen entlassenen Schwach¬ 
sinnigen im Auge hat. Es ist dies der erste der¬ 
artige Verein in Deutschland, dem hoffentlich bald 
andere folgen werden. Aus den Statuten sei hervor¬ 
gehoben : 

§ 1. Zweck des Vereins ist, im Anschluss an die 
Thätigkeit der Hilfsschule für die Schwachsinnigen jede 
mögliche geistige und leibliche Fürsorge zu treffen: 

zunächst für die aus der Hilfsschule entlassenen, 

sodann aber für die noch schulpflichtigen Zög¬ 
linge, 

und endlich für sonstige Schwachsinnige, nament¬ 
lich jugendlichen Alters. 

Damit verbindet sich der fernere Zweck, über den 
Werth und die Bedeutung der Hilfsschulen Aufklä¬ 
rung zu verbreiten und die ihr im Publikum ent¬ 
gegenstehenden Vorurtheile zu bekämpfen. 

§ 2. Die Fürsorge für die schulentlassenen Kna¬ 
ben und Mädchen der Hilfsschule hat u. A. zu be¬ 
stehen: 

a) in der Ausbildung der Kinder zu einem prak¬ 
tischen Beruf, wozu wiithscluiftlich tüchtige, sittlich 
einwandfreie Lehrmeister, Dienstherrschaften, Pfleger 
aufgesucht werden, 

b) in der fortgesetzten Erziehung und Ueberwach- 
ung der Kinder, 

c) in der Gewährung von Beistand in Nothlagen, 
sowie in der Gewährung von Schutz gegen die Ge¬ 
fahren der krankhaften Veranlagung und gegen die 
des öffentlichen Lebens (Verwahrlosung, akute Seelen¬ 
störungen, Alkoholismus, Prostitution, Ausbeutung, 
Conflictc mit Behörden), 

d) in der Unterbringung der dessen bedürftigen 
Kinder in passende Pflegestellen, je nach der Lage 
des Falls, Privat- oder Anstaltspflege. 

§ 3. Die Fürsorge für die noch schulpflichtigen 
Schwachsinnigen soll u. A. bestehen: 

a) in der möglichst frühen Ueberw-eisung an die 
Hilfsschule, 

b) in der Ermöglichung einer besseren Pflege der 
Zöglinge zur Unterstützung der Schulzwecke, beson¬ 
ders in der Einrichtung eines Kinderheims (Tages¬ 
aufenthalt mit Beköstigung) und einer Ferienpflege. 

§ 4. Als Organ der Fürsorge werden vom Ver¬ 
ein Fürsorger und Fürsorgerinnen bestellt, welche den 
Pflegling überwachen und die Umgebung desselben, 
Eltern, Pfleger, Prinzipale u. s. w\ zu belehren haben. 

Vorsitzender des aus 16 Personen bestehenden 
Vorstandes ist Dr. Hallervorden, ausserdem sind der 
Schularzt der Hilfsschulen und der Unterzeichnete, 
sowie der Stadtschulrath und die meisten Lehrer und 
Lehrerinnen der Hilfsschulen Mitglieder des Vor¬ 
standes. Hoppe. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. 13resler, Kraschmtz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerci (Gebr. Woiff) in Halle a S. 

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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzbiatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herautgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Quttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultse, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 35, ~ 29. November. _ 1902, 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Bu< hhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzcile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermassigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Sachverständige in Entmündigungssachen (S. 377). —Zur forensischen Psychiatrie (S. 379). — Entgegnung 
auf die Ein wände des Herrn Professor Mendel. Von Dr. Weygandt-Würzburg (S. 380). — Mittheilungen (S. 383). — 
Bibliographie (S. 389). — Referate (S. 391). 


Sachverständige in Entmündigungssachen. 


| rosses Aufsehen in der (Öffentlichkeit, namentlich 
in den Kreisen der Irrenärzte, hat eine all¬ 
gemeine Verfügung des preussischen Justiz- 
ininisters vom I. Oktober 1902 (J. M. Bl. S. 246) 
gemacht, die folgenden Wortlaut hat: 

„Der § 14 der Allgemeinen Verfügung vom 
28. November 189t) (J. M. B. 388) erhält fol¬ 
gende Fassung: 

2. als Sachverständiger ist gemäss $ 653 
Abs. 2 in Verbindung mit § 404 Abs. 2 der 
Civilprocessordnung regelmässig der Gerichtsarzt 
(§ () des Gesetzes, betreffend die Dienststellung 
des Kreisarztes vom 16. September 1899 — 
Gcsetz-Samml. S. 172 —), als der für medici- 
nische Angelegenheiten öffentlich bestellte Sach¬ 
verständige, erforderlichenfalls sein Assistent 
(>? 5 des angeführten Gesetzes), zuzuziehen. 
Andere Personen sollen nach dem angeführten 

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$ 404 Abs. 2 als Sachverständige nur dann 
gewählt werden, wenn besondere Umstände es 
erfordern.“ 

Diese Verfügung ist vielfach dahin aufgefasst worden, 
dass die Irrenärzte als Sachverständige in Entmün¬ 
digungssachen ausgeschaltct werden sollen und dass 
der Justizminister den Gerichten nach dieser Richtung 
hin eine bindende Anweisung erthcilt habe. Dass 
letzteres nicht beabsichtigt sein kann, liegt für jeden 
Juristen auf der Hand. Denn nach § 1 des Rcichs- 
Gcrichtsvcrfassungsgesetzes wird die richterliche Gewalt 
durch unabhängige, nur demGesetzeunterworfenc 
Gerichte ausgeübt. Für den Richter sind also bei 
der Rechtsprechung — und dazu gehören auch die 
Entscheidungen in Entmündigungssachen — Anweis¬ 
ungen höherer Behörden nicht bindend, er ist nur 
durch das Gesetz beschränkt. Die Allgemeine Ver¬ 
fügung des Justizministers kann hiernach nicht den 

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3/8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35. 


Zweck gehabt haben, den Entmündigungsrichter durch 
Verwaltungsvorschriften irgendwie zu binden. Dass 
dies thatsächlich auch nicht beabsichtigt ist, lehrt ein 
Blick auf die durch die neuere Verfügung abgeänderte 
allgemeine Verfügung vom 28. November 1899. 
Dort heisst es am Anfänge des § 14: „Bei den Er¬ 
mittelungen in Entmündigungssachen wird den Amts¬ 
gerichten die Beachtung nachstehender Punkte em¬ 
pfohlen“. Es folgen nun 5 Punkte, darunter No. 2: 
„Die Wahl der Sachverständigen ist in erster Linie 
auf solche Personen zu richten, welche auf dem Gebiete 
der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Erfahrung 
besitzen. Sind solche Personen nicht zu erreichen, 
so ist die Wahl, wenn möglich, auf einen Kieis- 
physikus (Kreisarzt) oder wenigstens auf einen zu 
diesem Amte geprüften Arzt zu richten.“ 

Diese Gesichtspunkte werden den Amtsgerichten 
nur empfohlen. Hiernach enthält auch die neue 
Verfügung keine unbedingt bindende Anweisung. 

Es wirkt auf den ersten Blick befremdend, dass der 
Justizminister die alte Verfügung durch eine andere 
ersetzt hat, die die Kreisärzte als die in erster Linie 
in Betracht kommenden Sachverständigen bezeichnet. 
Er beruft dies darauf, dass am 1. April 1901 das Kreis¬ 
arztgesetz in Kraft getreten ist und dass durch dieses 
Gesetz die Kreisärzte als Gerichtsärzte ihres Amtsbezirks 
bestellt sind. Dadurch sind die Kreisärzte für alle 
medicinisehen Angelegenheiten als Sachverständige 
„öffentlich bestellt“, und müssen deshalb nach § 404 
Abs. 2 der Civilprocessordnung von den Gerichten 
in erster Linie berücksichtigt werden. Andere Per¬ 
sonen dürfen als mcdicinische Sachverständige nur 
dann gewählt werden, wenn besondere Umstände 
es erfordern. Die allgemeine Verfügung vom 1. 
Oktober IQ02 sagt also nichts anderes, als durch das 
den Richter unbedingt bindende Gesetz bereits an¬ 
geordnet ist. 

Dies ist die formelle Seite der Sache. Wie steht 
es nun mit der Ausführung des Gesetzes ? Sind die 
Irrenärzte wirklich ausgeschaltet? Ich glaube, nein! 

Es ist gewiss eine wichtige und verantwortungs¬ 
volle Thätigkcit, über Entmündigungsanträge zu ent¬ 
scheiden. In den allermeisten Fällen ist die Sachlage 
aber so einfach, dass es eines grossen und kostspieligen 
Apparates nicht bedarf, ja dass vielleicht die Ver¬ 
nehmung eines Sachverständigen überhaupt entbehrt 
werden könnte. Wenn nun die Civilprocessordnung 
(§ 055) anordnet, dass das Gericht stets einen oder 
mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des 
zu Entmündigenden zu hören hat, so kann sic nicht 
bezweckt haben, den Richter zu veranlassen, regel¬ 


mässig Special-Irrenärzte zu vernehmen. Dies würde 
unausführbar sein und die Irrenärzte übermässig be¬ 
lasten. Die Vernehmung anderer Aerztc genügt in 
den meisten Fällen. Dadurch nun, dass der zuständige 
Kreisarzt regelmässig zu hören ist, wird diesem Ge¬ 
legenheit geboten, sich in der Irrenheilkunde fortzu¬ 
bilden, und dadurch wird er auch zur Erstattung von 
Gutachten in schwierigeren Fällen befähigt. Die Special- 
Irrenärzte sind aber keineswegs ausgeschaltet. Hier¬ 
gegen sprechen zwei Bestimmungen des Gesetzes. 
Zuerst der § 404 Absatz 2 der Civilprocessordnung, 
wonach solche Aerzte gewählt werden können, wenn 
besondere Umstände es erfordern, und dann 
der § 655 a. a, O., wonach einer oder mehrere 
Sachverständige zu hören sind. Besondere Um¬ 
stände im Sinne des § 404 liegen z. B. vor, wenn 
der Kreisarzt im einzelnen Falle dem Richter nicht 
geeignet erscheint. Mehrere Sachverständige sind 
in allen nicht ganz einfachen Fällen zu hören ; und 
da in der Regel nur ein Kreisarzt in Frage kommt, 
so wird der zweite und folgende Sachverständige 
naturgemäss ein Special-Irrenarzt sein müssen. Das 
Gesetz ist also dehnbar genug, und bietet dem Ent¬ 
mündigungsrichter alle Handhabe, um die Irrenheil¬ 
kunde zu der ihr gebührenden Geltung zu bringen. 

Das Gesagte gilt zunächst nur für das Verfahren 
vor den Amtsgerichten. Hat ein Amtsgericht, ohne 
die psychiatrische Wissenschaft zu ihrem Recht ge¬ 
langen zu lassen, entschieden, so wird das Versäumte 
stets in dem Verfahren vor dem Land- und Ober¬ 
landesgerichte nachgeholt werden können. Wenn 
auch für diese Gerichte dieselben Vorschriften wie 
für die Amtsgerichte gelten, namentlich auch die Be¬ 
stimmungen über den Sachverständigenbeweis, so be¬ 
steht dort doch erfahrungsgemäß die Neigung, neben 
den vom Amtsgericht vernommenen Sachverständigen 
auch andere zu vernehmen, und diese anderen können 
regelmässig nur Männer der psychiatrischen Wissen¬ 
schaft sein. 

Ich glaube also, die Allgemeine Verfügung vom 
1. Oktober 1002 giebt ebenso wenig wie die gesetz¬ 
lichen Bestimmungen zu Besorgnissen Anlass. Es 
kommt alles darauf an, dass die Gerichte die be¬ 
stellenden Vorschriften verständig handhaben und dass 
sie namentlich stets die Bedeutung der Ii renheilkunde 
und ihre Special-Vertreter im Auge haben. Dass 
diese Bedeutung in Richter- und anderen Laienkreisen 
mehr und mehr erkannt wird, ist eine der schönsten 
Aufgaben dieser Wochenschrift. 

Landrichter Dr. Buethke in Berlin. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 379 


Zur forensischen Psychiatrie. 


Sehr geehrter Herr Redacteur! 

Tn Nr. 29 dieser Wochenschrift streifte in einem 
* Artikel: „Ueber die Berechtigung der forensischen 
Psychiatrie“ Herr Dr. Wevgandt die Frage, ob die 
Irrenarzte bei der Beantwortung der Fragen des § 51 
des D. Str. G. B. auch die nach dem Ausschluss der 
freien Willensbestimmung beantworten sollen. 

Ich habe durchaus nicht die Absicht, die so viel¬ 
fach discutirte Controverse von Neuem hier wieder 
aufzurollen, und sehe mich nur deswegen veranlasst, 
das Wort zu ergreifen, weil Herr Wevgandt eine 
Reihe von Behauptungen aufstellt, welche den histo¬ 
rischen Thatsaschen wie der augenblicklichen Lage 
der Frage nicht entsprechen. 

1. Herr Wevgandt irrt, wenn er meint, dass 
die Ansicht, wonach der Irrenarzt sich nur über die 
erste Hälfte des $ 51 auszusprechen habe, ursprüng¬ 
lich von mir vertreten sei. Hatte er meinen Aufsatz, 
welchen er citirt, gelesen, dann würde er gefunden 
haben, dass ich darauf aufmerksam machte, dass die 
wissenschaftliche Deputation des Preuss. Ministeriums 
für geistliche u. s. w. Angelegenheiten in gleichem 
Sinne wie ich ohne dass ich vorgegangen war im Jahre 
1886 einGutachtenWestphals aus dem Jahre 1883 citirte. 
Hatte er dieses dann nachgelesen, zur Begründung 
dieser Behauptung, so würde ihm die Stelle im West- 
phaIschen Gutachten nicht entgangen sein, an welcher 
es heisst: „Denn cs unterliegt, wie das General-Audi- 
toriat ganz übereinstimmend mit uns bemerkt, die 
Fra^c, ob eine saehverständigerseits anerkannte krank¬ 
hafte Störung der Gcistesthätigkeit, in dem Momente 
der Thatbcgehung in so hohem Grade existent ge¬ 
wesen sei, dass durch dieselbe die freie Willensbe¬ 
stimmung des T haters ausgeschlossen würde, als 
Thatfrage lediglich der freien Beurtheilung des Spruch- 
gerichts.“ 

Herr Wevgandt wird mir demnach zugeben 
müssen, dass er mir mit ITnrecht die Khre vindiiirl hat, 
der Urheber der von ihm perhorreseirten Anschauung 
zu sein. 

2. Herr Wevgandt irrt, wenn er meint, dass im 
Gegensatz zu mir Herr Jolly der Ansicht ist, „dass 
der" 1 Arzt moralisch verpflichtet ist, mit allen Mitteln 
zur Urtheilsbildimg mitzuwirken, mithin auch die 
Fragt' nach der freien Wi 11 e n s b e st i m m u n g 
zu beantworten hat. 

Würde Herr Wevgandt die Vierteljahrsschrift für 
gerichtliche Mcdicin lesen, so würde er sich längst 
überzeugt haben, dass Herr Jolly als Referent der 
wissenschaftlichen Deputation ebesowenig wie ich, die 
Frage nach der freien Willensbestimmung beantwortet, 
( cf.%. B. Obergutachten in Viertelj. f. ger. Mcdicin 
i8()0, p. 1) und mit den hinzugefügten Werten „im 
Sinne des § 51“ nur einen gewissen erheblichen 
Grad der krankhaften Störung der Gcistesthätigkeit 
bezeichnet, da wohl nach der übereinstimmenden 
Ansicht Aller nicht jede krankhafte Störung der Gei- 
stesthätigkeit straflrci macht. 


3. Herr Weygandt irrt, wenn er meint, dass auf 
civilrechtlichem Gebiet die Sache völlig klar wäre, dass 
die Entscheidung, ob „Geisteskrankheit“ oder „Geistes¬ 
schwäche“, wesentlich dem Arzte zufiele. Wenn 
Herr Weygandt die Entscheidung des Reichsgerichts 
vom 13. Februar 1902 lesen wird, dürfte er doch 
Bedenken haben, ob seine Ansicht „so gut wie all¬ 
gemein zugestanden“ sei. Denn das Reichsgericht 
sagt: „diese Entscheidung (ob Geisteskrankheit oder 
Geistesschwäche) ist daher, mangels hierüber fest¬ 
stehender medicinischer Begriffe, keine psychiatrische, 
sondern eine überwiegend ^tatsächliche, weiche der 
Richter trifft, und die nur zum Theil auf dem ärzt¬ 
lichen Gutachten, das den Stoff zu seinen Schlüssen 
liefert, beruht.“ 

Herr Wevgandt dürfte sich in seiner forensischen 
Thätigkeit aber bald überzeugen, dass die Autorität 
des Reichsgerichts für den berufenen Richter grösser 
ist als die Ansicht des Sachverständigen. 

Herrn Wevgandt ist voll und ganz darin beizu¬ 
stimmen, dass die Psychiatric der Gesetzgebung 
gegenüber, soweit dieselbe psychiatrische Dinge be¬ 
trifft, nicht die Hände in den Schoss legen darf. Sie 
hat die Mängel der geltenden Gesetze klar zu legen 
und dafür thätig zu sein, dass bessere, angemessenere 
Bestimmungen getroffen werden. Diese Pflicht hat sie 
auch in den letzten vierzig Jahren in Deutschland nicht 
versäumt. Die Versuche aber, die bestehenden 
Gesetze im concrcten Falle in dem Sinne umzu¬ 
deuten, wie ihn der hinzugezogene Sachverständige 
will, d. h. sich in juristische Deutungen und Aus¬ 
legungen zu mischen, sind durchaus zu verwerfen. 
Wer eine grössere forensische Erfahrung hat, weiss, 
wie durch solche Versuche nicht bl»>ss das Ansehen 
des Sachverständigen, sondern auch das seiner Wissen¬ 
schaft gefährdet wird. 

ln Bezug auf den § 31 ist wohl fast ausnahms¬ 
los anerkannt, dass sein' letzter Relativsatz zum Min¬ 
desten eine sehr unglückliche Fassung hat. Statt 
dass die Psychiater sich unter sich befehden, ob die 
Frage nach der freien Willensbestimmung zu beant¬ 
worten sei oiler nicht, schiene es mir augenblicklich, 
wo eine Revision des Strafgesetzbuches in Aussicht 
genommen ist, opportuner, sich geeint an die be¬ 
treffenden Behörden mit dein Verlangen zu wenden, dass 
der Ausdruck: „die freie Willensbestimmung“ bei der 
Revision geopfert werde* Für die freie Willensbe- 
stimmung jetzt einzutreten, heisst einem von den aller- 
verschiedenstcn Seiten ausgesprochenen Wunsche nach 
Abänderung des $ 31 entgegentreten. 

Dass es ohne dieselbe, bloss mit Bewusstlosigkeit 
und Geisteskrankheit, bei der Frage über die Zurech¬ 
nungsfähigkeit geht, beweist das Beispiel von Frank¬ 
reich (seit beinahe 100 Jahren), Belgien, Norwegen, 
der Schweiz und, last not least, der Türkei. 

Mit collegialcr Hochachtung 

Ihr ergebener 

Berlin, den 23* October 1902. Mendel. 


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3 8o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35. 


Entgegnung auf die Elinwände des Herrn Professor Mendel. 

Von Dr. Weygandt-^ iirzburg. 


G egen einige Nebenpunkte meiner Ausführungen 
in Nr. 29 dieser Wochenschrift hat Herr Pro¬ 
fessor Mendel eine Reihe von Einwänden er¬ 
hoben. So sehr ich die Ehre eines Angriffs von Seiten 
eines Meisters der Forensischen Psychiatrie zu würdigen 
weiss, so kann das Motiv meiner lebhaften Hoch¬ 
achtung mir doch nicht eine Prüfung der vorgebrachten 
Gründe ersparen. Ich schicke voraus, dass ich mich 
durchaus eins mit Herrn Professor Mendel in dem 
Wunsch fühle, es möchte hier die so vielfach be¬ 
handelte Kontroverse des § 51 in all ihren Einzel¬ 
heiten nicht wieder von neuem aufleben. 

Der erste der 3 Einwände, die unter dem Leit¬ 
motiv des Irrens gegen mich erhoben worden, betrifft 
die Zweitheilung des § 51 in eine psychiatrische und 
eine juristische Aufgabe. Ich gebe zu, dass meine 
Aeusserung, ursprünglich habe Herr Professor 
Mendel diese Ansicht vertreten, missverstanden werden 
kann. Treffender hätte ich hauptsächlich gesagt. 
Dass ich jene Aeusserung indes nicht rein historisch auf¬ 
gefasst wissen wollte, ergiebt sich ja schon daraus, dass 
ich ausser auf den Aufsatz Prof. Mendels im Jahr¬ 
gang 1886 der Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin 
auch noch auf die Motive zum Strafgesetzbuch aus 
dem Jahre 1870 hingewiesen hatte. Thatsächlich 
findet sich als namhaftester Repräsentant der An¬ 
schauung, dass der Relativsatz des $ 51 nicht vom 
Arzt zu beantworten sei, an mehreren Stellen heute 
noch Herr Professor Mendel citirt, so bei Gramer, 
Gerichtliche Psychiatrie, und Aschaffenburg in 
H och es Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 

Ich bekenne mich gern schuldig, mich bei der 
angegriffenen Stelle auf mein Gedächtniss und einen 
Blick in die Ausführungen Aschaffenburgs in Hoches 
Handbuch verlassen zu haben, wo ja S. 16 die Haupt¬ 
sätze aus Mendels Vortrag vom Jahre 1886 wörtlich 
angeführt sind, statt dass ich mich erst noch in die 
ganze Polemik über diese Frage zwischen Prof. Mendel 
und Schäfer in den Bänden 42, 44, 45 und 46 der 
Vierteljahrsschrift vertieft habe; eine Unterlassungs¬ 
sünde, die vielleicht auf mildernde Umstände hoffen 
darf, da es sich ja nur um einen- nebensächlichen 
Punkt meines Aufsatzes handelte. 

Ob ich mit dem Sinn meiner Ausführungen im 
Unrecht bin, bitte ich den Leser nach Lektüre fol¬ 
gender Citate zu beantworten: 

a) Westphals „Superarbitrium der k. wissenschaft¬ 
lichen Deputation für das Medicinalwesen über den 
wegen unerlaubter Entfernung im wiederholten Rückfall 
angeklagten Musketier J. M. der 1. Comp. 1. Nass. 
Inf.-Regts. Nr. 87“ im 39. Band der Vierteijahrsschrift, 
1883, sagte: „Denn es unterliegt, wie das General- 
Auditoriat ganz übereinstimmend mit uns bemerkt, die 
Frage, ob eine sachverständigerscits anerkannte krank¬ 
hafte Störung der Geistesthätigkeit, in dem Moment 
der Thatbegehung in so hohem Grad*) existent ge¬ 
wesen sei, dass durch dieselbe die freie Willensbestim¬ 
mung des Thäters ausgeschlossen wurde, als Thatfrage 


lediglich der freien Beurtheilung des Spruchgerichts“. 
Wie der Richter den Grad einer wissenschaftlich 
nachgewiesenen krankhaften Störung der Geistesthätig¬ 
keit feststellen soll, ohne auf psychiatrisches Gebiet 
überzugreifen, sagt das Superarbitrium leider nicht. 

b) Als Antwort auf Schäfers Arbeit „Der Ge¬ 
richtsarzt und die freie Willensbestimmung, nebst einem 
Falle von Raub, ausgeführt von einer Hystero-epilep- 
tischen“, im Band 42 der Vierteljahrsschrift, 1885, 
veröffentlichte Prof. Mendel den Aufsatz „Der ärzt¬ 
liche Sachverständige und die freie Willensbestimmung 
des § 51 des Deutschen Strafgesetzbuchs (nach einem 
Vortrag im Verein der deutschen Irrenärzte in Baden- 
Baden am 17. September 1885) in der Vierteljahrs¬ 
schrift, Band 44, 1886. Darin heisst es u. a. S. 116: 
„Die freie Willensbestimmung ist kein medicinischer 
Begriff, der Arzt ist als Sachverständiger nicht in der 
Lage, über Bestehen oder Ausschluss derselben Aus¬ 
kunft zu geben !“ S. 118 : „Ich möchte aber bei dieser 
Gelegenheit noch darauf aufmerksam machen, dass 
Ausdrücke, wie „geisteskrank im Sinne des 
Gesetzes“*) oder „verminderte Zurechnungsfähig¬ 
keit“, welche in den oben erwähnten Gutachten ge¬ 
braucht worden sind, durchaus zu verwerfen 
sind“*). 

c) Am 17. Sept. 1887 hielt Jolly auf der Jahres¬ 
sitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte zu Frank¬ 
furt a. M. unter der Zustimmung von Arndt, Meschede, 
Obersteiner, Pclman und Spanier den Vortrag: „Ueber 
geminderte Zurechnungsfähigkeit“, vergl. Allgemeine 
Zeitschrift f. Psychiatrie Band 44, S. 461. Hier heisst 
es mit Bezug auf die Kontroverse Schäfer-Mendel, 
S. 462: „Ich will gleich erwähnen, dass ich in Ueber- 
einstimmung mit Schäfer durchaus der Meinung bin, 
dass der ärztliche Sachverständige, wenn er berufen 
wird, ein Gutachten über die nach § 51 des deut¬ 
schen Strafgesetzbuches zu beurtheilenden Fälle abzu¬ 
geben, das Recht und die Pflicht habe, nicht nur 
über das Vorhandensein oder Fehlen von Geistes¬ 
krankheit, sondern auch — trotz der UnZweckmässig¬ 
keit und Schiefheit des Ausdrucks — über die freie 
WillensbeStimmung des Thäters sich aus- 
zus preclien“ *). Es wird dann weiter auseinander¬ 
gesetzt, dass eine Ueberlassung des Relativsatzes an 
den Richter praktisch nicht durchführbar ist. Da nicht 
jeder beliebige Grad von geistiger Abnormität genüge, 
um eine verdiente Strafe abzuhalten, müsse also noch 
etwas anderes festgestellt und durch das ärztliche 
Gutachten für den Richter errsichtlich gemacht werden, 
das ist eine gewisse Erheblichkeit, ein ge¬ 
wisser Grad von Krankheit. Weiter heisst es: 
„In diesem Sinne wird die Frage nach dem Ausschluss 
freier Willensbcstimmung an den Arzt gerichtet und 
in diesem Sinne scheint mir kein Bedenken zu be¬ 
stehen, sie zu beantworten.“ 

d) Das von Mendel angeführte „Obergutachten 
der königl. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal- 

*) Von mir gesperrt. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 381 


wesen betreffend Zurechnungsfähigkeit einer Brand¬ 
stifterin“ (erster Referent: Jolly, zweiter Referent: 
Skrzeczka) in der Viertcljahrsschrift III, Band 
17, 1899, schlicsst mit dem Satz: „Ihr ganzer Geistes¬ 
zustand aber, durch welchen sie eben zu solchen sinn¬ 
losen impulsiven Handlungen veranlasst wurde, war, 
wie ausgeführt wurde, auch ausserhalb der Anfälle 
seit Jahren ein durchaus krankhafter, und es kann 
nach alledem keinem Zweifel unterliegen, dass die 
B. sich zur Zeit der .Begehung der Brandstiftung in 
einem Zustand krankhafter Störung der Geistesthätig- 
keit im Sinne des § 51 des Strafgesetzbuches*) 
befunden hat“. 

Ich sehe keinen Widerspruch zwischen c) und d), 
wohl aber scheint mir die jetzige Stellung der Depu¬ 
tation (d) nichts weniger als identisch mit der vom Jahr 
1883 (a) und den mehrfach citirten Ausführungen 
Prof. Mendels (b), wonach die Gradbestimmung der 
Geistesstörung als Sache des Richters, und ein Aus¬ 
druck wie „geisteskrank im Sinne des Gesetzes“ als 
durchaus verwerflich bezeichnet wurde. 

e) Zum Schluss sei noch ohne Kommentar eine 
Stelle aus Mendels „Leitfaden der Psychiatrie“ ange¬ 
führt. S. 237 heisst es: 

„Die Darlegung des psychologischen Zusammen¬ 
hangs zwischen Krankheit und Handlung giebt dem 
Richter hinreichend Material, um selbständig die Frage 
nach dem Ausschluss der freien Willensbestimmung 
zu beantworten, wie cs die Motive zum § 51 verlangen. 

„Die wissenschaftliche Deputation des Ministeriums 
der Medicinalangclegenheiten beantwortet die Frage 
nach dem Ausschluss der freien Willensbestimmung, 
welche keine ärztliche ist, principiell nicht, fügt aber, 
da der Ausdruck krankhafte Störung der Geistesthätig- 
keit zu unbestimmt ist, diesem ein „im Sinne des 
$ 51“ hinzu. Ich selbst verfahre in der gleichen 
Weise. Im Uebrigcn beantworten die meisten Sach¬ 
verständigen diese Frage, obwohl sie darin i'iberein- 
stimmen, dass die Fragestellung zu ändern resp. die 
Frage nach der freien Willensbestimmung bei einer 
Revision des Strafgesetzbuchs wegzufallen habe.“ 

Dem 3. Ein wand Herrn Professor Mendels gegen¬ 
über bemerke ich, dass es mir nicht darauf ankam, 
zu betonen, dass die Entscheidung, ob „Geisteskrank¬ 
heit“ oder „Geistesschwäche“, wesentlich dem Arzt 
zuficle. Ich habe vielmehr die Deutung der beiden 
Ausdrücke all nicht dem ärztlichen Sprachgebrauch 
(Geistesschwäche = Imbccillität, Geisteskrankheit = 
erworbener Psychose) entsprechend im Auge gehabt: 
„Dass eine rein klinische Auffassung der Begriffe 
„Geisteskrankheit“ und „Geistesschwäche“ im $ ö des 
B. G. B. völlig fehl ginge, ist so gut wie allgemein 
zugestanden“. Es ist damit dasselbe ausgesagt, was 
Herr Prof. Mendel in seinem Leitfaden S. 239 be¬ 
merkt : „Der Begriff der Geistesschwäche ist vom 
Gesetzgeber nicht definirt worden, mit dem psychia¬ 
trischen Begriff ist er nicht zu identificiren“**). 

Hier muss ich mir nun selbst einen Einwand hin- 
|i( htlich meines „so gut wie allgemein“ machen. In 
einem Aufsatz „Ueber das Verhältniss zwischen richter- 

*) Von mir gesperrt. 

**) Von mir gesperrt. 

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licher Entmündigung und polizeilicher Unschädlich¬ 
machung von partiell Verrückten mit Verfolgungswahn“ 
sucht Prof. Ri eg er*) doch die Begriffe Geistes¬ 
schwäche und Geisteskrankheit des § 6 mit den psy¬ 
chiatrischen Begriffen zu identificiren. Zahlreich werden 
die Anhänger dieser Auffassung auf keinen Fall sein. 

Die Reichsgerichtsentscheidung vom 13. Februar 
1902 wird den Schwierigkeiten, die der § 6 Abs. 1 gesetzt 
hat, nur in höchst unvollkommener Weise gerecht. 
Die Entscheidung des Richters soll danach nur zum 
T h e i 1 auf dem ärztlichen Gutachten beruhen, das 
den Stoff zu den Schlüssen des Richters liefert Da 
es sich stets darum handelt, ob die geistigen Fähigkeiten 
des Rubrikaten den Voraussetzungen der die Folgen 
der Entmündigung wegen Geistesschwäche normirenden 
B. G. B.-Paragraphen §§ 112, 113 u. s. w. entsprechen, 
ist nicht zu ersehen, wie der Richter hinsichtlich der 
in Frage stehenden geistigen Fähigkeiten sich eine 
Schlussfolgerung erlauben kann, die nicht von sach¬ 
verständiger Seite fundirt ist. Etw'aiger Stoff, den die 
durch C. P. O. § 653 A. 1 S. 2 vorgesehenen Be¬ 
weismittel bieten, ist werthlos, wenn er nicht in irren¬ 
ärztliche Beleuchtung gerückt ist In praxi wird 
der Richter trotz allen Infallibiiitätsglaubens, den er 
etwa den Reichsgerichtsentscheidungen entgegenzu¬ 
bringen pflegt, bald sehen, dass er mit einer nur 
theilweisen Begründung seiner Schlüsse durch den 
ärztlicherseits gebotenen Stoff nicht auskommt Treffend 
betont die „Gutachtliche Aeusserung der königl. wissen¬ 
schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen betreffs 
Begutachtung im Entmündigungsverfahren nach § 6 
des bürgerlichen Gesetzbuchs“**): 

„Es handelt sich also in dem Schlusssatz eines 
Entmündigungsgutachtens nicht um die Stellung einer 
ärztlichen Diagnose, sondern um die Folgerung, welche 
aus der vorher zu stellenden ärztlichen Diagnose 
und aus der Feststellung des Grades der Krankheit 
in Bezug auf die Ausdrücke „Geisteskrankheit“ oder 
„Geistesschwäche“ im Sinne des B. G. B. zu ziehen ist. 

Diese Folgerung kann dann am einfachsten in un¬ 
mittelbarem Anschluss an § 6 B. G. B. so lauten: 

„Der N. N. vermag in Folge von Geisteskrankheit 
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen, bezw. der 
N. N. vermag in Folge von Geistesschwäche seine 
Angelegenheiten nicht zu besorgen.“ 

„Es steht aber nichts im Wege, diesen Bezeichnungen 
noch ausdrücklich die Worte „im Sinne des bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs“ hinzuzufügen, da in dieser Weise 
mit aller Sicherheit die Möglichkeit ausgeschlossen 
wird, dass die beiden Ausdrücke etwa im Sinne der 
ärztlichen Wissenschaft und nicht im Sinne des bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs gemeint sein könnten.“ 

Hinsichtlich der Unterscheidung der Kompetenzen 
möchte ich noch folgende Erwägungen anstellen. Die 
vielfach versuchte Grenzsetzung zwischen Begriffen, 
die nur den Arzt, und solchen, die nur den Juristen 
angingen, ist nicht allgemein durchführbar. Nehmen 
wir an, es sei die Willensbestimmung zunächst ein 

*) Aerztl. Sachverständigen-Zeitung 1902, Nr. 18 und 19. 

**) Vierteljahrsschrift f. ger. Medicin. III. Folge, Band 
27, 1902, Heft 4, Seite 413. 

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382 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35 


juristischer Begriff, obwohl sich sehr darüber streiten 
lässt, denn genau genommen ist sie ein psychologischer 
oder vielmehr ein vulgärpsychologischcr Begriff, ja in 
Oesterreich haben die Motive zu dem dortigen § 56 
sie gerade für den Arzt reservirt, während dort nur 
die Zurechnungsfähigkeit als rein juristischer Begriff 
bezeichnet ist. Es würde sich nun im Fall des § 51 
u. s. w. um einen Syllogismus handeln, bei dem die Con- 
clusio der juristischen Begriffssphäre angehört, während 
eine oder beide Prämissen der ärztlichen entstammen. 
Ob nun der Jurist oder der Arzt den Schluss zieht, 
der Betreffende muss dabei unabwendbar auf das 
Gebiet des Anderen übergreifen. Es geht dabei zu, 
wie wenn zwei Leute von verschiedener Muttersprache 
sich miteinander unterhalten wollen; ohne dass min¬ 
destens der eine die fremde Sprache gelernt hat, ist 
eine Verständigung nicht möglich. Auf unsern Fall 
angewandt, fragt es sich nur, welche der beiden 
Sprachen leichter zu erlernen und allgemeiner ver¬ 
ständlich ist, die medizinische oder die juristische. 
Nun gehört cs zum Wesen der Sprache des Gesetzes, 
dass sie um so besser ist, je allgemeiner sie ver¬ 
standen werden kann. Auch das Laienelement in der 
Rechtsprechung, die Schöffen und Geschworenen, hat 
ja mit den fraglichen Begriffen wie Willensbestimmung, 
Zurechnungsfähigkeit u. s. w. oft genug zu lluin. Die 
Begriffswelt der Psychiatrie wird aber auch bei aller 
Bemühung des Gutachters um eine verständliche Aus¬ 
drucksweise doch immer nur dem ganz verständlich 
sein, der mit den entsprechenden technischen Kennt¬ 
nissen ausgerüstet ist. Auf Grund dieser Verhältnisse 
erscheint cs naturgemässer, dass der Arzt die Ueber- 
setzung aus dem Aerztlichen in das Juristische vor¬ 
nimmt, als dass es der Jurist besorgt, dem ja schliess¬ 
lich die Erhebung der Schlussfolgerung zum rechts¬ 
kräftigen Urtheil doch Vorbehalten bleibt. Auf dem 
Gebiet der Unfallgesetzgebung ist es längst allgemeiner 
Brauch, dass der Arzt die Schlüsse seines Gutachtens 
auf nichtärztliche Begriffe wie Erwerbsfähigkeit aus- 
delmt. 

Mit ganzem Herzen stimme ich Herrn Professor 
Mendel bei, dass die „freie Willensbestimmung“ bei 
der Revision des Strafgesetzbuchs geopfert werden 
möge. Dass es im Ausland vielfach ohne sie geht, 
lässt sich ja aus Asel taffen burgs klarer Zusammen¬ 
stellung bequem ersehen; in der Schweiz bestehen 
freilich zur Zeit noch manche kantonalen Verschie¬ 
denheiten. Bedauerlich ist nur, dass die „freie Willens¬ 
bestimmung“ doch noch ihren Einzug in das neue 
B. G. B. gehalten hat, trotzdem man vor 3 bis 3 Jahren 
hinsichtlich der Beurteilung jener Verhältnisse doch 
auch schon so weit war wie heute. Bis die Revi¬ 
sion durchgeführt ist, wird noch eine beträchtliche 
Reihe von Jahren vergehen; solange haben wir uns 
mit dem Begriff auf die relativ beste Art abzu¬ 
finden, wofür ja auch die Juristen selbst, so v. Liszt*) 
mit seiner „regelmässigen Bestimmbarkeit durch Vor¬ 
stellungen“ entsprechende Anweisungen gegeben haben. 

Dass die Psychiatrie in den letzten 40 Jahren sich 
um sachverständige Einwirkung auf die Gesetzgebung 

*) Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 10. A., S. 147. 


eifrig bemüht hat, wird niemand bestreiten, vor allem 
die Verdienste meines hochverehrten Herrn Gegners 
sind ja allgemein gewürdigt. Es stellt zu hoffen, dass 
die Bemühungen auch bei der bevorstehenden Revi¬ 
sion des Strafgesetzbuchs in durchgreifender Weise 
zur Geltung kommen und nicht von vornherein durch 
Bedenken, die juristischer sind als die der Juristen 
selbst, eingeschränkt werden. Durch unsere Resigna¬ 
tion und übertriebene Vorsicht ist den Juristen nichts 
gedient. Manchmal fühlt man sich versucht zu fragen, 
ob die Begriffe der Rücksicht oder Bescheidenheit 
der juristischen Sphäre zugänglich sind. Man sehe nur 
einmal die Erörterungen des Amtsgerichtsraths Hahn*) 
in Berlin an, der zur Illustration seiner Ansichten, die 
in ihren Konsequenzen die Entmündigung wegen 
Geistesschwäche völlig annulliren, frischweg einen durch¬ 
aus unmöglichen Fall von Dementia senilis construirt, 
in dem die Krankheit sich in einem völligen Zurück¬ 
sinken auf die Stufe eines Siebenjährigen äussern soll. 
Was auf der anderen Seite die Juristen gelegentlich 
den Zeugen für eine Competenz beimessen, zeigt z. 
B. ein Oberlandsgerichtsbeschluss aus B. vom 12. V. 
1809, der die Vernehmung von 3 Landleuten als 
Zeugen darüber anordnet, „dass G. K. nur deshalb 
im Jahr 1877 (geistig) erkrankte, weil er mit seiner 
Frau nicht auskommen konnte, indem dieselbe ihm 
gegenüber unverträglich und unsolid war.“ 

Die Momente, die das Ansehen des Sachver¬ 
ständigen und seiner Wissenschaft gefährden, liegen 
auf ganz anderem Gebiet; in Frankreich, wo sich der 
Sachverständige Ausdrücke wie „irresponsable“ er¬ 
lauben darf, oder in der Schweiz, wo z. B. im Kan¬ 
ton Thurgau zur Kuratelverhängung wegen Geistes¬ 
krankheit das ärztliche Gutachten den Ausschlag giebt 
und ein Prozessual verfahren, eine Verhandlung mit 
dem Kranken vor dem Richter oder Waisen amt über¬ 
haupt nicht stattfindet, ist es darum um das Ansehen 
der Psychiater gewiss nicht schlimmer bestellt als bei uns. 

Vor allem bleibt für die Revision zu wünschen, 
dass auch dem Begriff der „verminderten Zurechnungs¬ 
fähigkeit“ der gebührende Platz angewiesen wird, mit 
dem sich auch jiiristischeiseits sehr wohl auskommen 
lässt, wie das Beispiel nicht nur der Gesetze mehrerer 
Auslandsstaaten, sondern auch einer ganzen Reihe 
von deutschen Strafgesetzbüchern vor 1870, bez. 1860 
beweist, so von Baden (§ 153), Bayern (Art. 08), 
Braunschweig ($ öo), Hannover (Art. 94), Hessen 
(Alt. 114), Nassau (Art. 113), Oldenburg (Art. I 10), 
Sachsen (Art. 88), Sachsen-Altenburg (Art. Ö4), Würt¬ 
temberg (Art. 98) und den thüringischen Landen 
(Art. 50). 

Wenn ich somit auch nicht alle Einwände des 
Herrn Professor Mendel imbesehen zu aeceptiren in 
der Lage war, freut es mich doch ausserordentlich, 
aus seinen Schlussausführungen erkennen zu dürfen, 
dass er den Grundanscliauungen meiner Betrachtungen 
über die Berechtigung der forensischen Psychiatrie 
seine Zustimmung nicht versagt hat. 

*) Zur Unterscheidung zwischen Geisteskrankheit und 
Geistesschwäche im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuchs, io der 
Zeitschrift für Medicinalbeanrte 1900, Heft 23. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 383 


M i t t h e i 

— VIII. Versammlung mitteldeutscher Psy- 
chiater und Neurologen in Dresden, 25. und 26. 
October 1901. Anwesend etwa 70 Theilnehmer. I. 
Sitzung: Vors. Herr Prof. Hitzig. 

1. Herr Bruns (Hannover). Ueber die Ver¬ 
schiedenheiten der Prognose zwischen Plexus- und 
Nervenstamm-Lähmungen der oberen Extremität (ver¬ 
öffentlicht in No. 22 des Neurolog. Centralbl.). 

Discussion: 

Herr Adolf Schmidt und Herr O. Förster 
führen Fälle eigener Erfahrung an, die die schlechtere 
Prognose der Plexus-Lähmungen bestätigen und auch 
die Möglichkeit einer Betheiligung des Rückenmarks 
erweisen. 

Herr Hitzig hält bei der guten Prognose der 
Radialis-Drucklähmungen die relativ geschützte Lage 
dieses Nerven für wichtig und erinnert auch an die 
Bedeutung physiologischer Verhältnisse (lawinenartiges 
Anschwellen des Reizes oberhalb der Läsionsstelle). 

Herr Haenel: Auch die von .Viannag neuer¬ 
dings festgestellte Topographie des Querschnitts peri¬ 
pherer Nerven, die Lage der einzelnen Faserarten 
in denselben spielt ohne Frage bei der Vcrtheilung 
und der Reihenfolge der Heilung peripherer Nerven¬ 
lähmungen eine Rolle. 

Herr Bruns: Schlusswort. 

2. Herr Aschaffen bürg (Halle a. S.). Beitrag 
zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrechen. 

Vortr. demonstrirte an der Hand zweier Tafeln 
nach einer französischen und deutschen Statistik die 
eigenthümliche Vcrtheilung der Siltlichkeitsveibrechen 
auf die einzelnen Monate des [ahres, wobei der Höhe¬ 
punkt im Juni und Juli erreicht wird. Diese Perio- 
dieität ist auf allen Gebieten des Geschlechtslebens 
nachweisbar, um so ausgeprägter, je weiter sich die 
Bethätigung desselben vom Normalen entfernt: am 
geringsten bei den ehelichen Coneeptionen, am deut¬ 
lichsten bei der Unzucht an Kindern. — Seit 1 1 / 2 J. 
hat Vortr. sämmtliche in das Strafgefängnis zu Halle a.S. 
eingelieferten Sittlichkeitsverbrcchcr einer psychiatrischen 
Beobachtung unterworfen. Es waren das 95; für ganz 
gesund hielt er von diesen nur 20; von den wegen 
Unzucht und Nothzucht Verurtheilten 80 waren 20, 
denen Vortr. den Schutz des | 57 zugebilligt hätte, 
und 18 , bei denen die Zurechnungsfähigkeit einge¬ 
schränkt erschien. Die einzelnen in Betracht k< mimenden 
Geistesstörungen waren, in der Reihenfolge ihrer Häufig¬ 
keit: Imbeeillität (37), Epilepsie (8), senile Demenz 
(8), Neurasthenie (.3), Dementia praecox (1), Ilvsterie 
(1}, Gefangenenwahnsinn (1); in einem Falle erfolgte 
ferner 8 Tage nach der Einlieferung Suicid, ohne 
dass der Gefangene irgendwie auffällig gewesen wäre. 
Von den Senilen, die ihre Unzuchthandlungen sämtlich 
an Kindern begangen hatten, standen 7 im Durch¬ 
schnittsalter von 71 Jahren; alle waren zum 1. Male 
bestraft. Bei Keinem war die geistige Gesundheit 
angezweifelt worden. — Einige der Verurtheilten hatten 
überhaupt nie normalen Geschlechtsverkehr gehabt. 

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1 u n g e n. 

Die grosse Zahl der psychisch Abnormen zeigt, wie 
nothwendig es ist, in allen Fällen von Sittlichkeits- 
Verbrechen eine psychiatrische Begutachtung zu ver¬ 
anlassen; in den vorliegenden Fällen war dies nur 
zweimal mit dem Erfolge der Exculpirung geschehen. 
Eine mildere, d. h. kürzere Strafe ist bei all den wegen 
Schwachsinns, Epilepsie, Hysterie etc. Minderwerthigen 
im Interesse der allgemeinen Sicherheit nicht angebracht. 

D iscussion: 

Herr Moeli vermisst die Erwähnung der Exhi¬ 
bitionisten; bei diesen mag oft als Motiv die Erregung 
des Schamgefühls bei der angegriffenen Person als 
sexuelles Moment wirksam sein. 

Herr Ganser findet, dass die Mehrzahl der ex- 
hibitionistischen Handlungen entweder im Alkohol¬ 
rausch oder von Epileptikern begangen werden. 

Herr Hitzig fragt nach dem Grunde der auf¬ 
fallenden Uebereinstimmung der Curven aus der 
deutschen und französischen Statistik. 

Herr Aschaffenburg: Die Jahrestemperatur ist 
an den Schwankungen der Geschlechtsthätigkcit allein 
gewiss nicht schuld. Die Exhibitionisten sind durch 
ein Versehen nicht mit in die Statistik aufgenommen; 
in Heidelberg waren es meist Epileptiker. — Ueber 
die Motive zu ihren unsittlichen Handlungen konnten 
die wenigsten der Gefangenen klare Auskunft geben. 

3. Herr Förster (Breslau): Die Grundlagen der 
methodischen Uebungstherapie von Bewegungsstö¬ 
rungen. 

Vortr. giebt einen Auszug aus seinem jüngst er¬ 
schienenen Buche, der sich zum kurzen Referat nicht 
eignet. Er vertritt die Sensibilitäts-Theorie der Aaxie, 
nimmt aber 3 über einander gelagerte Coordinations- 
Systeme, das spinale, cerebellare und cerebrale an, 
aus deren verschiedener Betheiligung an den Läsionen 
die einzelnen Arten der Coordinationsstörung ent¬ 
wickelt werden. 

Discussion: 

Herr B insw a nger hält es nic ht für ausgeschlossen, 
dass die Analysen des Vortr. auch auf functionelle 
Störungen anwendbar sind (hysterische Lähmungen). 

4. Herr Beim ecke (Dresden): Aus meiner psy¬ 
chiatrischen Thätigkeit am Dresdner Garnisonlazareth. 

Von den der Aufsicht des Vortr. unterstellten 
Kranken waren der Zahl nach Schwachsinn, psycho¬ 
pathische, namentlich Angstzustande auf degenerativer 
Basis und epileptische Geistesstörung am zahlreichsten. 
Alcoholismus war, besonders auch unter den Unter- 
officiren, selten. — Vortr. giebt dann ausführlich die 
Krankengeschichte dreier Leute mit Wandertrieb 
(Poriamanie) wieder ; zwei von denselben waren erblich 
belastet, bei keinem bestand echte Epilepsie mit Krampf¬ 
anfällen. Allen gemeinsam war die erhaltene Erin¬ 
nerung, die sich zum Tlieil auf die kleinsten Einzel¬ 
heiten während ihres Wanderzustandes erstreckte, das 
nur im Zustande grösster Ermüdung für kurze Zeit 
unterbrochene Umherschweifen, das Unbezwingliche 

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384 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35. 


und völlig Dominirende des Wandertriebes, das keine 
vernünftige Ueberlegung aufkommen Hess. 

Di scussion: 

Herr Ilberg begrüsst die Einrichtung der psy¬ 
chiatrischen Beobachtungsstation am Garnisonlazareth 
als einen Fortschritt. Der Alcoholismus, wenn auch 
unter den Mannschaften selten, spielt im Officiercorps 
leider noch eine recht erhebliche Rolle. Fälle von 
Dementia praecox, die während, wenn auch nicht in¬ 
folge der Dienstzeit zum Ausbruche kamen, hat er 
ziemlich häufig gesehen. 

Herr Bruns fragt nach der Verbreitung der 
Hysterie, besonders der traumatischen in der Armee. 

Herr Bennecke: Hysterie ist im Heere verhält- 
nissmässig häufig; eine Anhäufung von psychopathischen 
Elementen in den Festungsgefängnissen, wie sie Herr 
Ilberg fürchtet, dürfte bei dem heutigen Betrieb kaum 
mehr Vorkommen. 

II. Sitzung. Vorsitz: Herr Prof. Binswanger. 

5. Herr Haenel (Dresden): Gedanken zur Neu¬ 
ronfrage. 

Vortr. giebt eine Gegenüberstellung der That- 
sachen, die in alter und neuester Zeit für und gegen 
die Neuronentheorie angeführt worden sind. Für die¬ 
selbe spricht das anatomische Bild im Go lg i-Prä¬ 
parat, die H i s’sche Darstellung der Embryogenese der 
Nervenfaser, viele Thatsachen der Pathologie, bes. 
die secundäre Degeneration; gegen dieselbe sprechen 
die continuirlichen Neurofibrillen, die alten und neuen 
Beobachtungen einer multicellulären Entstehung des 
Axencylinders, alle transneuralen trophischen Störungen, 
manche Beobachtungen an Missgeburten. Die Phy¬ 
siologie hat sowohl mit der Neuronen- als mit der 
Fibrillenlehre Schwierigkeiten; dieselben werden wie 
die anderen erleichtert, wenn man statt der anato¬ 
mischen eine functionirende Einheit annimmt unter 
der Hinzufügung, dass die anatomische Integrität an 
das Vorhandensein der physiologischen Reize ge¬ 
bunden ist. Das „Neuron“ hätte man sich dann als 
ein Organ vorzustellen, dessen Einheitlichkeit erst mit 
und nach Massgabe der Funktion entstanden, nicht 
von vorn herein gegeben wäre. Der Streit um die 
Frage nach der functionellen Allein- oder Oberherrschaft 
der Zelle oder der Fibrillen u. s. w. würde bis zu 
einem gewissen Grade hinfällig: Fibrille mit Pigroid 
wird natürlich andere Eigenschaften aufweisen als 
Fibrille mit Interfibrillärsubstanz oder Fibrille mit 
Fibrille. — Wir können sagen: Der Begriff des Neuron 
als einer anatomischen, embryologischen, pathologischen 
und trophischen Cellulär-Einheit ist heute nicht mehr 
aufrecht zu erhalten. Setzt man an seine Stelle die 
Einheit nach Art eines Organs, so entspricht 
diese Vorstellung den heutigen histologischen und ent¬ 
wicklungsgeschichtlichen Anschauungen, erklärt die 
Thatsachen der Pathologie ebenso gut und lässt die 
physiologischen Verhältnisse verständlicher erscheinen. 
Vortr. schlägt deshalb für das morphologische und 
physiologische Bauelement des Nervensystems den 
Namen eines Ergon vor. 

Discussion: 

Herr Binswanger hält die Vorstellung einer 
Organeinheit für werthvoll zur Erklärung mancher 


pathologisch anatomischer Eigentümlichkeiten; beson¬ 
ders denkt er dabei an die „Partialschädigungen“ 
der Zelle bei Paralyse. Er glaubt übrigens, dass eine 
ähnliche Anschauung wie die des Vortr. schon vor 
Jahren einmal von Merkel ausgesprochen wurde. 

Herr Hoppe: Schon Henscn vertrat gegen IIis 
die multicelluläre Entstehung des Axencylinders. 

Herr Haenel (Schlusswort). 

6. Herr Böhmig (Dresden). Hysterische Un¬ 
fallserkrankungen bei Telephonistinnen. 

Vortr. hat eine Anzahl Telephonistinnen behandelt, 
die durch einen Blitzschlag in die Leitung oder durch 
einen starken Inductionsschlag getroffen worden waren. 
Einzelne Fälle waren deshalb interessant, weil die 
Verletzten sehr bald — nach 3 — 70 Stunden — zur 
Untersuchung kamen und sofort das Bild der Unfalls¬ 
neurose boten, andere deshalb, weil sie schon vorher 
wegen anderer Störungen in Behandlung des Vortr. 
standen und so constatirt werden konnte, dass kein 
Symptom der späteren Neurose schon bestanden 
hatte. Die Form und Schwere der Fälle war sehr 
verschieden; organische Veränderungen traten trotz 
jahrelangen Bestehens nie ein. 

Discussion: 

Herr Bruns hat unter den Symptomen der Blitz¬ 
schlag-Neurosen ausser hysterischen auch organische 
beobachtet, so z. B. einmal eine ausgesprochene ein¬ 
seitige Trigeminus-Neuralgie mit trophischen Stö¬ 
rungen (Ausfall der Zähne etc.). 

Herr Binswanger weist auf die Seltenheit der¬ 
artiger Fälle in der Litteratur hin; er hat bei seinen 
Fällen mehrfach grobe Simulation entdeckt. 

Herr Hitzig findet einen Unterschied zwischen 
gewöhnlichem Blitzschläge und Telephontrauma darin, 
dass bei letzterem die Betroffenen gelegentlich völlig 
unvermuthet von einem entfernten Gewitter her den 
Schlag erhalten, ein vorangehender, ungünstig wir¬ 
kender Angstaffect also ausgeschlossen ist. Die Prog¬ 
nose war in seinen Fällen im Gegensatz zu denen 
des Vortr. meist schlecht. 

Herr Böhmig hat auch solche Fälle wie Herr 
Hitzig beobachtet, wo die Dresdner Telephonistin 
z. B. von einem in Chemnitz niedergehenden Gewitter 
verletzt wurde; da die Mädchen den Hörer am Kopfe 
befestigt tragen, sind sie unter Umständen auch dem 
ausgesetzt, dass sie mehrere Schläge rasch hinter ein¬ 
ander erhalten, ohne dass sie ausweichen können. 

7. Herr Strohmaver (Jena). Uebcr die Be¬ 
ziehungen zwischen Epilepsie und Migräne. 

In Anbetracht des Umstandes, dass es eine symp¬ 
tomatische Migräne bei Epilepsie giebt, soll man sich 
hüten, ohne weiteres von Ucbergängcn zwischen beiden 
Krankheiten zu sprechen; trotz ihrer Aehnlichkeit in 
manchen Punkten trennt sie doch entscheidend der 
Umstand, dass die Migräne auch nach jahrelangem 
Bestehen und trotz grösster Intensität nie in Schwachsinn 
übergeht. Beide, Migräne und Epilepsie kommen ge¬ 
legentlich als gleichwerthige Erkrankungen bei ein- 
und demselben Individuum vor, doch hat sich kein 
einwandfreier Fall finden lassen, der als echter Ueber- 
gang der einen in die andere anzusprechen gewesen 
wäre. Wo ein solcher vorzuliegen schien, war die 


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Original frnm 

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1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 38.5 


Migräne entweder nur ein Symptom der epileptischen 
Grunderkrankung, oder diese trat als etwas Neues 
zur Migräne hinzu. Bei der Mitigation der Epilepsie 
zur Migräne wird das Verhältnis in der Regel so 
sein, dass die Epilepsie als solche weiter besteht und 
nur Migränetypus angenommen hat. Gelegentlich ist 
überhaupt die Entscheidung, ob Migräne oder Epi¬ 
lepsie vorliegt, nicht sicher zu fällen. 

8. Herr Pierson (Lindenhof). Ucber Entmün¬ 
digung wegen Geistesschwäche. 

Ein Pat. war 1804 wegen Geisteskrankheit nach 
den Bestimmungen des B. G. B. für Sachsen ent¬ 
mündigt worden; er beantragte 1901 die Umwand¬ 
lung in eine Entmündigung wegen Geistesschwäche, 
da er sich zu verheirathen wünschte. Das gerichtsärzt¬ 
liche, sowie das (.Ibergutachten des Landes-Medicinal- 
Collegiums sprach sich gegen diesen Antrag aus, wo¬ 
rauf das Gericht beschloss, eine juristische Autorität 
an der Landes-Universität um ihr Gutachten zu er¬ 
suchen. Der betreffende Jurist sprach sich in dem 
in extenso verlesenen Gutachten für die Umwandlung 
der Entmündigung in eine solche wegen Geistes¬ 
schwäche aus, mit der Begründung, dass dadurch 
dem Kranken nur die Geschäftsfähigkeit eines Kindes 
von 7 Jahren zugesprochen wurde, die er im wesent¬ 
lichen auch schon vorher besessen hatte. Das Ge¬ 
richt beschloss auch demgemäss. Vortr. spricht als 
seine persönliche Ansicht aus, dass auch er im vor¬ 
liegenden wie in ähnlichen Fällen die Gewährung 
dieser immerhin sehr beschränkten Geschäftsfähigkeit 
für unbedenklich halte, dieselbe sei meist genügend, 
um zu verhindern, dass die Patienten sich und andere 
geschäftlich schädigten. 

Discussion: 

Herr Weber bedauert als Referent des Landes* 
Medicinal-Collegiums, dass nach dem juristischen nicht 
der psychiatrisc he Gutachter noch einmal gehört werde. 
Missverständnisse hätten dadurch vermieden werden 
können. 

Herr Pierson: (Schlusswort! 

(). Herr Ganser (Dresden). Zur Lehre vom 
hysterischen Dämmerzustände. 

Der Symptomencomplex, den Vortr. zuerst 1897 
beschrieben hat, ist in seiner Eigenart und forensischen 
Bedeutung seither allseitig anerkannt worden. Vortr. 
beschreibt an der Hand eines skizzirten Krankheits¬ 
falles die wichtigsten Symptome, besonders das der 
„unsinnigen Antworten* 4 und der Bewusstseinsstörung, 
die nicht in einer Einengung, sondern in einer Trübung 
mit nachfolgender Amnesie besteht, sowie die körper¬ 
lichen Begleiterscheinungen (Sensibilitätsstörungen, 
Stigmata, Stirn-Kopfschmerz). — Vortr. wendet sich 
sodann gegen die Anschauungen Nissl's, wonach der 
Symptomencomplex nichts als eine besondere Form 
des katatonischen Negativismus sei und der in jedem 
Fall den Nachweis des hysterischen Characters im 
Sinne Kracpelins fordert. Auch Vortr. hat Fälle 
von Katatonie beobachtet, bei denen vorübergehend 
das beschriebene Symptom auftrat; er deutet sie als 
Fälle von Katatonie bei Personen mit hyster. Anlage 
resp. katatonischer Erkrankung bei entwickelter Hy¬ 
sterie. 


10. Herr Seifert (Dresden). Ueber einen Fall 
von Unfallhysterie mit cutaner und sensorischer Anä¬ 
sthesie. 

Demonstration eines Kranken, der vor 10 Jahren 
eine Gehirnerschütterung erlitten hatte und im An¬ 
schluss daran hysterisch wurde. 2 Monate nach dem 
Unfall erwachte er aus einem 2 tägigen Dämmerzu¬ 
stände mit einer completten sensiblen und sensor. 
l.-seitigen Hemianästhesie, die bis heute unverändert 
besteht, zeitweise noch von anderen hysterischen 
Symptomen (Mutismus, Blutbrechen, doppelseitiger 
Taubheit) begleitet war. Links besteht auch Verlust 
der Lage- und Bewegungsempfindung. Während er 
bei offenen Augen mit beiden Händen ungestört alle 
Bewegungen ausführt, hört 1 . sofort jede Bewegung 
auf, sobald man ihm das r. nicht amauroischc Auge 
verschliesst. Ebenso hört er bei Verschluss des r. 
Ohres mitten im Satze zu reden auf. Nach Verschluss 
von Auge und Ohr sinkt Pat. nach wenigen Secunden 
um und verfällt in einen schlafähnlichen Zustand. — 
Vortr. bezeichnet das ganze als eine Erkrankung des 
Bewusstseins und entwickelt hieraus die Genese der 
einzelnen Symptome. 

11. Herr Stegmann (Dresden): Ueber Suggestiv¬ 
behandlung von Trinkern. 

Vortr. hat seit 1899 im Ganzen 28 Trinker in 
Behandlung mit hypnotischer Suggestion genommen. 
5 davon entzogen sich in der ersten Woche der Be¬ 
handlung, 7 verfielen nachträglich wieder dem Trünke, 
iö sind z Zt. noch völlig enthaltsam, eine Anzahl 
von den letzteren erlitt allerdings in der Zwischenzeit 
Rückfälle; 9 leben z. T. seit über 2 Jahren völlig 
enthaltsam. Die in das Stadtirrenhaus aufgenommenen 
Kranken wurden zunächst in der Anstalt einige Wochen, 
z. T. mehrere Monate lang intensiv mit Wach- und 
Schlafsuggeslion behandelt, nach der Entlassung noch 
längere Zeit regelmässig in die Anstalt bestellt. Es 
wurde verlangt und meist auch erreicht, dass die 
Kranken sich in den Guttemplerorden aufnehmen 
liessen. - - Schwere psychische Degeneration trübt 
die Prognose, dagegen schliesst lange Dauer des Al- 
koholisrnus die Heilung nicht aus, macht nur längeren 
Anstaltsaufenthalt erforderlich. 

II. H aen el-Dresden. 

— Bericht über die 70. ordentliche General¬ 
versammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am Samstag den 15. November 1902 
in Bonn. 

1. Geschäftliche Mittheilungen. 

Nach einer Zeitungsnotiz hatte der Bundesrath der 
Resolution des Reichstags zugestimmt, nach welcher die 
verbündeten Regierungen ersucht werden, baldigst einen 
Gesetz e ntw u rf vorzulegen, welcher die Grundsätze 
feststellt, wodurch die Aufenthaltsverhältnisse und die 
Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten sowie 
die Entlassung aus denselben reichsgesetzlich ge¬ 
regelt werden. Deshalb hatte Schul tze in der 
vorigen Sitzung am 7. Juni 1902 angeregt, der Verein 
möge zu den hierbei zu berücksichtigenden Gesichts¬ 
punkten Stellungnehmen, sowie ein Referatübernommen. 
Da er aber inzwischen von zuständiger Seite erfahren 
hatte, dass in der nächsten Zeit sich der Reichstag 


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386 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35. 


mit dieser Frage noch nicht beschäftigen werde, hatte 
er von der Erstattung eines Referats abgesehen. 

Er begründete aber kurz einen von den Anwesenden 
angenommenen Antrag, der dahin geht, dass der 
Psychiatrische Verein der Rheinprovinz den Verein 
der deutschen Irrenärzte bittet, zu gegebener Zeit 
vorstellig zu werden, dass letzterem der eventuelle 
Entwurf eines Irrengesetzes zur Kenntnissnahme vor¬ 
gelegt werden möge. 

Thomsen sprach hierauf zu dem bekannten 
J ustizmin ist er ial-Erlass vom I. X. Formal sei 
er ja aus dem Kreisarztgesetz und der Civilprozess- 
ordnungzu erklären. Indess dürften die lang dauernde 
psychiatrische Thätigkeit des Anstaltsarztes, seine ein¬ 
gehende Bekanntschaft mit dem zu Entmündigenden 
und die Wichtigkeit der bei der Entmündigung zu 
lösenden Fragen „besondere Umstände“ sein, welche 
die Zuziehung der Anstaltsärzte nach wie vor recht¬ 
fertigten. Die Verordnung sehe er, rein sachlich be¬ 
trachtet, als eine Verschlechterung des Verfahrens an 
vom Standpunkte der Kranken und der Anstaltsürztc. 
Es fehle dem Kreizarzt vielfach die nothwendige Sach¬ 
kenntnis, die praktische Erfahrung und vor allem 
die anhaltende, continuierliche Beobachtung des zu 
Entmündigenden. Mancher Anstaltsarzt werde nur 
die Person des zu Entmündigenden zur Verfügung 
stellen, und dann könnte das Gutachten nur zu leicht 
unvollkommen werden ; und wenn dann nach Ablehnung 
der Entmündigung die Entlassung des Kranken erfolgen 
müsse, so sei damit dessen Interessen wenig gedient. 
Die neue Verordnung sei in den Augen des Publikums 
thatsüchlich ein Misstrauensvotum gegen die Irrenärzte, 
und so werde indirect das Misstrauen gegen diese 
weiter gefördert. Er schlage daher vor, die Ange¬ 
legenheit dem Verein deutscher Irrenärzte zur even¬ 
tuellen weiteren Veranlassung zu unterbreiten. 

Ungar wies demgegenüber darauf hin, dass die 
frühere Verfügung von 1800 ein Misstrauensvotum 
gegen die Mcdicinal - Beamten und von diesen 
schwerstens empfunden sei; sie omtrastire mit der 
Processordnung. Eine einfache Aufhebung dieser An¬ 
ordnung von 99 würde sich vielleicht mehr empfohlen 
haben. 

Es gebe ja sicher Medicinalbeamte, die nicht die 
genügende Sachkenntnis hätten; aber auch manche 
Anstaltsärzte seien nicht zuverlässig. In Strafsachen 
überlasse man dem beamteten Arzte die Begutachtung, 
ebenso bei der Aufnahme in Privatirrenanstalten; 
warum nicht auch hier, wo die Sachlage oft einfacher 
und eine längere Beobachtung möglich sei? Even¬ 
tuell könne eine längere Ausbildung in einer Irren¬ 
anstalt als nothwendige Vorbildung vom Kreisärzte 
verlangt werden. 


Die Gerichtsärzte hätten zudem grade auf diesem 
Gebiete eine erhöhte Thätigkeit, und ihre Zahl werde 
noch vermehrt. 

Die Anstaltsärzte der Privatirrenanstalten könnten 
in Entmündigungssachen nicht immer eineft so ob- 
jectiven Standpunkt einnehmen, wie es oft nothwendig 
sei; es müsse eine Voreingenommenheit bestehen, 
schon mit Rücksicht auf den Zwang der Entlassung 
nach Ablehnung oder Aufhebung der Entmündigung; 
und das Publikum verlange einen neutralen, unpartei¬ 
ischen Begutachter. 

Bei den öffentlichen Anstalten lägen die Verhält¬ 
nisse meist anders. 

Um das von der Anstalt gesammelte Material 
verwerthen zu können, könne der Kreisarzt durch 
den Richter das Krankenjournal einfordern oder die 
Vernehmung des Anstaltsarztcs beantragen. 

Oebeke weist darauf hin, dass die Krankenge¬ 
schichte manches enthalte, was unbedingt geheim ge¬ 
halten werden müsse. Der Justizminister könne jetzt 
nichts mehr machen, und er habe auch kaum anders 
handeln können; er habe auch einen etwaigen Vor¬ 
schlag, die Directoren der öffentlichen Anstalten als 
Gutachter neben den Kreisärzten zuzulassen, aus rein 
juristischen Gründen ablehnen müssen. Wir hätten 
uns früher bei der Berathung über das Kreisarztgesetz 
wehren sollen! Aber Keiner, auch das Justizmini¬ 
sterium selber, hätte dessen weittragende Bedeutung 
zu überschauen vermoc ht, und ohne die Anregung des 
Preussischcn Mcdicinal-Beamten-'Vereins wäre es wohl 
beim alten geblieben. Auch er schlage vor, die An¬ 
gelegenheit vertrauensvoll dem Verein deutscher Irren¬ 
ärzte zu übergeben, wenngleich es sich hierbei nur 
um Preussische Verhältnisse handele. 

Die Versammlung stimmt dem Anträge Thomsen’s 
bei und übergiebt die Angelegenheit dem Verein 
deutsc her Irrenärzte. 

2. Vorträge: 

a) Brosius-Sayn: Die Psychosen der Juden. 

Vortragender giebt eine kurze Uebcrsicht über die 

einschlägige, nicht umfangreiche Litteratur, begründet 
die Berechtigung, über das Thema zu schreiben und 
die Psychosen der Juden einer gesonderten Betrachtung 
zu unterziehen-, und hebt hervor, dass die Juden 
mehr erkranken als die Christen, dass das männliche 
Geschlecht überwiegt, und dass die Prognose der 
Geistesstörungen bei den Juden sehr ungünstig sei; 
in erster Linie handelt es sich bei ihnen um Paranoia, 
dann kommt progressive Paralyse. 

b) Sauermann - Bonn: Zur Prognose und The¬ 
rapie der Trunksucht (erscheint in extenso in dieser 
Zeitschrift). 

c) Sc h u 1 1ze - An d erna ch : Casuistischer Beitrag 
zur Lehre der Augenmuskellähmung. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 387 


Der 45 jährige, bisher ganz gesunde Arbeiter erlitt 
einen Bruch des rechten Scheitelbeins; darnach einen 
Tag bewusstlos mit starkem Erbrechen und erheblicher 
Verengerung der linken Pupille. Bald darauf Lähmung 
der inneren Augenmuskeln linkerseits; Klagen über 
Kopfschmerz, Schwindel, Gedächtnissschwüche, In¬ 
toleranz gegen Alkohol, Charakterveränderung und 
Schlaflosigkeit. Die Begutachtung in der Bonner 
Anstalt betonte seine volle Erwerbsunfähigkeit, die 
auf den Unfall zurückzuführen sei. Einige Zeit später 
zunehmend stumpfer, theilnahmsloser; wegen Gemein¬ 
gefährlichkeit einer Irrenanstalt überwiesen; hier lallende 
Sprache; Aufhebung der Reflexe; Tod 3 1 / 2 Jahre 
nach dem Unfall. Keine Section. 

Sch. bespricht kurz die Lehre von der Ophthal- 
moplegia interna mit besonderer Berücksichtigung der 
Localisation der Affection und deren Aetiologie und 
führt das Leiden in diesem Falle auf das Trauma 
zurück. 

d) Thomsen-Bonn: 

«) Ueber Salzentziehungskuren. 

Toulouse und Richet empfahlen 189p gegen Epi¬ 
lepsie möglichst salzarme Kost mit gleichzeitiger Brom¬ 
darreichung. 

Vortragender sah gute Erfolge in einem Falle 
von Epilepsie, soweit sich das heute, 6 Wochen nach 
Beginn der Kur, sagen lässt. 

Rathsam erschien ihm ein Versuch der Methode 
bei anderen Neurosen, gegen die ebenfalls Brom 
angewandt wird. Er wendete es an bei drei Hyste¬ 
rischen, war aber mit dem Erfolg wenig zufrieden; 
einmal traten schwere hysterische Delirien auf, die 
völlig dem delirium tremens glichen. In allen Fällen 
setzte hier innerhalb drei Wochen, wiewohl die tägliche 
Bromdosis nur 4 gr. betrug, eine erhebliche Brom¬ 
vergiftung ein (Benommenheit, Schlafsucht, taumelnder 
Gang, lallende Sprache, Gedächtnisschwäche). 

Das Brom habe so intensiv, ja verblüffend gewirkt, 
und die Durchführung der Diät sei trotz der lang¬ 
weiligen und indifferenten Nahrung so gut möglich, 
dass er rathen möchte, die Methode nicht ohne weiteres 
aufzugeben, sondern weitere Versuche mit Vorsicht 
anzustellen. 

Steiner-Köln konnte ähnliches bei einem Post¬ 
beamten beobachten, der früher ungestraft jahrelang 
10 gr. Brom nehmen durfte; jetzt wurde er bei einer 
Dosis von 6 gr. pro die 6—7 Wochen nach Ein¬ 
leitung der Kur schwach, hinfällig, konnte nicht denken, 
nicht schreiben, so dass zur alten Diät wieder gegriffen 
werden musste. 

Zacher-A h rwei ler sah gute Erfolge bei 3 
Fällen von Epilepsie; in allen nahm die Zahl der 
Anfälle ab. 

ß) Zur circulären Psychose. 

Unter Vorzeigung sehr instructiver Curvcn hebt 
Th. hervor, dass beim manisch-depressiven Irresein 
die einzelnen Anfälle recht lange, ö, 8 Jahre dauern 
können; innerhalb eines solchen Anfalles sei dann 
die Diagnose recht schwer zu stellen. 

In anderen Fällen sah Th. die Anfälle, die bisher 
sich fast gesetzmässig wiederholt hatten, Jahre lang 
ausbleiben. 


Pelman empfiehlt aus eigener Erfahrung die 
Anlegung von Curven bei manisch-depressiven Psy¬ 
chosen und berichtet über einen von ihm während 
4 Jahren beobachteten Kranken, der jeden Tag regel¬ 
mässig mit seiner Manie und Depression wechselte. 

Ernst Schultze. 

Berichtigung. 

Die Redaktion der Psychiatrisch-Neurologischen 
Wochenschrift ersuche ich um gefällige Aufnahme 
nachstehender Berichtigung zu dem letzten Passus 
des in Nr. 33 unter Mittheilungen gebrachten Artikels 
„Aus Ostpreussen“. 

Das Frauenhaus der Anstalt für katholische Epi¬ 
leptische in Wormditt, welche den Namen „Heilstätte 
St. Andreasberg“ erhalten hat, ist nicht erst in An¬ 
griff genommen, sondern bereits am 14. April d. J. 
mit 63 Kranken belegt worden*)- Von einer Ab¬ 
sicht, im Frauenhause auch Männer unterzubringen, 
ist hierorts nichts bekannt. Die Ueberführung der 
männlichen Epileptischen katholischer Konfession aus 
Karlshof nach Wormditt und die Neuaufnahme männ¬ 
licher Kranker in die hiesige Heilstätte wird erst nach 
Fertigstellung des Männerhauses erfolgen, mit dessen 
Bau im nächsten Frühjahr begonnen werden wird. 

Zu dem Schlussartikel „Aus Ostpreusen“ in Nr. 34 
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift bitte 
ich Sie, folgende Berichtigung aufzunehmen. 

Herr Hoppe befindet sich im Irrthum, wenn er 
behauptet, ich hätte mir den „erforderlichen Befähig¬ 
ungsnachweis“ für die ärztliche Leitung der hiesigen 
Anstalt für Epileptische durch einen vierteljährigen 
Studienaufenthalt in Kortau erworben. Wie schon 
mein früherer Chef, Herr Direktor Alt, berichtigend 
hervorgehoben hat, bin ich etwa 1 1 / 2 Jahre in Ucht- 
springe als Arzt thätig gewesen. Ausserdem habe ich 
mich noch vor Uebernahme der ärztlichen Leitung 
der hiesigen Anstalt die ersten 3 Monate d. J. in 
Kortau als Volontärarzt aufgehalten, wo mir mit Rück¬ 
sicht auf meine in Uchtspringe erhaltene Ausbildung 
die selbständige Führung einer grösseren Abtheilung 
anvertraut war. Der Gewährsmann des Herrn Hoppe 
scheint doch hiernach kein besonderes Anrecht auf 
Vertrauen beanspruchen zu dürfen. 

Hochachtungsvoll und ergebenst 
Dr. H a n k e 1 n , 

leitender Arzt der Heilstätte St. Andreasberg. 

— Satzungen des Vereines bayerischer Psychiater. 
(Nach den Beschlüssen vom 28. Juli 1902.) 

§ r - 

Der „Verein bayerischer Psychiater“ bezweckt die 
Pflege und Förderung der theoretischen und practischen 
Psychiatric mit besonderer Berücksichtigung der öffent¬ 
lichen Fürsorge für psychisch Kranke. Er hat seinen 
Sitz in München. 

S 2. 

Zur Erreichung dieses Zweckes dienen vorzugs¬ 
weise jährliche Zusammenkünfte an einem von der 
vorhergehenden Versammlung zu wählenden Ort und 
Termin. 

*) Bern. ( 1 . Red.: die Mitth. in Nr. 33 „Ans Ostpreussen“ 
ist schon in den ersten Monaten dieses Jahres an die Red. ein- 
gesamlt worden. 


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388 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35. 


Stimmberechtigt bei den Versammlungen sind die 
anwesenden Mitglieder. 

Nichtmitgliedcr sind als Thcilnclimcr oder spcdcll 
geladene Gäste zulässig, aber nicht stimmberechtigt. 

§ 3 - 

Mitglied des Vereins kann jeder in Bayern wohnende 
approbirte Arzt werden, der sieh berufsmässig mit 
Psychiatrie beschäftigt und sich bei dem Vorstände 
zum Beitritt anmeldet. 

Als Ablehnungs- und Aussehliessungsgründe gelten 
lediglich die durch allerhöchste Verordnung für die 
ärztlichen Bezirksvercine normirten. 

§ 4 * 

Die Mitglieder sind verpflichtet, die Zwecke des 
Vereines durch Leistung und Anregung wissenschaft¬ 
licher Arbeiten und Uebernahme von Referaten zu 
fördern und einen von der Versammlung festzusetzenden 
Jahresbeitrag zu leisten. 

§ 5 . 

Die Mitgliedschaft erlischt durch schriftlich er¬ 
klärten Austritt, beim Wegzug aus dem Vereinsgebiet, 
bei Verweigerung der Beitragsleistung und durch 
Ausschliessung gemäss § 3, Abs. 2. 

§ 6 . 

Zur Besorgung der Geschäfte wird alljährlich in 
der ersten Versammlung ein Vorsitzender, ein Schrift¬ 
führer und für jeden ein Stellvertreter gewählt 

Der Vorsitzende verwahrt die Vereinsacten; er 
bereitet die Versammlungen vor, leitet sie nach der 
von ihm festgesetzten Tagesordnung und vollzieht die 
Aufnahme der Mitglieder. 

Der Schriftführer besorgt die Korrespondenz und 
das Rechnungswesen, hält die Mitgliederliste evident 
und führt das Protokoll bei den Versammlungen. 

S 7 - 

Bei der Jahresversammlung wird aus den an¬ 
wesenden Mitgliedern zur sofortigen Prüfung der 
Rechnung ein Revisor gewählt und von der Vorstand¬ 
schaft ein weiterer Schriftführer zur Beihilfe bei der 
Aufnahme des Sitzungsprotokolls kooptirt. 

Die Vortragenden und die bei der Diskussion Be¬ 
teiligten haben den Schriftführern alsbald ein kurzes 
Resume ihrer Aeusserungen mitzutheilen. 

§ 8 - 

Das von den Schriftführern festgestellte, von dem 
Vorsitzenden genehmigte officielle Versammlungs¬ 
protokoll wird in der „Allgemeinen Zeitschrift für 
Psychiatrie“ veröffentlicht. 

Vorsitzender und Schriftführer haben zu jeder 
Versammlung die Einladung "zwei Monate vorher und 
das Programm vierzehn Tage vorher an die Mitglieder 
zu versenden und in der ,,Psychiatrisch-neurologischen 
Wochenschrift“ und in der „Münchener Medicinischen 
Wochenschrift zu veröffentlichen. 

§ 9 * 

Abänderungen der Satzungen müssen mindestens 
vier Wochen vor Zusammenkunft der Versammlung 
schriftlich beantragt, durch das Programm den Mit¬ 
gliedern bekannt gegeben und können nur von drei 
Vierteilen der anwesenden Mitglieder beschlossen werden. 

§ 10. 

Die Auflösung des Vereines erfolgt, wenn drei 

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Vierteile der Vereinsmitglieder ihr schriftliches Votum 
hieftir abgegeben haben. 

Der vorhandene Kassa-Activ-Rest fällt alsdann an 
den Verein deutscher Irrenärzte. 

— Zum Reichsirrengesetz. Die Königl. 
Württcmbcrgische Regierung hat erklärt, dass sic gegen 
die Erlassung eines Reichsirrengesetzes nichts cinzu- 
wenden habe, im Gcgentheil die Erlassung eines 
solchen b e f ii r w o r t e , wenn es auch wahrscheinlich 
gr< >ssc Schwierigkeiten bieten werde. Auch in Preussen 
geht man jetzt in mediasres; die preussischeii Minister 
des Innern, der Justiz und der Medicin haben die 
Behörden veranlasst, sich über die Nothwendigkeit 
eines Irrengesetzes zu äussern und bejahenden Falles 
geeignetes Material beizubringen. Es wird mit dieser 
Maassnahme der Weg betreten, den der Verein deut¬ 
scher Irrenärzte schon vorher, im April 1902, durch 
Gründung einer statistischen Kommission, damit Ma¬ 
terial auch für strafrechtliche Fragen suchend, einge¬ 
schlagen hat. Es ist bemerkenswert!!, dass die Kgl. Würt- 
temb. Regierung ohne solche voraufgegangene Sammlung 
von Material, also offenbar prinzipiell, ein Reichsirren¬ 
gesetz befürwortet; es ist um so bemerkenswerther, 
als der Württcmbergischc Staat das öffentliche Irren¬ 
wesen in eigener, einheitlicher Verwaltung („Königliche“ 
Heil-und Pflegeanstalten) und, wie die jährlichen Berichte 
des Kgl. Württemberg. Landes - Medicinaleollegiums 
„über die im Kgr. Württemberg bestehenden Staats¬ 
und Privatanstalten für Geisteskranke, Schwachsinnige 
und Epileptische“ zeigen, aufs zweckmäßigste und 
übersichtlichste geordnet hat, wenn leider auch dort 
man sich von Benützung privater oder genossenschaft¬ 
licher Anstalten zur Erfüllung der Aufgaben der staat¬ 
lichen Irrenfürsorge bisher noch nicht ganz losmachen 
konnte. 

Ob ein Reichsirrengesetz zu Stande kommt, wird 
von der Stellung abhängen, welche die einzelnen Re¬ 
gierungen im Bundesrath dazu einnehmen. I11 letz¬ 
terem werden nun auch die Stimmen gezählt, nicht 
gewogen, aber es ist klar, dass bei einer Reform des 
Irrenwesens die Ansicht derjenigen Regierungen ganz 
besonders maassgebend ist, welche seit Alters die 
öffentliche Irrenfürsorge in ihrem eigenen, also in 
direktem Ressort führen und daher deren Bedürf¬ 
nisse nicht aus den hauptsächlich statistischen Berichten 
von Selbstverwaltungen mittelbar staatlichen Charakters, 
sondern unmittelbar kennen gelernt haben, wie 
z. B. Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen etc. 

Es besteht kein Zweifel, dass das Material, wel¬ 
ches man in Preussen sammelt, nicht nur nicht gegen 
die Nothwendigkeit des Reichsirrengesetzes sprechen, 
sondern dasselbe speciell für das nicht einheitlich ge¬ 
regelte preussisehe Irrenwesen als besonders dringlich 
erweisen wird. 

Auf Eins sei hier aufmerksam gemacht; es scheint, 
als wollte man wirklich die gesetzliche Regelung des 
Irrenwesens nur auf die Aufnahme-, Aufenthalts- und 
Entlassungsverhältnisse Geisteskranker in und aus An¬ 
stalten ausdehnen. Das wäre zu wenig. Eine an¬ 
nähernde Uebersieht über das, was weiter in ein 
Reichsfürsorgegesetz für Gehirnkranke gehört, gewährt 
eine alle Anerkennung verdienende, kürzlich ergangene 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 389 


Verfügung des Regierungspräsidenten in Lüneburg 
über die Ueberwachung von Geisteskranken, die sich 
nicht in Irrenanstalten befinden, — welche die fol¬ 
genden Bestimmungen enthält: 

„1. Die Kreisärzte werden ersucht, bei den Orts¬ 
besichtigungen oder anderen sich bietenden Gelegen¬ 
heiten durch Erkundigung bei den Gemeindevor¬ 
ständen, Geistlichen, Lehrern u. s. w. festzustellen, ob 
in der betreffenden Gemeinde Geisteskranke, Idioten 
u. s. w. ausserhalb von ausschliesslich zur Aufnahme 
solcher Kranker bestimmten Anstalten und zwar a) in 
allgemeinen Krankenhäusern, Siechenhäusern, Armen¬ 
häusern und ähnlichen Anstalten, b) in fremden Fa¬ 
milien gegen Entgelt, c) in der eigenen Familie unter¬ 
gebracht sind. Ueber die ermittelten Kranken ist ein 
Verzeichniss anzulegen und auf dem Laufenden zu 
erhalten. Kranke, welche von einer öffentlichen Irren¬ 
anstalt in Familienpflege untergebracht sind, sind in 
das Verzeichniss nicht aufzunehmen. 2. Alle in das 
Verzeichniss aufgenommenen Kranken sind in geeig¬ 
neter Weise zu überwachen und nach Bedarf zu be¬ 
suchen. Sofern dazu besondere Dienstreisen erforder¬ 
lich sein sollten, ist zu denselben meine Genehmig¬ 
ung einzuholen. Bei den Besuchen ist festzustellen, 
ob /die Art der Unterbringung, Behandlung und Ver¬ 
pflegung mit Rücksicht auf den Character der Krank¬ 
heit und die sonstigen Verhältnisse als zweckentsprehend 
anzusehen ist, eventuell, ob im Interesse des Kranken 
oder im öffentlichen Interesse die Aufnahme in eine 
geeignete Anstalt erforderlich erscheint. Bei den unter 
1 c genannten Kranken kann von einem Besuche von 
vornherein abgesehen werden, sofern dies nach Lage 
der Verhältnisse zweckmässig erscheint. Dass bei 
allen derartigen Besuchen besonders vorsichtig und 
taktvoll verfahren wird, setze ich voraus. 3. Von 
wahrgenommenen Missständen, welche der Abhilfe 
bedürfen, insbesondere von der etwa sich ergebenden 
Nothwendigkeit, einen Kranken in einer Anstalt unter¬ 
zubringen, ist der zuständigen Polizeibehörde zur 
weiteren Veranlassung Mittheilung zu machen. 4. 
Ueber jeden Besuch ist in dem Verzeichn iss ein ent¬ 
sprechender Vermerk zu machen. Die gemachten 
Wahrnehmungen sind im Jahresbericht zu berücksich¬ 
tigen. Zugleich ersuche ich die Kreisärzte, soweit 
sich ihnen bei ihrer Mitwirkung bei der Aufnahme 
Geisteskranker in die öffentlichen und Privat-Irren- 
anstalten Gelegenheit dazu bietet, im Interesse der 
Kranken darauf hinzuwirken, dass diese Aufnahmen 
thunlichst beschleunigt werden.“ In dem Verzeich¬ 
nisse werden ausser dem Nationale des Kranken 
und seinem Aufenthaltsorte vermerkt: die Anstalt, 
wo der Kranke untergebracht ist oder der Name 
seines Pflegers, die Höhe des Pflegcgeldes, Form und 
Dauer der Krankheit, ob der Kranke heilbar, unruhig 
oder gemeingefährlich ist, ob der Kranke ärztlich be¬ 
handelt wird, in welcher Art und von welchem Arzt, 
welcher Art die Unterbringung, Verpflegung und Be¬ 
schäftigung des Kranken ist, ob der Kranke entmündigt 
ist. — 

Vermisst wird in obiger Verfügung eine Vor¬ 
schrift, die in verschiedenen Irrengesetzen des Aus¬ 
landes besteht, nämlich dass irgend Jemandem die 

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Pflicht auferlegt wird, von der geistigen Erkrankung 
einer Person rechtzeitig oder binnen einer gewissen 
Zeit (z. B. im holländischen Gesetz 48 Stunden) der¬ 
jenigen Behörde Anzeige zu machen, welche für die 
Einsetzung einer vorläufigen Vormundschaft oder ge¬ 
richtlichen Pflegschaft zur Wahrung der Vermögens¬ 
und sonstigen Angelegenheiten des Kranken Sorge 
zu tragen hat. 

Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und 
Verwandtes. 3. Quartal 1902. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

Rapport van de Commissie van Prae-Advies omtrent 
de vraag, op welke wijze in eventueele moeilij- 
kheden beij de plaatsing van gevaarlijke krank- 
zinnigen kan worden voorzien. Psychiatrische en 
Neurologische Bladen, 1902, p. 385. 

Reitsema: Een geval van aangeboren, abnorm gropte 
wandbeengaten. Ibidem, p. 309. 

Souques: Absence congenitale des muscles grand et 
petit pectoral. Nouveile Iconographie de la Sal- 
petriere, 1902, Nr. 2. 

Aschaffenburg: Die Unterbringung geisteskranker 
Verbrecher. Centralbl. für Nervenheilkunde und 
Psychiatrie, 1902, 15. Mai. 

Ziehen: Neuere Arbeiten über pathologische Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit. Monatsschrift für Psych. u. 
Neurologie, 1902, 5. Mai. 

Revington: Mental conditions resulting in homicide. 

The Journal of mental Science, 1902, april. 
Talbot: Juvenile fcmale delinquants. The Alienist 
and Neurologist, 1902, Nr. 2. 

De Mat tos: Os alienados nos tribunaes. 1. voluno, 
Lisboa 1902. 

Stromer: Ueber die Bedeutung des for. entepicondy- 
loideum und des trochanter tertius der Säuge- 
thiere. Neurol. Jahrb. 1902. 

Klaussmann: Linke Flebben. Kriminalistische 
Skizze. Das Buch für Alle, 1902, Heft 22. 

O. Gross: Die cerebrale Secundärfunction. Leipzig, 
Vogel, 1902. 69 Seiten. 

Spitzka, E. S.: Political assassins, are they all insaiie? 

Journal of mental pathology, 1902, mareh, april. 
Schütze: Einige Mittheilungen aus der gerichtlichen 
Praxis über den Gebrauch von Geheimschriften 
unter Verbrechern. Archiv für Kriminal-Antropol, 
etc., 1902, 9. Bd., 2. u. 3. LI., p. 106. 
Schütze: Beiträge zur Lehre des Sachbeweises, ins¬ 
besondere der Fussspuren. Ibidem, p. 126. 
Näcke: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropo¬ 
logischen Forschung im Jahre 1901. Ibidem, p. 141. 
Moll: Wie erkennen und verständigen sich die 
Homosexuellen untereinander? Ibidem, p. 157. 
Siefert: Der Fall Fischer. Ibidem, p. 160. 

Pollak: Kriminal oder Irrenhaus? Ibidem, p. 179. 
Selcwer: Zur Werthung von Zeugenaussagen, speciell 
kindlicher. Ibidem, p. 194. 

Ho che: Die Freiheit des Willens vom Standpunkte 
der Psychopathologie. Grenzfragen des Nerven- 
und Seelenlebens. Wiesbaden, Bergmann. 

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3QO PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCH ENSCH RIFT. [Nr. 35. 


Lommel: Uebcr angeborene Irisanomalien. Diss. 
Giessen 1901. 

Mühl: Rudimentäre Entwickelung von Uterus und 
Vagina. Diss., Greifswald 1902. 

Rossi: Interparietali e preinterparietali nci cranii dei 
pazzi. Annali di freniatria etc., 1902, p. 155. 
Sauna Salaris: Sulla eonformazionc del padiglione 
dcir orrechio nei Sardi normali, alienati, criminali 
e prostitute. Ibidem, p. 1 7b, 210. 

Ferr i an i: I drammi dei fanciulli. Como, Omarieni. 

1002. 312 Seiten. 4 Lire. 

S c hall m e y e r: Natürliche und geschlechtliche Aus¬ 
lese bei wilden und bei hochkultivirten Völkern. 
Politisch-anthropi»logische Revue, 1902, Nr. 4. 
Soukhan off and Goris: Studies of morbid ob- 
sessions. The joiirnal of mental pathologv. 1902, 
Nr. 5. 

Orano: Psicologia sociale. Bari K)o2. 

Audi ff reut: I')u suicide. Archives d’anthropologie 
criminelle etc'. 1002, p. 389. 

Marandon de Montyel: L’affaire Louis Paie. 

(Schluss.) Ibidem, p. 410. 

Mora che: Le mariage. Paris, Alcan , 181/2. 
Mayct: Notes sur los Sciences anthropologiques et 
plus partieulierement banthrop«»logie criminelle cn 
Ilollande et en Belgique. 1. partie, Ilollande. 
Liyon, Storck 1902. 

Angiolclla: Psic'opatie e fattore ctnico del carattcre. 

Rivista mensile di psich. for. etc., 1902, p. 1Ö7. 
De Blasio: Gli zingari di Napoli (Schluss). Ibidem, 
P- i 7 .v 

Saporito: Sulla clelinquenza militare (Fortsetzung). 
Ibidem, p. 1 </o. 

Babkon: Ucber den Einfluss der künstlichen Sc hädel- 
nahte bei jungen Thicren auf das Wachsthum und 
die Entwickelung des Sc hädels. Monatsschrift für 
Psyc h. u. Neurol. März 1902. 

Asselin: Letat mental des parricides. Paris 1902. 
Manzini: Trattato del furto e delle varie sue specie. 
Parte prima: evoluzione generale sociologica c 
giuridica del furto. 2. Bd. Tarino i<>02. 
v. Kämpffe: Die politische Auslese im Leben der 
Völker. Politisch-anthropol. Revue, 1 c>o_?, Nr. 5. 
Dix: Der soziale Schutz der Jugendlichen. Ibidem. 
Schrickert: Zur Anthroj)ologie der gleichgesdilecht- 
lichen Liebe. Ibidem. 

Wilscr: Eine Kulturgeschichte der Rasseninstinkte. 
Ibidem. 

Näckc: Ucber die sogen, „moral insanity“. Grenz- 
fragen des Nerven- und Seelenlebens, XVIII. 
Bergmann, Wiesbaden 1902. 65 Seiten. 

Kirchhoff: Die I Iöhemnessung des Ko})fes, besonders 
die Ohrhöhe. Allgem. Zeitschr. für Psych. etc., 
Bd. 30, p. 353. 

Laurent und Nagour: Occultismus und Liebe. 

Uebersetzt v. Dr. Berndt. Berlin, Bar leid. M. 7,50. 
Dühren: Das Geschlechtsleben in England mit be¬ 
sonderer Beziehung auf London. Berlin, Barfeld. 
3 Bände, a 10 M. 

Naskissos: Der neue Weither, eine hellenische 
Passionsgeschichte. Verlag von M. Spohr, Leipzig. 
(I lomosexuelle Bekenntnisse.) 

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Alombert-Goget: L’internement des alienes crimi- 
ncls. Lyon, Prudhomme, 1902. 207 S. 

Schönbrod: Uebcr einen Fall von Phocomelie etc. 
Diss., Bonn ic/oi. 

Schubmehl: Ueber Dermoide des Mundbodens etc. 
Diss., Freiburg 1901. 

Zöllner: Ueber Störungen der Nahrungstriebe. 

Diss., Frei bürg 1901. 

H. Gross: Psychopathischer Aberglaube. Archiv f. 

Kriminalanthropol. etc., c». Bd., 4. II., p. 253. 
v. Oe feie: Strafrechtliches aus dem alten Oriente. 
Ibidem, p. 283. 

Cacic: Kroatische Wörter im „Vocabulare der 
Gaunersprache“ des Gross’schen Handbuchs für 
Untersuchungsrichter. Ibidem, p. 208. 

Rösing: Freispruch oder Sonderhaft. Ibidem, p. 311. 
Näckc: (iedanken eines Mediciners über die Todes¬ 
strafe. Ibidem, p. 3 10. 

Sicfcrt: Rechtswidrigkeit bei der Erpressung. Ibidem, 
P- .0 7 - 

v. Josch: Ein Fall von Kindesmord. Ibidem, p. 332. 
Schncickert: Die Beschaffung von Vergleichungs- 
material zum Zwecke der gerichtlichen Hand¬ 
schriften vergleiclumg. Ibidem, p. 344. 

Paul: Zum Wesen des Strafregisters. Ibidem, p. 350. 
Richter: Ueberflüssige Sectionen. Ibidem, p. 333. 
Mariani: La criminalita potenziale e le ossessione 
omicidc. Archivio di psichiatria etc., 1902, p. 345. 
Portigliotti: La pazzia morale in Giovanni delle 
Bande Nere. Ibidem, p. 333. 

Portigliotti: U11 grande monomane: Fra Girolamo 
Savonarola (Schluss), lindem, p. 383. 

P 11 g 1 i a : Unioni criminale semplid e responsabilita 
jienale (Fortsetzung). Ibidem p. 403. 

Lasclii: II „reato“ cli scioper«» (Ende). Ibidem, p. 420. 
Lombroso: Suggestione criminali in alcoolisla pare- 
sico. Ibidem, p. 434. 

Bert in i: II contomo facciale e sue anomalic negli 
epilettid, nei paranoici e negli idioti. Ibid., p. 43b. 
Audenino: loi caso di pazzia morale. Ibid., p. 4O3. 
Neri: Inversione e perversione sessuale complessa. 
Ibidem, p. 471. 

Neri: Pefvertito necro filiare pederasta etc. Ibidem, 
P- 472 . 

Ingegneros: Valor de la psicopatologia en la an- 
tn»pulogia ( riminale. Archivio de criminalogia etc. 
Buenos Aires, 1002, |an. 

Regnault: La femine a 2 nez et le polyzoisme 

teratologique. Bullet et Memoires de la Sodete 
d’anthropol. de Paris, fase. 4. 

Ferrero: Se le alterazioni del sistema nervoso cen¬ 
trale siano primitive o secundarie alle mostruosita 
per difetto. Archivio per le scienze mediche. 
Vol. XXV, p. 3. 

Gualino: L’uomo Giust'ppe Mazzini. Rivista mo- 
derna politica etc., 1002, Roma. (Scluss folgt.) 

Referate. 

— Archives de Neurologie 1901. 

I la 11 u c i n a t io n s ps vcho-motriccs dans 
1 a p a r a 1 y sic gen e r a 1 e p a r A. M a r i e et J. B. 
Buvat. Nr. 07. S. 1. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Hallucinationen auf dem Gebiete der Bewegungs- 
Vorstellungen, also besonders der Sprache und der 
Schrift, sind im Ganzen bei Paralytikern selten, sie 
werden namentlich in den Remissionen beobachtet. 
Es werden 3 einschlägige Fälle mitgetheilt. 

Du sens genital etudie chez les meines 
malades aux trois periodes de laparalvsie 
generale p a r M a ra n d o n d e M o 111 y e 1 . Nr. 
67, S. 14. 

Im Anschluss an eine fiühcre Arbeit theilt Ver¬ 
fasser die Ergebnisse seiner Beobachtungen über den 
Geschlcchtstrieb bei 108 männlichen Paralytikern in 
den verschiedenen Stadien der Erkrankung mit. In 
95 % konnten Feststellungen gemacht werden, in 
93,8% fanden sich Aenderungcn. Niemals war 
sexuelle Perversion im Zusammenhang mit der Er¬ 
krankung selbst zu beobachten. Abschwächung des 
Geschlcchtstriebes war 4 mal häufiger als Erhöhung 
und zwar trat sie entgegen der geltenden Ansicht 
ungleich häufiger in dem Prodromalstadium auf als 
die Vermehrung des Geschlechtstriebes. Selbst in 
den weitgehendsten Remissionen zeigte sich der Gc- 
schlechtstrieb in einem Verhältnis* von 86 : 100 be¬ 
fallen, auch hier überwog bei weitem die Absc hwäch¬ 
ung. Bei den dementen Formen und in den Ruhe¬ 
perioden findet man noch am meisten eine Erhöhung, 
die nur noch in den expansiven Zuständen häufiger 
ist. Normale Verhältnisse oder veistärkten Geschlechts¬ 
trieb findet man bei Fällen bis zum Alter von 40 
Jahren, von da ab tritt eine schnell fortschreitende 
Verminderung ein. Je geringer die begleitenden 
motorischen Störungen sind, desto häufiger findet 
sich ein normales Verhalten der Geschlechtsfunktionen. 
Aetiologisch kommt in erster Linie Alkoholismus in 
Betracht. Das frühzeitige und ausgesprochene Auf¬ 
treten der Störrungen kann im Prodromalstadium der 
Paralyse die Diagnose wesentlich stützen. 

Considerations statistiques sur lc Service 
„d’observations gvnecologiques* 1 de Fasile 
public de Ville-Evrard en iHoq par Lucien 
Pique et Feburc. Nr. 68, S. 81. 

Unter Anführung der Thatsarhe, dass unter 400 
bis 450 Kranken nur 60 Kranke gynäkologisch unter¬ 
sucht werden konnten, werden die Mängel der be¬ 
stehenden Vorschriften, durch welche eine Unter¬ 
suchung und Behandlung in so hohem Grade einge¬ 
schränkt wird, hervorgehoben und Abänderungen 
für dringend erfoidcrlich erklärt. Unter den 00 
Kranken waren nur 2 frei von gynäkologischen Allec- 
tionen. Die; Verfasser betonen, dass für die Chirur¬ 
gie; bei den Geisteskranken noch ein weites Feld 
übrig ist, und dass Maassregeln, die c hirurgische Be¬ 
handlung zum Wohl der Krankem zu erleichtern, in 
hohem Grade wünschenswerth erscheinen. 

Sur un cas d’amnesie continue, conse- 
cutif ä uiic ten tat ive de suicide par Pox vdc 
de rarbonc par Trudle et I* e 11 t. Nr. 68, 
S. So. 

Bei einem 54jährigen Mann trat im Anschluss 
an eine, in selbstmörderischer Absicht unternommene 
Kohlenoxydgasvergiftung, nac h 2 tägigem Coina ein 
Zustand von Depression mit Apathie und Hemmung 


auf, der weiterhin eine Besserung erfuhr. Es bestand 
ausserdem eine völlige Amnesie für den Selbstmord¬ 
versuch und die Vorbereitungen dazu, eine retrograde 
Amnesie wechselnder Natur für die Vorgänge, die 
sich in den Wochen vor dem Selbstmordversuch zu¬ 
getragen hatten, sowie eine Gedächtnisschwäche 
(Störungen weitgehendster Art in der Denkfähigkeit), 
die von Dauer blieb. Anderweitige psychische Stö¬ 
rungen, insbesondere auf intellektuellem Gebiete, sollen 
nicht vorhanden gewesen sein. Das Vorkommen 
einer derartigen Gedächtnisschwäche bei Hysterie, 
Alkoholismus (Korsakoff), Selbstmordversuch durch 
Erhängen, infectiösen Erkrankungen, Traumen etc., 
wird wörtlich und als Erklärung die Janet’sche Hypo¬ 
these, dass es sich um einen Verlust der persönlichen 
Perception oder der psychologischen Verarbeitung der 
Eindrücke handelt, geltend gemacht. 

Anatomie cerebrale et Psychologie par 
Jules Sonry. Nr. 67, S. 28. Nr. 68, S. 97. 

Eingehendes kritisches Referat über die Gehirn¬ 
anatomie und ihre Beziehungen zur Psychologie, im 
Anschluss an die Arbeiten von Edinger u. a. Die 
Ansichten, welche der Verfasser über das Bewusst¬ 
sein und dessen Zustände in ihrer Entwicklung in der 
Thierruhe vorbiingt, weichen in mancher Hinsicht 
von der Edingcr’schen Auffassung ab. Zu einem 
kurzen Referat sind die Ausführungen nic ht geeignet. 

Hysterie juvenile chez une fillette de 
doucc ans — Hcmi-ancsthesie sensitive- 
scnsorielle gauche comp lote. Neuf crises 
d’a mau rose double absolue. Perversion 
de la vision bin ocu laire: discussion par R. 
Cr uchet. Nr. 69, S. 177. 

12 jähriges Mädchen mit vollständiger linksseitiger 
sensitiv-sensorieller Anästhesie, besonders linksseitiger 
Taubheit, Hemiparese links, leichter rechtsseitiger 
Hemihypcrästhesie, doppelseitiger Amaurose, die an¬ 
fallsweise auftrat. Auf dem linken Auge halbe Seh¬ 
schärfe', Ac'commoclationskrampf, beiderseits Einschrän¬ 
kung des Gesichtsfeldes, Dyschromatopsie, Störung 
des binoculären Sehaktes (vision monoculaire alter- 
nante, siinultanee). Die Amaurose trat in regel¬ 
mässigen monatlichen Intervallen auf, beginnend mit 
dem Eintritt der ersten Menstruation und dauerte 5 
bis 10 Tage. Unter Berücksichtigung der in der 
Litteratur niedergelegten Fälle, werden im Anschluss 
daran die verschiedenen Formen der hysterischen 
Amaurose sowie die Störungen des binoc ulären Seh¬ 
aktes festgcstellt. Den Schluss bildet der Versuch, 
diese Krankheitserscheinungen durch Annahme einer 
Affection der monoeulärcn Centren zu erklären. 

Rec herche sur les troublcs psychologiques 
consecutifs a des hallucinations provoquees 
par N. Vaschide et A. Vulpas. Nr. öq, S. 208. 

Von Iugend auf imbecilles Mädchen, das früher 
an hysterischen Krämpfen, gefolgt von deliranlcn 
Zuständen, später an heftigen motorischen Erregungs¬ 
zuständen, Schlafsucht, Stuporanfällen litt, bot zu¬ 
letzt als Aequivalent Zustände von hallucinatorisc her 
Verwirrtheit, ausgesprochenes Ilalluciniren von schreck¬ 
haften Situationen mit entsprechender motorischer 
Reaction. Erinnerung in der anfallsfreicn Zeit er- 


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392 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35 


halten, lebhaftes Krankheitsgefühl, keine anderweitige 
Störung. Besserling durch Hypnose. Im hypnoti¬ 
schen Schlaf konnten nur die dabei zuweilen auf- 
Iretenden Hallucinationen posthypnotisch suggerirt 
werden. Es war so möglich, die verschiedenen 
Phasen von einfacher Hallucinose bis zur ausge¬ 
sprochenen hallucinatorischen Verwirrtheit mit Er¬ 
regung zu beobachten. Die Hallucinationen als ur¬ 
sächliche Symptome führten in mittlerer Stärke auf¬ 
tretend zunächst einen Zustand von Gedankenab¬ 
lenkung, Zerstreutheit (Distraction) herbei, aus der 
sich dann bei grösserer Intensität der Hallucinationen 
die Verwirrtheit entwickelte. Der normale Zustand 
wurde allmählich dadurch wdeder hergestcllt, dass die 
äusseren Sinneseindrücke wieder Zutritt gewannen 
und die Distraction zum Schwanden brachten, wäh¬ 
rend zugleich die Aufhellung des Bewusstseins eine zu¬ 
nehmende Orientirung ermöglichte. 

L’influence de 1’ a 1 c o o 1 et du t ab a c s u r 
le travail par Ch. F cre. Nr. 71, S. 3Ö9 u. Nr. 
7 -’> S. 463. 

Auf Grund von Experimenten mit dem Mosso- 
schen Ergographen konnte festgcstellt werden, dass 
die Geschmacks'Wirkung des Alkohols eine vorüber¬ 
gehende Excitation, ausgesprochener noch in der 
Periode der Ueberregbarkeit der Ermüdung bedinge. 
Diese Erregbarkeit scheine auf die Reizung der sen¬ 
siblen Organe, besonders des Geschmacksorgans zu¬ 
rückgeführt werden zu müssen. Das Hinabschlucken 
des Alkohols, welches nur als automatischer, durch 
das Streben nach Anregung bedingter Akt anzusehen 
sei, wäre nach dieser Richtung hin ganz unnütz und 
führe nur zur Intoxication. Rauchtabak rufe nur 
eine ganz flüchtige Erregung hervor, die in der Er¬ 
müdung noch deutlicher zum Ausdruck käme. Die 
geringe Dauer der Excitation bedinge die Wieder¬ 
holung und schliesslich die Gewohnheit, die zu einem 
Bedürfniss würde, dessen Befriedigung zu einer un¬ 
mittelbaren Beschränkung der Energie führe, ganz ab¬ 
gesehen von der Intoxicationsgelegenheit. 

Le mutisme h y s t e r i q u c dans L h i s t o i r e 
par K. Leroy. Nr. 72, S. 506. 

Mittheilung von interessanten Fällen von Stumm¬ 
heit, selbst intermittirenden Charakters, und Taub¬ 
stummheit aus den Schriftstellern des 17. und 18. 
Jahrhunderts. Das Auftreten und der Character der 
Störungen im Verein mit der Art der sich anschliessen¬ 
den Heilung lässt die hysterische Grundlage unver¬ 
kennbar zu Tage treten. 

Riebeth (Eberswalde). 

— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. u. psych. 
gcr. Mcdicin. 59. Bd. 2. u. 3. Heft. 

Nitsche-Frankfurt a. M. Ueber Gedächt¬ 
nisstörung in zw r ei Fällen von organischer 
G e h i rn k ra n k h ei t. 

Bei einem 52 jährigen Paralytiker und einem 
38jährigen an Himlues Erkrankten wurde Herabsetz¬ 


ung der Aufmerksamkeit, der Merkfähigkeit und des 
Reproductionsvennögens festgesetzt. Der Paralytiker 
bot diese 3 Störungen in mehr gleichmässiger Weise, 
bei dem anderen Pat. w r ar die Merkfähigkeit in her¬ 
vorragender Weise herabgesetzt. Von den verschie¬ 
denen Wahrnehmungen behielten beide Pat. diejenigen 
des Gesichtsssinnes noch am besten. 

Bei Anwendung der Rauschburg'schen Methode 
ergaben sich bei dem Paralytiker infolge der Ermüdung 
noch ungünstigere Resultate. 

Ru d ol ph-H ei 1 br on n a. N. Ueber eine 
Form von Zwangshandlung nebst ausführ¬ 
licher Fa m i 1 i e n - K r a n k h e i tsg esc h i ch t e. 

Verf. beobachtete bei einem Schüler, dass er 
beim Berühren eines Gegenstandes letzteren nachein¬ 
ander und wiederholt an genau der gleichen Stelle 
mit symmetrischen Körpertheilen berührte, wobei die 
Anzahl der Berührungen von der geraden Zahl be¬ 
herrscht zu sein schien. 

Die gleiche Erscheinung boten 2 aus einer sehr 
schwer belasteten Familie stammende Geschwister. 
Die Tochter hatte die „Eigentümlichkeit“, alle Gegen¬ 
stände, die sie berührt hatte, wiederholt berühren zu 
müssen mit dem „folternden Gedanken“, dass im Unter¬ 
lassungsfälle ihr oder der Familie etwas Schlimmes zu- 
stossen würde. Der Sohn musste alle Gegenstände, 
die er berührt hatte, ebenso mit der anderen Hand, 
dem anderen Fuss etc. wiederholt nach Maassgabe der 
geraden Zahl berühren. Dabei habe ihn immer die 
Zwangsbefürchtung gefoltert, dass sein Vater im Unter¬ 
lassungsfälle sterben würde. Beide Geschwister litten 
an hvster. Irresein. Das Symptom nennt Verf. Hapto- 
manie. 


— Richtigstellung. Die durch ihre Kürze 
missverständliche Notiz in Nr. 31 wegen der An¬ 
wendung desneuen Justiz-Min.-Erlasses vom i.Oct. 
iqo2 auf die Insassen der öffentlichen Anstalten ist 
dahin richtig zu stellen, dass nach dem neuen Erlass 
der Richter zu prüfen haben wird, ob besondere 
Umstände vorliegen. Wenn er solche in der An¬ 
staltsbehandlung eines Kranken und der daraus sich 
ergebenden Möglichkeit, die Anstaltsärzte als Sach¬ 
verständige zu hören, erkennt, kann er dementsprechend 
verfahren, da er überhaupt in der Auswahl der Sach¬ 
verständigen nicht beschränkt ist. Siemens. 

Mehrfachen Anregungen gemäss wird beabsichtigt, 
Sonderabzüge einer Sammlung möglichst aller der¬ 
jenigen Artikel herzustellcn, welche eine Erörterung 
des preuss. Justizministcrial-Erlasses vom 1. Oktober 
1902 enthalten. Interessenten werden daher gebeten, 
Bestellungen und etwaige sonstige Wünsche bis spä¬ 
testens 7. Decbr. er. an den Unterzeichneten Verlag 
gelangen zu lassen. 

Carl M a rhcdd, Verlagsbuchhandlung, 
Halle a. S. 


Für den redactiouellcn Tlicil verantwortlich : Übcraizt Dr. J . iiresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe*. — Verlag von Car! M&rhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche P.uchdruckerci (Gebr. WolfT) in Halle a S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 36. 6 . December. 1902. 

Die Psychiatrisch-Neurolo gische W ochensc h r i f t erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesiern, tu richten. 

Inhalt. Originale: Ueber hysterisches Irresein, Von Oberarzt Dr. Eduard Hess (Stephansfeld i. E ) (S. 393). — Mittheilungen 
(S. 398). — Referate (S. 403). — Bibliographie (S. 403). — Personalnachrichten (S. 404). — Erwiderung. Von Dr. 
Hoppe (S. 404). 


Ueber hysterisches Irresein. 

Vortrag, gehalten in der 33. Versammlung der südwestdeutschen Irrenärzte zu Stuttgart am 2. Novbr. 1902. 

Von Oberarzt Dr. Eduard Hess (Stephansfcld i. E.). 


M. H. 

egenüber der älteren, ziemlich allgemein gütigen 
Anschauung über die hysterischen Geistesstö¬ 
rungen, die ich als bekannt voraussetze — die neueste 
Darstellung, die mir zugänglich war, ist die von 
Fürstner in dem Ley d e n - K 1 em per er’schen 
Sammelwerk „Deutsche Klinik am Eingänge des 
zwanzigsten Jahrhunderts“, ausserdem verweise ich auf 
das Kapitel „Hysterie“ in Hoche’s „Handbuch der 
gerichtlichen Psychiatrie“ —, fasst Kraepelin den 
Begriff „Hysterisches Irresein“ wesentlich enger, ihm 
ist das „Hysterische Irresein“ eine ganz bestimmte, 
circumscripte Krankheit, und als practisch wichtigste 
Folge aus dieser Lehre ergiebt sich, dass, wenn sie 
richtig ist, mit der Anschauung gebrochen werden 


muss, es könnten hysterische Symptome auch bei 
andern Psychosen Vorkommen, oder es könnten auf 
dem Boden der Hysterie anderweitige Psychosen, 
wie etwa eine Hystero-Melancholie oder eine hyste¬ 
rische Paranoia, sich entwickeln. 

Kraepelin’s Auffassung, die eine noth wendige 
Konsequenz seiner klinischen Betrachtungsweise ist, 
und in dem betreffenden Abschnitt seines Lehrbuchs 
(1899) deutlich zu Tage tritt, hat, so weit ich die 
Litteratur überblicke, bis vor einem Jahre keine grosse 
Aufmerksamkeit erregt, vielleicht, weil Kraepelin 
darauf verzichtet hat, die Merkmale, die seine Lehre 
von der allgemeinen Anschauung unterscheiden, mit 
besonderer Schärfe und Ausführlichkeit hervorzuheben. 
Das ist nun vorigen Herbst von Nissl geschehen 


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394 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36 . 


in dem bekannten Vortrag*) auf unserer Karlsruher 
Versammlung. Die Erörterungen, die sieh in der 
Versammlung [Fürstner, Gaupp, Friedmann**)] 
und in der Presse [Ra ecke***), Wer nick ef)] da¬ 
ran angeschlossen haben, waren grösstentheils theo¬ 
retischer und methodologischer Natur, und ich beab¬ 
sichtige nicht, sie hier fortzusetzen, sondern ich möchte 
nur einen kurzen Beitrag zur Lösung der Frage aus 
dem practischen Anstaltsbetrieb geben. 

Nach Nissi waren von sämmtlichen in die Hei¬ 
delberger Irrenklinik aufgenommenen Frauen nur 
1,5% an hysterischen Psychosen erkrankt, dagegen 
waren sogenannte hysterische Symptome bei einfachen 
Seelenstörungen eine relativ häufige Erscheinung 
(14,4 °/ 0 )* Für die zuletzt genannte Kategorie habe 
ich keine Zahlen festgestellt, ich glaube aber, wenn 
ich nach dem allgemeinen Eindruck uriheilen darf, 
dass der Prozentsatz in Stephansfeld eher höher als 
niedriger ist; für die hysterischen Psychosen sui 
generis dagegen bleibt die Prozentzahl der Stephans¬ 
felder Fälle, wie Sie gleich hören werden, hinter der 
in Heidelberg gewonnenen noch etwas zurück. 

Ich möchte hier ausdrücklich bemerken, dass ich 
nicht etwa durch Nis sl’s Zahlen unwillkürlich be¬ 
einflusst worden bin, denn meine Zahlen sind grössten - 
theils viel älteren Datums, und meine Hysteriediag¬ 
nosen stammen zumeist aus der Zeit vor X iss Ts 
Vortrag. Ich verweise darauf, dass ich schon im 
Jahre 1898 auf unserer Versammlung zu Heidelberg 
in einem Vortrage ft) gelegentlich erwähnt habe, dass 
unter den seit Jahren in Stephansfeld aufgenommenen 
Kranken gar keine Form — abgesehen von den 
Raritäten — so selten vorkam wie hysterisches Irre¬ 
sein. 

Meine statistische Berechnung erstreckt sich auf 
die Aufnahmen, die in der Zeit vom 1. April 1897 
bis 30. September dieses Jahres stattfanden; es waren 
dies 882 Männer und 847 Frauen, insgesammt 1729 
Zugänge. Davon litten 1 Mann und 11 Frauen, im 
Ganzen demnach 12 Personen, meiner Ansicht nach 
an hysterischem Irresein; in Prozenten bei den Män¬ 
nern 0,11, bei den Frauen 1,2.9,, unter allen Auf¬ 
nahmen 0,69 hysterische Psychosen. Nissi fand, 
um es zu wiederholen, bei den Frauen der Heidel¬ 
berger Klinik 1,5% Hysterische, also 0,2 mehr als 
ich in Stephansfeld. 

*) Centralblatt für Neivenheilkunde und Psychiatrie, 25. 
Jahrgang, Nr. I. 

**) Allgem. Zeitschrift für Psychiatric, Bd. 59. 

***) Neurologisches Ccntralblatl 1902, Nr. 7. 

-[-) Monatsschrift für Psychiatric und Neurologie 1902, 
Bd. t2. 

ff) Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 55, S. 703. 


Bei Stellung der Diagnose „hysterisches Irresein“ 
habe ich mich im Wesentlichen an die Beschreibung 
K r a e p e 1 i n ’s gehalten. Es erübrigt sich, hier näher 
darauf einzugehen, denn meine Fälle von „hyste¬ 
rischem Irresein“ sind alle der Art, dass sie als solche 
ohne weiteres von jedem Anhänger der älteren An¬ 
schauung sicher anerkannt werden. Der Schwer¬ 
punkt der ganzen Frage liegt ja auch nicht hier, 
sondern bei jenen Kranken, bei denen man nach 
der älteren Lehre das Vorhandensein hysterischer 
Symptome oder Zustände annehmen kann oder muss, 
die aber nach Kraepelin und Nissi nichts mit 
dem „hysterischen Irresein“ zu thun haben. Am ein¬ 
fachsten wäre die Sache natürlich zu erläutern durch 
Vorstellung solcher Kranken oder, da mir dies hier 
unmöglich ist, durch die ausführliche Mittheilung 
ihrer Krankheitsgeschichten; in dem engen Rahmen 
eines kurzen Vortrags geht aber dies nicht an, und 
ich bin gezwungen, auf eine von mir beabsichtigte 
spätere Veröffentlichung über das Thema zu ver¬ 
weisen. Nur die wichtigsten Punkte möchte ich kurz 
besprechen ; ich nehme dabei auch Bezug auf hier¬ 
her gehörige Fälle aus früherer Zeit, die in der 
Statistik nicht berücksichtigt wurden. 

Man pflegt sich von sogenannten hysterischen 
Symptomen, die eben bei allen einfachen Seelen¬ 
störungen auftreten können, in der Diagnose nicht 
beeinflussen zu lassen, wenn sie nur in geringer Zahl 
und andrerseits Erscheinungen vorhanden sind, aus 
denen man das Bestehen einer ganz bestimmten 
nichthysterischen Psychose nachweisen kann. Anders 
liegt die Sache, wenn die vermeintlich hysterischen 
Symptome sich in grosser Menge zeigen, sodass sie 
dem Krankheitsbild ein eigenes Gepräge zu geben 
scheinen. Dies ist der Fall bei der sogen. Hvstero- 
Melanrholie. Nach meiner Beobachtung nun, schei¬ 
nen alle diese Hystero-Melancholicn Melancholien 
des Rückbildungs alters zu sein, und wenn man 
die Kranken, die an dieser wohl bekannten Form 
der Seclenstörung leiden, genau untersucht, wird man 
fast bei keinem wenigstens einzelne sogen, hyste¬ 
rische Symptome vermissen, wie hypochondrische 
Beschwerden, Uebertreibung, Verstellung, Hyper¬ 
ästhesien und Parästhesien, Globus und Clavus, Ovarie, 
Krämpfe, jähen Stimmungswechsel u. dgl. Dabei han¬ 
delt cs sich in der Regel um Personen, bei denen 
vor der Erkrankung alles fehlte, was auf Hysterie 
oder hysterisches Temperament hätte schliessen lassen. 
Wenn nun aber diese hvstcricähnlichen 
Symptome stete Begleiter der Rückbil- 
d u n g s me 1 an c h ol i e sind, so liegt meines 
Erachtens nicht der geringste Grund vor, 


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iQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


sie irgendwie mit dem hysterischen Irre¬ 
sein in Beziehung zu bringen, es sind eben 
Symptome der Rückbildungsmelancholie. 

Eine andere Psychosengruppe, bei der, besonders 
im Beginn der Erkrankung, die sogenannten hyste¬ 
rischen Symptome oft in überreicher Menge Vor¬ 
kommen, ist die Dementia praecox. Ich möchte 
hier anstatt allgemeiner Ausführungen mich auf die 
Erwähnung einiger sehr lehrreicher Fälle beschränken. 
Es waren weibliche Patienten, bei denen wir mit 
gutem Recht die Diagnose ,,Hysterisches Irresein“ 
stellen zu können glaubten, bei einer davon, die vor¬ 
her in der Strassburger psychiatrischen Klinik behan¬ 
delt worden war, in Uebereinstimmung mit der 
Diagnose der Klinik. In verhältnissmässig kurzer 
Zeit aber trat unerwarteter Weise bei diesen Kranken 
tiefe und dauernde Verblödung ein. Dürfen wir nun 
annehmen, dass hier ursprünglich eine Hysterie be¬ 
stand , die unrnerklich in Dementia praecox über¬ 
ging ? Es hatten doch zweifellos die An- 
fangssymptome, wenn sie noch so sehr 
nach Hysterie aussahen, mit der Hysterie 
t hatsächlich gar nichts zu t h u n , sondern 
es waren die Symptome eines beginnen¬ 
den Verblödungsprozesses, und es wäre viel¬ 
leicht möglich gewesen, dies von vorneherein zu er¬ 
kennen. Man sieht an diesen Fällen auch, wie 
praktisch wichtig in Hinsicht auf die 
Prognose es ist, sich durch sogenannte 
hysterische Sym p tome nicht irrefüh r en zu 
lassen. 

Die viel besprochene und umstrittene sogenannte 
„Hysteroepilepsie“ hat uns diagnostisch wohl manche 
Schwierigkeiten gemacht, aber wir konnten die sehr 
wenigen zweifelhaften Fälle schliesslich doch in ein¬ 
deutiger Weise aufklären; auf Einzelheiten einzu¬ 
gehen würde zu weit führen. 

Die von Ganser*), R a e c k e **) und anderen 
beschriebenen „hysterischen Dämmer- und Stupor¬ 
zustände“ habe ich nie beobachten können, obwohl 
wir an Zugängen aus Untersuchungs- und Strafhaft 
durchaus keinen Mangel haben. 

Der einzige männliche Hysteriker, den ich in 
meiner Statistik erwähnte, war ein Strafgefangener, 
bei dem die Psychose im Anschluss an ein Trauma, 
das er bei der Arbeit im Zuchthaus erlitten, zum 
Ausbruch gekommen war; er bot das gewohnte Bild 
des hysterischen Irreseins. 

Die Abgrenzung des „hysterischen Irreseins“ im 
engeren Sinne von wahrscheinlich anderartigen Psy- 

*) Archiv für Psychiatrie, Bd. 30. 

**) Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 58. 

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chosen mit gehäuften hysterieähnlichen Zügen ist oft 
sehr schwierig, und bei mehreren Fällen musste ich 
die Diagnose in der Schwebe lassen. Eine unserer 
Kranken z. B., die an ausgesprochenen Anfällen des 
manisch-depressiven Irreseins leidet, bietet nicht allein 
in den Zeiten der Anfälle, sondern auch in ihren 
„gesunden“ Tagen deutlich die Züge des „hysterischen 
Characters“. Hier spielt das nivellirende Moment der Ent¬ 
artung eine gewisse Rolle. Aber davon abgesehen 
ist die reinliche Scheidung zwischen „hysterischem 
Irresein“ im engeren Sinne Kra epelin’s und hyste¬ 
rieähnlichen Symptomen im Allgemeinen noch ein ver¬ 
hältnissmässig neues Unternehmen, das vielleicht noch 
mancherlei Modifikationen erleiden wird. Um unter 
den Kranken einer Anstalt eine gewisse wissenschaft¬ 
liche Ordnung herzuslellen, empfiehlt es sich jeden¬ 
falls, den Begriff der „Hysterie“ möglichst eng zu 
fassen. Vielleicht wäre eine Einigung und eine 
Klärung der Sache eher zu erzielen, wenn wir das un¬ 
sinnige Wort „hysterisch“ nicht hätten. Der viel 
engere Begriff „psychogen“ (Sommer*) sagt mehr 
aus, als wir thatsächlich beweisen können, und eignet 
sich deshalb wohl nicht recht zum Ersatz. Es scheint 
mir ein ähnliches Verhältnis« vorzuliegen wie zwischen 
Katatonie und katatonen Symptomen; die Katatonie 
ist eine Krankheit sui generis, katatone Symptome 
können bei Paralyse, bei Rückbildungspsychosen und 
sonst auftreten; indem wir die betreffenden Symp¬ 
tome ihrer Aehnlichkeit mit Symptomen der Kata¬ 
tonie wegen als „katatone“ bezeichnen, sagen wir 
durchaus nicht, dass sie mit dem katatonischen Irre¬ 
sein wesensgleich seien. Ebenso können wir viel¬ 
leicht nach altem Brauch das Wort „hysterisch“ in 
der allgemeineren Bedeutung weiter benützen und 
z. B. von „hysterischen“ Symptomen bei Rück¬ 
bildungsmelancholie sprechen, wir müssen uns dabei 
nur stets bewusst sein, dass diese Symptome mit dem 
eigentlichen „hysterischen Irresein“, abgesehen von 
der äusseren Aehnliehheit, in keiner Weise verwandt 
sind. 

Zum Schlüsse noch einiges zur Aetiologie und 
Therapie der Hysterie — hier „Hysterie“ im weite¬ 
sten Sinne des Wortes genommen; nicht eigene Ent¬ 
deckungen, sondern ein kurzes Referat über Beiträge 
von gynäkologischer Seite. Auf der 74. Versamm¬ 
lung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Karls¬ 
bad im September ds. Js. hat Winternitz-Stutt¬ 
gart über „Behandlungsmethoden bei Retroflexio uteri 
unter besonderer Berücksichtigung der subjektiven 
Beschwerden“-**) gesprochen; er mahnt zur vorsich- 

*) Diagnostik ddr Geisteskrankheiten. 

**) Berliner klinische Wochenschrift, 20. October 1902. 

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396 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36. 


tigen Beurtheilung der Klagen und Beschwerden bei 
Retroflexio Uteri besonders in den Fällen, in denen 
es sich um ledige oder verheirathete Nulliparen han¬ 
delt. Das gewöhnliche ist, heisst es in dem Vortrag, 
dass diese Kranken schon von mehreren Aerzten 
untersucht *und behandelt worden sind und daher 
meist mit der fertigen Diagnose zum Spezialisten 
kommen: sie klagen über Kreuz- und Rücken¬ 
schmerzen, die in die Beine oder gegen die obere 
Körperhälfte ausstrahlen, ausserdem hört man eine 
grosse Anzahl von Beschwerden aller Art, die man 
nur als nervöse oder hysterische bezeichnen kann. 
Solche Kranken sind dadurch, dass ihnen die falsche 
Lage ihrer Gebärmutter mitgetheilt wurde, und dass 
sie schon eine Zeit lang behandelt worden sind, auf 
ihren Unterleib aufmerksam gemacht worden und 
halten sich daher für unterleibslcidend. Bei der 
Untersuchung findet man einen kleinen retroflektirten 
Uterus, den man unmöglich für alle Klagen und Be¬ 
schwerden verantwortlich machen kann, zumal da jede 
Komplikation fehlt. Früher hat man geglaubt, durch 
Einlegen eines Pessars oder durch einen operativen 
Eingriff (Ventro-Vagino-Fixation, Alexander-Adams) 
diese Kranken heilen zu können, aber die Erfahrung 
hat gelehrt, dass hierdurch kein Erfolg erzielt wird. 
Während einerseits trotz normaler Lage des Uterus 
die alten Beschwerden noch vorhanden sind, ist an¬ 
dererseits bei manchen Kranken eine deutliche sub- 
jective Besserung zu konstatiren, obgleich bei der 
localen Untersuchung der Uterus wieder in Retro- 
flexionsstellung gefunden wird. Es können daher die 
Klagen und Beschwerden nicht ihre Ursache in der 
bestehenden Lageveränderung haben. Es war also 
nur der psychische Eindruck der Behandlung, welcher 
eine Besserung erzielte, die aber leider gewöhnlich 
nur kurze Zeit anhält. Es tritt demnach in der weit¬ 
aus grössten Zahl aller dieser Fälle die Neurasthenie 
resp. Hysterie bei der Wahl der Behandlungsart in 
den Vordergrund. Das beste für solche Kranken wäre, 
wenn sie überhaupt nicht untersucht und damit auch 
nicht auf eine Lageanomalie, die ohne Bedeutung 
ist, aufmerksam gemacht worden wären. Eine lokale 
gynäkologische Behandlung ist daher bei den Kranken 
dieser Art nicht angezeigt, sie wirkt sogar schädlich und 
verschlimmernd auf den ganzen Zustand. Am zweck- 
raässigsten wäre es, wenn dieselben aus der Behand¬ 
lung des Frauenarztes in die eines inneren Medici- 
ners übergehen würden, um die Aufmerksamkeit von 
der belanglosen Unterleibsafl'ection abzulenken. Auch 
die operative Behandlung, welcher Art sie auch sein 
möge, ist hier zu verwerfen. 

Aehnlich wie Winternitz äussert sich A. Theil- 


h a b e r *) in seiner Arbeit: „Der Zusammenhang von 
Nervenerkrankungen mit Störungen in den weiblichen Ge¬ 
schlechtsorganen“. Er betont die Seltenheit der eigent¬ 
lichen Reflexneurosen, und eine grosse Zahl ver¬ 
schiedener Genitalleiden (Anschwellung des Cervix, 
Risse desselben, Ulcerationen der Portio, Flexionen 
und Versionen, Pelviperitonitis u. s. w.), die im Laufe 
der Zeit als Hauptursache der Reflexneurosen, speziell 
der Hysterie erklärt wurden, hat sich in diesem Sinne 
nicht bewährt und ist rasch wieder vergessen worden. 
Theilhaber steht auf dem Standpunkt, dass speziell 
die Retroflexio uteri non gravidi gar keine, auch 
keine nervösen Symptome macht, und dass die 
sämmtlichen Störungen, die als Folgeerscheinungen 
dieser Anomalie ausgesprochen worden sind, auf 
Komplikationen beruhen. Speziell aus den Wunder¬ 
heilungen hysterischer Symptome durch Aufrichtung 
des Uterus oder andere lokale therapeutische Maass¬ 
nahmen könne man gar keine ätiologischen Schlüsse 
ziehen. 

Entgegen diesen, wohl von allen Psychiatern ge- 
theilten Anschauungen hält W. A. Freund, der 
frühere Strassburger Gynäkologe, an der reflekto¬ 
rischen Natur der Hysterie fest, und in einem gleich¬ 
falls in Karlsbad gehaltenen Vortrag: „Zur patholo¬ 
gischen Anatomie der Parametritis chronica atrophi¬ 
cans“ **) berichtet er über das anatomische Verhalten 
des nach seiner Ansicht für die Reflexneurosen ver¬ 
antwortlichen Ganglienapparats. Schon vor der Karls¬ 
bader Versammlung hat der gleiche Autor in der 
Berliner „Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäko¬ 
logie“***) über „Hysterie“ gesprochen, leider konnte 
ich mir über den Vortrag selbst keinen Bericht ver¬ 
schaffen, wohl aber über die daran angeschlossene 
Discussion. In dieser vertrat Olshausen den 
Standpunkt, von Hysterie dürfe man nur reden, wo 
eine Psychose bestehe, Neurosen allein machten keine 
Hysterie aus, Hyperemesis gravidarum z. B. habe 
mit Hysterie nichts zu thun, es gebe Hysterie genug 
ohne Anomalie an den Genitalorganen. Jaquet 
schlug vor, Psychiater und Gynäkologen sollten sich 
zusammenthun, um über Hysterie zu arbeiten; er 
habe vor 25 Jahren die auf der Westphal’schen 
Station in der Charite liegenden Kranken auf Frauen¬ 
leiden untersucht. Ausser manchem anderen Inter¬ 
essanten, z. B. der häufigen Komplikation von mangel¬ 
hafter Entwicklung des Gehirns mit Aplasie der 

*) Halle, Marhold, 1902. Referat von Haenel im Neurol. 
Centalblatt 1902, Nr. 19. 

**) Berliner klinische Wochenschrift, 13. October 1902. 

***) Sitzung vom 13. Juni 1902. Berliner klinische Wochen¬ 
schrift, 29. September 1902. 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


397 


Genitalien, sei als häufigstes Frauenleiden bei Hyste¬ 
rischen die chronische Peri- und Parametritis gefun¬ 
den worden. Jaquet will aber nicht ohne weiteres 
behaupten, dass sie die häufigste Ursache der Hysterie 
überhaupt sei. Die Gynäkologen sollten keine Ope¬ 
ration nur wegen der Hysterie ausführen, aber es 
dürften auch nicht die Nervenärzte die gynäkologische 
Behandlung einer unterleibskranken Frau nur aus 
Rücksicht auf die Hysterie zurückweisen. Macken¬ 
rodt erklärte: „Krankheitsbilder, die als hysterische 
bezeichnet werden, entstehen im Anschluss an ge¬ 
wisse, vor dem Entstehen der Krankheit festgestellte 
Veränderungen im Becken. Kranke mit hysterischen 
Psychosen sollten vor der Internirung von sachver¬ 
ständigen Gynäkologen untersucht werden. Der Sen¬ 
sibilität der Frau entsprechend können Psychosen in 
Folge localer Veränderungen sich leichter entwickeln 
als beim Manne. Die localen Symptome im Becken 
drehen sich anfänglich hauptsächlich um den Schmerz. 
Wird dieser ausgeschaltet, so können die Reflex¬ 
erscheinungen und die Psychose verhütet bezw. hinaus¬ 
geschoben werden. Die Gynäkologen haben die Ver¬ 
pflichtung, darauf zu dringen, dass nicht Frauen in 
Irrenanstalten behandelt werden, denen durch gynä¬ 
kologische Behandlung noch eine gewisse Hilfe ge¬ 
bracht werden kann.“ 

Einen grossen Schritt weiter als Mackenrodt, 
der wenigstens am Thore der Irrenanstalt Halt macht, 
geht B. S. Schultze*) in seinem Anfsatz „Gynä¬ 
kologie in Irrenhäusern“. Schultze hat schon in 
einer früheren Arbeit (1880) den seiner Meinung 
nach nicht seltenen Zusammenhang zwischen weib¬ 
lichen Genitalleiden und Psychosen betont und die 
Forderung aufgestellt, dass an jeder Irrenanstalt 
einer der Assistenten ein fertiger Gynäkologe sein 
sollte. Nach einer Arbeit von Hobbs (Buffalo med. 
Journ. 1902) über die Resultate einer sechsjährigen 
systematischen gynäkologischen Behandlung von Gei¬ 
steskranken fand sich bei 1000 Untersuchten 253 
mal ejn Genitalleiden, das einer operativen Behand¬ 
lung zugänglich war. Von diesen 253 Operirten 
starben 5, 100 wurden als von der Psychose genesen, 
59 als gebessert entlassen. In den 10 Jahren vor 
der Einführung der gynäkologischen Untersuchung 
betrug das Verhältniss der als geheilt und gebessert 

*) Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, XV, 
1902. Referat von Haenel im Neurol. Centralblatt 1902, Nr. 14. 


entlassenen Männer zu der Zahl der Aufgenommenen 
35,23 °/ 0 , das der Frauen 37,5 °/ 0 . In der fünfjäh¬ 
rigen Periode nach der Einführung der operativen 
Therapie stieg die Zahl der weiblichen Entlassenen 
auf 52,7 °/ 0 , während die der Männer 35 °/ 0 blieb. 
Die Zunahme der Heilerfolge bei den Frauen ver¬ 
hielt sich also etwa wie 100: 140, ist also sehr be¬ 
trächtlich. Auch die Dauerhaftigkeit der so erzielten 
Erfolge liess nichts zu wünschen übrig, indem die 
Zahl der rückfällig erkrankten Frauen gegen früher 
sich nicht veränderte (19 °/ 0 ). Auf Grund dieser 
Zahlen wiederholt nun Schultze mit Nachdruck 
seine früher ausgesprochene Forderung. 

Ich hoffe, dass diese Zusammenstellung neuester 
gynäkologischer Anschauungen Ihnen nicht unwill¬ 
kommen war, und enthalte mich jeden Kommentars 
dazu, obw’ohl ich von vielen kranken Frauen erzählen 
könnte, die unnütz operirt wurden, ja, die sogar die 
Entstehung ihrer Psychose bestimmt auf die Ope¬ 
ration zurückführen, ein Glaube, den ich natürlich 
nicht theile. Den Frauen, die die Natur angeblich 
in so vielen Stücken hintangesetzt und schlechter ausge¬ 
stattet hat als die Männer, kann man dazu gratuliren, 
dass sie wenigstens, wenn sie geisteskrank werden, nach 
der amerikanischen Statistik eine viel bessere Prognose 
haben als die Männer, die nun mal nicht im glücklichen 
Besitz eines retroflektirten Uterus oder einer chronischen 
Parametritis sein können. Dagegen, dass ein Arzt 
einer Irrenanstalt gynäkologisch vorgebildet ist, ist 
selbstverständlich nicht das geringste einzuwenden; in 
erster Linie muss er aber Psychiater sein. Für viel 
nothwendiger als den Gynäkologen halte ich übrigens 
vorerst den Zahnarzt. 

Trotz der Erfahrung der letzten Jahrzehnte und 
obwohl z. B. der Chirurg, der in der chirurgischen 
Behandlung Geisteskranker wohl die grösste Erfahrung 
hat und sicher nicht operationsscheu ist, Lu eien 
P i c q u e, der Chirurgien - en - chef der sämmtlichen 
Irrenanstalten des Seinedepartements, ausdrücklich 
vor der Operation Hysterischer warnt*), scheint der 
Satz Kraepelins**), dass die Messerfreudigkeit 
auf der ganzen Linie bedeutend nachgelassen habe, 
den thatsächlichen Verhältnissen leider nicht mehr 
ganz zu entsprechen. 

*) P. und Jules Dagonet: Chirurgie des altends Paris, 
1901, Masson & Cie. 

**) Psychiatrie, 1899. 


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Gck >gle 


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308 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36. 


Mittheilungen. 


— Für den IX. Internationalen Kongress 
gegen den Alkoholismus, der vom 14.—19. April 
1903 in Bremen tagt, ist das vorläufige Programm 
soeben festgestellt worden: 

1. Alkoholismus und Tuberkulose. Ref.: Dr. Legrain, 
Paris. 

2. Der Alkohol im Lebensprocess der Rasse. Referent: 
I)r. med. Alfr. Plötz. 

3. Die moderne Kultur und der Kampf gegen den 
Alkoholismus. Referent: Dr.J. Bergman, Stockholm. 

4. Der Alkohol als Genussmittel. Referenten: a) Prof. 
Fracnkel, Halle a. S.: Was ist der Missbrauch 
geistiger Getränke ? b) Prof. Forcl, Morgcs : Der 
Mensch und die Narcose. 

5. Die Rolle des Alkohols im Budget der Kulturvölker. 
Referenten: a) Dr. H. Blocher, Basel: Im Arbeiter¬ 
haushalt. b) unbestimmt: im Staatshaushalt. 

6. Die Entmündigung wegen Trunksucht. Referenten: 

a) Prof. Dr. jur. Endemann, Halle a. S. b) Prof. 
Dr. med. Cramer, Göttingen. 

7. Die Gasthausreform. Referenten: a) Fitger, Goten¬ 
burg: Das Gotenburger System in Skandinavien. 

b) Bently, London: Die alkoholfreien Wirthschaften 
in England, c) Freiherr D. von Diergaidt, Mojawola: 
Die Gasthausreform in England lind Deutschland. 

8. Alkoholismus und Bier. Referent: unbestimmt. 

9. Vcreinsthätigkeit. Referenten: a) Dr. von Strauss 
v. Torney, Senatspräsident, Berlin : Grundsätze und 
Erfahrungen des Deutschen Vereins gegen den 
Missbrauch geistiger Getränke, b) Dr. med. Lidström, 
Upsala: Die Organisation der Abstinenzvereine. 

10. Die Bekämpfung des Alkoholismus in der Marine. 
Referenten: unbestimmt. 

11. Erziehung und Schule im Kampf gegen den 
Alkoholismus. Referent: Ant. Don, Rotterdam, 

12. Aufgaben der Frau im Kampfe gegen den Alko¬ 
holismus. Referenten: a) Lady Henry Somerset, 
London oder Lady Battcrsea, London. 

Auf dem letzten Kongress gegen den Alkoholismus 
in Wien 1901 war die österreichische Psychiatrie 
stark vertreten. Auch die Betheiligung reichs- 
deutscher Psychiater wird diesmal voraussichtlich eine 
ganz besonders rege sein. Freilich wird das nächste 
Frühjahr gar viele tüchtige Kongresskräfte, die lauten 
wie die stummen, nach dem Süden, nach Madrid 
ziehen, wo vom 23.—30. April 1903 der internationale 
medizinische Kongress tagt. Das „deutsche Reichs- 
Comite“ forderte bereits in seinem Aufrufe die deutschen 
Collcgen zu reger Theilnahme auf. Vortrüge sind bei dem 
Schriftführer Prof. Dr. Posner, Berlin, S. W. Anhalts¬ 
strasse 7 oder bei Dr. A. Fernandez Caro, Madrid, 
Faculte de Medccine, anzumelden. Auskünfte mate¬ 
rieller Natur ertheilt C arl Stangen’s Reise-Bureau, 
Berlin W., Friedrichstr. 72, das als officielles Verkehrs¬ 
und Auskunftsbureau des deutschen Reichscomites 
fungirt. Eine Reihe französischer Bahnen, die spanische 
Nordbahn und mehrere italienische Dampfschitlgesell- 

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schäften stellten beieits 50 ° 0 Ermässigung der Fahr¬ 
preise in Aussicht. 

— Oberbayerische Kreisirrenanstalten. Im 

Landrath von Oberbayern kam eine vom Landrath 
Glöckle eingebrachte Interpellation an die Kreis¬ 
regierung über die Gesundheitsverhältnisse, beziehungs¬ 
weise vorgekommenen Typhusfälle in der Irrenanstalt 
Gabersee zur Besprechung, Landrath v. Brunner 
constatirt, dass die vorgekommenen Typhusfälle in 
der Hauptsache auf die schlechte Qualität des Wassers 
zurückzuführen seien. Der Landrathsausschuss, der 
die Kreisregierung von den Vorkommnissen in Gaber- 
sce rechtzeitig in Kenntniss setzte, habe sich mit der 
Sache gründlich beschäftigt, und die Verbesserung der 
Wasserverhältnisse angebahnt; irgend ein Grund 
zu Vertuschungen liege nicht vor. Regierungsrath 
Hausladcn constatirt in Beantwortung der Interpellation, 
dass zur Bekämpfung der Typhuskalamität in Gaber¬ 
see alles geschehen sei, und geschehen werde, was 
nach dem Gutachten der Aerzte als sachdienlich er¬ 
scheine. Landrath Glöckle erklärt, er halte seine 
Interpellation für ausreichend beantwortet und spricht 
die Hoffnung aus, dass die Projecte für Besserung der 
sanitären Verhältnisse in Gabersee bald zur Aus¬ 
führung gelangen. Landrath End res spricht den Wunsch 
aus, es möge die für die Irrenanstalt Eglfing genehmigte 
Summe von 7 900000 Mark nicht überschritten werden. 
Der Bau sollte möglichst beschleunigt werden, damit 
die Ueberführung der Kranken aus der Münchener 
Anstalt baldigst erfolgen und der Verkauf der letzteren 
stattfinden könne. Regierungsrath Hausladen theilt 
mit, es sei in Aussicht genommen, dass der Bau Ende 
1904 vollendet sein werde, sudass zu Anfang 1905 
die Anstalt Eglfing bezogen werden kann. Eventuell 
könnte eine theilweise Ueberführung der Kranken 
nach Eglfing schon im Mai 1904 stattfinden. 

(Fränk. Ztg.) 

— Die neue westphälischeProvinzial-Irrenan- 
stalt kommt mit dem eigentlichen Anstaltsgebäude 
auf Suttroper, mit den Wirtschaftsgebäuden auf War- 
steiner Gebiet zu liegen. Da nach dem Pavillon- 
system gebaut wird, so werden ungefähr dreissig Ge¬ 
bäude erforderlich sein, zu deren Errichtung u. a. 
25 Millionen Stück Ziegelsteine zur Verwendung 
kommen. Der eigentliche Bau wird erst im Frühjahr 
1903 beginnen, doch soll mit den Planirungs- und 
sonstigen Arbeiten schon recht bald der Anfang ge¬ 
macht werden. 

Camberg. Es soll hier eine 3. Irrenanstalt 
für den Reg.-Bez. Wiesbaden errichtet werden. 

— Breslau. Die mustcrgiltigcn neuen Univer¬ 
sitätskliniken ergänzend, erbaut der Staat in der ver¬ 
längerten Auenstr. in Breslau eine staatliche Irren¬ 
anstalt. 

— Fürsorge f tir d ie G eistes kranken in Hessen. 
Das Kuratorium des Hilfsv. für die Geisteskranken in 

Original frum 

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1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Hessen bringt in seinem letzten Jahresbericht (1901/02) 
zur allgemeinen Kenntnis, dass der Hilfsverein neben 
der ihm obliegenden Fürsorge für die Geisteskranken 
von nun an auch für gering bemittelte und unbe- 
mittelteNervöse(N eurastheniker, Hysterische, Hypo¬ 
chonder u. s. w.) und für geistesgesunde erwachsene 
Epileptische helfend eintreten will, und zwar in der 
Weise, dass er das im einzelnen Fall angezeigte Kur¬ 
verfahren ermöglicht und die hierzu erforderlichen 
Geldmittel zur Verfügung stellt. Während dem wohl¬ 
habenden Nervenleidenden die erforderlichen Heil¬ 
mittel überall und im reichsten Maasse geboten sind, 
und während die Invalidenversicherungs-Anstalt Gross¬ 
herzogthum Hessen den nervös erschöpften versiche¬ 
rungspflichtigen Arbeiter dem Sanatorium in Linden- 
fels zuführt und auf Grund der seither erzielten gün¬ 
stigen Erfolge sich entschlossen hat, gerade diesen 
Kranken fortan eine ganz besondere Fürsorge zu theil 
werden zu lassen, fehlt alle und jede sachgemässe 
Hilfe jenen zahlreichen gering bemittelten und unbe¬ 
mittelten Nervösen, für die keine Krankenkasse, keine 
Berufsgenossenschaft, keine In validen versicherungs- 
Anstalt eintritt, also den bedürftigen Nervösen des 
sogenannten Mittelstandes und der gebildeten Stände, 
dem mittleren und niederen Beamten, dem Lehrer, 
dem kleinen Kaufmann und Handwerker, kurz allen 
denen, die nur zu oft ihre Kräfte in den Anstrengungen 
des Berufes und in quälender Sorge um ihre Familie 
aufreiben und, immer das drohende Elend vor Augen, 
im Kampfe um die Existenz sich verbluten, bis sie 
zuletzt in bitterer Not, nicht selten durch eigene Hand 
oder in unheilbarer Geistesstörung, ihr Leben bc- 
schliessen, einzig und allein deshalb, weil sie ausser 
Stande waren, die zu ihrer Erholung und Wiederher¬ 
stellung erforderlichen Geldmittel zu erschwingen. Der 
Hilfsverein für die Geisteskranken, der seinen Sitz in 
Heppenheim und Hofheim hat, will die Anregung 
dazu geben, dass dieser schreiende sociale Missstand 
verschwindet. Das Kuratorium des Vereins hat ver¬ 
suchsweise und für das Jahr 1902/03 den Verwaltungen 
der drei Kassen des Vereins zu dem angegebenen 
Zweck einen Credit von zusammen 9000 Mk. eröffnet. 
Vorerst sollen und können nur solche wirtschaftlich 
bedürftige Nervenleidcnde Berücksichtigung finden, 
die nach ärztlichem Ermessen als heilbar oder doch 
in erheblichem Grade besserungsfähig erscheinen. Der 
Verein, der, wie bekannt, auch die Angehörigen von 
der Anstalt übergebenen Geisteskranken und geheilte, 
resp. wieder entlassene Geisteskranke aus seinen Mitteln 
unterstützt und in dieser Hinsicht schon viel Gutes 
gethan hat, ist nun auf die ausgiebige Betheiligung 
der privaten Wühltätigkeit angewiesen, falls die edlen 
Bemühungen, denen er dient, von schönen Erfolgen 
gekrönt sein sollen. Durch seine Vertrauensmänner, 
die er fast in allen Gemeinden des Landes hat, sucht 
er vor allem dazu beizutragen, dass die Irrenanstalten 
Heppenheim und Hofheim in ihren Einrichtungen 
und ihrem Betrieb der Wahrnehmung und der Kennt- 
nissnahme des Volkes immer näher gebracht werden. 
Zu diesem Zwecke fand am 20. v. Mts. in der Irren¬ 
anstalt zu Heppenheim eine Konferenz der Verwaltung 
des Hilfsvereins mit 12 Vertrauensmännern der Provinz 

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Starkenburg statt, bei welcher Herr Oberarzt Dr. Kratz 
einen sehr lehrreichen Vortrag über das äussere und 
innere Leben der Anstalt zu Heppenheim hielt, welche 
gegenwärtig etwa 500 Geisteskranke beherbergt. Hier¬ 
auf fand unter Führung der Herren Aerzte Dr. Bieber¬ 
bach und Dr. Kratz eine Besichtigung der Irrenanstalt 
in allen ihren Theilen statt, wobei die Vertrauens¬ 
männer reichlich Gelegenheit hatten, sich von der vor¬ 
züglichen Verwaltung der Anstalt und der guten Ver¬ 
pflegung der Kranken, die sich dort fast alle wohler 
fühlen als anderswo, zu überzeugen. 

— Die Processkosten bei einer Ehe¬ 
scheidung wegen Geisteskrankheit Wer hat 
bei Scheidung der Ehe wegen Geisteskrankheit die 
Processkosten zu tragen ? Jüngst hat das Landgericht 
II Berlin die Ehe der Parteien wegen Geisteskrankheit 
des Beklagten getrennt und die Kosten des Verfahrens 
dem gesunden Kläger auferlegt. Die Entscheidung 
wegen der Kostentragung giebt, wie Dr. jur. Fritz 
Poech in der „Deutschen Juristenztg.“ schreibt, Anlass 
zu Bedenken. Die Scheidung der Ehe erfolgt auch 
im Falle von Geisteskrankheit nur auf Grund richter¬ 
lichen Urtheils. Doch entbehrt das die Scheidung 
aussprechende Erkenntniss, entgegen der allgemeinen 
Regel, der Schuldfeststellung selbst dann, wenn die 
Geisteskrankheit durch Verschulden eines der Ehe¬ 
gatten, z. B. durch übermässigen Genuss von Alkohol 
oder von anderen Giften herbeigeführt worden ist. 
Der die Scheidung veranlassende Ehegatte wird aber 
in Ansehung des Unterhaltsanspruches und der Theilung 
des gütergemeinschaftlichen Gesamtgutes wie ein allein 
für schuldig erklärter Ehegatte behandelt. Es wird 
behauptet, von einem „Unterliegen“ der geisteskranken 
Partei im Scheidungsprocesse könne nicht die Rede 
sein; es müsse daher auch § 91 Z.-P.-O. ausser Be¬ 
tracht bleiben. Der Kläger, welcher die Fesseln der 
Ehe mit einer geisteskranken Person abstreife, thue 
dies nur zu seinem Gunsten, deshalb müsse er auch 
die Kosten des Verfahrens tragen. Dieser Einwand 
erscheint nicht stichhaltig. Da jede Scheidung einen 
Rechtsstreit zur Voraussetzung hat, ein solcher aber, 
wenn es zum Urtheil kommt, mit einem, wenn auch 
nur theilweisen Siege einer Partei und einer Nieder¬ 
lage der anderen endigt, so muss stets ein Unter¬ 
liegender vorhanden sein. Auf alle Fälle ist dies nicht 
der mit seinem Begehren durchdringende Kläger, 
folglich also der andere Ehegatte. Dem oben ange¬ 
führten Urtheilc kann daher nicht beigestiramt werden, 
sondern es hat bei Scheidung der Ehe wegen 
Geisteskrankheit der unterliegende kranke Ehegatte 
die Kosten des Verfahrens zu tragen. 

— Ueber geminderte Zurechnungsfähigkeit 
schreibt die Köln. Zeitung vom r. XI.: Das Schwur¬ 
gericht zu Oldenburg hat den Mörder des Oberamts- 
richters Becker zu 12 Jahren Zuchthaus verurtheilt, 
trotzdem einer der ärztlichen Sachverständigen, Dr. 
Engelken, in dessen Heilanstalt der Angeklagte sich 
im Jahre 1897 befunden hatte, den Angeklagten für 
unheilbar geisteskrank erklärt hatte. Es ist sehr wahr¬ 
scheinlich, dass im Anschluss an diesen Vorgang von 
neuem- die auf dem letzten Aerztetag besprochene 
Frage der Stellung des ärztlichen Sachverständigen 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSUM 



400 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36. 


zum Richter erörtert werden wird. Dabei muss aber 
von vornherein festgestellt werden, dass sämmtliche 
übrigen vernommenen Sachverständigen, die den An¬ 
geklagten zum Theil schon seit Jahren kannten, sich 
für die Bejahung der Frage der Zurechnungsfähigkeit 
ausgesprochen haben, und dass einer von ihnen, der 
Leiter einer Irrenanstalt, Obermedicinalrath Dr. Hem- 
kels, nach dieser Richtung sein Gutachten in der 
mündlichen Hauptverhandlung abgeändert hat. Also 
selbst wenn, wie vielfach von ärztlicher Seite gefor¬ 
dert wird, die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht 
mehr vom Gerichte, sondern von einem Collegium 
ärztlicher Sachverständiger entschieden werden würde, 
so würde sie im vorliegenden Falle schwerlich anders 
entschieden worden sein. Trotzdem hat diese Ge¬ 
richtsverhandlung wieder einmal so recht deutlich die 
Aufmerksamkeit auf eine Lücke unseres Strafgesetz¬ 
buchs gelenkt, deren Beseitigung den Streit zwischen 
Juristen und Aerzten über die Zurechnungsfähigkeit 
vielleicht ganz beseitigen, jedenfalls erheblich mildem 
würde. Denn wenn auch die meisten Sachverständigen 
es für ausgeschlossen erklärten, dass der Angeklagte 
geisteskrank sei, und in einem Zustande von Bewusst¬ 
losigkeit gehandelt habe, so haben sie doch alle aus¬ 
gesagt, dass bei dem Angeklagten ein Zustand hoch¬ 
gradiger Erregung Vorgelegen habe, der einer gewissen 
geistigen Abnormität entsprungen sei — und eine 
Trübung des Geisteszustandes im Gefolge gehabt habe. 
Daher haben alle ärztlichen Sachverständigen sich 
dahin ausgesprochen, dass die That eine gewisse mil¬ 
dere Beurtheilung erheische. Daraus folgt, dass nach 
der Ansicht aller ärztlichen Sachverständigen bei dem 
Angeklagten derjenige Zustand vorlag, den einzelne 
moderne Strafgesetzbücher, vor allem das italienische, 
als einen Zustand „geminderter Zurechnungsßihigkeit“ 
ausdrücklich anerkennen und bei dessen Vorliegen 
das Gesetz in einem bestimmtem, mildem Strafver¬ 
fahren anzuwenden ist. Unser Strafrecht kennt den 
Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit nicht, 
trotzdem schon wiederholt von juristischer wie ärzt¬ 
licher Seite auf seine Anerkennung gedrungen worden 
ist. Der soeben in Oldenburg abgeurtheilte Fall ist 
ein sozusagen klassischer Fall für den Begriff der ge¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit. Der Angeklagte ist 
geistig nicht ganz normal, aber nicht derartig abnorm, 
dass seine geistige Willensfreiheit gänzlich ausgeschlossen 
wäre. Auch dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung 
würde die Einführung dieses Begriffs durchaus ent¬ 
sprechen. Denn nach der jetzigen Lage wird einer¬ 
seits mancher Angeklagte ganz freigesprochen, trotzdem 
er nicht unzurechnungsfähig, sondern nur gemindert 
zurechnungsfähig ist. Anderseits tragen die Gerichte 
diesem Zustande häufig nicht so sehr Rechnung, wie 
es mit Rücksicht auf die Minderung der Zurechnungs¬ 
fähigkeit geschehen muss, und verhängen sie oft zu 
schwere Strafen, da ihnen eine besondere Grenze für 
die Fälle der geminderten Zurechnungsfähigkeit hin¬ 
sichtlich des Strafmaasses nicht gegeben ist. Wenn 
die geminderte Zurechnungsfähigkeit erst gesetzlich 
anerkannt ist, dann werden sich die Gutachten der 
ärztlichen Sachverständigen vermuthlich nicht mehr 
so schroff gegenüberstehen, wie es heute in so vielen 

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Fällen geschieht. Denn dann ist eben zwischen der 
Bejahung und Verneinung der Frage der Zurechnungs¬ 
fähigkeit eine gewisse Vermittlung hergestellt, auf die 
sich die Sachverständigen oft einigen werden. Frei¬ 
lich wird es dann auch noch Fälle geben, in denen 
der eine Sachverständige eine Unzurechnungsfähigkeit, 
der andere bloss eine geminderte Zurechnungsfähigkeit 
erblickt Aber das wird bleiben, solange wir über¬ 
haupt die Willensfreiheit als Grund von Schuld und 
Strafe ansehen. — 

Ueber dasselbe Thema äusserte sich Director Dr. 
Delbrück, bei der diesjährigen Sitzung der crimina- 
listischen Vereinigung in Bremen Dr. Delbrück be¬ 
tonte, dass es eine Menge Uebergänge zwischen geistiger 
Krankheit und Gesundheit giebt, die sich weder mit 
der „Zurechnungsfähigkeit“ noch mit der „Unzurech¬ 
nungsfähigkeit“ decken; sie sollten vielmehr Berück¬ 
sichtigung im Gesetz finden in einer Zwischenstufe 
einer „verminderten Zurechnungsfähigkeit“. Eine solche 
findet sich in vielen ausserdeutschen und älteren 
deutschen Landesgesetzgebungen. Für das Reichs¬ 
strafgesetzbuch wird sie seit lange von den Irrenärzten 
gefordert. Die Frage sollte aber jetzt verknüpft werden 
mit den verschiedenen Projecten zur Versorgung der 
gemeingefährlichen vermindert Zurechnungsfähigen. 
Solche Projecte sind die Anstalten für geisteskranke 
Verbrecher, für Minderwerthige, für unheilbare Alko¬ 
holiker, (die von den Trinkerheilanstalten zu trennen 
sind) und die „Strafabsonderungshäuser“. An Hand 
verschiedener Beispiele führt Ref. aus, dass alle dieser 
Projecte im Grunde auf dasselbe hinauslaufen. Man 
sollte sich über Character und Organisation diese 
Zwischenanstalten verständigen; dann würde man sich 
eher über die verminderte Zurechnungsfähigkeit einigen. 
Namentlich würden die Juristen einer derartigen Be¬ 
handlung des Problems mehr Entgegenkommen be¬ 
weisen. Nöthig wäre ein Meinungsaustausch zwischen 
Juristen und Irrenärzten, Theoretikern und Practikem. 
Die berufene Organisation hierfür wäre deshalb gerade 
die internationale criminalistische Vereinigung, die sich 
aus Vertretern der verschiedenen Berufsarten zusam¬ 
mensetzt. 

— Die grosse Königlich Sächsische Landes-Heil- 
und Pflege-Anstalt für Epileptische in Hochweitz¬ 
schen, deren Direktion bisher aus einem Verwaltungs¬ 
beamten, dem 1. Anstaltsarzte und dem Anstalts¬ 
pfarrer gebildet wurde, ist am 1. Oktober d. J. unter 
ärztliche Direction (Medicinalrath Dr. Böhme) 
gestellt worden. Man muss es lobend hervorheben, 
dass die Kgl. Sächs. Regierung diese Aenderung vor¬ 
genommen hat und in der Auflassung, dass eine solche 
Anstalt unter eine einheitliche ärztliche Leitung 
gehört, mit gutem Beispiel vorangeht, angesichts des 
in letzter Zeit wieder mehr sich breit machenden 
genossenschaftlichen Unternehmerthums, bei welchem 
die Vertretung des genossenschaftlichen Pflege¬ 
personals und somit gewissermassen dieses selbst 
Herr in der Anstalt ist, anstatt des Arztes, der also 
eigentlich Beamter des Pflegepersonals ist! Welchen 
Respect man in gewissen Kreisen vor solchen Ge¬ 
nossenschaften haben mag, kann man daraus schliessen, 
dass eine Regierungs - Besuchscommission bei der 

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HARVARD UN1VERSITY 




1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


401 


Revision einer Anstalt, in der neben genossenschaft¬ 
lichem Personal auch weltliches angestellt ist, die Vor¬ 
legung der Personalacten des nichtgenossenschaftlichen 
Pflegepersonals verlangte, von der Einsicht in die¬ 
jenigen desj genossenschaftlichen jedoch Abstand 
nahm, was natürlich nicht das richtige Verfahren ist. 

— 33- Versammlung südwestdeutscher Irren¬ 
ärzte in Stuttgart am 1. und 2. November 1902. 
Die Versammlung, welche 100 Theilnehmer aus ganz 
Südwestdeutschland zählte, war die bestbesuchte, welche 
der Verein je abgehalten hat. Das „Med. Corre- 
spondenzblatt des Württemberg, ärztl. Landesvereins“ 
hatte sich mit einer psychiatrischen Nr. (vom 1. Novbr. 
1902) eingestellt, an deren Spitze ein kurzer, aber 
herzlicher Gruss die Gäste in Stuttgart bewillkommnete 
und die Aufsätze von Med.-Rath Kreuser: Geschicht¬ 
licher Ueberbliek über die Entwicklung des Irrenwesens 
in Würtemberg, von Med.-Rath Dietz: der heutige 
Stand der Irrenfiirsorge in Württemberg und die neue 
Irrenanstalt Weinsberg, San.-Rath Wildermuth: die 
Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württemberg, 
Dr. Wiedenmann: die Privat-Irrenanstalt Rotten¬ 
münster bei Rottweil (mit 1 Abb. und 6 Plänen), 



San.-Rath Fauser: die Irrenabtheilung des Bürger¬ 
hospitals in Stuttgart (mit 2 Abbildungen), einen 
Nekrolog Zellers, mit dem Bildniss des Verstorbenen, 
Mittheilungen und schliesslich das nicht weniger als 
22 Vorträge aufweisende Programm brachte. Sanitäts¬ 
rath Dr. Wildermuth- Stuttgart begrüsste die Er¬ 
schienenen , worauf Prof. Dr. Fürstner - Strassburg 
mit der Leitung der Verhandlungen betraut wurde. 
Dieser gedachte zunächst des verewigten Obermedi- 

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cinalraths Dr. v. Zeller, zu dessen Ehrung sich die 
Anwesenden von ihren Sitzen erhoben, und verlas 
sodann ein Begrüssungsschreiben des Oberbürger¬ 
meisters Gauss. 

Die Reihe der Vorträge wurde eröffnet durch 
San.-Rath Dr. Wildermuth und Dr. Neu mann, 
die im Auftrag der Versammlung ein Referat und Kor¬ 
referat über die Gründung von Volksheilstätten für 
unbemittelte Nervenkranke zu erstatten hatten. 

Wildermuth besprach die allgemeinen Ge¬ 
sichtspunkte, die bei dieser Frage in Betracht 
kommen: 

Bei der Umgrenzung der Krankheitsformen, 
die sich zur Aufnahme eignen, hat man sich 
zunächst an die Erfahrungen zu halten, die man in 
den bisherigen offenen Nervensanatorien gemacht hat. 

Eng ist die Grenze zu zeichnen gegen die Psy¬ 
chosen. Die Hoffnung die Walter und O. Müller 
im Anfang der 70er Jahre ausgesprochen haben, in 
den offenen Anstalten leicht zugängliche Asyle für 
initiale und leichte Formen zu erhalten, hat sich nicht 
bewährt, man hat dort mit den „Lei chtvers timmten“ 
recht üble Erfahrungen gemacht. 

In Betracht können für die geplanten Anstalten 
von psychischen Störungen kommen: 

Leichtere Formen von psychischer 
Schwäche und von Zwangsvorstellungen, 
insbesonders die grosse Gruppe der jugendlichen 
Degenerirten. Die „enfants perdus neuro- 
pathiques“, deren klinische Stellung verschieden ist, 
die aber das Gemeinsame haben, moralisch und in¬ 
tellektuell defekt und unfähig zu sein, sich selbst 
einen Beruf zu schaffen. Die Aufnahme recon- 
va lescenter Geisteskranker ist nicht von 
vornherein abzulehnen. Am besten wird die Ent¬ 
scheidung über die Aufnahme von Psychosen nach 
der Formulirung H eck e rs entschieden: die Kranken 
müssen freiwillig, mit dem Wunsch sich ärztlich be¬ 
handeln zu lassen eintreten, sie müssen Krankheits¬ 
bewusstsein und Krankheitseinsicht haben, sie müssen 
Herr ihrer Handlung und im Stande sein, den ärzt¬ 
lichen Anordnungen zu folgen, sie sollen keiner be¬ 
sonderen Ueberwachung bedürfen, ihrer Umgebung 
nicht als abnorm auffallen oder lästig werden. 

Auszuschliessen sind irgendwie ausgesprochene 
epileptische Zustände (Ref. bezeichnet es als ein 
Missverständniss, dass er mehrmals als ein Vertreter 
der Ansicht citirt wurde, Epileptische und Nerven¬ 
kranke, wie sie hier in Betracht kommen, gemeinsam 
verpflegen zu können). 

Fällen von organischen Erkrankungen des 
Nervensystems soll auch, wenn sie unheilbar sind, 
aus humanen Gründen wenigstens vorübergehend Auf¬ 
nahme gewährt werden. In Betracht kommen: Tabes, 
multiple Sclerose, Myelitiden, Neuritiden und ihre Folge¬ 
zustände und ähnliche Zustände. 

Das Hauptcontingent werden natürlich die sog. 
functionellen Neurosen: Neurasthenie, Hysterie, 
Hypochondrie stellen; Unfallneurosen, die in 
jeder Krankenanstalt Unheil anrichten, sind, soweit 
thunlich, auszuschliessen, jedenfalls nur in kleiner Zahl 
und vorübergehend aufzunehmen. 

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402 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36 


Alcoholisten in leichterer Form können aufge¬ 
nommen werden. Potatoren im Stadium der Ent¬ 
ziehung und notorische Säufer nicht. Die Anstalt 
darf nicht den Charakter einer Trinkerheilstätte be¬ 
kommen. Ausserdem sollen Erholungsbedürftige 
verschiedener Art, Anämische, Chlorotische, 
Reconvalescenten, leichte Fälle von Herz¬ 
krankheiten aufgenommen werden können. Diese 
Art Kranker, wie die organisch Nervenleidenden 
würden die ärztliche Arbeit interessanter und dank¬ 
barer machen. 

Die Einrichtung und der Betrieb der Anstalt 
wäre im Wesentlichen nach den von Möbius erstmals 
scharf präcisirten, in neuester Zeit von Eschle ent¬ 
wickelten Grundsätzen als Arbeitsanatorium einzu¬ 
richten. Dabei dürfen die Einwände, wie sie nament¬ 
lich Rieger gegen die Verwendung der Arbeit als 
hauptsächliches Heilmittel ausgesprochen hat, nicht 
unberücksichtigt bleiben: Ein grosser Theil det Nerven¬ 
kranken, die die jetzt bestehenden offenen Anstalten 
aufsuchen, ist in erster Linie ruhebedürftig. Körperliche 
Beschäftigung kann gelegentlich, namentlich als Ueber- 
gang ins Berufsleben in Betracht kommen. Derartige 
Pat. werden auch in billigen Anstalten nicht lange 
bleiben, um nicht in ihrer Berufstellung Schaden zu 
leiden. Für einen grossen Theil von ihnen ist ein 
mehrere Monate übersteigender zusammenhängender 
Anstaltsaufenthalt gar nicht wünschenswerth. Immer¬ 
hin wird sich unter den Hysterischen und Hypo¬ 
chondern eine grössere Anzahl finden, die sich zur 
Arbeit eignet. Ob es möglich sein werde, solche 
Kranke auf die Dauer zu einem nützlichen Berufs¬ 
leben auch ausserhalb der Anstalt zu erziehen, muss 
die Erfahrung zeigen. Ein wesentliches Conti n- 
gent zu den Arbeitskräften, zum Theil wohl zum 
Stamm der Arbeiter, werden die jugendlichen Dege- 
nerirten stellen (Grohmann). 

Der Ökonom. Werth der von den Kranken ge¬ 
leisteten Arbeit muss im Budget der Volksheil¬ 
stätten recht nieder angeschlagen werden. Vielfach 
wird bei dieser Frage übersehen, dass ernsthaft be¬ 
triebene landwirtschaftliche Arbeit sehr schwere Ar¬ 
beit ist, an die sich der Erwachsene, der sie nicht 
von Jugend auf getrieben hat, nur schwer ge¬ 
wöhnt. Praktisch dürfte man nicht selten auf direkte 
Arbeitsverweigerung des Patienten namentlich aus un¬ 
gebildeten Kreisen stossen. 

Trotz einzelner Bedenken ist der Gedanke von 
Möbius richtig. Der Kern der neuen Heilstätten 
muss ein Arbeitsanatorium sein. Daraus er¬ 
geben sich die Hauptzüge der neuen Anstalten von 
selbst: 

Im Mittelpunkt landwirtschaftlicher Betrieb, daran 
sich anschliessend Werkstätten verschiedener Art, ferner 
Abtheilungen für Pflegebedürftige. Einfache, alkohol¬ 
freie Verpflegung, ärztliche Direktion mit den nöthigen 
Einrichtungen für hydropathische, mechanische, elek¬ 
trische Behandlung. 

Getrennte Anstalten für männliche und weibliche 
Kranke wären wünschenswert, praktisch lässt es sich 
aber nicht durchführen. 

Können die Volksheilstätten im Anschluss 

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an schon bestehende Institute errichtet wer¬ 
de n ? 

Der Anschluss au Irren-Anstalten ist abzulehnen. 
Bei den im Publikum herrschenden Ansichten ist ein 
solcher Anschluss nicht möglich. Ref. weist dies in 
einem in dieser Richtung gemachten Versuch nach, 
der gänzlich misslungen ist. 

Es wäre aber notwendig und wünschenswert, 
dass gleichzeitig mit der Errichtung von Volks¬ 
heilstätten für Nervenkranke, für leichte und ini¬ 
tiale Formen und Psychosen, die sich weder für 
offene noch für geschlossene Anstalten, wie sie jetzt 
bestehen, eignen, gesorgt würde in der Weise, wie 
das Ludwig früher, in jüngster Zeit Schüle ausge¬ 
führt hat. Diese Art der Fürsorge hat von den Irren¬ 
anstalten auszugehen. 

Auch die Erhol un gsheime der Krankenkassen 
und Versieherungs-Anstalten, die Universitäts¬ 
kliniken und Spitäler anderer Art sind für den 
vorliegenden Zweck nicht geeignet. Es muss etwas 
Neues, Selbständiges geschaffen werden. 

Wer soll diese Anstalten errichten! 

Ref. hält in Württemberg'wenigstens eine Gründung 
durch den Staat für ausgeschlossen, auch die Ver¬ 
sicherungs-Anstalten und Berufsgenossen¬ 
schaften werden sich an der Gründung nicht wesent¬ 
lich betheiligen. 

Unterstützung seitens des Staates und der ge¬ 
nannten Organisationen ist wohl nicht ausgeschlossen. 
Würde man in diese Anstalten reconvalesccnte Geistes¬ 
kranke aufnehmen, so wäre auch von den entsprech¬ 
enden Hilfsvereinen Unterstützung zu erwarten. 

Im Wesentlichen wird man bei dem Unternehmen 
auf die P r i va t w o h 11 h ä t i gk e i t angewiesen sein. 

Um eine Zersplitterung zu vermeiden, stellt W. 
den Antrag, sich in Südwestdeutschland an das Unter¬ 
nehmen anzuschliessen, das Möbius in die Wege ge¬ 
leitet hat. Möbius wall, wie bekannt, im Verein mit 
Schweizer Aerzten ein Arbeitsanatorium im Thurgau 
errichten. 

Als Namen für die Anstalten schlägt W.: „Volks¬ 
heilstätten“ vor. 

Das Correferat von Dr. Neu mann (Karlsruhe) 
wird demnächst als Original in dieser Zeitschrift er¬ 
scheinen. 

Nach ausführlicher Erörterung des Gehörten ge¬ 
langte eine Resolution zur Annahme, in welcher die 
Errichtung von Volksheilstätten als wünschenswerth 
bezeichnet wird. Ferner wurde eine Commission ge¬ 
wählt, deren Aufgabe cs ist, diese Angelegenheit zu 
fördern und nach Verlauf von zwei Jahren dem Verein 
Bericht über ihre Arbeit zu erstatten. — 

Dr. Smith von Marbach a. Bodensee sprach 
über das Thema: Haben wir besondere An¬ 
stalten zur Behandlung des Alkoholismus 
nothwendig oder gehört diese Behandlung mit zu 
den Aufgaben der Nervenheil- und Pflegeanstalten? 
Redner rügt die moraltheologische Auffassung des 
Alkoholismus, die sich noch in ärztlichen Kreisen 
durch die Bezeichnungen „Säufer“ kennzeichnet, und 
wamt vor der Gründung von „Trinkerheilanstalten“. 
Es würde durch diese Bezeichnung von vornherein 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


den Insassen eine sociale Schädigung zugefügt. Nervöse, 
herzkranke „Trinker“ gehören in Heilanstalten für 
Herz- und Nervenkranke, die Degenerirten, die meist 
auch in der Abstinenz mit ihren Trinkleistungen zu 
renommiren pflegen, können einstweilen in abstinent 
geführten Pflegeanstalten untergebracht werden. Der 
Staat sollte nach dem Vorgang der Schweiz einen 
Theil der durch den Alkoholismus gewonnenen Steuer¬ 
eingänge zur Bekämpfung des Alkoholismus verwenden. 

(Schluss folgt.) 


Referate. 

— Die Bedeutung der Vererbung für die 
Pathologie. Von Dr. Dietrich, Priv.-Doc. u. I. Ass. 
a. path. Institut Tübingen. Verlag von Franz Pietzker, 
Tübingen 1902. Pr. 1 M. 

Nach Besprechung der wichtigsten über Vererbung 
anfgestellten Theorien schliesst sich Verf. Weissmanns 
Lehre von der Continuität des Krimplasmas an, aus 
welcher der zwingende Schluss folgt, dass erworbene 
Eigenschaften nicht vererbt werden können. Die Be¬ 
weise der Gegner Weissmanns werden widerlegt und 
das Auftreten vererbbarer Eigenschaften oder patho¬ 
logischer Veränderungen erklärt durch die Variabilität 
des Keimplasmas, die Amphimixis und die Panmijrie. 

Von der echten Vererbung im Sinne Weissmanns 
sind zu trennen die Vererbung erworbener Immunität 
und die erbliche Uebertragung von Infectionskrank- 
heiten. Erstere geschieht auf placentarem Wege 
(Pseudoheredität), letztere durch die Placenta oder von 
den Keimzellen direkt (conceptionelle oder germinative 
Infection). Speciell in Betreff der Tuberculosc vertritt 
Verf. die von der herrschenden Meinung abweichende 
Ansicht, dass an Stelle des vagen Begriffs einer erb¬ 
lichen Disposition, welche unter eine echte Vererbung 
fallen würde, die congenitale Infection zu setzen ist. 

— Ueber die Behandlung der Geistes¬ 
kranken. Von C. Pelman-Bonn. Das acute 
hallucinatorische Irresein (Amentia). Von A. 
Hoche-Strassburg i. E. Ueber Dementia praecox. 
Von A. Hoche-Strassburg i. E. 

Obige 3 Abhandlungen bilden in dem von Urban 
& Schw arzenberg verlegten, grossen Werke „die deutsche 
Klinik am Eingänge des 20. Jahrhunderts in acade- 
mischcn Vorlesungen“ die 45. Lieferung. Wie nicht 
anders zu erwarten, sind aus der Feder der beiden 
rühmlichst bekannten Autoren Arbeiten hervorgegangen, 
die sich durch grosse Klarheit, gewandte Diction und 
fesselnde Schilderung auszeichnen. 

Aus der ersten Vorlesung verdient Erwähnung, 
dass Verf. den Alkohol nur aus der Behandlung der 
Neurastheniker und aus der Kinderpraxis ganz entfernt 
haben will, dagegen bei Psychosen, namentlich acuten, 
sehr empfiehlt. In der zweiten Vorlesung w'ird be¬ 
tont, dass auch für die etwa nur stunden- oder tage¬ 
lang andauernden Remissionen, sowie für die dem 
Ausbruch des acuten Zustandes unmittelbar voraus¬ 
gehende Zeit die Voraussetzungen des § 51 erfüllt 
sind. In der dritten Vorlesung wird am Schluss noch 


403 

besonders auf die Wichtigkeit der Kenntniss der De¬ 
mentia praecox für die Militär- und Gerichtsärzte hin¬ 
gewiesen. Arnemann-Gross-Schw r eidnitz. 


Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und 
Verwandtes. 3. Quartal 1902. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 
(Schluss.) 

Fioretti: Genio e follia. Napoli 1902. 

Gurli: Le nostre carceri e i nostri riforrnatori. Pro¬ 
posta di urgenti riforme al Regolamento carcerario. 
Cavani: Se csista un mancinismo vasomotorio. 
Bolletino della Societa medica chirurg. di Mo¬ 
dena 1901. 

Niceforo: La sociologie criminelle. Le<;on faite a 
l’Universite de Lausanne. Lausanne 1902. 
Paulucci de’ Calboli: La tratta delle ragazze 
italiane. Nuova Antologia, aprile 1902. 

Sergi: Intorno al fenomeno geniale. Rivista popo- 
lare, 1902. 

Squillace: Le dottrine sociologiche. Roma 1902. 
Sainton: Un cas d’eunuchisme familial. Nouuelle 
Iconographie de la Salpetriere, 1902, Nr. 3. 
Millaut: Castration criminelle et maniaque (etude 
historique et medicolegale). These de Paris, 1902. 
Lamelle: Hemimelie et degenerescence mentale. 
Bulletin de la Socicte de Medecine mentale de 
Belgique, 1902, Nr. 105. 

Mora es: La teoria Lombrosiana del delinquente. 

Archivio de Criminalogia, 1902, Nr. 6. 
Ingegnieros: Las teorias de Lombroso ante la 
critica. Ibidem. 

Pasenti: La caratteristica de la criminalidad modema. 
Ibidem. 

Breard: Homicidio en legitima defensa. Ibidem. 
Veyga: Invertido sexual imitando la mujer honeta. 
Ibidem. 

Sofer: Ueber Vermischung und Entmischung der 
Rassen. Politisch-anthropol. Revue, 1902, Nr. 6. 
Lombroso: Puberty and genius (Fortsetzung). The 
Alien ist and Neurologist, 1902, Bd. 23, Nr. 3. 
Spitzka: A question of figures (Fortsetzung). Ibidem. 
Kirnan: Dipsomania ending in paranoia. Ibidem. 
Hughes: A neuro-psychologists plea for Byron. 
Ibidem. 

Müller, Josef: Das sexuelle Leben der Naturvölker. 

2. Aufl., Leipzig 1902, Grieben (Femau). 71 S. 
Müller, Josef: Das sexuelle Leben der alten Cultur- 
völker. Leipzig 1902, Grieben (Fernau). 143 S. 
Botti: La delinquenza femminile ä Napoli. Rivista 
mensile di psich. for. etc., 1902, Nr. 8. 
Saporito: Sulla delinquenza militare (Fortsetzung). 
Ibidem. 

Moll: Sexuelle Zwischenstufen. Die Zukunft, 1902, 
Nr. 50. 

Binet-Sangle: Les rcligieuses de Port-Royal (suite). 

Arch. d’anthropologie criminelle etc., 1902, p. 517. 
Locard: Le XVII. siede medico-judiciairc. These 
de Lyon, 1902. 


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HARVARD UNIVERSITY 



404 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36. 


Paola Lombroso: I segni rivelatori della perso- 
nalitä. Torino, Bocca, 1902. 

Marotta: L’amore e la gelosia nei sessi. Asti 1900. 

Albertotti e Bellini: Nuove note antropologiche 
e cliniche intorno all* idiota microcefalo. E. Egidio 
etc. Annali di freniatria etc. 1902, p. 274. 


Personalnachrichten. 

— Der Direktor der städtischen Krankenanstalt in 
Königsberg, Professor Dr. med. Franz Meschede, 
ist in seiner Eigenschaft als Direktor der städtischen 
Krankenanstalt beim Magistrat um seine Pensionirung 
eingekommen. Meschede, welcher im Jahre 1873 
als Direktor der genannten Anstalt nach Königsberg 
berufen wurde, wird im nächsten Jahre eine dreissig- 
jährige Dienstzeit vollenden. — Der Professor der 
Psychiatrie an der Leipziger Universität, Dr. Paul 
F 1 echsig, wurde aus Anlass des hundertjährigen Be¬ 
stehens der Universität Dorpat zum Ehrenmitglied 
dieser Universität ernannt. 


Erwiderung nebst einigen anderen nach¬ 
träglichen Bemerkungen. 

Die Angabe, dass in dem Frauenhause zu Worm- 
ditt zunächst auch Männer aufgenommen werden 
sollten, war den Verhandlungen des letzten Ost- 
preussischen Provincial-Landtags entnommen 
worden, die Absicht muss also bestanden haben. Was 
die in Anmerkung gesetzte Berichtigung zu meinen 
Ausführungen in Nr. 34 bezüglich der Vorbildung des 
Wormditter Arztes betrifft, so bedaure ich, von der¬ 
selben nicht früher Kenntniss erhalten zu haben; es 
hätte dann der Schein vermieden werden können, als 
wollte ich die Persönlichkeit des betr. Coilegen, dessen 
Namen ich nicht in die Debatte gezogen habe, kriti- 
siren, während sich meine Ausführungen nur gegen 
das System richten. — Ich überlasse es der Beur- 
theilung der Fachcollegen, welches Maass der Vor¬ 
bildung sie für die Einrichtung und Leitung einer 
Epileptiker-Anstalt für nöthig erachten. Die preuss. 
Ministerial-Anweisung vom 26. März 1901 schreibt 
vor: „In der Regel ist für die Leitung einer grösseren 
oder einer heilbare Kranke aufnehmenden Anstalt 
eine etwa zweijährige Thätigkeit dieser Art erforder¬ 
lich. Je nach dem Bestände und Wechsel der Kranken 
und wenn die Anstalt ausschliesslich unheilbare Kranke 
aufnimmt, kann die Dauer der Ausbildung auf etwa 
ein Jahr herabgesetzt werden.“ Welche Vorbildung 
für die Einrichtung einer solchen Anstalt nöthig 
ist, darüber schreibt die Verfügung nichts. Jedenfalls 
würde eine 2 jährige Anstaltsthätigkeit nirgends als 
einigermaassen ausreichend für die Einrichtung und 
Leitung einer öffentlichen Anstalt erachtet werden. 
Und wenn die oslpreuss. Prov.-Verwaltung für ihre 
Epileptiker eine eigene Anstalt gebaut hätte — was 
wohl alle provincialbeamteten Aerzte und gewiss auch 
die andern Prov.-Verwaltungen für das Richtige halten 


— so hätte sie, entweder aus dem eignen Bereich 
oder demjenigen anderer öffentlicher Verwaltungen, 
Aerzte anstellen können, die 6, 8 Jahre und noch 
länger dem Staate treu gedient haben und bei prak¬ 
tischer und wissenschaftlicher Erprobtheit und Erfah¬ 
rung als Oberärzte oder selbst noch als Assistenzärzte 
auf eine selbständige Stellung warten. 

Dies trifft übrigens mutatis mutandis auch für die 
übrigen Anstaltsbeamten der Provinz Ostpreussen zu. 

Zum Schluss will ich noch bezüglich der Trinker¬ 
anstalt zu Carlshof auf Wunsch des Leiters derselben, 
des Herrn Pfarrer Dembowski, gern klar stellen, dass 
der nach dessen Ansicht zu Missdeutungen Anlass 
gebende Satz: „Bemerkenswerth ist, dass die erste 
und nothwendigste Bedingung für eine erfolgreiche 
Trinkerbehandlung, die Alkoholabstinenz an Haupt 
und Gliedern, in der Anstalt Carlshof fehlt“, natürlich 
nicht dahin zu verstehen ist, dass die Abstinenz auch 
bei den Kranken selbst fehlt. Dieselben bekommen 
selbstverständlich keine Alkoholika und auch der 
Hausvater, der mit ihnen zusammen im Trinkerhause 
wohnt, lebt abstinent. Bios die Abstinenz an Haupt 
und Gliedern fehlt, sie fehlt bei dem Direktor der 
Anstalten, beim leitenden Arzt, welcher speciell Arzt 
der Trinkeranstalt ist, bei den übrigen Aerzten, die 
ihn wohl gelegentlich zu vertreten haben, bei den 
übrigen an der Carlshofer Anstalt angestellten Pfarrern, 
welche sicher auch dienstlich mit den Trinkern in 
Berührung kommen, bei den Verwaltungs- und niederen 
Beamten und bei den Diakonen und Diakonissinnen 
der Anstalten (bei den letzteren vereinzelte Aus¬ 
nahmen). Die Aerzte und wohl auch die übrigen 
höheren Beamten bekommen ex officio zu ihrer Kost 
täglich eine Flasche Bier aus der Anstaltsküchc ge¬ 
liefert, die Diakonen und Diakonissinnen eine Flasche 
Braunbicr oder Limonade nach Belieben. Auch die 
Epileptiker bekommen gelegentlich bei Festen Braun¬ 
bier. Aus der Oekonomie können die Beamten so 
viel Bier beziehen als ihnen beliebt. Also kurz und 
gut, auf dem gesammten Gebiet der Carlshofer 
Anstalten mit Ausnahme des zu ihnen gehören¬ 
den und mit ihnen organisch verbundenen Trinker¬ 
hauses heirscht nicht die Abstinenz, sondern wird 
der Genuss geistiger Getränke autorisirt, während in 
einer mustergiltigcn Anstalt die zu heilenden 
Trinker durch das Beispiel der gesammten enthalt¬ 
samen Umgebung zur Enthaltsamkeit erzogen werden 
müssen. Völlige Enthaltsamkeit von allen 
geistigen Getränken für alle Angestellten 
der Anstalt in und ausser dem Hause ist, wie 
auch auf der ersten Conferenz der Vorstände deut¬ 
scher Trinkerheilanstalten zu Dresden am 26. Sep¬ 
tember 1900 allgemein betont wurde, die erste Be¬ 
dingung der Anstaltsbehandlung. Mit dieser Auffassung 
glaube ich mich in voller Uebereinstimmung mit den 
Resultaten der Wissenschaft, mit der Gesammtheit 
der Irrenärzte und mit der erdrückenden Majorität 
aller derer zu befinden, die sich mit der Trinkerbe¬ 
handlung ernstlich beschäftigen. Hoppe. 


Für den redactioncllcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Rres ler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 
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Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte» 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

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Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitx (Schlesien). 

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Nr. 37. 13. December. 1902. 

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Die Psy ch i atrisch - Neur ol o g isc he Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend un,d kostet pro Quartal 4 Mk. 

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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), *u richten. 

Inhalt. Originale: Die Erfolge der Epilepsie-Behandlung nach Toulouse-Richet. Von Dr. Koloman Pandy, B.-Gyula (Ungarn) 
(S. 405). — Mittheilungen (S. 411). — Referate (S. 419). 


Die Erfolge der Epilepsie-Behandlung nach Toulouse-Richet. 

Von Dr. Koloman Pandy, Primararzt der Irrenabtheilung des allg. Krankenhauses zu B.-Gyula (Ungarn). 


T m verflossenen Jahre haben meine Secundärärzte 

Dr. Halmi und Dr. Bagarus mit der Me¬ 
thode Toulouse-Richet, die man anders auch 
oligochloröse Bromtherapie der Epilepsie nennen kann, 
Versuche gemacht. Ich habe diese Versuche ebenso 
wie die litterarische Entwickelung der Frage mit 
grossem Interesse verfolgt und halte es demnach, mit 
Rücksicht auf die Wichtigkeit der Frage, für noth- 
wendig, die ganze Sache kritisch darzustellen. 

Toulouse und Rieh et haben in der Sitzung 
vom 20. November 1899 der „academie des Scien¬ 
ces“ berichtet, dass, wenn man das Kochsalz in der 
Nahrung der Epileptischen vermindert, die Wirkung 
der Bromsalze sich bei diesen Kranken in gesteiger¬ 
tem Maasse bewährt. Sie haben auf diese Weise 
bei 20 früher mit der alten Brommethode behandel¬ 
ten Kranken 81 °/ 0 Besserungen erzielt, bez. die An- 

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fälle der Kranken haben sich auf 92 °/ 0 , die Schwin¬ 
del aber auf 70% gemindert. Die Aufregungszu¬ 
stände haben sich nicht geändert. 

Ueber diese Versuche hat meines Wissens — 
ausser den Autoren zu allererst Näcke referirt. Er 
selbst hat zwar das Verfahren nicht angewendet, war 
aber mit den in Paris persönlich gesehenen Erfolgen 
so sehr befriedigt, dass er im Neur. Ctbl. vom 15. 
Juli 1900 das „neue“ und „geniale“ Verfahren über¬ 
aus lobt und unter Anderem folgendes sagt: „Die 
Methode ist also eine sehr einfache und hat trotz¬ 
dem bisher Erfolge aufzuweisen, wie kaum eine 
andere.“ 

Vier Wochen nach Erscheinen dieses Artikels hat 
Rumpf (Neur. Ctbl. 1900, Nr. 16) ebenfalls nur 
theoretisch das Thema behandelt. Er ist weniger 
entzückt als Näcke und sieht das Hauptverdienst 

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406 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37. 


Toulouse und Rieh et’s darin, dass diese für 
eine sorgfältigere Behandlung der Epilepsie einge¬ 
treten sind. Er betrachtet auch dieses Verfahren 
nicht so sehr als „neu“, und factisch finde ich selbst 
in den klassischen Zeilen , welche E s q u i r o 1 über 
Epilepsie im Jahre 1815 geschrieben, die „salaisons“ 
schon verboten; und doch glaube ich, dass die im 
Wege der Chlorentzichung erzielte Steigerung der 
Bromwirkung — eben behufs therapischer Zwecke — 
der Originalgedanke der genannten französischen Au¬ 
toren ist. Rumpf bestreitet auch die Erklärung des 
neuen Heilverfahrens, weil — nach seiner Meinung 
— von einer Ersetzung von Chlor durch Brom im 
Organismus keine Rede sein kann. Wir werden in¬ 
dessen sehen, dass diese Behauptung R uinpf's 
nicht stichhaltig ist. Ich kann aus Rumpf’s Be¬ 
merkungen nicht verstehen, weshalb die Epileptischen 
„Birnen“ nicht essen sollen, ebenso finde ich bei 
Delasiauve nicht begründet*) weshalb die Epi¬ 
leptischen frische Hülsenfrüchte, erquickendes Obst 
und gedörrte Zwetschken gemessen sollen. 

Die Mittheilungen Näcke’s und Rum pf ’s ver- 
anlassten auch mich die oligochloröse Bromtherapie 
an dem zu meiner Verfügung stehenden grossen Ma¬ 
teriale durch meine Secundärärzte erproben zu lassen. 
Dieselben haben über die erzielten Erfolge schon 
referirt, — auf deren Würdigung komme ich noch 
zurück. — 

Während bei uns die einleitenden Beobachtungen 
schon im Gange waren, sind über diesen Gegenstand 
zwei neuere Mittheilungen erschienen. Die eine 
schrieb H e 1 m s t ä d t **), aus A 1 1 ’ s sehr vorteil¬ 
haft bekannter Anstalt in Uchtspringc; die andere 
stammt vom R e zs ö B älin t, welche am 28. April 
1901 erschien,***) aber schon eine Woche früher 
im königlichen Aerztevereine zu Budapest eingehend 
besprochen wurde. Es war überraschend, dass die 
Versuche dieser zwei Verfasser, welche beinahe zu r 
selben Zeit veröffentlicht wurden, zu ga nz entgegen¬ 
gesetzten Resultaten führten. — H elmstädt, welcher 
18 Kranke 15 Wochen hindurch nach Toulouse- 
Richet behandelte, hat in jedem Falle, also ioo°/ 0 
Vermehrung der Anfälle erfahren; eine Ver¬ 
minderung der Anfälle konnte er unabhängig von 
der chlorösen oder uligochlorösen Diät nur durch die 
Erhöhung der Bromdosen erzielen. H elmstädt 
schreibt die Erfolge Toulouse-Richet’s nur der 
strengen Diät zu, in welcher die Entziehung des 

*) cit. bei Läufer: L’hypochloruration. These de Paris 
1901. 

**) Psych. Woch. 1901. 

***) Orvosi Hetilap, 1901 (ungarisch). 

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Kochsalzes keine Rolle spielt, .anderestheils erinnert 
er daran, dass die französischen Verfasser nebst ihrer 
Diät ziemlich grosse Bromdosen verabreicht haben. 
Von Interesse ist in seinem Artikel auch das, dass 
man in der Alt’schen Anstalt mit Verabreichung von 
Kochsalz ebenfalls im Stande war die Zahl der epi¬ 
leptischen Anfälle zu vermindern, sogar mit hypoder- 
matischer Einspiitzung von Kochsalz einen Status 
cpilcpticus zu unterdrücken. Eine französische Studie, 
welche H elmstädt citirt, scheint ihm auffallend 
Recht zu geben. Fleury nämlich verordnete die Cur 
Toulouse-Richct mit Kochsalz, was zumindest 
eine contradictio in adjecto bedeutet, und doch ge¬ 
langte er zu eben solchen guten Erfolgen, wie 
Toulouse und R i c h e C F 1 e u r y hält die Erklä¬ 
rung der Toulouse-Richet’schen Cur für inexact 
und schreibt den guten Erfolg nur der leicht ver¬ 
daulichen Diät zu. 

Bai int war meines Wissens der Zweite, welcher 
auf Grund einer grösseren Anzahl von Fällen über 
diese Frage in der Litteratur berichtet hat. Bai int 
hat bei 28 Kranken 80% Besserung erfahren, und 
somit das Heilverfahren als besonders werthvoll be¬ 
funden. Bei der Vorlesung Bai int’s im königl. 
Aerztevereine zu Budapest erfuhren wir zugleich, dass 
bei uns auch Andere mit der Toulouse-Richet- 
schen Cur Versuche machten und zwar mit verschie¬ 
denem Glücke. — 

Donath hat in einem Falle guten Erfolg erzielt, 
in einem anderen wieder hat die Methode nichts ge¬ 
nutzt. Unter acht Kranken Hudovernig’s haben 
6 lieber die epileptischen Anfälle als die 3 Tage hin¬ 
durch genossene, jedoch wenig Aussicht bietende, 
kochsalzarme Kost gewählt. Bei 2 Kranken war das 
Verfahren nutzlos und so hat auch Hudovernig 
im Wesentlichen solche Erfolge erzielt, wie Heim¬ 
st ä d t. 

Jendrassik hatte bei dieser Gelegenheit noch 
keine eigene Erfahiungen, doch lohnt es sich auf 
einige seiner Bemerkungen zu refiectiren. Jendrassik 
scheint etwas skeptisch zu sein, weil er aus den bis¬ 
herigen Erfolgen nicht ersieht, wie weit man mit 
der Cur fortfahren muss, und wie weit man kann, und 
befürchtet, dass der epileptische Organismus sich auch 
diesem Heilverfahren angewöhnen wird. Etwas zwei¬ 
deutig scheint seine folgende Bemerkung: „Die sehr 
schönen Daten des Vortragenden (Balint’s) haben den 
gegenwärtigen Stand der Behandlung der Epilepsie 
jedenfalls mit einer werthvollen Sache bereichert, 
hauptsächlich weil er den Kranken eine essbare (sic!) 
Kost verabreicht“. Dies klingt ähnlich wie Fleury’s 
obenerwähnter Satz, und es scheint auch nicht ganz 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


407 


1902.] 


unbegründet zu sein, denn, wie schon erwähnt, 
während die Kranken Hudovernig’s lieber die 
epileptischen Anfälle als die ungesalzene Kost wählen, 
und die Kranken Halrai’s und Bagarus’ nach 
vier Wochen ebenfalls nicht mehr zur oligochlorösen 
Diät (bestehend aus Milch, Eiern und ungesalzenem 
Brote) zu bewegen waren, haben ganz im Gegen- 
theile die Kranken Bälint’s die erwähnte Diät 
besser als die gewöhnliche Spitalskost gefunden, in¬ 
dem sie die Fortsetzung bezüglich die Wiederein¬ 
stellung der neuen Diät wünschten. 

Im Herbste 1901 erschien eine Mittheilung von 
Garbini*) über dieselbe Frage. Dieser Verfasser 
hat mit der Cur T oulouse-Ri chet 73 % Besse¬ 
rungen erfahren, jedoch ist die Häufigkeit der An¬ 
fälle mit 65% auch so gesunken, wenn er die Diät 
ohne Verabreichung von Brom durchgeführt hatte. 
Demgemäss bleibt also der Nettowerth der oligochlo¬ 
rösen Bromtherapie nur 8 °/ 0 . 

Interessant sind übrigens auch die Versuche 
W i s t o c k i ’s,**) welcher im Jahre 1898 ohne die Ent¬ 
ziehung von Kochsalz methodisch durchzuführen, mit 
einer mit Brom combinirten, oder nur reinen Milch- 
cur schöne Erfolge erzielt hat, nur ist es bedauerlich, 
dass auch diese Erfolge ebenso vergänglich waren, 
wie sämmtliche Erfolge der Publicationen über die 
Heilung der Epilepsie. 

Schloss (Ybbs)***) ist zu Ende des vergangenen 
Jahres ebenfalls zu keinem besonderen Resultate ge¬ 
langt. Die Anfälle vermindern sich zwar unter der 
Zeit der oligochlorösen Bromtherapie, aber die Kran¬ 
ken wurden sehr schwach und auch ihr Körperge¬ 
wicht nahm ab. 

Am Ende erwähne ich noch die unlängst in Nr. 
1 des Neurol. Centralblattes erschienene Arbeit von 
Schäfer. (3 Kranke per 6 Wochen). Dieser Ver¬ 
fasser theilt gänzlich die Ansicht Balint’s über den 
Werth der neuen Cur. Schade, dass er auch davon 
nicht berichtet, ob er nach Einstellung dieser Me¬ 
thode dieselbe neuerdings begonnen und wie lange 
hernach und mit welchen Erfolgen fortgesetzt hatte? 

Nur kurz will ich berühren, dass To ul ouse und 
Meunier in der „Revue de Psychiatrie“ des vorigen 
Jahrgangs (1901) eine Beobachtung mittheilten, nach 
welcher unter der Wirkung der neuen Cur sogar epi¬ 
leptische (?) Delirien aufgehört haben. Dieser Fall 
verliert viel von seinem Werthe, wenn man berück¬ 
sichtigt, dass nach den Verfassern es sich um eine mit 

*) Rivista meusile di neuropathologia, 1901. 

**) ref. im Neurol.-Centralblatt. 

***) ref. im Orvosi Hetilap. 

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konvulsivischer Hysterie komplicirle Epilepsie sich ge¬ 
handelt hat. 

H a 1 m i und B a g a r u s fassen die Resultate 
ihrer Arbeit darin zusammen, dass die Toulouse- 
Richet’sche Cur die Epilepsie weder heilt, noch 
bessert. Wohl gelangt die Wirkung des Brom bei 
künstlicher Entziehung des Chlor besser zur Ent¬ 
faltung, doch ist diese starke Wirkung mit der Ge¬ 
fahr einer verschieden schweren Bromvergiftung ver¬ 
bunden und somit kann die Methode nicht nur nicht 
empfohlen werden, sondern ist dieselbe entschieden 
gefährlich. 

Läufer erwähnt (Rev. de Psych. 1901), dass 
nach Ri cli et die Bromwirkung sich während der 
Cur Toulouse-Ri chet durchschnittlich verfünf¬ 
facht und schon Toulouse macht darauf aufmerk¬ 
sam, dass sogar 4 gr Brom Intoxicationserscheinungen 
verursachen können. Nach Läufer hat Buchheim 
schon im J. 1875 ausgesprochen, dass nach Aufnahme 
von J und Br im Magen sich Br H und J H 
bilden; Rieh et hat sich 25 Jahre vordem mit der 
Frage der Cl-Substitution beschäftigt, und Külz hat 
im J. 1886 thatsächlich nachgewiesen, dass J und 
Br in der Salzsäure des Magens an Stelle des CI 
treten. Aus den Untersuchungen Nenckis und 
Schoumov-Siamanovszkys hat sich ergeben, dass 
diese Substitution nicht nur in den Magensäften, son¬ 
dern in sä mm fliehen Geweben vor sich geht, was 
Lau den hei mer im J. 1897 mit neueren Daten 
bekräftigte. Diese Verfasser haben schon die oligo- 
chlorösc Diät in Betracht gezogen, ohne indessen an 
die therapischc Vcrwertluing derselben zu denken. 

Auch die Studien Fessel’s und Läufers be¬ 
weisen die Substitution. Der letztere macht auch 
darauf aufmerksam, dass wir in Folge der ausser¬ 
ordentlich starken Wirkung des Brom auf den oligo¬ 
chlorösen Organismus bei der Verabreichung oder 
Entziehung von Brom vorsichtig sein müssen. Läufer 
hat auch das constatirt, dass die Phosphate während 
der oligochlorösen Therapie in grösserem Maasse zu¬ 
rückgehalten werden, und hält es für möglich, dass 
auch dieser Umstand die günstige Wirkung der neuen 
Heilmethode befördert. Bekanntlich hat Fleury 
bei Epileptischen mit subcutaner Einspritzung von 
Natrium phosphoricum gute Erfolge erzielt. 

Nachdem ich all’ das, was wir von der Art und 
Weise der Wirkung der Bromtherapie wissen, kurzge¬ 
fasst dargestellt habe, will ich noch erwähnen , dass 
schon Toulouse und Rieh et es anempfohlen 
haben, dieses oligochloröse Verfahren mit anderen 
Mitteln besonders auch mit Jod zu versuchen. — 
Ferenczy erwähnt dies ebenfalls in der auf den 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37. 


erwähnten Vortrag Bälint’s erfolgten Diskussion, und 
thatsächlich hat einige Monate später M. Weisz*) 
practischer Arzt in Gyöngyös, in einem entsprechen¬ 
den Falle den Versuch auch gemacht. Er hat ge¬ 
funden, dass die oligochlorösc Jodtherapie wenigstens 
in dem „einen“ Falle nicht nur die bestandene Jod- 
idiosyncrasie aufhüren liess, sondern dass sie sich 
auch antiluctisch bewährt. Er hatte auch eine grosse 
Beständigkeit des Erfolges erwartet. 

Leider ist Seil ei**) auf ungünstigere Resultate 
gelangt; er hat nämlich bei 30 Kranken erfahren, 
dass Jod gegen Lues auch bei oligochloröser Diät 
nicht stärker wirkt, bezw. man muss die kleineren 
Dosen längere Zeit hindurch verabreichen, um das¬ 
selbe Resultat erzielen zu können. Dies stimmt so¬ 
mit mit den auf Brom bezüglichen Erfahrungen 
Helmstädt’s überein; zweitens gestaltete sich die 
Jod-Idiosyncrasie nicht im Geringsten günstiger, wie 
bei der gewöhnlichen Diät. 

Hasenfcld’s***) Versuche beziehen sich darauf, 
wie die Kranken das mit Jod gesalzene Brot, das 
Jodopan (ad formam Bromopan, kochsalzfreies 
mit Brom gesalzenes Brot, Balint) vertragen. Die 
Fälle jedoch, die chronische Arteriosclerosc, die Atro- 
phia granularis renum, welche Gegenstand dieser 
Untersuchungen waren, dürften auch diese Form der 
Jodtherapie nur ordinationis und solatii causa indi- 
cirt haben. 

Auf Grund alldessen können wir nun zur Be¬ 
sprechung des Werthes der Bromtherapie übergehen. 

Es erleidet keinen Zweifel und wie ich sehe, in 
Diesem stimmen sämmtliche Autoren überein, dass 
auch die oligochloröse Bromtherapie die Epilepsie 
nicht heilt, sondern nur die Heftigkeit und die Wie¬ 
derholung der Anfälle mildert, beziehungsweise jene 
längere — kürzere Zeit aufhören lässt. 

So betrachten auch wir im Folgenden die Tou¬ 
louse-Rieh et’sche Cur nur als ein antisypmto- 
matisches und nicht als ein spezifisches Mittel der 
Epilepsie. 

Aus den V ersuchen Buch heim’s, K i'i 1 z ’s, 
Nencki’s und Schouinov-Simanowszky’s, Lau- 
denheimer’s und Laufcr’s ersehe ich es gegen¬ 
über der Meinung Rumpf’s als erwiesen, dass Brom 
in den oligochlorüsen Organismus an Stelle des Chlor 
tritt, sogar den Chlor aus dem Organismus verdrängt. 
Die Untersuchungen Toulouse und Richet, 
Balint (?), Garbin i (?), Toulouse u. Meunier, 

*) Orvosi Hetilap, 1901, ungarisch. 

**) Orvosok lapja, 1902 (ungarisch). 

***) Monatsschrift für pract. Dermatologie, 1902. 

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Schloss, Schäfer (?), so auch Ha 1 mi und Ba- 
garus beweisen, dass Brom auf den oliogochlorösen 
Organismus viel intensiver als gewöhnlich wirkt. Jene 
Behauptung Rieh et’s, dass die Bromwirkung fünf¬ 
fach grösser sei, kann ich nicht einmal mit annähern¬ 
dem Werthe acceptiren, weil die individuell sich ver¬ 
ändernde physische und chemische Reaclion des 
Organismus in Bezug auf die Entziehung von Chlor 
und in dieser Weise gegebenen Brom jede derartige 
Berechnung illusorisch macht. 

Helmstädt ist der einzige, welcher auf Grund einer 
grösseren Anzahl von Versuchen behauptet, dass die 
stärkere Wirkung des Brom bei oligochloröser Diät 
ausbleibt, sogar dass die Anfälle sich während dieser 
Zeit noch steigern. Ich kann mir dies nicht anders 
erklären, als dass Helmstädt, zur Entfachung einer 
genügenden Wirkung wenig Brom gegeben, beziehent¬ 
lich von der Zahl der Anfälle abgesehen, den übrigen 
Veränderungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. 
Auch unter den Fällen H a 1 m i ’s und Bagarus’ 
hat sich bei Einzelnen die Zahl der Anfälle vermehrt, 
doch war die Bromwirkung auf das psychische Ver¬ 
halten der Kranken immer wahrnehmbar. 

Nachdem die stärkere Wirkung des Brom bei 
kochsalzarmer Diät bewiesen erscheint, muss noch 
die Frage entschieden werden: ob man diese künst¬ 
lich erhöhte Bromwirkung bei der Behandlung der 
Epilepsie ausnützen kann oder nicht? 

Toulouse und Richet, Balint, Garbini, 
Toulouse und Meunier, Schäfer sind dieser Mei¬ 
nung, wogegen Helmstädt, Hudovernig, Halmi 
und Bagarus, und, so scheint es, auch Schloss 
entgegengesetzter Ansicht sind. 

Wir dürfen auch bei dieser neuen Therapie der 
Epilepsie nicht ausser Acht lassen, dass man die Zahl 
der Anfälle schon seit uralter Zeit auf sehr verschie¬ 
dene Weise, manchmal mit kaum glaublichen Kunst¬ 
griffen vermindern konnte. So nimmt auch eine aus 
dem Jahre 1564 herrührende ungarische Medicinal- 
vorschrift die Diät in Anspruch und zwar in einer 
ziemlich kuriosen Weise : „9 Raupen von der Hagerose 
mit Wermuth gut einkochen und zudecken, hievon gieb 
des Morgens 7 und des Abends 6 Löffel ein; ausser¬ 
dem soll der Patient wieder Brot, noch Sonstiges, was 
aus Mehl gebacken wird, gemessen.“ 

Wie wir sehen ist diese Therapie beinahe das 
Entgegengesetzte von der mit 340 Jahren später an¬ 
empfohlenen Brodtherapie Balint’s und doch 
scheint es mir nicht unmöglich zu sein, dass ein 
geschickter Arzt bei entsprechenden Patienten mit 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 409 


beiden Methoden dieselben Erfolge erzielen könnte. 
Interessant ist es auch, dass Borgetti im J. 1857 
mehr als 5 seiner epileptischen Kranken mit dem 
Decoctum der Hollunderrinde heilte, — und in einer 
länger als 18 monatlichen Beobachtungszeit das Ver¬ 
schwinden der Anfälle verzeichnet hat; solchen 18- 
monatlichen Stillstand der Anfälle haben meines 
Wissens keine Publicationen über die neueste Epilepsie - 
curmethoden erwähnt. 

Abgesehen von den geschichtlichen Daten erwies 
sich das Brom als das beste pharmacodynamische 
Mittel zur Behandlung der Epilepsie, natürlich indi¬ 
viduell in entsprechend kleineren und grösseren Dosen 
und mit jenem obligaten Nachtheile, dass die Besse¬ 
rung nur so lange anhält, als wir Brom geben, und 
an Stelle chronisch epileptischer Individuen — sit 
venia verbo — chronisch bromisirte Individuen ent¬ 
stehen. 

Zur oligochlorösen Bromtherapie zurückkehrend, 
besteht deren höchster Werth nachNäcke, Bai int, 
Schäfer*) und Läufer in dem, dass man Brom 
in viel kleineren Dosen geben kann, als früher. In 
dieser Berechnung haben wir uns, wie ich sehe, ge¬ 
täuscht, weil nach der neuen Methode, wenn auch die 
Bromdosis kleiner, ihre Wirkung doch vielfach grösser 
ist, und für den Organismus ist natürlich nur 
das Wirkungsquantum und nicht das Gewichtsquan¬ 
tum von Belang. Bali nt und Gar bin i haben In- 
toxicationserscheinungen nicht wahrgenommen, aber 
schon Toulouse und Rieh et, später Läufer 
lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die Möglich¬ 
keit der Bromvergiftung bei oligochloröser Diät eine 
sehr bedeutende ist. Dies fand Schloss und dies 
habe auch ich in den Versuchen Halmes und 
Bagarus’ bestätigt gefunden. Dasselbe beweisen 
in tragischester Weise unsere Erfahrungen, nämlich 
dass zwei Kranke unter der Wirkung der Cur in 
Folge einer unaufhaltbaren Bromintoxication gestorben 
sind. Und thatsächlich, ohne jeden biochemischen 
Beweis halte ich es für eine für jeden nüchternen 
Gedankengang unumstössliche Wahrheit, dass, wenn 
die Wirkung der Bromdosis aus welcher Ursache 
immer sich stärker gestaltet, dann auch die Möglich¬ 
keit einer Vergiftung grösser ist. Läufer betrachtet 
ebenfalls die Zunahme der heilenden und vergiften¬ 
den Wirkung des Brom als parallel. Eben bei der 
Cur T o u l o u s e - R i c h e t darf man nicht vergessen, 
dass während bei einer gewöhnlichen Diät die Wahr¬ 
scheinlichkeit der zunehmenden Wirkung bei den¬ 
selben Individuen nur von einem Factor — und 
dies ist die controlUrbare Steigerung der Dosen — 
*) ln der oben erwähnten Discussion. 

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abhängt, demgegenüber bei der oligochlorösen Diät 
ein gefährlicher unberechenbarer Factor auftritt, näm¬ 
lich die Beraubung des Organismus von seinem natür¬ 
lichen Bestandtheile, vom Kochsalze, und demzufolge 
entfaltet sich die veränderte Wirkung des Brom 
gegenüber der künstlich abgeschwächten Resistenz¬ 
fähigkeit des Körpers. 

Ich halte es nicht für nothwendig auseinander 
zu setzen, dass der Organismus seines Kochsalzbe¬ 
standes in seinem normalen Reichthum bedarf, aus 
welchem Quantum ohne künstlich Krankheiten her¬ 
vorzurufen nichts weggenommen, noch weniger mit 
fremden, sogar mit toxischen Bestandtheilen ersetzt 
werden kann. Den sogenannten Kochsalzluxus — 
wenigstens von einigen, anders wie wir lebenden 
mittelafrikanischen Völkern abgesehen — halte ich 
nicht für ganz unzweckmässig, im Gegentheile, ich 
halte es für einen solchen obligaten Reichthum, wel¬ 
chen der Organismus nicht entbehren kann, um da¬ 
von ebensoviel aufnehmen zu können, als an Koch¬ 
salz bezw. Chlor er unbedingt bedarf, um alle seine 
biochemischen und biophysischen Processe gut vor 
sich gehen zu lassen, damit der Organismus und 
auch der neben ihm niemals zu vergessende Mensch 
gedeihe. Auch bei Laudenheimer finde ich einen 
Hinweis darauf, dass bei oligochloröser Verabreichung 
von Brom die Intoxicationserscheinungen nicht nur 
aus der Steigerung der Bromwirkung, sondern auch 
aus der Chlorarmuth des Organismus zu erklären sind. 

Das Besagte kann einen jeden ruhig denkenden 
Arzt davon überzeugen, dass die Behandlung der 
Epilepsie nach Toulouse-Richet ein gefährliches, 
zweckverfehltes und unnöthiges Unternehmen ist, und 
ich glaube, dass das hier Besagte gleich dem Schick¬ 
sale der Flechsig’schen Opium-Bromcur und trotz 
der weniger beliebten Mittheilung der ungünstigen 
Erfolge in Kurzem eine allgemeine Ueberzeugung 
wird. 

Den von Zeit zu Zeit in den Heilbestrebungen 
der Epilepsie auftauchenden Enthusiasmus zu mässi- 
gen, helfen nicht nur die seit hundert Jahren sozu¬ 
sagen gesetzmässig sich wiederholenden Enttäusch¬ 
ungen, sondern eben in diesem Falle auch das, dass 
man die oligoehloröse Diät eine längere Zeit hindurch 
nicht fortsetzen kann. Nur bei den französischen 
Autoren lese ich, dass sie selbe sogar 7 Monate fort¬ 
setzten (in wie viel Fällen und ob unausgesetzt?). — 
Die Publicationen der anderen Verfasser aber sprechen 
gewöhnlich nur von nicht über 2 —3 Monate sich 
erstreckenden Erfahrungen. 

Wir sahen, dass unter den 8 Kranken H u d o - 
vernig's 6 die versuchte, doch wenig versprechende 

Original frnm 

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410 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37 


ungesalzene Küche nur 3 Tage lang vertragen 
konnten; die 15 bezw. 13 Kranken Halmi’s und 
Bagarus’ konnten nach 4 Wochen ebenfalls nicht 
zur Fortsetzung der Cur bewogen werden. Ich selbst 
halte eine längere und sicher oligochlorösc Diät auch 
ohne Verabreichung von Brom für eine Unmöglich¬ 
keit im hygienischen Sinne. 

Nach all diesem ist es vielleicht auch überraschend, 
wenn ich erkläre, dass ich nicht im Entferntesten 
bezweifle, dass Toulouse und R i c h e t, B a 1 i n t, 
Garbini, Toulouse und Meunier, wie auch 
Schäfer gute Erfolge gesehen haben, doch glaube 
ich, dass diese nicht auf Selbsttäuschung beruhenden 
Erfolge im Wege der Suggestion erklärt werden 
müssen, deren Wirkung mehr-weniger nicht nur die 
Kranken, sondern auch die sie behandelnden Aerzte 
betrifft. Damit ist jedenfalls in der Geschichte der 
Heilkunde weder etwas neues, noch befremdendes 
gesagt. 

Bevor ich indessen diese meine Behauptung auf 
die neueste Heilmethode der Epilepsie beziehe, muss 
ich in Kürze noch auf eine Frage zuriiekkehren, 
welche mit dieser meiner Behauptung zusammen¬ 
hängt. Einen scheinbaren Widerspruch muss ich 
zu lösen versuchen, welcher cinestheils zwischen 
Bai int, Garbini und Schäfer, anderenteils 
zwischen Halmi und Bagarus besteht. 

Ich schicke voraus, dass ich es für unmöglich halte, 
dass bei einer genügenden und längeren Entfaltung 
der Bromwirkung, welche in der Verminderung der 
Leistungsfähigkeit der Nervenfaser besteht, die er¬ 
schwerte Association nur auf die spasmogene Leitung, 
auf die Verminderung der Anfälle und nicht zugleich 
auch auf die sämmtlichen associativen Funktionen 
sich bezieht. Und tatsächlich hat sich in den Fällen 
bei Halmi und Bagarus ausser der Verminderung 
der Zahl der Anfälle die Bromwirkung unverkenn¬ 
barer Weise auch an der Psyche der Kranken gel¬ 
tend gemacht. Die Kranken sind apathischer, ruhi¬ 
ger, hier und da sind sie stuporös geworden, wir 
konnten sogar auch Intoxikationsdelirien beobachten. 

Und so kann Ich die entgegengesetzten Versuche, 
allwo die speeifische Wirkung des Brom ausgeblicben 
ist, wo das Sensorium sich geklärt hat, die Apper- 
ccption und die Stimmung sich gebessert haben, und 
all dieses bei gleichzeitiger Verminderung der Anfälle 
nur auf eine Ursache zurückführen und dies ist, dass 
die früher mit grosser Bromdosis gehaltenen Kranken 
von der deprimirenden Wirkung des Brom befreit 
worden sind, sie haben sich im Allgemeinen besser 
gefühlt und indem sie Versuchsindividuen waren, be¬ 
kamen sie auch bessere Kost als früher, man hat sich 

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mit ihnen auch mehr beschäftigt, auch ihre Heilung 
ist öfter betont worden : all dieses hat ihr ganzes Ge¬ 
hirn, ihre sämmtlichen Associationen so sehr in Anspruch 
genommen, dass mit der Besserung des Allgemein¬ 
befindens auch die Zahl der Anfälle sich vermindert 
hat. 

Als ich mich mit den Erfolgen dieser Versuche 
beschäftigt hatte, erschien es mir, als wenn die jetzt 
vorgetragene Auflassung vielleicht zu sehr persönlicher 
Natur wäre und war nicht sicher, ob ich auch 
von anderer Seite Zustimmung erhalten werde. Der 
Zufall indessen hat mich auf ein schönes Kapitel 
in der Geschichte der Epilepsie aufmerksam gemacht, 
welche, wie es mir scheint, zu Gunsten meiner Auf¬ 
fassung spricht. 

Esquirol sagt nämlich in seiner im Jahre 1818 
über die Epilepsie erschienenen Arbeit: „J’avais ä 
soigner trois cent quatre-vingt-cinq femmes ou filles 
de tcut age, passe la puberte, appartenant a la classe 
pauvre. Dans ce nombre quarantc-six etaient hyste- 
riques et trois cent trente-ncuf epileptiques ; la plupart 

etaint plus ou moins habituellement alienees. 

Je voulus souinettre a mon observation l’efficacite 
des remedes les plus varies. J'cssavai successivement 
les evacuations sanguines, les purgativs, les bains a 
toute temperature, les exutoires, le ca ule re, le feu, les 
an tispasnn xliques, vegeteaux et mineraux. — Je 
m’arretais a l’acide hydroevanique; je me procurai, 
j’aehetai des remedes secrets. Tous les piintemps et 
tous les automnes, je choisissais trente femmes epi¬ 
leptiques, de la maladie des quelles je connaissais 
mieux le commemoratif, les causes et les svinplömes; 
les femmes etaient preparees a ravance, en excitant 
leur imagination par la promesse repetee d’une gueri- 
son certaine. J’etait merveilleusement seconde par 
la surveillaute et les eleves. Toujours une iiou- 
v e 1 le medication suspen dait les acces *) 
pendanl quinze j< >urs; chez les uncs; pendant un 
mois, deux mois chez d’autres, et rneme pendant trois 
mois. — Apres ce terme les acces reparaissaient suc¬ 
cessivement chez toutes n<»s femmes, avec les carac- 
tercs, qu’ils avaient presentes les annecs precedentes. 
Husieurs de nos epileptitques se sollt pretces a mes 
essais plusieurs annees; mais, l’avnuerais-jc! je n’ai 
pu obtenir de g u c r i som Dans 111a pratique 
particuliere, je n’ai gurre cte plus heureux; si les 
a c'c es 011t cte s u s p e ndus i 1 s Tont c t e m o i n s 
par l’action des medicamens que par Y eff et 
de 1 a co n f i a n c e q u i d e t e r m ine un m a lade 
a consulter un nou v ea u mederin.” #) 

*) Iin Original nicht betont. 

Original from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 411 


190’.] 


Jenes Vertrauen zu erwerben, mittelst edler und 
selbstbewusster Suggestion die Symptome der Epilepsie 
zu lindern, wird uns auch nach der mit der Cur 
T o u 1 011 se-Richet empfundenen Täuschung immer¬ 
hin eine ernste und würdige ärztliche Aufgabe bleiben. 

Nachtrag bei der Correctur. 

Schnitzer (Ncur. Centralbl. Nr. 17, 1902) fand bei 12 
Fallen aus 16 (Versuchszeit 6 Wochen) eine bedeutende Besse¬ 
rum:, die Kranken widerstrebten jedoch der kochsalzarmen Kost. 
Verfasser hält cs für zweifelhaft, dass die Kochsalzentziehung 
sich auf Monate hin durchführen lässt. 4 Kranke zeigten 
während der Versuchsperiode eine auffallend erhöhte Reizbarkeit. 

Cappel letti und d’Ormea (Atti del XI. Congr. alla 
Soeictä freniatrica italiana, Riv. Sperim. 10. VI. 1902) haben 
20 Kranke 40 Tage hindurch nach Toulouse-Richet jedoch mit 
einer genügend rasiabilen Diät behandelt. (Milch, Cafle, Zucker, 
Brod, Mehlspeise, Fleisch, Eier, Hülsenfrüchte oder Obst, 
Butter, Wein (!)). — Die Cur hat sich bei Frauen besser be¬ 
währt, die Anfälle sind ausgeblieben in 27%, vermindert mit 
44°/ 0 , vermehrt mit 2 ° 0 und unverändert geblieben mit 3°/ 0 . 
— Rasche Vermehrung der Anfälle nach Aussetzen der Cur. 


— In der Discussion bemerkt Angiol ella, dass die Epilepsie 
eine angeborene Anomalie ist, bei welcher die Verminderung 
der Anfälle nicht gleichwertig mit der Besserung der Krank¬ 
heit ist. — Er glaubt für die Demenz der Anstaltsepileptiker 
theilweise wenigstens die Brombehandlung verantwortlich machen 
zu dürfen, und er meint, dass alle die Mittel, welche die Reiz¬ 
barkeit der Hirnrinde vermindern, als unnützlich und schädlich 
in der Praxis vermieden werden sollten. 

T a m b u r i n i (ebenda S. 170) hatte bei drei Kranken eine 
bedeutende Verminderung der Anfälle beobachtet, er hebt je¬ 
doch hervor, dass die Cur nicht ganz unschädlich ist. Er hat 
nämlich bei 2 Kranken nach einer gewissen Dauer der Cur 
eine tiefe, confuse Geistesverirrung beobachtet, welche erst nach 
der Kochsaiszufuhr verschwand. — Die Resultate von Fleury 
scheint Tamburini ebenfalls bestätigt zu haben. 

Ventra findet, dass man die kochsalzarme Diät nur 
schwerlich bei Epileptischen durchfuhren kann, — er hat auch 
gastrointestinale Störungen infolge der Cur P. R. beobachtet, 

— er findet die Cur nicht ganz unschädlich und meint, dass 
sie nicht vortheilhafter ist, wie die bekannte Combination von 
Brom und Antipyrin. — 

Alt (diese Wochenschrift Nr. 8) hat die obenerwähnten 
Resultate von Wistoki und Fleury bestätigt. 


Mittheilungen. 


— 33. Versammlung südwestdeutscher Irren¬ 
ärzte in Stuttgart am 1. und 2. November 1902. 

(Schluss.) 

lieber Schulen für nervenkranke Kinder 
sprach Dr. Stadelmann, Nervenarzt in Würzburg. 
Für die neuropathischcn Kinder ist zur Zeit nicht 
richtig gesorgt. Das Lehrprogramm der allgemeinen 
Schule ist direct nach th eilig für diese Kinder. Keime 
einer Neurose oder Psychose entwickeln sich dadurch 
ungehindert; die spatere Stellung im socialen und be¬ 
ruflichen Leben ist in Frage gestellt. Es müssen 
neuropathisch beanlagte Kinder einer individuellen 
Unterrichtung unterzogen werden nach einer AssOeia- 
tions- (Concentrations-) Methode des Unterrichtens. 
Es sind im psychischen und körperlichen Verhalten 
der Kinder die jederzeitigen Schwankungen, die die 
kranke Anlage mit sich bringt, dabei zu berücksich¬ 
tigen. Dieser Unterricht ist ein Theil der psychischen 
Behandlung der nervenkranken Kinder. Jedes Kind 
hat sein eigenes Lehrprogramm, das nach dem Er- 
gebniss der methodisch durchgefühlten Prüfung der 
Intelligenz und nach der Beobachtung der moralischen 
Fähigkeiten aufgestcllt wird. Psychologische That- 
sachen verlangen dieses Princip des Individualisirens 
und der Concentration beim Unterricht. Das neuro- 
pathischc Kind hat ein Recht auf diese Behandlungs¬ 
weisen, die Schule f. n. K. soll mit einer Heilanstalt 
verbunden sein, in der eine körperliche Behandlung 
diese psychische unterstützt. Der Werth der Schule 
für nervenkranke Kinder liegt in der Prophylaxe und 
Frühbehandlung der Neurosen und Psychosen. Auch 
die sociale Bedeutung der Schule für nervenkranke 

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Kinder ist nicht zu unterschätzen. Vortragender hat 
vor i 1 /* Jahren eine Schule für nervenkranke Kinder 
in Verbindung mit einer Heilanstalt errichtet, die er 
selbst leitet. 

Direktor Dr. Eschle: Demonstration eines 
Krankenbettes (nach Frau Emilie Eschle) 
s p e c i e 11 für unreinliche Geisteskranke. 

Eine geeignete Lagerstätte für unreinliche Geistes¬ 
kranke muss nicht nur mit Vorrichtungen versehen 
sein, die das Liegen der Kranken in der Nässe 
möglichst verhüten, sie muss auch den heutigen An¬ 
forderungen an ein Krankenbett entsprechen und 
schliesslich darauf Rücksicht nehmen, dass dasselbe 
von unruhigeren und verblödeten Patienten nicht leicht 
zerstört werden kann und einzelne dabei losgelöste 
Th eile (Knöpfe, Bänder u. s. w.) zur Selbstbeschädigung 
der Kranken Anlass geben. 

Wohl im Wesentlichen der Gesichtspunkt, ein 
billiges Lagcrungsmaterial für die unreinlichen Geistes¬ 
kranken zu gewinnen, das jederzeit fortgethan und 
durch neues ersetzt werden kann, hat in einzelnen 
Anstalten zur Verwendung der Torfstreu als Bettfüllung 
für derartige Pfleglinge geführt. Die letztere wird in 
eine mit hölzernem Boden und ebensolchen Seiten- 
theilen versehene Bettstelle gefüllt, ausgeebnet und 
mit einem Leintuche bedeckt, auf das der Kranke 
direkt zu liegen kommt. Die grosse Aufsaugefähigkeit 
dieses Materials, sein billiger Preis und der wenig um¬ 
ständliche Ersatz der durchtränkten und verunreinigten 
Schicht wurden als besondere Vortheile gerühmt. 
Dass eine derartige Lagerstätte, wenn vielleicht nicht 
geradezu menschenunwürdig, doch keine derartige ist, 

Orig mal from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37 


dass sie sich in den Rahmen einer modernen, wohl 
eingerichteten Krankenanstalt einfügt, bedarf für den¬ 
jenigen, der diese Einrichtung aus eigener Anschauung 
kennt, kaum weiterer Ausführung. Nicht nur dass 
seitens eines lässigen Wartepersonals Ersatz und Nach¬ 
füllung nicht immer rechtzeitig und in exakter Weise 
besorgt werden, durch die unvermeidlichen Verschie¬ 
bungen des übergebreiteten Betttuches werden Torf¬ 
partikelchen auf dasselbe gebracht und die an und 
für sich bei diesen Kranken beträchtliche Chance des 
Decubitus noch weiter vermehrt. Ausserdem buchtet 
sich bei der lockeren Auffüllung und Verschieblichkeit 
des Materials das Lager in der Gegend des Gcsässes 
zu einer recht umfangreichen muldenförmigen Ver¬ 
tiefung aus, die das ganze Bett in Unordnung bringt 
und den Patienten in eine nicht nur höchst unbe¬ 
queme, sondern auch sonst in hygienischer Hinsicht 
überhaupt äusserst unerwünschte Situation bringt. 

Anderwärts ging man dazu über, der Quere nach 
nebeneinandergelegte Säcke mit Stroh, Spreu oder 
Seetang zu füllen, auch wohl jenen die Form einer 
dreitheiligen Matratze zu geben und das Füllmaterial 
nach Bedarf zu entleeren. Die Spreu hat wegen der 
Verschieblichkeit und der mangelnden Festigkeit der so 
gewonnenen Unterlage ähnliche Nachtheile wie die 
Torfstreu, die für diese Zwecke geeigneten Arten des 
Seetangs sind im Binnenlande nicht leicht zu be¬ 
schaffen, das Stroh ist zeitweilig kein ganz billiges 
Material, wenn der Wechsel wirklich in ausgiebiger 
Weise durchgeführt wird. Es kommt im Wesentlichen 
für Anstalten mit grösserer landwirtschaftlicher Oeko- 
nomie in Betracht, in der es später als Streu für das 
Vieh unbeanstandet Verwendung finden kann. 

Gummiunterlagen und die mit Gummiüberzug und 
einer Ablaufsvorrichtung in der Mitte versehenen 
Betten, wie man sie häufig in Krankenanstalten findet, 
die nur zeitweilig oder einen kleinen Procentsatz Un¬ 
reinlicher beherbergen, können ebensowenig allen An¬ 
sprüchen genügen, als einmal infolge der Wasserdicht¬ 
heit der Unterlage der Kranke mit dem grössten Theile 
seines Körpers ständig nass liegt, andrerseits gerade 
Gummistoffe mit Vorliebe den Geruch zersetzten Urins 
annehmen und die Luft des Krankensaals geradezu 
verpesten. Dass der Geruch urindurchtränkter Stoffe 
ganz besonders geeignet ist, bei Kranken und Ge¬ 
sunden (z. B. bei jüngeren Kindern) Bettnässen und 
Unreinlichkeit durch reflektorische Reizung des Ge¬ 
ruchsorgans zu unterhalten, ist keine ganz neue Er¬ 
fahrung. 

Diese Erwägungen veranlassten den Vortragenden 
nach einem andern billigen Füllmaterial Umschau zu 
halten, das die erwähnten Nachtheile ausschlösse. 
Durch den Rath seiner Frau, die den Missständen 
in der Anstaltshygiene und der Krankenpflege seit 
Langem besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, 
wurde derselbe auf die Verwendung der langfaserigen 
Holzwolle (richtiger feinen Holzfaser!) hingeführt, 
wie sie jetzt vielfach als ebenso reinliches und voll¬ 
kommen staubfreies, wie billiges Verpackungsmaterial 
in Gebrauch genommen zu werden pflegt. Das 
scheint auch ein sehr glücklicher Griff gewesen zu 
sein. Die Holzwolle hat wie eine jetzt länger als 

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ein Jahr währende Versuchszeit ergab nicht nur den 
Vorzug eines überaus niedrigen Preises,*) sondern 
auch die keineswegs zu unterschätzende Eigenschaft 
dem Bett und dem Krankenzimmer selbst bei immer 
wieder erfolgender Verwendung nach der sofort zu 
erwähnenden Reinigungs-Prozedur ihren spezifischen, 
reinlichen, an Waldluft erinnernden Geruch zu geben. 
Aber nicht nur betreffs der Sauberkeit, auch was 
Weichheit und Elastizität des Lagers anlangt, ist ein 
so hergerichtetes Bett jedem mit einer Seegrasmatratze 
versehenen vorzuziehen, es kommt vielfach einer kost¬ 
spieligen Rosshaarmatratze in jeder dieser Beziehungen 
nahe. 

Selbstverständlich ist es wohl, dass bei der gering¬ 
sten Anfeuchtung der ganze betroffene Theil des Unter¬ 
bettes ausgewechsclt und nicht etwa getrocknet wird, son¬ 
dern in die Wäsche wandert. Das bezieht sich nicht nur 
auf die Hülle, sondern auch auf das Füllmaterial. 
Nach Aufbrühen mittelst heissen Seifenwassers und 
Trocknen auf einem mit verzinktem Drahtgeflecht 
überspannten Rahmen, das an der frischen Luft oder 
in geheiztem Raum äusserst rasch vor sich geht, 
kann die Holzwolle bei ganz minimalem Verlust immer 
wieder zu neuer Füllung von vorräthig zu haltenden 
Reservematralzentheilen Verwendung finden. 

Vortragender verwendet seit einem Jahr nach An¬ 
gabe seiner Frau hergestellte dreitheilige Matratzen. 
Die einzelnen Matratzentheile sind mit eingesetzten 
Scitentheilen gearbeitet und in der Mitte der unteren 
Fläche mit einem zur BcwerksteUigung der Füllung 
angebrachten, mit Bändern verschliessbaren Schlitz 
versehen. 

Kommen Abtheilungen in Frage, bei denen die 
Füllung längere Zeit belassen werden kann (auch für 
nicht unreinliche Kranke und verschiedentlich in 
Privathausständen hat diese Einrichtung auf die ge¬ 
wordene Anregung hin Eingang gefunden) so werden 
die einzelnen Matratzentheite mit fortlaufender Schnur 
durchheftet. Das wird dadurch in eleganterer Weise 
bewerkstelligt, dass in gewissen Abständen, auf oberer 
und unterer Fläche correspondirend, ausgenähte Schnur¬ 
löcher-Paare angebracht sind, durch die mittelst 
einer Tapezierer-Nadel die Schnur durchgeführt, dann 
so festgezogen wird, dass sich annähernd quadratische 
Felder wie bei andern Polstermatratzcn bilden und 
schliesslich an beiden Enden an den nahe bei ein¬ 
ander gelegenen Oeflhungen für Ein- und Ausstich 
verknotet wird. Die Neufüllung einer grossen Zahl 
von Matratzen kann so von einer geübten Warte¬ 
person in geradezu unglaublich kurzer Zeit vorge¬ 
nommen werden. Vor allem wird die meist recht 
kostspielige Arbeit des Tapezierer (Sattlers, bezw. 
Matratzenmachers) durch diese Einrichtung vermieden 
und so, wenn dieselbe weiteren Eingang in unsere 
Hausstände findet, dem wichtigen hygienischen Faktor 
einer öfteren Betterneucrung in grösserem Umfange 
Rechnung getragen, als das leider bei uns in Deutsch - 

*) Es wurde langfaserige Holzwolle Marke II-E durch Ver¬ 
mittelung der Firma Ludwig Thiele in Mannheim, Ver¬ 
treter der Holzstofffabrik Gebr. Bey in Wendisch- 
Eschenbach (Bayern) zum Preise von M. 9,50 pro Doppel- 
centner bezogeu. 

Original frnm 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 413 


land — im Gegensatz zu der Gewohnheit in Frank¬ 
reich und im Eisass — der Fall zu sein pflegt. *) 

Dem Princip dieser Einrichtung steht natürlich 
auch die Wahl eines anderen Füllmaterials (Rosshaar, 
Seegras) statt der Holzwolle nicht entgegen, dessen 
Auswechselung dann nicht minder einfach ist. 

Bei Rosshaarfüllung empfiehlt es sich, kleine runde 
Tuchfleckchen, die unten mit einer Seidenschlinge 
versehen sind, mittelst der fortlaufenden Schnur auf 
der Oberseite der Matratze jeweils zur Deckung der 
Schnürlöcher aufzunchtnen, um ein empfindliches 
Durchstechen der Rosshaare durch das Betttuch hin¬ 
durch zu verhindern. 

In ähnlicher Weise, wie beschrieben, werden Kopf¬ 
rollen bezw. Fussrollen und Keilkissen her gestellt. 

Für Unreinliche empfiehlt es sich, hängend oder 
auf Füssen stehend und den mittelsten Matratzentheil, 
der bei einiger Aufmerksamkeit ausschliesslich durch¬ 
nässt zu werden pflegt, nach beiden Enden überragend 
unter dem Bett ein sehnig abfallendes, mit Rinnen, 
Rand und Ablauf versehenes Tropfbrett anzubringen, 
um den durchsickernden Urin in einem untcrgestellten 
Gefässe aufzufangen und eine Durchtränkung des 
Boden während der Nacht zu vermeiden. 

Am Betttuche werden zweckmässig, um ein Ver¬ 
rutschen zu verhüten, die 4 Zipfel zu einer einem Papp- 
karton-Dcckcl ähnlichen Form rechtwinklig dadurch 
vereinigt, dass man die durch die Verlängerung der 
4 Kanten des Bettrahmens, die man sieh auf das 
Betttuch aufgetragen denkt, entstellenden Quadrate 
an den Zipfeln ausfallen lässt und die gleichfalls ent¬ 
stehenden 4 länglichen Seitenrcchtccke an ihren 
schmalen Seiten mit einander vernäht. 

Das Betttuch liegt so vollständig unverschieblich 
fest und verunziert, da es sich glatt und viereckig 
Zusammenlegen lässt, auch den Wäscheschrank nicht, 
worauf Hausfrauen und weibliches Personal mit Recht 
einen gewissen Werth legen. Kopf- und Fussrolle 
sind durch Bänder lose an den Bettpfosten befestigt. 

Die Bettdecke besteht zweckdienlich aus einem 
Wollteppich, der nur auf der inneren Seite einen Leinen¬ 
bezug trägt, welcher futteralartig oben und unten 
jenen libergreift und mittelst Bändern an ihm befestigt 
ist. Auch hier ist so ein leichtes Auswechseln und 
damit grösste Reinlichkeit gewährleistet. In der kalten 
Jahreszeit können 2 solcher Decken übereinanderge- 
legt Verwendung finden, von denen die untere, wie 
der Ueberzug an correspondirenden Stellen mit je 
einem Bande, die obere mit umsäumten Löchern ver¬ 
sehen ist, um das Durchziehen des unteren Bandes 
und Verknüpfen mit dem oberen zu gestatten. Die 
Anordnung ist so getroffen, dass die Bandschleifen 
verdeckt zu liegen kommen und vom Geisteskranken 
und Verblödeten, die derartige Dinge gern abreissen 
und in den Mund nehmen, nicht leicht gefunden 
oder wenigstens nicht beachtet werden. 

Ein Modell eines in dieser Weise complet einge¬ 
richteten Krankenbettes ist auf Veranlassung des Herrn 

*) Die Firma Eduard Speiser in Soncbeim liefert 3 
in dieser Weise hergestellte Matratzentheile ohne Füllung je nach 
der Qualität des verwendeten Drells zum Preise von ca. 10 M. 

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Prof. Martin Mendelsohn der Krankenpflege-Sammlung 
der Königl. Charite in Berlin übergeben worden. 

Erwähnenswerth dürfte schliesslich noch sein, dass 
für den grösseren Theil der unreinlichen Kranken, 
die ja nicht dauernd an das Bett gefesselt sind, dem 
Bedürfniss nach einer Sitzvorrichtung Rechnung zu 
tragen gesucht wurde, die die Nachtheile der früher 
vielfach gebrauchten „Zwangsstühle“ (nach Art der 
sogen. Topfstühle für kleine Kinder) entbehrt. 

Es geschah das in der Weise, dass an einem ein¬ 
fachen Holzsessel mit Rücken- und Seitenlehnen der 
Sitz durch ein verzinktes Drahtgeflecht mittlerer 
Maschenweite ersetzt und über diesen ein nach Art 
der vorher beschriebenen Matratzentheile gearbeitetes 
Holzwollekissen gelegt wird, das fortwährendes Aus¬ 
wechseln nach Bedarf gestattet. Ein unter den Stuhl 
gestelltes Gefäss fängt den ablaufenden Urin auf. Am 
Stuhl oben und unten mit Bändern befestigte Woll- 
teppiche verhüllen und erwärmen die durch das für 
beregte Zwecke erforderliche Arrangement der Kleider 
entblössten Körpertheile und erschweren es zugleich 
ohne Anwendung eines unhumanen Zwanges, dass 
verblödete Kranke unmotivirt und ohne Weiteres den 
ihnen angewiesenen Sitz verlassen. Autoreferat. 

Professor Wollenberg-Tübingen : Ueber Stirn¬ 
hirn t u m o ren. Der Vortr. ist zu seinen Ausführungen 
veranlasst worden durch einen Fall von Stimhimtumor, 
bei dem die psychischen Erscheinungen einen be¬ 
sonders breiten Raum einnahmen. 

Es handelte sich um einen 26jährigen Metzger, 
der ohne besondere Ursache im October 99 mit 
Kopfschmerz, Uebelkeit und gelegentlichem Erbrechen 
erkrankte, worauf etwa 1 Jahr später der erste Krampf¬ 
anfall, beginnend mit Verdrehung des Kopfes und 
der Augen nach links eintrat. Weiterhin traten psy¬ 
chische Störungen derart in den Vordergrund, dass 
Patient auf einer Irrenabtheilung untergebracht werden 
musste. Hier wurde ein tobsüchtiger Erregungszustand 
mit Grössen- und Verfolgungsideen beobachtet, ausser¬ 
dem wiederum ein Krampfanfall epileptischen Characters. 

In der Tübinger psychiatrischen Klinik, in welcher 
der Kranke sodann vom 14. März 1901 bis zu seinem 
Tode am 9. Oktober 1901 untergebracht war, wurden 
von körperlichen Störungen festgestellt: beiderseitige 
Stauungspapille, gelegentliches Erbrechen; vorüber¬ 
gehende Schwäche der linken oberen Extremität, 
allmählich hervortretende dauernde Parese des linken 
unteren Facialisgebietes; zeitweilig ausgesprochene 
statische Ataxie; dazu subjectiv heftiger Kopfschmerz 
bald in der Stirn- bald in der Hinterhauptsgegend. 
Das geistige Verhalten kennzcichnete sich durch eine 
habituelle Reizbarkeit, zeitweilige Euphorie mit Neigung 
zum Witzeln, und vorübergehende Zustände theils 
leichterer maniakalischer Exaltation, theils ausgespro¬ 
chener Tobsucht, zum Theil ungeheuerlichen Grössen¬ 
ideen. — Bei zweimaliger Lumbalpunktion ergab sich 
erhebliche Druck Steigerung. 

Die Diagnose wurde aus den Allgemeinerschein¬ 
ungen, dem Auftreten von Krämpfen, die mit Drehung 
des Kopfes und der Augen nach links begannen, 
der linksseitigen Facialis-Parese, der statischen Ataxie 
und, in letzter Linie, aus dem psychischen Verhalten 

Original from 

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414 PSYCIIIATI\ISCII-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37. 


mit Wahrscheinlichkeit auf einen Tumor des rechten 
Stirnhirns gestellt, eine entsprechende Operation in 
Erwägung gezogen, von dem Kranken aber zunächst 
abgelehnt und später durch den plötzlichen Tod ver¬ 
eitelt. 

Die Section ergab das Vorhandensein eines gut 
apfelgrossen Tumors, welcher das rechte Stirnhirn von 
aussen und unten her bis auf etwa die Hälfte seines 
Volums compiimirrt hatte. 

Der Vortragende erörtert sodann unter Hinweis 
auf einen weiteren Fall seiner Beobachtung die 
Schwierigkeiten der Diagnose in manchen Fällen von 
Stirnhirntumor, in denen wie in dem «einigen eine 
Verwechslung mit Epilepsie sehr nahe liegt, und geht 
näher ein auf die Bedeutung der psychischen Stör¬ 
ungen bei Hirntumoren im Allgemeinen, bei Stirn¬ 
hirntumoren im Besonderen. 

Im Anschluss an die neueren statistischen Arbeiten 
von Gianelli, Schuster u. A. wird die Häufigkeit des 
Vorkommens geistiger Störung bei Tumoren der ver¬ 
schiedenen Hirngebiete besprochen, unter denen das 
Stirnhirn in dieser Beziehung mit in erster Reihe 
steht. Im Anschluss an ( >ppenheim, Bruns, Schuster u. A. 
betont Wollenberg, dass die allgemeine Benommenheit 
ohne active psychische Symptome die häufigste Art 
der geistigen Störung beim Hirntumor sei, und er¬ 
örtert dann im Anschluss an seinen Fall, sowie an 
die sonstigen in der Littcratur mitgetheilten Fälle die 
Frage, ob es eine für die Stirnhirntumoren einiger- 
maassen characteristische Form der Geistesstörring 
gebe. Vortragender meint, seinem subjectiven Ein¬ 
druck nach, diese Frage in dem Sinne bejahen zu 
müssen, dass das eigenthümliche Verhalten, welches 
bereits von M. Bernhardt bei Tumoren der vorderen 
Schädelgrube erwähnt, dann besonders von [astrowitz 
gewürdigt und als Moria beschrieben, von Oppenheim 
(„Witzelsueht“), E. Bruns, Hitzig, Horniger, ihm 
selbst und anderen Autoren bei Stirnhirntumoien be¬ 
obachtet worden ist, und, wie er mit Schuster an¬ 
nimmt, je nach dem Grade, als einfache Euphorie, 
Witzelsucht oder eigentliche Moria in die Erschein¬ 
ung tritt, bei Stirnhirnlumoren verhältnissmüssig häufig 
sei. 

Da es indessen sowohl Stirnhirntumoren ohne die 
,,h\pomanische“ (Sc huster) Störung, als auch Tumoren 
anderer Hirngebiete mit dieser gebe, so sei man 
nicht berechtigt, auf Grund dieses psvchischen Ver¬ 
haltens allein die Diagnose auf Stirnhirntunior zu 
stellen. Immerhin könne es aber ein verwerthbares 
lo< aldiagm »stisc lies 11illSm«unent bilden, wenn andere 
Erwägungen auf einen derartigen Sitz der Erkrankung 
hinweisen. 

Zum Schluss betont Vortragender, dass es durch¬ 
aus erforderlich sei, Fälle von Hirntumor in psv- 
chischer Beziehung genauer zu beobachten , als es 
besonders in den älteren Beobachtungen zumeist ge¬ 
schehen sei, da nur eine ad hoc angelegte Statistik 
zur Klarstellung der hier noch offenen Fragen führen 
k <"»1 me. 

Dr. Max Weil-Stuttga rt stellt eine 41 jährige 
Frau vor, bei der seit Oktober 1900 heftige Kopf¬ 
schmerzen im Ilinteikopf und auf dem Scheitel, 

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manc hmal in die Stirngegend ausstrahlend, verbunden 
mit Erbrechen bestanden. Im Mai 1901 Abnahme 
des Sehvermögens rechts mehr wie links. Erste Unter¬ 
suchung Anfangs Juni 1901: Beiderseits Neuritis op¬ 
tica rechts stärker als links, aber keine Lokalsymptoine. 
In den nächsten 3 Wochen traten folgende Symp¬ 
tome hinzu: Ausbildung einer starken Stauungspapille 
rechts stärker wie links, circumscripte percutorische 
Empfindlichkeit am Schädel rechts in der Schläfen- 
gegeiid, Verlust des Geruc hs ro hts, Parese des linken 
Mundfacialis, Fehlen des linken Abdominalreflexes, 
hochgradige Ataxie von typisc h ecrebellarem Charakter 
mit der Neigung nach links zu fallen, keine Rumpf - 
muskels« hwäche. Im weiteren Verlauf eigenthiimliehes 
psvehist lies Verhalten, Euphorie mit Witzelsucht: die 
linksseitige Fa< ialisparese schwankte in der Intensität, 
ebenso die Ataxie. Auf Grund dieser Svmptome 
wurde die Diagnose auf Tumor des rechten Frontal¬ 
lappens gestellt, von dem in Anbetracht der cireum- 
scripten percutorischcn Empfindlichkeit des Schädels 
anzunehmen war, dass er nic ht zu weit vom Knoc hen 
entfernt war. Entscheidend für die Lokaldiagnose war 
die circumscripte percutorische Empfindlichkeit rec hts, 
die statische Ataxie, die linksseitige Monoplegia Faci¬ 
alis, die Aufhebung des Geruchs rechts. Die psychi¬ 
schen Sunptome waren geeignet, die Diagnose zu 
stützen. Am wahrsc heinlic hsten erschien einSarcom; 
bezüglich der Ausdehnung des Tumor konnte man 
sagen, dass er wohl kaum noch die Zentralwindung 
erreicht hatte*. 

Am 20. Juli iooi Operation durch Professor Dr. 
Steinthal. Bildung eines Wcichtheilknochenlappcns in 
der rechten Sehläfengegend. Nach Eröffnung der 
Dura lag der Tumor zu Tage und liess sich glatt 
stumpf heraus.se hälen ; er hatte die Grösse eines 
Hühnereis und erwies sieh als ein Fibrosarcoin. In 
der Umgebung des Tumor noch 2 kleinere desselben 
Charakters, die entfernt wurden. Sofortige Besserung 
der subjektiven Besch werden, die Stauungspapille ging 
zurück, das Sehvermögen hob sich. Nach 3 Wochen 
wiederum Zunahme der Staimngserscheinungcn im 
Augenhintergmnd mit Abnahme des Sehvermögens 
ohne sonstige Beschwerden. Bei dem fieberlosen Ver¬ 
lauf war ein Re< idiv wahrscheinlich. V iederöffnung 
am 4. September 1001 und Entfernung zweien wei¬ 
terer Tumoren von der Grosse einer kleinen Wall- 
miss; darnach glatte Heilung. Die* Patientin fühlt 
sich seitdem sehr wohl, das Sehvermögen hob sieh 
jedoc h nur bis zum Erkennen von I Iandl »ewegungen 
(ophtb.ilnn >s< < »piseli Atrophia X. opt. i; aber Patientin 
ist im Stande*, last ohne freunde Hilfe alle gröberen 
Haushaltungsarbeiten zu verrichten. Vor ü Wochen, 
direkt nach dem Heben einer schweren Last, epilcp- 
tiformer Anfall; z. Z. jedoch keine allgemeine oder 
Lokalsymptome nachzuweiben, die auf ein Rex idiv 
schliosen Hessen. — Der Vortragende weist darauf 
hin, dass dieser Fall, wie auch einige andere, zeigen, 
dass man unter Umständen auch Tumoren des rechten 
Frontallappens mit Sicherheit diagn« »sticiren könne. 
Er macht ferner darauf aufmerksam, dass bei der 
Patientin trotz hochgradiger Ataxie keine Rumpf- 
muskelschwäche vorhanden war; über die Witzelsueht 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 415 


als Lokalsymptom der Stirnhirntunioren spricht er sich 
aus verschiedenen Gründen mit Reserve aus; die 
statische Ataxie sei zweifellos ein Lokalsymptom. 
(Ausführliche Mittheilung folgt). 

Den Schluss der ersten Sitzung bildete die De¬ 
monstration und Erläuterung der Pläne der neuen 
Staatsirrenanstalt bei Weinsberg durch Med.-Rath Dr. 
Dietz im Anschluss an die in oben genannter Zeit¬ 
schrift von ihm veröffcntlichlen allgemeinen Ge¬ 
sichtspunkte, welche für die* Errichtung einer weiteren 
wi'irttembergischen Anstalt überhaupt, wie im Einzel¬ 
nen für die Art der Ausführung denselben, (Pavillon¬ 
styl) und die Wahl des Kauplatzes maassgebend waren. 
Die Anstalt in Weinsberg ist für 500 Kranke bestimmt, 
mit je 250 Männer und Frauen. Hälftig ist auch die 
Trennung der „geschlossenen“ (Aufnahme und Ueber- 
wachungshäuser, halbmhige Häuser und Lazarethe), 
und der „offenen Anstalt“, also ebenfalls mit je 250 
Ketten. Männer- und Frauenabtheilung sind durch 
eine mittlere neutrale Zone getrennt, in welcher sich 
Verwaltungsgebäude und Kirc he befinden. Die Ge- 
sammtzahl der Gebäude beträgt 33. Die masc hinellen 
Betriebe sind möglichst concentriseh angelegt, Küche 
und Waschküche so, dass sic trotzdem leic ht zugäng¬ 
lich sind; für den Speisetransport ist eine Rollbahn 
in Aussicht genommen. 

Die Zahl der Krankenhäuser beträgt 18. Die un¬ 
gefähr kreisförmige Anlage derselben erleichtert auch 
räumlich einen stufen weisen Uebergang von den Auf¬ 
nahme- und Ueberwachungshüusern zur c»Honen Anstalt 
und freien Behandlung. Der seitherige Gutshof wird 
als Colonie betrieben werden. 

Wasserversorgung: 400 Ltr. pro Kopf und Tag, 
event. ohne Schwierigkeiten noch zu erhöhen. Elek¬ 
trische Beleuchtung; Zentral - Heizung in Form der 
Gruppenheizung von 3 Zentren aus. — Abwasser¬ 
reinigung nach biologischem Verfahren. Gcsainmt- 
kosten der Anstalt: 3 Mill. Mark. Eröffnung theil- 
weise am 1. October 1003, ganz 1. April 1004. 

Die in Aussicht genommene Besichtigung der im 
Rohbau nahezu fertigen Anstalt musste des schlechten 
Wetters wegen leider unterbleiben. 

Abends 7 Uhr vereinigten sich dann etwa 80 
Theilnehmer zu dem im Hotel Marquardt veranstal¬ 
teten Festessen, in dessen Verlauf San.-Rath Dr. 
Wildcrmuth die Theilnehmer im Namen der Geschäfts¬ 
leitung, San.-Rath Dr. Fauser im Namen der Stadt 
und Dr. Weil im Namen des ärztlichen Vereins be- 
grüssten. In längerer Erwiderung dankte Geh.-Rath 
Schüle von Illenau und gab einen Ueberblick über 
das, was in Württemberg und von Württembergern 
für die Psyc hiatrie geleistet worden sei. Er erwähnte, 
dass vor 33 Jahren die 2. Versammlung des Vereins 
auch in Stuttgart getagt habe. Damals waren es 10 
Theilnehmer! 

Am Sonntag Vormittag 8 l / 2 Uhr vereinigte man 
sic h im Bürgerspital, um unter der Leitung von 
Sanitätsrath Dr. Fauser die Irrenabtheilung mit den 
im Sommer vollendeten Anbauten zu besichtigen. 
Dann wurde die Versammlung unter dem Vorsitz von 
Med.-Rath Dr. Kreuser fortgesetzt, indem dieser zu¬ 
nächst ein Begrüßungsschreiben des Stadtdekans von 

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Braun vorlas. Zunächst wurden einige geschäftliche 
Angelegenheiten erledigt und für den Ort der nächst¬ 
jährigen Zusammenkunft K a r 1 s r 11 h e gewählt. So¬ 
dann wurde mit überwiegender Mehrheit eine Reso¬ 
lution gegen den Erlass des kgl. prcuss. Justizministe¬ 
riums vom 1. Oct. v. J. gefasst, der anordnet, dass der 
Gerichtsarzt zu Entmündigungssachen regelmässig zu 
wählen sei. Der Beschluss (s. S. 351 Nr. 32) wurde 
zur weiteren Verarbeitung dem Vorstand des Vereins 
deutscher Irrenärzte übergeben. — Den 1. Vortrag 
hielt sodann San.-Rath Dr. Fauser über die Einrich¬ 
tung und den Betrieb der Irrenabtheilung des Bürger¬ 
spitals. Nach einer kurzen Beschreibung der bau¬ 
lichen Einrichtungen, namentlich der Wachabtheilung, 
folgten Allgaben über die Aufnahmezilfern. die Krank¬ 
heitsformen, die Ileilresultate, über das Pflegepersonal 
und die Aufnalimestatuten. Seit der Errichtung der 
neuen Anstaltsgebäude im Jahre iScgj. haben sich die 
Neuaufnahmen von Kranken um reichlich 100 ° 0 ver¬ 
mehrt, während das Aufnahmegebiet sich nur um 30" 0 
vergrößert hat. Im letzten Jahre wurden in der An¬ 
stalt 221 Kranke verpflegt, von denen 06 nach an¬ 
deren Anstalten verbracht und 1 iq wieder als geheilt, 
zum Theil auch als ungebessert nach Hause entlassen 
wurden, b Patienten sind gestorben. Mit dem An¬ 
schluss der Irrenabtheilung an die Krankenabtheilung 
wurden nur günstige Erfahrungen gemacht. Dagegen 
sei es nicht angängig, dass bei Ucberfüllung der Irren¬ 
abtheilung Geisteskranke im Krankenhause Aufnahme 
finden, weil durch deren Verhalten die im letzteren 
herrschende Disciplin gefährdet werde. Als vortreff¬ 
lich habe sich erwiesen, die aus der Irrenabtheilung 
als genesen Entlassenen noch kurze Zeit im Kranken¬ 
hause zur Beobachtung zu behalten. 

Privatdozent Dr. Gaupp-IIeidelberg sprach über 
die Grenzen der psychiatrisc hen Erken ntniss. 

Dir. Frank- Mi'msterlingen: lieber den Heil- 
werth der H y p n o s e. (Suggestivtherapie.) 

Vortragender geht zunächst den Gründen nach, 
welche die nur geringe Ausbreitung der suggestiv- 
therapeutischen Methode bedingen, und findet als 
solche: 1. den Umstand, dass die Suggestivtherapic 
gleich nach ihrem Bekanntwerden von vielen nicht 
genügend vorgebildeten Aerzten angewendet wurde, 
und somit bei der allgemeinen Publikationswuth sehr 
viele Fälle veröffentlicht wurden, die vor der exact 
wissenschaftlichen Kritik nicht bestehen konnten; 2. 
dass die Ausbildung der Aerzte auf den Universitäten 
in den einschlägigen Gebieten, so in der Psychologie, 
Psychophysiologie, Neurologie und Psychiatrie, eine 
zu mangelhafte ist, während doch die meisten sugges¬ 
tiv-therapeutisch zu behandelnden Fälle zum Internen 
kommen statt zum Neurologen oder Psychiater; und 
3. dass der Arzt, der die Suggestive Behandlung mit 
Erfolg anwenden will, gewisse quasi künstlerische 
Fähigkeiten haben muss, wie sie auch nicht ein jeder 
aufweisen kann. Er muss imstande sein, schnell und 
sicher zu beobachten und zu komhiniren, muss sich 
schnell und gut concentrircn und auch eine grosse 
Ausdauer haben. — Auf diese Gründe führt F. auch 
die vielen abfälligen Kritiken der medicinisclicn Au¬ 
toritäten über den Heilwerth der hypnotischen Me- 

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416 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3 7 


thode zurück, indem er den Worten Forels in der 1. 
Auflage seines „Der Hypnotismus und die Suggestiv¬ 
therapie“ : „Prüfe nach, bevor du urtheilst!“ noch hin¬ 
zufügt: „wenn du dazu befähigt bist.“ Er verlangt 
weiterhin, dass man die Aerzte auf den Universitäten 
entsprechend, also psychologisch und pychophysiolo- 
gisch, vorbilde, und nach Forerschem Muster die 
Methoden der Suggestivtherapie in Verbindung mit 
einer Klinik oder Poliklinik lehre. Hiermit verbindet 
Fr. jedoch nicht etwa den Zweck, alle Aerzte zu 
Suggestivtherapeuten machen zu wollen, sondern er 
beabsichtigt nur, neben der Gewinnung weiterer Re¬ 
sultate für die Psychologie, zu ermöglichen, dass bei 
recht vielen Patienten die richtige Diagnose gestellt 
werde, damit dieselben dann dem Specialarzt zur 
heilungbringenden Behandlung zugeführt werden können, 
sowie dass auch die Aerzte einsehen lernen, worauf 
die Heilwirkung sehr vieler ihrer sonstigen Heilmittel 
beruht, nämlich auf der Suggestion. Und wenn sich 
der Vortr. auch von dem Heilwerth der hypnotischen 
Methode für die Psychosen nicht viel verspricht, so 
hält er doch ihre Anwendung in einzelnen Fällen für 
durchaus angezeigt, wie er sie selbst auch bisweilen 
bei Psychosen mit Erfolg angewendet hat. So führt 
er einen diesbezüglichen Fall von Prof, von Speyr an 
und erwähnt auch 2 derartige Fälle aus seiner eigenen 
Praxis. In dem einen handelt es sich um eine Er¬ 
schöpfungspsychose bei einer 31jährigen Bauersfrau. 
Dieselbe hatte sich von einem Abortus nach einer 

14 wöchentlichen Gravidität und dabei stattgefundenen 
starken Blutverlusten nur langsam erholt, zeigte vor 
allem Schlaflosigkeit und hatte seit 8 Tagen vor der 
Aufnahme Gesichts- und Gehörstäuschungen. Pat. 
wurde am 2. Tage ihres Anstaltsaufenthalts, als sie 
gerade lucid war, hypnotisirt, schlief darauf Nachts 
gleich gut und verlor auch nach noch 2 Sitzungen 
völlig ihre Sinnestäuschungen. Sie konnte bereits nach 

15 Tagen als gesund entlassen werden, nachdem 
auch ihr Schlaf weiterhin stets gut geblieben war, und 
ist sie auch seitdem — es sind jetzt 6 Jahre ver¬ 
flossen — gesund geblieben. Der 2. Fall betrifft einen 
11 jährigen Knaben, der von der Schulvorsteherschaft 
vom Schulbesuch ausgeschlossen werden sollte, weil 
er im Schulzimmer Stuhlgang hatte, ohne es zu be¬ 
achten. Eine organische Ursache Hess sich für das 
Leiden nicht finden, aber es gelang F., in hypotak¬ 
tischem Zustand zu eruiren, dass der erwähnte Zu¬ 
stand aus dem 7. Lebensjahr des Knaben stammte. 
Es war ihm damals, als er neben seiner gerade mit 
Fettschmelzen beschäftigten Mutter stand, ein Tropfen 
heissen Fettes auf die entblösste Brust gespritzt. Der 
dadurch verursachte Schreck hatte dann eine unbe¬ 
absichtigte Defäcation ausgelöst und diesen Zustand 
der nicht gefühlten Defäcation auch bis zum Tage 
der Untersuchung unterhalten. Nachdem Vortr. dies 
eruirt hatte, gelang es ihm nun durch entsprechende 
energische Suggestionen in 2 Sitzungen, den krank¬ 
haften Zustand für immer aufzuheben. — 

Dr. Bezzola, Ermatingen (Schloss Hard). 
Casuistischer Beitrag zum Heilwerth der 
Psychotherapie. Knabe aus gesunder Familie, nur 
Mutter vasomotorisch sehr erregbar. Selbst von Kind 

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auf etwas nervös, besonders auch sexuell früh ent¬ 
wickelt. Musste wegen zu starken Wachsthums 
aus der Realschule wcgbleiben, litt an immerwähren¬ 
der Müdigkeit und nervösen Gliederzuckungen. Später 
stark entwickelte Phantasiethätigkeit und impulsive 
Handlung, schiesst sich eine Kugel in den Arm und be¬ 
hauptet, es habe ein grosser magerer Mann auf ihn 
geschossen. Polizei sucht überall, kann keine Spuren 
davon finden. Zuletzt Pat. als Betrüger bestraft und 
eingesteckt, halb schuldbewusst. Zwei Jahre darauf 
Streit mit Kameraden, sehr aufgeregt, schläft ein, wird 
von einem Kameraden geweckt, der ihm etwas ins 
Ohr flüstert, verfällt in grosse Aufregung und zuletzt 
Krämpfe mit Bewusstseins Verlust, die sich 
einige Tage nach einander wiederholen. Diagnosen: 
Epilepsie, Hysteroepilepsie, Hysterie mit entspr. Be- 
handlungsvorschlägcn. 

Beginn der Behandlung: 19. März 1902. Beob¬ 
achtung ergiebt grosse Erregbarkeit, Stimmungswechsel, 
vermehrte Phantasiethätigkeit, Selbstvorwürfe wegen 
verlorenem Leben, Amnesie für die Anfälle, keine De- 
fecte. Hypnose durch Verbal Suggestion leicht hervor¬ 
zubringen. Somnambulismus mit nachheriger Amnesie. 
Situation beim Schlafzustand vor den Krämpfen: 
Traum, dass sein Mädchen von einem Kameraden 
erschossen wird und dass er selbst mit demselben auf 
Leben und Tod ringt. Berichtet in der Hypnose über 
diesen Kampf in sehr erregter Weise, sodass man sieht, 
er träumt den Traum wieder durch. Stöhnt, ächzt, 
wechselt die Farbe, wälzt sich hin und her, ballt die 
Fäuste, macht einen sehr unheimlich drohenden Ein¬ 
druck. (Beobachtung stenographisch aufgenommen.) 
Nach und nach Ruhe. Auf Befragen sagt er, der 
betr. Kamerad habe ihm ins Ohr geflüstert: „Was 
ist denn los ? — Mach doch kein Unsinn! — Gut’ 
Nacht!“ 

Dieselbe Szene spielt sich nun in jeder folgenden 
Hypnose, aber immer mehr abgekürzter Form 
und immer ruhigerer Art und Weise ab, bis 
Pat. die Geschichte erzählt, wie wenn er sie in der 
Zeitung lesen würde. Bezüglich des gchcimnissvollcn 
Verbrechers gelingt es im hypnotischen Schlafe zu 
eruiren, dass der „grosse Mann“ sein „Vetter“ in 
Stuttgart war. Mit demselben hatte er als ganz junger 
Knabe — vor 12 — 13 Jahren — im Walde Ver¬ 
steckspiele getrieben und war dabei erschreckt worden, 
indem er, genau wie nachher bei der Vision, hinter 
einem Baume hervorgetreten war. Der Schreck war 
klein gewesen, aber nachher zeigten sich die nervösen 
Erscheinungen. 

Im wachen Zustande amnestisch, auch für das in 
der Hypnose aus der Erinnerung hervorgeholte Ge- 
heimniss des „grossen Mannes“. Erst am Schluss der 
Behandlung wird Pat. die hypnotische Suggestion ge¬ 
geben, seinen Eltern successive Aufklärung über die 
verschiedenen Geheimnisse seines Lebens zu geben 
und beim Frühstück die Geschichte vom Versteck¬ 
spiel, beim Mittagessen die Revolveraffaire, beim Nacht¬ 
essen die Traumaffaire in ihrem Zusammenhänge mit 
den unbewussten Vorgängen zu erzählen, was er in 
verblüffender Weise thut, unter der Angabe, die Sachen 
seien ihm soeben eingefallen. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 417 


Pat. ist bisher frei von nervösen Erscheinungen 
geblieben und nach den Angaben seiner Eltern so¬ 
wohl als nach seinen eigenen ein anderer Mensch 
geworden. Er hat den Sommer über mit Lust und 
Fleiss gearbeitet und das gefürchtete Examen zum 
Einjährig-Freiwilligen bestanden, vor dem er so Angst 
hatte, dass Ref. es für gut fand, ihn einige Male 
dasselbe in der Hypnose durchmachen zu lassen. 
Pat. glaubt, dass dieses Gewöhnen an eine gefürchtete 
Situation ihm von grossen Nutzen gewesen sei, ob¬ 
wohl die Gründe andere waren. 

Krauss-Kennenburg: Ueber Vererbung von 
Geisteskrankheiten. 

Die Annahme, das das Darwinsche Gesetz der 
Vererbung auch für die Form der Geistesstörung Gel¬ 
tung habe, bestätigt sich nicht nach den Befunden 
bei den Kranken der psych. Klinik in Heidelberg 
und an der Heilanstalt Kcnnenburg. Es fanden sich 
vielmehr gleichartige Vererbung von der Gesammt- 
zahl der Fälle bei Eltern und Kindern nur in 7o°/q, 
bei Geschwistern nur in 6o,6"; 0 , bei Geschwisterkin¬ 
dern nur in 46,5° ',, der Fälle. Fs ergiebt sich damit 
eine überwiegende Zielstrebigkeit im Sinne einer De- 
generescenz der Krankheitsform der Dcsccndenz, eine 
Beobachtung, die auch dadurch ihre Bestätigung findet, 
dass sämmtliche überhaupt zur Beobachtung gelangten 
Dcsccndenten mit einer einzigen Ausnahme in meist 
wesentlich jüngerem Alter zur Aufnahme gelangten, 
als die Ascendenten. Auch der Verlauf scheint sich 
entschieden bei der Descendenz ungünstiger zu ge¬ 
stalten als bei der Ascendenz. 

Dr. H ess-Stephansfeld : Ueber hysterisches 
Irresein. (Ist in Nr. 36 dieser Wochenschrift als 
Original erschienen.) 

Dr. Rüh 1 c - Winnenthal: N i c h t p ar a 1 v tische 
Geistesstörung neben Tabes. 

Seit den ersten Veröffentlichungen über das Vor¬ 
kommen von Tabes und pmgress. Paralyse bei ein 
und demselben Individuum durch C. Wcstphal i. J. 
1878 und den 3 Jahre später über diese Frage an- 
gestellten Untersuchungen durch Mocli hat sich -ein 
lebhaftes Interesse für diese Combination zweier Er¬ 
krankungen des Centralnervensystems in den psychi¬ 
atrischen Kreisen geltend gemacht und zu zahlreichen 
einschlägigen Arbeiten Veranlassung gegeben. All¬ 
mählich kam man durch Beobachtung gleichartiger 
patholog.-anatom. Befunde im Rückenmark der Er¬ 
krankten und in Berücksichtigung des wahrscheinlich 
beiden Erkrankungen zu Grunde liegenden gemein¬ 
samen aetiologischen Factors zu der Ueberzeugung, 
dass zwischen beiden innige Beziehungen bestehen 
müssten, und von einer grossen Zahl von Forschern 
wird geradezu die Identität von Tabes und Paralyse 
behauptet. Vortr. bespricht nun 2 Fälle von echter 
Tabes, denen sich psychopathologische Erscheinungen 
zugesellt hatten, die sich nicht in das Bild der pmgress. 
Paralyse einfügen lassen. 

Der eine Fall betrifft ein Individuum, bei dem 
neben der seit 9 Jahren bestehenden Tabes sich ein 
vollkommen systematisier uncorrigirter Wahn aus¬ 
gebildet hat und nun seit bereits 5 Jahren in un- 

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veränderter Weise fortbesteht. (Der Fall wurde de- 
monstrirt auf der Versammlung württemb. Nerven- und 
Irrenärzte am 29. Juni 1901. Referirt darüber in 
Nr. 53 der psych. Wochenschrift 1902.) 

Der zweite Fall betrifft einen 46 j. Beamten. Sehr 
intelligenter Mann. Psychische und physische Ueber- 
anstrengung im Dienst. Lues nicht nachgewiesen. 
Vor 3 1 /, Jahren Beginn der Tabes, vor bald 2 Jahren 
der psychischen Störung. Ausbildung eines deutlichen 
Beziehungs- und Verfolgungswahnes auf Grund zahl¬ 
reicher Gehörstäuschungen. Oertlich und zeitlich voll¬ 
kommen orientirt, intellectuellc Fähigkeiten, Urteils¬ 
kraft — soweit nicht unmittelbar mit seinem Wahn 
zusammenhängend — ungeschwächt, vollständiges 
Fehlen irgend welcher „geistigen Schwäche“, intactes 
Gedächtniss sowohl für die frühere Vergangenheit als 
auch für die jüngste Zeit, keinerlei Grössenideen, 
richtige Beurteilung seiner financiellen Lage, rasches 
und sicheres Rechnen. Der Kranke interessirt sich 
lebhaft für Zeitereignisse und Tagesfragen, seine 
ethischen Gefühle sind unverkümmert, sein Benehmen 
tactvoll, ist stets sorgsam gekleidet. Vollkommene 
Krankheitseinsicht für Tabes. 

In beiden Fällen bieten die psychischen Stör¬ 
ungen nichts von dem, was zur Diagnose einer pro- 
gress. Paralyse erforderlich wäre; sie zeigen vielmehr 
seit 5 bezw. 2 Jahren ein ausgesprochen paranoisches 
Gepräge. Vortr. kommt zu dem Schluss, dass es 
keine gesetzmässigen Beziehungen sind, in denen die 
klinischen Bilder von Tabes und Paralyse zu ein¬ 
ander stehen und dass darum die Lehre von der 
Identität beider noch nicht als erwiesen gelten darf. 

Wil man ns-Heidelberg. Psychose der Land¬ 
streicher. 

Das Material, das dem Vortrage zu Grunde liegt, 
besteht aus 120 Geisteskranken, professionellen Land¬ 
streichern. Infolge der vorgerückten Zeit beschränkt 
sich der Vortr. darauf, die Bedeutung hervorzuheben, 
welche der Dementia praecox in der Zusammensetzung 
des gewohnheitsmässigen Vagabondenthums zukommt. 
Er unterscheidet drei Gruppen: die erste Giuppe wird 
von ursprünglich geistig und körperlich gesunden, sess¬ 
haften Persönlichkeiten gebildet, die in geordneten 
Erwerbsverhältnissen lebten, bis dass sie meist zwischen 
dem 20. und 30. Jahre von einer schwereren, acuten 
Psychose befallen wurden, nach deren unvollkommenen 
Heilung sie in die Landstreicherlaufbahn geriethen. 
Hochgradiger Schwachsinn, Wahnvorstellungen oder 
eine acute hallucinatorische Erregung im Arbeitshause 
führten oft erst nach Jahrzehnten ihre endliche Auf¬ 
nahme in der Klinik herbei. — Eine zweite Gruppe 
bilden ebenfalls ursprünglich sociale Elemente, die 
sich, ohne dass eine ausgesprochene geistige Störung 
vorhanden war, ziemlich plötzlich oder mehr allmäh¬ 
lich ohne erkennbaren Grund einem unsteten und 
unregelmässigen Leben hingaben und zu gewohnheits¬ 
mässigen Vagabonden wurden. Erst im Laufe von 
Jahren und Jahrzehnten und oft erst nach häufigen 
Internirungen in Correctionshäusem traten activ psy¬ 
chotische Erscheinungen auf oder wurde der Schwach¬ 
sinn als so hochgradig erkannt, dass eine Ueberfüh- 

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418 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37. 


rung in eine Anstalt nothwendig erschien. — Die 
dritte Gruppe endlich setzt sich aus von Haus aus 
patnologischen Persönlichkeiten zusammen, bei denen 
schon in frühester Jugend sittliche und intellectuelle 
Defecte vorhanden waren, die nach meist unvoll¬ 
kommener Schulausbildung kein Handwerk erlernten, 
schon früh ins Vagabondiren geriethen und nach 
massenhaften Störungen wegen Verbrechens gegen die 
Person und das Eigenthum, Betteins und Land¬ 
streichens, nach häufigen Internirungen in Gefäng¬ 
nissen, Zucht- und Correctionthäusern ausgesprochen 
geisteskrank und in die Irrenanstalt überführt wurden, 
die geringeren sehr häufig mit dem Symptomen com - 
plex der Kalbaum’schen Katatonie, die älteren unter 
dem Bilde der alten hebephrenischen Verblödung. 

Dr. Feld mann giebt einen Ueberblick über die 
seit dem Jahr 1895 auf der Inenabtheilung des 
Bürgerhospitals behandelten 71 Fälle von acuter 
Gei stesstörung der Gewohnheitstrinker. Unter 
101 Alkoholikern, darunter 10 weiblichen, wurden auf¬ 
genommen : 

40 (6 weibl.) wegen chronischen Alkoholismus, 

11 „ pathologischer Rauschzustände, 

14 (2 weibl.) „ acut, halluc. Wahnsinns d. Trinker, 

36 (2 „ ) „ Delirium tremens. 

Referent geht nur auf die letzten 2 Gruppen 
näher ein. Bei den 14 Patienten mit acutem 
h al lucin atorischem Wahnsinn wurden bei 12 
einfachen und 2 mehrfachen Aufnahmen insgesammt 
20 Anfälle beobachtet. 

Bei den aus der Irrenabtheilung nach Hause ent¬ 
lassenen Kranken dauerte der Aufenthalt im kürzesten 
Fall 4, im längsten 21, im Durchschnitt 17 Tage. 

Wegen Delirium tremens wurden 36 Per¬ 
sonen, davon 7 mehrmals aufgenommen, so dass 
im ganzen 51 Anfälle beobachtet wurden. 

Die körperliche Untersuchung der Kranken ergab 
im Widerspruch zu den sonstigen Erfahrungen sehr 
wenig schwere Complicationen, insbesondere keine 
Pneumonie und nur eine schwere Verletzung. 

Bei 4 Anfällen erfolgte der Ausbruch des Deliriums 
erst nach dem Eintritt auf die Irrenabtheilung des 
Bürgerhospitals, darunter befindet sich auch ein Rück¬ 
fall im Bürgerhospital, dessen Einzelheiten der Be¬ 
richterstatter näher vorträgt. 

Alkohol wurde nur in 4 Fällen verabieicht und 
zwar geschah dies derart, dass bei hochgradiger Herz¬ 
schwäche neben andern Excitantien kleine Dosen Wein 
gegeben wurden. Auch von Narcotids wurde nur 
massiger Gebrauch gemacht, Sulfonal, Trional und 
Paraldehyd gelangten wiederholt in geringen Mengen 
zur Anwendung. Chlaralhydrat wurde nie gegeben. 
In einzelnen Fällen wirkten hydrotherapeutische Pro¬ 
zeduren sehr günstig ein. Unter dieser Behandlung 
trat die Orientirtheit durchschnittlich nach 3,6 Tagen 
ein. Die Entlassung erfolgte in beinahe */ 3 der Fälle 
in den ersten zwei Wochen, im Durchschnitt nach 
13,7 Tagen. Ein Fall, den der Vortragende eben¬ 
falls genauer schildert, gelangte zum exitus letalis. 

Der Berichterstatter führte zum Schluss an, dass 
das Delirium tremens zu denjenigen Krank- 

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heiten gehöre, die sich ganz besonders zur 
Behandlung in den Irrenasylen der grösseren 
Städte eignen und zwar aus folgenden Gründen: 

1. Das Delirium tremens ist meistens von sehr 
kurzer Dauer. 

2. Trotzdem ist es fast unmöglich, derartig Kranke 
im Hause zu behandeln; andererseits lassen sich die 
für die Aufnahme in eine eigentliche Irrenanstalt noth- 
wendigen Formalitäten häufig nicht mit der gewünschten 
Schnelligkeit vollziehen, auch erscheint die Vermeid¬ 
ung eines längeren Transportes bei dieser Krankheit 
besonders wünschenswerth. 

3. Im Irrenasyl lässt sich die sofortige, vollkom¬ 
mene Entziehung des Alkohols beinahe in allen Fällen 
durchführen. Bei sorgfältiger Behandlung des Kranken 
tritt trotzdem der Ablauf des Deliriums in durchschnitt¬ 
lich 3 l /2 Tagen ein. 

4. Wo das Irrenasyl wie in Stuttgart mit einem 
Krankenhaus verbunden ist, kann man in den meisten 
Fällen den Trinker nach Aufhören der durch seinen 
Anfall bedingten Gemeingefährlichkeit und damit auch 
nach Fortfall der rechtlichen Grundlage für unfrei¬ 
willige Zurückhaltung desselben durch gütliches Zureden 
dahin bringen, dass er sich freiwillig noch einige Zeit 
der Aufsicht des Arztes unterwirft. 

5. Die Verbringung in eine Trinkerheilstätte, die 
natürlich immer anzustreben ist, wird leichter möglich, 
wenn sich der Trinker vom Irrenasyl aus direct da¬ 
hin begiebt, als wenn er vorher in seine häuslichen 
Verhältnisse zurückkehrt. 

ö. Wo aber der Kranke, wie dies in den meisten 
Fällen zutrifft, aus äusseren Gründen baldmöglichst 
seine Erwerbsthätigkeit wieder aufnehmen muss, da 
ermöglicht ihm das Irrenasyl bei dem ge¬ 
ringsten Kostenaufwand und unter den 
leichtesten Bedingungen die bestmöglichste 
Behandlung während des Anfalls und die 
ehethunlichste Wiederaufnahme der Arbeit 
nach Ablauf desselben. 

Der Vortrag erscheint anderwärts in extenso. 

H. Levi: St ich Verletzung des Gehirns. 
(Aus dem Marienhospital in Stuttgart.) 

Vortragender stellt einen Patienten vor, welcher 
vor 4 Monaten bei Raufhändeln in den Kopf ge¬ 
stochen worden war. Das Messer durchschnitt das 
rechte Scheitelbein 1 cm von der Mittellinie entfernt 
glatt, ohne Splitterung und drang noch 4 cm tief ins 
Gehirn ein. (Beinregion nach Krönlein scher Messung.) 
Im Moment der Entfernung, bei welcher Hebelbe¬ 
wegungen ausgeführt wurden, sank der linke Arm wie 
leblos herab und blieb gelähmt, während Pat. noch 
gut gehen konnte und keine gröbere Sensibilitätsstör¬ 
ung bot. Plötzlich auftretende auf Druck hinweisende 
Symptome machten ca. 2 Stunden nach der Verletz¬ 
ung operative Erweiterung des Knochenspaltes noth¬ 
wendig, wobei weder ein Bluterguss noch Splitter sich 
fanden. (Prof. Zeller.) Die Wundheilung verlief in 
der Folge glatt, doch bildete sich nunmehr d;is Symp- 
tomenbild einer associirten brachio-cruralen Monoplegie 
aus: es bestand 14 Tage lang völlige Lähmung des 

Original fram 

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1902.j PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 419 


linken Armes, dessen Motilität sich in eigenartiger 
Reihenfolge allmählich wieder herstellte, ferner Parese 
des linken Beines, Störungen des Muskelsinns, Lagege¬ 
fühls, LokalisationsVermögens, stereognostischen Sinnes 
und auch in geringem Grade der Tast- und Wärme¬ 
empfindung insofern, als ein deutlicher Unterschied 
zwischen rechts und links bestand. Weiterhin be¬ 
standen spastische Symptome in Arm und Bein mit 
Steigerung aller Reflexe und ausgesprochene Rinden¬ 
ataxie. Fast alle diese Erscheinungen haben sich so 
beträchtlich zurückgebildet, dass der Verletzte seit 14 
Tagen wieder seinem Beruf nachgehen kann. Vortr. 
bespricht kurz die Localisation, Prognose u. s. w. des 
Falles, der anderweitig in extenso veröffentlicht wird. 

Laudenheimer (Alzbach b. Darmstadt). Sexu- 
elle Zwangsvorstellungen bei einem Kinde. 

Irresein aus Zwangsvorstellungen bei Kindern ist 
in der Litteratur nur vereinzelt, sexuelle Zw. im Kin¬ 
desalter überhaupt bisher nicht beschrieben. In L.’s 
Fall wurden einem 11 jährigen Quartaner von älteren 
Mitschülern unanständige Worte und Zeichnungen 
mitgetheilt, deren Inhalt er nicht verstand, welche sich 
ihm dann zwangsmässig besonders in den Schulstunden 
aufdrängten. Gleichzeitig befürchtete er diese Worte 
oder Bilder laut ausgesprochen oder aufgezeichnet 
zu haben, was niemals der Fall war, und deshalb 
aus der Schule gejagt zu werden. Hieraus entwickelte 
sich allmählich im Laufe eines halben Jahres ein 
melancholisches Zustandsbild mit Angstgefühl, Selbst¬ 
vorwürfen und Suicidialgedanken, jedoch waren die 
Zw. stets das primäre. Entfernung aus der Schule, 
körperlich und seelisch kräftigende Behandlung 
brachten die Zwangsvorstellungen nach 3 Monaten 
zum Verschwinden. — Recidiv trat 1 Jahr nach 
Krankheitsbeginn mit dem Einsetzen der Pubertäts¬ 
entwicklung auf: Gleichzeitig mit den ersten unvoll¬ 
kommenen Erectionen, die Pat. beim Anblick weib¬ 
licher Personen bekam, stellte sich die Zwangsbefürcht¬ 
ung ein, zu vorübergehenden Frauen unanständige 
Worte oder Bewegungen machen zu müssen. Pat. 
machte sich hierüber heftige moralische Vorwürfe. 
Sachgemässe Aufklärung des in sexuellen Dingen noch 
absolut naiven Knaben brachte rasche Heilung. L. 
führt aus, dass dieser in seiner Aetiologie ungewöhn¬ 
lich durchsichtige Fall der Hypothese Freud’s über 
Entstehung der Zw. nicht entspricht, wohl aber ein 
schlagendes Beispiel für M. Friedmann’s Theorie der Zw. 
bildet. (Vortrag in extenso veröffentlicht im „Kinderarzt.“) 

Dr. R o s e n f e 1 d-Strassburg sprach über trauma¬ 
tische Hypochondrie, Dr. B u s c h - Heidelberg über 
die Diagnose der progressiven Paralyse. Die Sitzung, 
die bis 5 Uhr Abends dauerte, wurde unterbrochen 
durch ein von der Stadt Stuttgart gebotenes Gabel¬ 
frühstück. Dabei sprach Prof. Kräpelin in launiger 
Weise über den gelungenen Lauf der Versammlung. 
Privatdocent Dr. Gaupp dankte dem Redacteur des 
Med. Correspondenzblattes Hofrath Deahna für die 
Erstellung der Festschrift. Allgemeine Anerkennung 
fanden die Einrichtungen der Irrenabtheilung des 
Bürgerspitals, die weitherzige Fürsorge der Stadt Stutt¬ 
gart in dieser Richtung und ganz besonders die vor- 

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treffliche Organisation und Leitung der Anstalt durch 
den San.-Rath Dr. Fauser, der es verstanden hat, 
das alte Stuttgarter Irrenlokal in ein mustergültiges 
städtisches Irrenasyl umzuwandeln. Besonders erfreut 
und dankbar äusserten sich die versammelten Irren¬ 
ärzte über das höchst liebenswürdige Entgegenkommen 
der städtischen Behörden und über die rege Theil- 
nahme auch der Collegen in Stuttgart, die nicht Spe- 
cialisten sind. 

Referate. 

— Die Beziehungen zwischen körperlichen 
Erkrankungen und Geistesstörungen. Von Dr. 
Weber, Oberarzt u. Privatdoc. in Göttingen. Halle a. S., 
Carl Marhold, 1902, Pr. 1,50 Mk. Samml. zw r angL Ab- 
handl. a. d. Gebiet der Nerven- u. Geisteskr. III. Bd., 
Heft 7. 

Auf dem Boden körperlicher Erkrankungen können 
zwar psychische Störungen entstehen, selten bildet je¬ 
doch die körperliche Erkrankung die einzige oder 
hauptsächlichste Ursache der Psychosen. In diesen 
wenigen Fällen, die namentlich unter den Intoxications- 
und Infectionspsychosen zu suchen sind, bietet das 
klinische Bild gewisse characteristische Symptome. 
Im übrigen ist die körperliche Erkrankung neben vielen 
anderen gleichwerthigen nur ein aetiologischer Faktor, 
manchmal nur ein sogenanntes auslösendes Moment. 

Den vom Verf. beobachteten 2 Fällen von Dia¬ 
betes und Geistesstörung kann Ref. einen sehr ähn¬ 
lichen zur Seite stellen, bei dem ebenfalls hochgradige 
Vergessliclikeit im Vordergrund stand. 

Mit der vorliegenden Arbeit ist die bekannte Samm¬ 
lung zwangloser Abhandlungen wieder um eine lesens- 
werthe Nummer vermehrt worden. H. Kornfeld. 

— Jahresbericht für die I rren-Abthei¬ 
lung des Pennsylvania-Hospital für 1901/2 
des Directors Dr. Jota Chapir. 

Schon auf der ersten Seite dieses Berichts fällt 
angenehm auf, dass als consultirender Gynäko¬ 
loge Herr Dr. Scott-Häusler aufgeführt ist. Der ärzt¬ 
liche Stab besteht aus 5, die Zahl der Wärter und 
Wärterinnen ist 154. 

Es wurden täglich im Durchschnitt behandelt 
195 M., 253 W. = 448, es starben im Berichts¬ 
jahre 30 und genasen 23°/,, der Aufgenommenen 
= 38; (von den seit 1841, Eröffnung des Hospitals, 
Aufgenommenen 11,322 : 1770 bezw. 4845). 14 Neu¬ 
rastheniker kamen freiwillig in die Anstalt. 

Die Jahreskosten betrugen ca. 1 / 4 Mill. Dollars; 
333 Kranke zahlten einen Theil des Unterhaltes. 

Ein prachtvoller Pavillon (Geschenk) wurde für 
Hydropathie errichtet, ebenso ein Haus auf einer 
Farm. 

Mehrere brillante Abbildungen, z. B. der elegan¬ 
ten Villen für Frauen, des gymnastischen Pavillons, 
des Natatoriums, und ausführliche statistische Tabellen 
sind beigegeben. 

Bemerkensw r erth ist das Urtheil über die nega¬ 
tiven Resultate der pathologischen Untersuchungen 
bezw. Therapie. Hermann Kornfeld. 

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420 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 37. 


— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. und 
psych.-ger. Medicin. 59. Bd., 2. und 3. Heft. 

Linke-Tost O.-S. Noch einmal der Affekt 
der Paranoia. 

Auch bei der Paranoia wird neuerdings angenommen, 
dass dem Auftreten des Wahns eine durch primäre 
Affekte bedingte, krankhafte Veränderung des Ich zu 
Grunde liegt. Verf. halt an seiner bereits früher gc- 
äusserten Ansicht fest, dass die „gespannte Erwartung“ 
als der für das erste Auftreten des Wahns ausschlag¬ 
gebende Affekt anzusehen sei und verwirft die Be¬ 
zeichnungen „Misstrauen oder Rathlosigkeit“. 

Siefert-Halle a. S. Ueber chronische 
Manie. 

Ein 36jähriger Arbeiter mit abenteuerlichem Le¬ 
bensgang, wiederholt in der Klinik aufgenommen, bot 
andauernd das Bild der Manie. In der Litteratur 
fehlen derartige Fälle, welche maniakalischen Symp- 
tomenkomplex, Unveränderlichkeit der Erscheinungen 
und fehlende Concurrenz eines psychischen Defekts 
darbieten, so gut wie ganz. Verf. glaubt, dass sich 
unter den Vagabunden, sowie unter den Insassen von 
Arbeitshäusern und Gefängnissen derartige psychische 
Individualitäten häufiger werden finden lassen. Dem 
chronischen Maniacus müsste der Schutz des § 51 
zugebilligt werden. 

Hoppe-Allenberg. Ein Fall von Queru¬ 
lantenwahnsinn. 

Typischer Fall von Querulanten wahn bei einem 
Lehrer, der 3 mal wegen falscher Anschuldigungen 
etc. verurtheilt worden war und 3 Jahre Gefängniss 
abgebüsst hatte. Erst bei der vierten Anklage wurde 
eine Anstaltsbeobachtung durchgesetzt und auf Grund 
des ärztlichen Gutachtens Freisprechung erzielt; auch 
wurde Pat. nachträglich im Wiederaufnahmeverfahren 
in den 3 früheren Strafsachen freigesprochen. 

Risch. ZurCasuistik der Aphasie mit 
Agraphie und Alexie. 

Ein 61 jähriger Maurer, der seit ca. 3 Jahren die 
Sprache verloren hatte, wurde nach der Rieger’schen 
Methode untersucht. Während Perception und Apper- 
ception nicht erheblich gestört waren, wurden optische, 
tactile Perceptionen schlecht, Sinneseindrücke, die 
aus eigenen Bewegungen stammten, überhaupt nicht 
behalten. Spontansprechen war völlig, das Nachsprechen 
nicht absolut aufgehoben. Das Verständniss der Worte 
war anscheinend vollständig vorhanden. Es bestand 
ferner absoluter Ausfall des Spontan- und Diktat¬ 
schreibens, sowie des Lesens und des Leseverständ¬ 
nisses. Nach Ansicht des Verf. liegt der Krankheits- 
heerd in der Insel und greift auf die Leitungsbahnen 
über, die zum Lesecentrum führen. 

Arnemann-Gross-Sdnveidnitz. 

— V. Congres international d’anthro- 
p o 1 og i e criminelle. Amsterdam 9. — 14. Sep¬ 
tember 1901. 

Jelgersma (Amsterdam) stellt die Psychologie 
collective, die Psychologie der Massen, der Psycho¬ 
logie individuelle entgegen. Die Massen stehen unter 


dem Einfluss des Monoideismus, einer einzigen sie 
beherrschenden Vorstellung. Der Uebergang von der 
Idee zur That vollzieht sich ungewöhnlich rasch. 

Henrik Dedichen (Norw-egen) schlägt vor, 
die Geisteskranken, die sich nur kleinere Verbrechen 
zu schulden kommen lassen, wie Diebstahl u. dergl., 
und deren Aufenthalt fortwährend zwischen Irrenan¬ 
stalt, Gefängniss und Freiheit schwankt, in Kolonien 
zur Bearbeitung der Torfmoore und Haiden unterzu¬ 
bringen. In Betracht kommen die Imbecillen, Des- 
equilibrirten, Alkoholisten. 

Meijer (Deventer): Ueber die Unterbringung 
geisteskranker Verbrecher. Die Infirmeries peniten- 
tiaires (in England versucht), w’o die körperlich und 
psychisch Kranken des Gefängnisses verpflegt werden 
sollten, haben sich nicht bewährt. Ebensowenig die 
Centralanstalten (prisons-asiles in Dundrum seit 1850, 
Aubum bei New-York seit 1859, Broadmoor seit 
1863, Montelupo in Italien, Marchattan in Amerika, 
Waldheim in Sachsen). Nachtheile: Verschwörungen, 
Gewalttätigkeiten, Entweichungen, Kosten, Umständ¬ 
lichkeit des eventuellen Transports in das Gefängniss 
oder die gewöhnliche Irrenanstalt. Beste Methode: 
Adnexe an Gefängnisse zum Zweck der Beobachtung 
und zeitweisen Behandlung, und Adnexe an die Irren¬ 
anstalt zur definitiven Intemirung. 

A 1 etrin o (Amsterdam) fordert die sociale Gleich¬ 
stellung des Homosexuellen mit dem Heterosexuellen. 
Zwischen beiden besteht kein Unterschied. Beide 
können von vorzüglichem Charakter sein, und die 
Laster des Heterosexuellen können sich auch beim 
Homosexuellen finden. Es giebt eine normale Homo¬ 
sexualität. Die Befruchtung giebt nicht den Aus¬ 
schlag dafür, ob die Verbindung zwischen Mann und 
Weib moralischer sei als die zwischen Mann und 
Mann. Es giebt auch sterile Ehen, und im niedem 
Thierreich ist die Befruchtung, das Zusammentreffen 
von Sperma und Ei, ganz Zufall. Die Liebe beim 
Menschen beruht nicht so sehr auf Geistes- und 
Charaktereigenschaften. Beim Menschen giebt es 
eine Periode geschlechtlicher Indifferenz, etwa vom 
12. bis 15. Jahr. Zu welchem Geschlecht man sich 
darnach hingezogen fühlt, hängt von äussern Um¬ 
ständen ab. Es giebt ausgezeichnete Menschen, die 
homo- und heterosexuell lieben, beides in idealem 
Sinn. Der Uranismus braucht also keine Anomalie 
zu sein. 

Benedict stellt eine Grundformel der Psycho¬ 
logie in ihren Beziehungen zur Kriminalität auf. 
Diese Grundformel, für unsern beschränkten Ver¬ 
stand unfassbar, erklärt nicht w-enig. „Sie drückt 
jede Funktion jeder Zelle aus, wie dies nothw r endig 
ist zur Beurtheilung der Tragödieen Shakespeare’s, 
der Gemälde Rafael’s, der Symphonieen Beethoven’s, 
des Novum Organon von Baco, der geistigen Er¬ 
rungenschaften Kant’s, des Heroismus des Mucius 
Scaevola und der Missethaten der Verbrecher.“ Der 
Leser mag diese wunderthätige Grundformel selbst 
nachlesen. (Fortsetzung folgt.) 


Für den redactioncllen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lircslcr, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Ruchdruckerci (Gebr. WolflF) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 

Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. «roh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 38. 20. December. 1902. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Referate und Anträge betreffend die Reform des Irrenwesens in Oesterreich. Von Primararzt Dr. Star- 
linger (S. 421). — San Servilio (S. 427). — Mittheilungen (S. 428). 


Referate und Anträge betreffend die Reform des Irrenwesens in Oesterreich. 


T^\ie grosse Wichtigkeit, die allen gesetzgeberischen 
Vorkehrungen im Irrenwesen überhaupt inne¬ 
wohnt und das Interesse, mit dem gerade gegenwärtig 
die Fachleute derartige Bewegungen verfolgen, lässt 
es gerechtfertigt erscheinen, einiges von den Ergeb¬ 
nissen der heuer zum Abschluss gebrachten Verhand¬ 
lungen der Wiener Enquete zur Reform der Irren¬ 
gesetze hier im Auszuge folgen zu lassen. 

Es ist freilich in allen Gesetzen ein locales Colorit 
naturgemäss, aber gerade diese Anträge und Referate 
zeigen in so vieler Hinsicht allgemeine Bedeutung 
und haben andrerseits so hervorragende Referenten 
zu Autoren, dass es nur bedauert werden kann, dass 
sie bisher nicht in einem psychiatrischen Blatte ihre 
Veröffentlichung gefunden haben. 

Es ist selbstverständlich, dass ein auszügliches 
Referat dieser Anträge nichts weniger als erschöpfend 
sein kann und nicht jede einzelne Anregung wieder¬ 


zugeben vermag. Es können daher hier nur die 
Hauptzüge hervorgehoben werden und für das Detail 
sei auf die „Zeitschrift für das österreichische Sanitäts¬ 
wesen“ verwiesen, wo mit Ausnahme des Referates 
von Prof. Benedikt die Referate in extenso erschienen 
sind. 

28 Fragen wmrden vom Ministerium der Enquete 
vorgelegt. 

1. Ist es im Interesse der Obsorge für die Irren 
oder zum Schutze der Allgemeinheit vor gemeinge¬ 
fährlichen Irren unumgänglich nothwendig eine Anzeige¬ 
pflicht gesetzlich in dem Sinne festzusetzen, dass die Be¬ 
hörden von dem Falle einer Geisteskrankheit recht¬ 
zeitig in Kenntniss gesetzt werden? 

2. Für welche Kategorien von Geisteskrankheiten 
ist eine solche Anzeigepflicht fcstzusetzen ? 

3. Genügt es, wenn die Anzeigepflicht dem be- 


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Original frnm 

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422 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


handelnden Arzte und behördlichen Organen auferlegt 
wird? Oder ist es 

4. geboten, auch der privaten Umgebung des Irren 
eine Anzeigepflicht aufzuerlegen? 

5. Welche Kriterien sollen für das Eintreten dieser 
Anzeigepflicht maassgebend sein? 

6. Wäre es zweckmässig, die den Gemeinden im 
selbständigen Wirkungskreis obliegende Überwachung 
der Pflege der ausserhalb von Irrenanstalten unter¬ 
gebrachten Irren dahin auszugestalten, dass für die 
Ausübung dieser Ueberwachung eine Commission 
eingesetzt wird, welcher neben Sanitätsorganen auch 
Vertrauensmänner der Gemeinde angehören? 

7) Ist es nothwendig, die Errichtung von staat¬ 
lichen Irrenanstalten neben den bestehenden Landes¬ 
anstalten in Aussicht zu nehmen, oder kann die 
weitere Entwicklung der Organisation der öffentlichen 
Irrenanstalten den Ländern überlassen bleiben ? 

8) Sollen Privat-Irrenanstalten überhaupt zugelassen 
werden ? 

9) Ist es, falls die Auflassung der Privat-Irrenan¬ 
stalten mit Rücksicht auf die vorhandenen Bedürf¬ 
nisse nicht durchführbar ist, nothwendig, die in der 
Ministerial-Verordnung vom 14. Mai 1874, R. B. Bl. 
Nr. 71, enthaltenen Vorschriften, welche die Einfluss¬ 
nahme der Staatsverwaltung auf die Führung der An¬ 
stalt und die Behandlung der Kranken in derselben 
zum Gegenstände haben, umzuändern oder zu ergän¬ 
zen und zw'ar in welchen Beziehungen ? 

10) Soll das Recht, die Abgabe eines Irren in 
eine Irrenanstalt zu beantragen, gesetzlich auf be¬ 
stimmte Personen eingeschränkt werden, und zwar 
auf welche? 

11) Was sind vom Standpunkte der medicinischen 
Wissenschaft für Forderungen aufzustellen, um Miss¬ 
bräuchen hinsichtlich der Aufnahme in eine Irrenan¬ 
stalt und der Anhaltung in derselben vorzubeugen ? 

12) Ist insbesondere nach Aufnahme eines Indi¬ 
viduums in eine Irrenanstalt eine commissioneile Unter¬ 
suchung und Entscheidung über die Nothwendigkeit 
der Anhaltung desselben in der Irrenanstalt gesetzlich 
anzuordnen, bejahenden Falles innerhalb welcher 
Frist hat diese Untersuchung und Entscheidung Platz 
zu greifen und wie ist eine solche Commission zu¬ 
sammenzusetzen ? 

13) Empfiehlt es sich, gegen das Gutachten, auf 
Grund dessen die Aufnahme in eine Irrenanstalt statt¬ 
findet, eine Berufung an ein Sachverständigencollegium 
zu ermöglichen ? 

14) Erscheint cs einerseits im Hinblicke auf die 
gemachten Erfahrungen wünschenswert!), andrerseits 


mit der gebotenen Rücksicht auf den Zustand der 
Irren vereinbar, eine wiederholte commissionelle L T n- 
tersuchung jedes Irren ohne Unterschied während der 
Dauer seiner Anhaltung in der Irrenanstalt gesetzlich 
anzuordnen, bejahenden Falles in welchen Zeiträumen 
und unter welchen Modalitäten hätte eine solche 
Untersuchung Platz zu greifen? 

15) Sind gesetzliche Bestimmungen bezüglich des 
Vorganges beim Transporte von Irren in Irrenanstalten 
zu erlassen ? 

16) Welche Vorschriften sind für die Entlassung 
aus den Irrenanstalten festzusetzen ? 

17) Genügen insbesondere auch die bisherigen 
Vorschriften der Ministerial-Verordnung vom 14. Mai 
1874, welche die Entlassung nicht geheilter Kranken 
gegen Revers zum Gegenstände haben oder bedürfen 
dieselben einer Abänderung oder Ergänzung, und 
zwar in welcher Richtung? 

18) Welche Vorschriften sind hinsichtlich der 
zeitweiligen Beurlaubung von in Irrenanstalten unter¬ 
gebrachten Individuen gesetzlich festzustellen ? 

19) In welcher Weise ist die behördliche Auf¬ 
sicht über die Irrenanstalten zu organisieren? 

20) Für welche Kategorien von Geisteskranken 
ist die Entmündigung gesetzlich vorzuschreiben ? 

21) Ist es insbesondere nach dem heutigen 
Stande der Psychiatric gerechtfertigt, anzunehmen, 
dass bei verschiedenen Arten und Graden der Er¬ 
krankung die Dispositionsfähigkeit des Individuums 
eine verschiedene sei und sind besondere gesetz¬ 
liche Maassnahmen in dieser Beziehung gerecht¬ 
fertigt ? 

22) Empfiehlt es sich demnach beider Festsetzung 
der Bestimmungen über die Entmündigung von Irren 
ausser den eigentlichen Curatoren, welche die sämint- 
lichen Angelegenheiten eines gänzlich handlungsun¬ 
fähigen Irren besorgen, unter Umständen lediglich 
die Bestellung von Beiständen vorzusehen, welche 
dem nicht völlig handlungsunfähigen Irren bei der 
Besorgung seiner Angelegenheiten zur Seite stehen 
und demgemäss einen gesetzlich zu umschreibenden 
beschränkteren Wirkungskreis haben ? 

23) Welche Vorschriften sind vom Standpunkte 
der medicinischen Wissensc haft für das Verfahren bei 
der Entmündigung von Irren wünschenswert!)? 

24) Bestände insbesondere ein Bedenken dagegen, 
für die Entmündigung ein contradictorisches Ver¬ 
fahren überhaupt oder wenigstens im Falle eines Ein¬ 
spruches des von der Entmündigung Betroffenen 
Platz greifen zu lassen ? 


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1902.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


423 


25) Soll dem verantwortlichen Leiter der Irren¬ 
anstalt gegen Verfügungen des Gerichtes, durch welche 
die Entmündigung eines in der Austalt Untergebrachten 
abgelehnt oder aufgehoben wird, ein Rechtsmittel ein¬ 
geräumt werden ? 

26) Welche besondere Bestimmungen sind im 
Hinblicke auf die Gemeingefährlichkeit verbrecherischer 
Irren oder irrer Verbrecher hinsichtlich der Abgabe 
derselben in Anstalten und der Entlassung aus den 
Anstalten zu treffen? 

27) Sind die verbrecherischen Irren oder irren 
Verbrecher in besonderen etwa vom Staate zu er¬ 
richtenden Anstalten unterzubringen und sind diese 
Anstalten als Heilanstalten oder als eine Art von 
Strafanstalten in Aussicht zu nehmen? 

28) Ist in den vorangedeuteten Beziehungen 
(Frage 25 und 2 b) ein Unterschied zwischen ver¬ 
brecherischen Irren oder irren Verbrechern zu 
machen ? 

Diese Fragen vertheilen sich in nachstehender 
Art auf folgende Referate: 

I. Anzeige})flicht hinsichtlich der ausserhalb der 
Irrenanstalten verpflegten Geisteskranken. 

(Zu den Fragen 1—5). 

Referent: Prof. Dr. A. Pick. 

Pick bezieht alle Geisteskranken, ob in oder ausser¬ 
halb einer Anstalt lebend, in den Kreis seiner Vor¬ 
schläge und hebt mit Recht hervor, dass gerade die 
nicht internierten des Rechtsschutzes noch mehr be¬ 
dürfen als die in den Anstalten untergebrachten. 
Aber die grossen Schwierigkeiten hier können nicht 
auf einmal und lediglich durch gesetzliche Bestim¬ 
mungen beseitigt werden, sondern man muss erst all¬ 
mählich auf eine Gewöhnung der betreffenden Kreise 
hinstreben. 

Tick tlicilt die in Betracht kommenden Kranken 
in drei Kategorien, je nachdem sie in eigener oder 
fremder Familie oder in einer Anstalt unterge- 
gcbracht sind und knüpft das Recht der öffentlichen 
Fürsorge nicht an die Geisteskrankheit, deren ärzt¬ 
liche und juiistische Definition nicht möglich ist, 
sondern an die Momente, deren Schutz in den 
Machtbereich des Staates fallen, wie öffentliche Sicher¬ 
heit, persönliche Freiheit, Behandlung des Kranken 
etc. Damit fällt die strenge Trennung zwischen An¬ 
stalten für Nerven- und Geisteskranke von selbst 
weg, und andererseits soll durch Wegfall der allge¬ 
meinen Anzeigepflicht die Empfindlichkeit der Familie 
geschont werden und das Schutzrecht der Familie 
zum Theil gewahrt bleiben. 

Nur dann, wenn eine damit verbundene Einsper¬ 


rung mehr als 3 Monate überschreitet, soll Anzeige¬ 
pflicht geboten sein, aber auch dann discret behandelt 
werden. Was man unter „eigener Familie“ versteht, 
ist speciell zu bestimmen. 

Für die Unterbringung in „fremder“ Familie, 
gelten schon die Bestimmungen der Privat-Anstalt, 
d. i. sofortige Anzeige und von Anfang an volle 
Staatsaufsicht. 

Bezüglich aller übrigen Krankenanstalten schlägt 
Pick verschiedene Bestimmungen vor und gedenkt 
schliesslich noch der Strafbestimmungen zur Sicherung 
der Anzeigepflicht. 

Referent resumirt seine Ausführung dahin: 

1) Ein alle Geisteskranken umfassender Rechts¬ 
schutz macht die Anzeigepflicht auch für die ausser¬ 
halb der Irrenanstalten verpflegten Kranken noth- 
wendig. 

2) Bei dem Fehlen einer dafür zureichenden De¬ 
finition von Geisteskrankheit ist die Anzeigepflicht 
auf die durch das Auftreten einer solchen Krankheit 
geschaffene, juristisch fassbare Situation, Beschränkung 
der persönlichen Freiheit oder der Dispositionsfähig¬ 
keit, persönliche Sicherheit und Behandlung zu ba- 
siren. 

Bei der Formulirung dieser Anzeigepflicht ist, soll 
dieselbe nicht an den Vorurtheilen des Publicums 
mehr oder weniger scheitern, auf diese gebührend 
Rücksicht zu nehmen. 

4) Bezüglich der in der eigenen Familie, bei 
Asccndenten, Descendenten,Geschwistern,Onkel, Tante 
oder gesetzlichem Vormund verpflegten Geisteskranken 
tritt die Anzeigepflicht ein, nachdem eine dreimonat¬ 
liche Sequestration nothwendig gewesen; sie ist ver¬ 
traulich zu behandeln. Eine Ausnahme bezüglich des 
Termines der Anzeigepflicht tritt in solchen Fällen 
ein, wo die Kranken mit Hilfe von öffentlichen oder 
Armengeldem unterhalten werden; dann ist die so¬ 
fortige Anzeige zu leisten. 

5) Die Anzeigepflicht kommt demjenigen zu, der 
den Kranken bei sich verpflegt, sie den Aerzten auf¬ 
zuerlegen erscheint nicht zweckmässig. 

6) Die Unterbringung eines Geisteskranken in 
einem „fremden“ Hause involvirt die sofortige A11- 
zcigepflicht, die dem Beherbergenden zufällt. 

7) Den Aerzten erscheint in allen vorangehenden 
Fällen ebenso wie auchjbezüglich der im folgenden zu 
behandelnden das Recht, geeignete Fälle „vertraulich“ 
zur Anzeige zu bringen, gewahrt. 

8) Bezüglich der in nicht als Irrenanstalten qua- 
lificirten Anstalten untergebrachten Kranken, ergeben 
sich folgende Kategorien: 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


a) Nerven-, Wasserheil-, sowie andere Cur- 
anstalten, in denen auch Geisteskranke behandelt 
werden; die Anzeigepflicht bezüglich dieser beginnt 
mit dem Momente, wo die persönliche Freiheit oder 
die Dispositionsfähigkeit des Kranken behindert er¬ 
scheint. Die Anzeigepflicht obliegt dem Arzte der 
Anstalt 

b) Bezüglich von Spitälern, Krankenhäusern, die 
Geisteskranke nur intercurrent aufnehmen, tritt die 
Anzeigepflicht bei einem 14 Tage überdauernden 
Aufenthalte ein; die mit solchen Anstalten verbunde¬ 
nen psychiatrischen Kliniken erfordern hinsichtlich 
der Anzeigepflicht mit Rücksicht auf ihre besonderen 
Zwecke eine besondere Bestimmung, etw'a in Analogie 
mit den in der eigenen Familie untergebrachten 
Kranken. 

c) Idiotenanstalten sind bezüglich der Anzeige¬ 
pflicht den Irrenanstalten gleichzustellen. 

d) Epileptikeranstalten sind den zu a) behandelten 
Anstalten gleich, ebenso auch Armen-, Versorgungs¬ 
häuser, Klöster und ähnliche Anstalten, welche Geistes¬ 
kranke bei sich beherbergen. In allen diesen An¬ 
stalten, (c und d) obliegt die Anzeige dem Arzte 
resp. Vorstand der betreffenden Anstalt. 

9) Strafbestimmungen sind Sachverständigen (Acrz- 
ten) gegenüber verschärft in Anwendung zu bringen, 
in jedem Falle aber nicht strafprocessualer, sondern 
administrativer Fixirung zu unterstellen. 

11. Behördliche Ueberwachung der Pflege der in den 
hrmanstalten und ausserhalb derselben unter- 
gebrachten Geisteskran Jcen . 

(Zu den Fragen 6—19). 

Referent: Prof. Dr. G. Anton. 

Anton geht einleitend von der diesbezüglichen 
Bestimmung in anderen Staaten aus, mit gleichzeitiger 
Berücksichtigung etwa da bestehender Gesetzentwürfe 
und formulirt dann seine Vorschläge. 

Anton verlangt als wichtigste Forderung zunächst 
die Errichtung einer Centralbehörde für das ge- 
sammte Irrenwesen und begründet dieselbe damit, 
dass die vielseitigen Fragen auf diesem Gebiete eine 
einheitliche Leitung erfahren und diese nicht mehr 
„so nebenbei“ von anderen Behörden besorgt werden 
sollen, dass durch sie ein fachmännisch-competentes 
Forum und Berathungsorgan geschaffen werde für 
Revision, Evidenzhaltung, Auskünfte etc. Auch eine 
zukünftige Prophylaxis würde in den Bereich ihrer 
Programmpunkte einzustellen sein. 


Auch ein Centralarchiv soll angelegt werden. 

An der Spitze dieser Commission ist ein Genera 1 - 
inspector gedacht, mit Vertreter und juridisch und 
technischem Hilfspersonale, das zum Theil aus schon 
bestehenden Bureaus entnommen werden könnte. 

Dieser zur Seite stünde ein „staatlicher Beirath 
für das Irrenwesen“ aus Klinikern, Anstaltsdirectoren 
und Vorständen von Irrenhilfsvereinen. 

Für die Existenzhaltung sollen Bezirks- und Ge- 
meindekomites herangezogen werden, denen auch 
zugleich ein entsprechender Wirkungskreis zur Con- 
trolle einzuräumen wäre. 

Das Referat schliesst mit der Namhaftmachung der¬ 
jenigen Functionäre, welche zu den Bezirkscomites, 
resp. zu den Gemeindecomites beizuziehen sind. 

III. Die Errichtung staatlicher Inen-Anstalten. 

(Zur Frage 7). 

Referent: Dr. Adalbert Tilkowsky, Regie¬ 
rungs- und Sanitätsrath, Director der n. öst. Landes- 
Irrenanstalt in Wien. 

Referent erörtert zunächst die Principienfrage, ob 
Staats- oder Landes-Anstalten, und wählt zu dieser 
Entscheidung einen kurzen, historischen Rückblick. 
In Oesterreich standen die Irren-Anstalten bis zur 
Errichtung der Länder-Autonomie 1865 unter staat¬ 
licher Verwaltung. Eine statistische Gegenüberstellung 
über Anzahl der Irren-Anstalten und Anzahl der ver¬ 
sorgten Pfleglinge vor und nach 1865 ergiebt einen 
wesentlichen Ausschlag zu Gunsten der Landes-Ver- 
waltung. Referent sieht in diesen Thatsachen eine 
grosse Bedeutung und untersucht die Momente näher, 
die das rasche Aufblühen seit dieser Zeit bewirkt 
haben. Nicht die Populationsbewegung oder eine 
Steigerung der psychischen Erkrankungen überhaupt, 
trage daran Schuld, sondern es ist der Ausdruck der 
erhöhten und verständnisvolleren Fürsorge für die 
Geisteskranken, wovon den Land es-Verwaltungen mit 
Recht ein hervorragender Theil gebühre, sodass die 
Aufrechterhaltung des jetzigen Modus entschieden zu 
befürworten ist. 

Damit ist aber nicht gesagt, dass alle Kategorien 
von Geisteskranken den Landes-Irren-Anstalten an¬ 
heimfallen müssen. Vielmehr betont der Referent, 
dass jene störenden Elemente der Irren-Anstalten wie 
verbrecherische Kranke uud dergleichen nach dem 
Vorbilde anderer Staaten, besser in staatliche Ver¬ 
waltung zu stellen sind. Die Beziehung dieser 
Elemente zur Justiz, ihre Criminalität, die geringe An¬ 
zahl in einem Lande begründet dieses. 


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1 1)02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 425 


Hingegen fallen die Anstalten für Idioten, Epilep¬ 
tiker wieder in den Kreis der Landes-Verwaltung, 
nur hätte für das pädagogische Moment in den Idi¬ 
otenanstalten der Staat mit einer Subvention aufzu¬ 
kommen. Auch die Trinkerasyle sollten den Ländern 
unterstellt werden. Alle diese Anstalten aber müssten 
unter ärztliche Leitung gestellt werden oder wenig¬ 
stens wie die Idiotenanstalten unter ärztlicher Ober¬ 
aufsicht stehen. Am Schlüsse werden noch die Ver- 
pflegskosten gestreift und eine möglichst liberale Me¬ 
thode befürwortet. Die Verpflcgskosten für Ausländer 
fallen in die Prärogative des Staates. 

IV. Aufnahme in Irrenanstalten und Schuh rar 
ungerechtfertigten Internirungen. 

(Zu den Fragen 10—14). 

Referent: Ober-Sanitätsrath Prof. D. J. Wagner, 
Ritter von Jauregg. 

Rasch, leicht, billig und mit Ausschluss aller 
Widerrechtlichkeit müssen die Aufnahmen vor sich 
gehen. Aber der Referent verkennt gleich eingangs 
nicht die theilweise Gegensätzlichkeit dieser Forde¬ 
rungen. Um sie in Einklang zu bringen, geht er 
jede derselben nach ihrer Dignität eingehend durch. 
Vereitelung oder Verzögerung der Aufnahme ist er- 
fahrungsgemäss oft von den schlimmsten Folgen be¬ 
gleitet. Neunzehntel von den Aufnahmen sind ann. 
Widerrechtliche Intemirung kommt absichtlich wohl 
kaum vor, und ihr Vorkommen existiert, wie Ver¬ 
fasser mit Recht hervorhebt, wohl mehr „in der er¬ 
hitzten Phantasie einiger verschrobener Köpfe“ als in 
Wirklichkeit. Irrthümer sind möglich, aber gewiss 
selten. Eine unnöthige Erschwerung der Aufnahme 
habe also mehr Nachtheile als Vortheile. 

Eltern, Kindern, Ehegatten, Geschwistern, Vormund, 
Curator soll das Recht und die Pflicht zustehen ohne 
behördliche Intervention die Aufnahme in Irren-An¬ 
stalten verlangen zu können, wenn sie im gemein¬ 
schaftlichen Haushalte leben. In jedem anderen Falle 
soll grundsätzlich die Behörde anzusprechen sein. 
Ein ärztliches Zeugniss ist Grundbedingung, dasselbe 
soll auf persönlicher Untersuchung basieren und nicht 
über 14 Tage alt sein, muss aber nicht nothwendig 
von einem Amtsärzte ausgestellt sein. In dringenden 
Fällen kann der Leiter einer Anstalt ohne Zeugniss 
aufnehmen. Dann muss aber die nachträgliche Unter¬ 
suchung durch einen Amtsarzt geschehen. Bei frei¬ 
willigen Aufnahmen entfällt das ärztliche Parere. 

Irrthümliche Aufnahmen schliesst auch die streng¬ 
ste Forderung nicht absolut aus, wie ein Hinweis auf 
Strafrechtspflege genügend darthut. Aber die Dauer 

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einer solch widerrechtlichen Intemirung muss mög¬ 
lichst reducirt werden. Daher die Anzeige binnen 
24 Stunden für jede Neuaufnahme (mit Ausnahme der 
freiwilligen) an die politische Behörde. 

Referent hält eine Cont^olle der Irrenärzte für 
nöthig und die richterliche Behörde dazu für berufen. 
Der gegenwärtige Modus in Oesterreich sei hierzu 
am geeignetsten, wonach kurz nach Aufnahme eine 
Commission, bestehend aus zwei Sachverständigen unter 
Vorsitz eines Richters, den Kranken untersuchen. 
Diese Sachverständigen dürfen nicht Aerzte der Irren - 
Anstalt sein, aber doch Fachleute, der Vorsitzende 
muss mit der nöthigen Machtbefugnis zur eingehenden 
Information ausgestattet sein. 

Zur Entlastung der Gerichtsärzte wird deren Ver¬ 
mehrung und die Abkürzung der Gutachten bei offen¬ 
kundigen Fällen in Vorschlag gebracht. Ein contra- 
dictorisches Verfahren zum Schutze der persönlichen 
Freiheit oder ein eigener defensor libertatis ist unter 
diesen Verhältnissen entbehrlich, sollte aber letzterer 
als nöthig erachtet werden, so soll ein solcher vom 
Gerichte ernannt werden. Ein Antrag auf neuerliche 
Untersuchung des Geisteszustandes darf von den 
Aerzten nicht abgelehnt werden; doch soll ein solcher 
nicht vor Ablauf einer gewissen Frist gestellt w’erden 
können. 

V. Entlassung von Geisteskranken aus der Irren¬ 
anstaltspflege. 

(Zu den Fragen 16—18). 

A) Referent: Dr. A. H ras e, Dircctor der Landes- 
Irrenanstalt in Dobran. 

Nach dem Referenten hätte die Entlassung zu 
geschehen: 

a) Wenn der Kranke geheilt ist. 

b) Wenn Entmündigung abgelelmt wurde. 

c) Wenn Anstaltsbehandlung nicht mehr nöthig. 

d) Ueber Verlangen der gesetzlichen Vertreter. 

Bei Entlassung gegen Revers, ist der Revers bei 

der politischen Behörde zu bestätigen, seine Aus¬ 
stellung erfolgt vom Anstaltsleiter. Freiwilliger Eintritt 
bedingt freiwilligen Austritt, ausser bei Entwicklung 
einer vollen Geisteskrankheit. Beurlaubungen sollen 
nur bis 2 Wochen gewährt werden. Entwichene sind 
nach 14 Tagen wie Neuaufnahmen zu behandeln. 
Jeder Abgang von der Anstalt ist der Behörde und 
den gesetzlichen Vertretern anzuzeigen. — 

B) Correferent Tilkowsky fasst seine Ausführungen 
folgendermassen zusammen. 

Die Entlassung Geisteskranker aus der Irren- 
Anstalt erfolgt beim Eintreten der psychischen Ge- 

Original fram 

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426 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


sundheit über Befund des Anstaltsleiters, bei Ab¬ 
lehnung oder Aufhebung der Entmündigung. 

Freiwillig Eingetretene müssen über Wunsch so¬ 
fort entlassen werden, wenn sich ihr Krankheitszustand 
nicht zu voller Geisteskrankheit entwickelt hat. 

Ungc heilte müssen über Verlangen der gesetz¬ 
lichen Vertreter oder deren Angehörigen entlassen 
werden. Bei Gemeingefährlichen ist deren Entlassung 
von der Beibringung eines Reverses über die gehörige 
Ueberwachung und Verpflegung abhängig. Dabei ist 
die Zustimmung des gesetzli< hen Vertreters resp. 
Curatelsgerichtes erf< »rdcrlich. 

Der Revers muss von der (Gemeindevorstehung 
des Reverslegers und seiner zuständigen politischen 
Behörde bestätigt sein, lieber die Ausstellung des 
Reverses entscheidet der Anstaltsleiter, der den Krank¬ 
heitszustand und die Bedingungen zur Entlassung der 
politischen Behörde zu schildern verpflichtet ist. — 

Bei geisteskranken Verbrechern muss auch die 
Zustimmung der einliefernden Gerichtsbehörde ein- 
gcholt werden. 

Ungeliebte, nicht mehr gemeingefährliche Kranke 
können vom Anstaltsleiter auch gegen den Wunsch 
der gesetzlichen Vertreter aus der Anstalt entlassen 
werden, aber in jenen Fällen ist im Vorhinein die 
Anzeige an die gesetzlichen Vertreter oder die Ange¬ 
hörigen zu erstatten. Nach erfolgter Entlassung hat 
innerhalb 24 Stunden die Anzeige zu erfolgen : 

a) Bei geheilt Entlassenen an die Gerichtsbehörde 
des Sprengels der Anstalt und an den Curator. 

b) Bei ungeheilt Entlassenen ausserdem noch an 
die Ortsgemeinde, in deren Sprengel sich der 
Kranke begiebt und an die zuständige politische 
Behörde. 

Bei geisteskranken Verbrechern ist auch die An¬ 
zeige an das Ueberweisunsgericht zu erstatten. 

Die Beurlaubungen können auf 6 Monate ausge¬ 
dehnt werden und sind denselben Behörden und Per¬ 
sonen anzuzcigen, wie bei Entlassung eines Unge- 
heilten. 

Bei Transferierungen in andere Anstalten hat eine 
Krankengeschichte mitzufolgen, desgleichen alle gesetz¬ 
lichen den Kranken betreffenden Daten; ausserdem 
sind die Anzeigen zu erstatten, wie bei geheilt Ent¬ 
lassenen. 

Bei Entweichungen hat der Anstaltsleiter die ent¬ 
sprechenden Schritte zur Habhaftmachung einzuleiten 
und die Anzeige zu erstatten: 

a) An die Gerichtsbehörde erster Instanz des 
Sprengels der Anstalt. 

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b) An die politische Behörde, von der der Kranke 
hergekommen ist; dann an Ortsgemeinde, An¬ 
gehörige resp. Curator. 

Der Anzeige an die Ortsgemeinde ist eine Per¬ 
sonsbeschreibung anzuschliessen. Die Wiederein¬ 
bringung ist denselben Behörden anzuzeigen. Die¬ 
selbe gilt erst nach Ablauf eines Monats als Neuauf¬ 
nahme. 

Das Ableben der Geisteskranken ist sofort den An¬ 
gehörigen resp. dem Curator, der zuständigen Gerichts¬ 
behörde und dem Todtenbeschauer anzuzeigen. Die 
Leichen in der Anstalt werden olxlucirt. Die Ob¬ 
ducti« m kann jedoch über Wunsch der Familie unter¬ 
bleiben. Die sanitätspolizeiliche oder gerichtliche 
Leichenöffnung unterliegt den betreffenden Gesetzen. 

VI Entmündigung der Geisteskranken. 

(Zu den Fragen 20—25). 

Referent: Hofrath Professor Dr. R. Freiherr 
v. Krallt-Ebing. 

(Vcrgl. Referat in Nr. 33, 1901, pag. 329 dieser 
Wochenschrift). 

T77. Behandlung crimineller Geisteskranker. 

(Zu den Fragen 2b—28). 

Referenten : Obersanitätsrath Professor Dr. Julius 
Wagner, Ritter von Jaurcgg, und Professor Dr. 
M o r i z Be ne d i c t. 

(Siehe eben dort). 

Im Berichte folgt noch eine kurze Darstellung der 
in den europäischen Staaten bestehenden Einrich¬ 
tungen, bezüglich crimineller Irrer. 

VIII. Prirat-Irren-Anstalten. 

(Zu den Fragen 8—0). 

Referent: Professor Dr. Moriz Benedict*). 

Die rein privaten Irren - Anstalten sind nach 
jeder Richtung einer strengen Controlle zu * unter¬ 
ziehen. Wegen der Eigenthumsrechte ist der Ent- 
mündigungsact möglichst abzukürzen. 

Die Heilung muss längstens 8 Wochen nach 
Schwund aller krankhaften Symptome der Für¬ 
sorge-Behörde angezeigt werden. 

Die Entlassungsgcsuche sind stets zu berücksich¬ 
tigen. Briefgeheimniss ist zu wahren. Die Entlassung 
Ungeliebter soll lediglich auf Verfügung der Fürsorge- 
Behörde zu geschehen haben. Entlassungsgesuche 
Ungeliebter dürfen vom Anstaltsleiter nur bis 6 Mo¬ 
nate zurückbehalten werden, sind aber aufzubewahren. 

*) Ausführlich in der Wiener klin. Wochenschrift 1901. 

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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bei Entweichungen hat die Fürsorge-Behörde eine 
Untersuchung anzustellen, ob Leiter oder deren An¬ 
gestellte daran Schuld sind. Auch freiwilliger Ein¬ 
tritt Geisteskranker ist der politischen und richterlichen 
Behörde anzuzeigen. Die Entlassung derselben ist 
gleichfalls anzeigepflichtig und je nach Art der Krank¬ 
heit dem Anstaltsleiter allein oder der Fürsorge-Be¬ 
hörde anheim zu steilen. Der freiwillig Eintretende 
hat vor Zeugen seinen Eintritt zu motivieren. 

Zur Controlle ist zu verlangen die genaue Führung 
der Krankengeschichte mit detaillirten Behandlungs¬ 
angaben, insbesondere der angewendeten Zwangsmass- 
rcgeln. Das Besuchsrecht ist zu reglementiren und 
darüber ein Verzeichniss zu führen. Wenigstens ein¬ 
mal wöchentlich muss der Besuch freigegeben werden 
für die Angehörigen von dem Arzte. Besuchssperre 
ist schriftlich zu begründen. Bei incorrectem Ver¬ 
fahren ist eine Reihe von Bestrafungen vorzusehen 
bis zur Concessionsentziehung. 

Neben „reinen“ Irrenanstalten kann es auch „ge¬ 
mischte“ Anstalten geben, d. h. solche, wo neben 
Geisteskranken auch Nichtgeisteskranke zur Aufnahme 
kommen. 

Gemeint sind da alle einer Entziehungscur Bedürf¬ 
tige, Neurastheniker, Perverse, moral insanity; auch 
hier unterliegen alle Insassen der Anzeigepflicht. 
Ueber Aufnahme, Behandlung, Curatel folgen Detail- 
Bestimmungen. 

Bei der Familienpflege werden zur Controlle Lan¬ 
desgericht, Bezirks-, Polizei- und Gemeindebehörden 
delegirt. 


Zur Wahrung der Dispositionsfähigkeit ist häufige 
und eingehende Controlle anzurathen. Die verschie¬ 
denen Erkrankungen, Concessionsverhältnisse erfahren 
noch Detailerörterung. 

IX. Spccialreferate und Anträge ausser dem 

Rahmen des Fragebogens. 

Psychiatrische Kliniken, Begründung der Sonder¬ 
stellung derselben und Nothwendigkeit einer Berück¬ 
sichtigung ihrer speciellen Aufgaben im Irrengesetze. 

Referent: Prof. Dr. G. Anton. 

Prof. A. bespricht damit die Verhältnisse der 
Irren-Kliniken zum Irrengesetze und erläutert, dass 
bei einer Reihe von klinischen Kranken die strenge 
Durchführung von Aufnahms- und Entlassungsmodali¬ 
täten nicht angezeigt ist. — Nur diejenigen Kranken, 
bei denen eine längere Behandlungsdauer oder die 
Gemeingefährlichkeit in den Vordergrund tritt, sollen 
der Irrenschutzgesetze vollständig theilhaftig werden, 
nur der Aufnahmsmodus soll auch da möglichst er¬ 
leichtert sein. 

X. Die Irrengcsetxgebung und die Menschen mit 

anom aler Lebensführung. 

Referent: Prof. Dr. Moriz Benedict. 

Referent schlägt damit eine „verschärfte Unmün¬ 
digkeitserklärung“ vor, für angeborene oder erworbene 
Nervenstörung mit dissocialen Trieben, (Arbeitsscheu, 
sexuelle Perversitäten, unverbesserlicher Leichtsinn, 
Verschwendungssucht) und combinirt dieselbe mit 
Verwahrungshaft, um sie, ihre Familie und die Gesell¬ 
schaft wirksam zu schützen. Dr. Stärlingen 


San Servilio. 


Weihnachtsbetrachtungen 

J n Italien herrscht gegenwärtig grosse Entrüstung 
über die rückständigen Verhältnisse *) der Kran¬ 
kenbehandlung in der kirchlichen Irren-Anstalt San 
Servilio bei Venedig. Man tadelt neben mancherlei 
anderen Missständen besonders die zu reichliche An¬ 
wendung veralteter Zwangsmittel. Der Leiter der An¬ 
stalt, „Vater“ Minoretti, halte im Jahre 1900 berichtet, 
die Zwangsmittel seien auf ein äusserst geringes Mass 
beschränkt worden. Die Behörde hielt den Betrieb 
gewiss für einen „tadellosen“. Was mag da sonst 

*) Zur Aufdeckung derselben hat nicht zum geringen Theil 
der darauf bezügliche Aufsatz unseres verehrten Herrn Mit¬ 
herausgebers Privatdocent Dr. Weygandt im Jahrgang 1900. 
No. 19 beigetragen. Red. 

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in es deutschen Psychiaters. 

noch Alles vertuscht worden sein! Gegen diese Zu¬ 
stände stechen die unter ärztlicher Leitung stehenden 
staatlichen Anstalten sehr günstig ab, z. B. die An¬ 
stalt in R eggio -Emi lia, die, vom Geiste freier Irren¬ 
pflege und wissenschaftlichen Strebens durchw eht, selbst 
vielen nichtitalienischen Anstalten zum Vorbild dienen 
könnte. Aber freilich, den Menschen, deren künst¬ 
lich erzeugte Beschränktheit — ein geistiger Aztekis- 
mus —, in der Krankheit nur eine Folge der Sünde 
sicht, wird es immer unmöglich sein, an die Stelle 
einseitiger Begriffe von Menschenliebe ein neues, 
edleres Humanitätsideal zu setzen. Der moderne 
Staat und die Naturwissenschaften, unter letzteren nicht 
am wenigsten die Psychiatrie, haben in der Erfassung 


Original frnm 

HARVARD UNIVERSUM 





428 


und Ausführung des Humanitätsgedankens alles bis¬ 
her Dagewesene w'eit überholt. — 

Aber dürfen wir in Deutschland denn wirklich so 
selbstgerecht über Andere urtheilen? Mit nichten. 
Zwar gelten bei uns die Irren jetzt wohl ziemlich 
allgemein für Kranke; aber die idiotischen und schwach¬ 
sinnigen Kinder zu prügeln, wenn es die jeweilige 
Auffassung von Moral etc. der hier und da nicht-ärztlichen 
Leiter solcher Anstalten gut scheinen lässt, das steht 
diesen noch jederzeit frei! Die Prügelstrafe ist ja in solchen 
Anstalten nicht verboten! Prügelt man denn ein Kind, 
welches infolge krummer Beine die Absätze an den 
Schuhen schief läuft? Und gar die Zwangs Zög¬ 
linge! Warum ist bei § 4 des preussischen Fürsorge¬ 
erziehungsgesetzes, welcher fordert, dass vor der Be¬ 
schlussfassung Eltern, Vormund, „und in allen Fällen 
der Gemeindevorstand und der zuständige Geistliche 
und Lehrer“ gehört werden, nicht auch die Anhörung 
des Arztes zur Pflicht gemacht? Warum hat man 
diesen social enterbten Kindern nicht auch den Weg 
zum Arzte gebahnt? Dass gerade bei der so ausser¬ 
ordentlichen Plasticität der Kindesseele ethische De- 
fecte häufig Zeichen einer seelischen Abnormität oder 


[Nr. 38. 


Erkrankung oder Folge eines körperlichen Leidens statt 
Wirkung blosser Verwahrlosung sind, dieser trivialen 
Thatsache trägt das sonst so nützliche Fürsorge¬ 
erziehungsgesetz überhaupt nicht Rechnung. Der 
Schutz, welcher den Erwachsenen der § 51 des Straf¬ 
gesetzbuchs bietet, hätte in sinngemässer Anwendung 
auf die Bestimmung der Erziehungsform und in noch 
höherem Grade auch dem Kinde gewährt werden 
müssen. Wo in den Ausführungsbestimmungen des 
Gesetzes die ärztliche Mitwirkung erwähnt wird, ge¬ 
schieht es hauptsächlich in Bezug auf die Behandlung 
körperlicher Krankheiten; es wird da auch voii 
einem „körperlichen Reinigungsprocess“ (!) neben dem 
sittlichen gesprochen. — So kommt es denn thatsäch- 
lich vor, dass man in „Fürsorge“- Erziehungs-Anstalten 
gegen handgreifliclie Symptome seelischer und ner¬ 
vöser Störung, ja selbst gegen das Bettnässen, 
ohne Weiteres mit Stockschlägen vorgeht. Sollten 
solche Schläge den an Körper und Geist kränkelnden 
Kindern nicht viel schmerzlicher und nachtheiliger 
sein als tobenden Geisteskranken die Last von 
Fesseln ? 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Fortschritte der Psychiatrie. Die „Neue 
Zürcher Zeitung“ vom 8. d. M. bringt folgende er¬ 
freuliche Nachricht: „Im Cafe „Zimmerleuten“ zu 
Zürich konstituirte sich Freitag, den 6. De¬ 
zember, eine Vereinigung von Psychiatern 
undjuristen zur Besprechung von gemein¬ 
sam interessierenden Fragen. Die Ver¬ 
einigung setzt sich zum Ziele, ein besseres gegen¬ 
seitiges Verständniss, ein practisches Zusammenarbeiten 
beim Lösen einzelner Aufgaben herbeizuführen. Das 
Hauptgebiet, auf dem die Juristen mit den Psychia¬ 
tern gemeinsam arbeiten, ist der Strafprocess; auf 
diesen bezogen sich vor allem die acht Thesen des 
Herrn Directors Dr. Frank in Münsterlingen, 
die bei der ersten Sitzung zur Discussion Vorlagen. 
Herr Dr. Frank wünscht, dass bei der Ausbildung 
der Juristen die Psychologie und Psychiatrie mehr als 
bisher berücksichtigt werden, dass speciell für die 
Studenten der Jurisprudenz practische Kurse ertheilt 
werden, wie dies bereits in Heidelberg geschieht. Das 
Postulat wurde allgemein unterstützt; nur fand einer 
der Herren Juristen, dass solche Kurse viel mehr 
Werth hätten für Männer, die bereits einige Jahre 
in der Praxis gestanden hätten, als für Studenten. 
Verschieden waren die Meinungen über die These, 
dass die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit nur 
Aufgabe des Psychiaters, niemals des Richters sein 
könne. Gerade in diesem Punkt stehen ja im all- 

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gemeinen die Anschauungen der Juristen und Psy¬ 
chiater einander gegenüber. Herr Director Dr. Frank 
verlangte ferner, dass die Frage der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit 
nicht dem Wahrspruch der Geschworenen überwiesen 
werden sollte. Dieses Postulat wurde auch von sol¬ 
chen Juristen unterstützt, die mit der gegenwärtigen 
Institution des Schwurgerichtes zufrieden sind; denn 
keine Frage eignet sich für die schwurge¬ 
richtliche Beurtheilung so wenig, wie die¬ 
jenige nach der Zurechnungsfähigkeit 
eines Angeklagten.“ 

Wie wir erfahren, ist es speciell der Initiative des 
Herrn Prof. Bleuler, unseres sehr verehrten Mit¬ 
herausgebers, zu danken, dass diese schon seit längerer 
Zeit geplante Vereinigung nunmehr zu Stande ge¬ 
kommen ist. — 

Zu dieser Nachricht dürfen wir noch eine zweite 
hinzufügen: Im Verlage des Herrn C. Marhold, 
der die psychiatrische Bewegung mit seinen erprobten 
buchhändlerischen Kräften nun schon seit einer Reihe 
von Jahren opferwilligst unterstützt, beginnt in den 
nächsten Tagen eine zwanglose Sammlung von Ab¬ 
handlungen ,,J u r istis c h -p sy ch i a t risch e Gr e nz- 
fragen“ zu erscheinen. Herausgeber sind Prof. Dr. 
jur. Finger (Halle a. S.), Professor Dr. Hoche (Frei¬ 
burg i. Br.) und der Redacteur dieser Zeitschrift. Das 
Programm dieser „Grenzfragen“ besagt folgendes: 

Original fram 

HARVARD UNIVERS1TY 



1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 429 


Das Grenzgebiet der Rechtswissenschaften und der 
Lehre von den krankhaften Erscheinungen des Seelen¬ 
lebens hat von jeher für Juristen und Irrenärzte, ebenso 
wie für Psychologen ein besonderes Interesse gehabt. 
Auf diesem Gebiete wird der Streit um fundamentale 
Begriffe dieser Wissenschaften ausgetragen, hier wird 
vielfach entschieden, welcher der drei Wissenschaften 
die Lösung einzelner Fragen zuzuweisen ist, womit 
von vornherein die Methode ihrer Behandlung be¬ 
stimmt und mittelbar die Art der Lösung beeinflusst 
wird 

Das Interesse für die dem Grenzgebiete zwischen 
den medicinischen Wissenschaften, der Jurisprudenz 
und Psychologie angehörenden Fragen ist derzeit mit 
Rücksicht auf zahlreiche durch die Einführung des 
bürgerlichen Gesetzbuches erwachsende Fragen, 
namentlich aber wegen der bevorstehenden Revision 
des Strafrechts ein wesentlich gesteigertes. Es schien 
daher zweck- und zeitgemäss, einen litterarischen 
Mittelpunkt zu schaffen, welcher der gemeinsamen 
Erörterung der einschlägigen Fragen dient und die 
Verständigung über strittige Punkte anzubahnen be¬ 
stimmt ist. 

Der Bestand von Vereinigungen wie die „foren¬ 
sisch-psychiatrische“ in Dresden, die „forensisch-psy¬ 
chologische“ in Göttingen ist ein deutliches Zeichen 
dafür, dass eine wissenschaftliche Aussprache zwischen 
Medicinem, Juristen, Philosophen über die Grenzfragen 
ihrer Wissenschaften ein Bedürfnis geworden ist. 

Diesem Bedürfnis sollen die juristisch-psychiatrischen 
Grenzfragen dadurch dienen, dass sie Abhandlungen 
von Medicinem und Juristen bringen werden über 
die beide Gebiete interessirenden Fragen wie beispiels¬ 
weise folgende: verminderte Zurechnungsfähigkeit, 
Einfluss derselben auf den Strafvollzug; Strafvollzug 
bei Degenerationszuständen; Einfluss der Geistes¬ 
störungen auf Eides- und Testirfähigkeit; Eheschei¬ 
dung wegen Geisteskrankheit u. s. w. Auch Aufsätze ad¬ 
ministrativ- und socialpsychiatrischen Inhaltes sollen 
Aufnahme finden. Die „juristisch-psychiatrischen Grenz¬ 
fragen“ wollen nicht eine bestimmte wissenschaft¬ 
liche Richtung vertreten, sondern jeder wissen- 
schaf tl ich b eg rün deten Meinung offen stehen. 

Die juristisch-psychiatrischen Grenzfragen werden 
in zwangloser Folge in jedesmal in sich abgeschlossenen 
Heften und zum Abonnementspreis von M. 6,— 
pro Band = 8 Hefte erscheinen; einzelne Hefte 
sind zu einem etwas erhöhten Preise erhältlich. 

— II. Landes-Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest (I. Sitzung vom 26. Oc- 
tober 1902, Vorm.) 

Alterspräsident Karl Bolvo begrüsst in herzlichen 
Worten die Versammelten, worauf der Congress sich 
constituirt, indem Ministerialrath Cornel Chyzcr zum 
Präsidenten und Sectionsrath Gedeon Raisz zum 
Präsidcnten-Stellvertreter gewählt wurden. 

Letzterer übernimmt in Abwesenheit Chvzer’s 
den Vorsitz und dankt für die ihm erwiesene Ehre. 
Er betont, dass im ganzen Sanitätsdienst eben das 
Irrenwesen jenes Gebiet ist, auf welchem ärztliches 
Fachwissen, administrative Thätigkeit, bürgerliches 
Recht und Strafrecht sich an unzähligen Punkten be- 

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rühren. Gerade im Kreise des Irrenwesens sei es 
daher gerechtfertigt, wenn jene, die infolge der Ver¬ 
schiedenheit ihres Berufes für gewöhnlich in den ver¬ 
schiedensten Wirkungskreisen thätig sind, Gelegenheit 
suchen, von Zeit zu Zeit mit der Unmittelbarkeit des 
persönlichen Verkehrs und des gesprochenen Wortes 
in Ideenaustausch miteinander zu treten und so zum 
Wohle der Sache, der sie gemeinschaftlich zu dienen 
berufen sind, ihr Wissen gegenseitig zu bereichern. 

Nach der mit Beifall aufgenommenen Rede wurde 
das Bureau gewählt,worauf Secretär Ladislaus Epstein 
seinen Bericht verliest, in welchem er u. a. Karl 
Laufenauers Verdienste um Psychiatrie und Irrenwesen 
in warmen Worten würdigt. Er erwähnt ferner, das 
Organisations-Comite habe den Beschluss gefasst, dass 
Standesfragen im Laufe dieses Congresses nicht be¬ 
sprochen werden sollen, sondern dass ausschliesslich 
wissenschaftliche Fragen zur Verhandlung gelangen. 
Hierauf stellt der Secretär die Vertreter der Behörden 
und verschiedenen Körperschaften vor und legt schliess¬ 
lich dem Congresse die Beschlüsse der Commission 
über die dem ersten Congresse eingereichten An¬ 
träge vor. 

Hierauf folgt die Tagesordnung. 

1. Die Gr u ndpri n ci pien des Gesetzes 
über das Irrenwesen. Referent: O. Schwartzer 
de Babarcz. 

Der Vortragende erhielt von der Reform-Com¬ 
mission des Landes - Sanitätsrathes den Auftrag, als 
Grundlage für ihre Verhandlungen einen Gesetzent¬ 
wurf über das Irrenwesen auszuarbeiten. In seinem 
Vortrage will Sch. also jene Principien erörtern, auf 
welchen das neue Gesetz aufgebaut werden müsse. 
Der Vortrag enthält nicht bloss die Besprechung und 
übersichtliche Zusammenfassung aller jener zerstreuten 
Ministerial-Verordnungen, welche in dieser Angelegen¬ 
heit erschienen sind, sondern er enthält auch w ichtige 
und interessante Neuerungen. 

Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte 
der Gesetzgebung über das Irrenwesen folgen die 
acht Abschnitte des Vortrages. 

Im ersten Abschnitte wird betont, dass die Leitung 
des Irrenwesens eine staatliche Aufgabe ist. Die 
Frage, ob die Definition der Geisteskrankheit im 
Gesetze enthalten sein muss oder nicht, wird ver¬ 
neinend beantwortet. 

Der zweite Abschnitt behandelt die Unterbringung 
der Geisteskranken und behält das bisherige System 
bei. Die Internirung in Anstalten wird auf solche 
Geisteskranke beschränkt, deren Freiheit entweder für 
die öffentliche Sicherheit oder für die eigene Person 
in Gefahr sein könnte. Hierauf folgt die Definition 
des Begriffes der Irrenheilanstalt, der öffentlichen und 
privaten Anstalten, die Bedingungen, unter w'elchen 
eine solche Anstalt eröffnet werden kann und die 
Vorschriften, nach denen sie eingerichtet sein muss. 
Auch die Frage der Irren -Colonien wird kurz er¬ 
örtert. 

Im dritten Abschnitte wird die Aufnahme in die 
Anstalt besprochen, die Bedingungen, unter welchen 
man den Geisteskranken auf nehmen darf oder auf¬ 
nehmen muss. In der wichtigen Frage, auf welche 

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PS YC HIATRISC H- N E U ROLOt 


Art und Weise die Aufnahme in das Institut und 
die Diagnose der Geisteskrankheit zu erfolgen hat, 
wird das heute zu Recht bestehende Statut einer 
strengen Kritik unterzogen und die Forderung aufge¬ 
stellt, dass die natürliche Controlle auch auf die staat¬ 
lichen Institute ausgedehnt werde. 

Der vierte Abschnitt regelt die Modalitäten der 
Entlassung aus der Anstalt. Dieselbe erfolgt, wenn 
es sich herausstellt, dass die betreffende Person gar 
nicht geisteskrank ist, wenn sie geheilt oder nicht 
mehr gefährlich ist. Neu ist hier die Verfügung, dass 
in Fällen, in welchen die Direction der Anstalt und 
die Angehörigen des Kranken in der Frage der Ent¬ 
lassung desselben aus der Anstalt nicht einig werden 
können, die richterlic he Entscheidung angerufen werden 
muss. Hier wird auch die Beurlaubung, die Flucht 
und der Transport der Kranken eingehend besprochen. 

Der fünfte Abschnitt handelt von der Beaufsich¬ 
tigung der Irren und regelt die bei uns sehr ver¬ 
nachlässigte Frage der Beaufsichtigung solc her Geistes¬ 
kranken, die sich ausser der Anstalt befinden. Zu 
diesem Zwecke sollen eigene Aufsichts-Behörden ge¬ 
schaffen werden, als deren ('entralorgan im Ministerium 
des Innern ein eigener Landes-Senat für Irrenwesen 
organisitt werden müsste. 

Der sechste Abschnitt behandelt eine Neueiung. 
Es soll gestattet werden, dass auch Nicht-Geistes¬ 
kranke in Irrenheilanstalten aufgenommen werden. 
PN soll also für solche, die freiwillig eine Anstalt auf- 
suclien wollen, in welcher sie Schutz gegen eine Er¬ 
krankung suchen, die im Entwickeln begriffen ist und 
im betäubenden Lärme der Aussenwelt sicher zum 
Ausbruch käme, die Möglichkeit gegeben sein, Auf¬ 
nahme und Heilung zu finden. Diese Institution 
wird mit so vielen Cautclcn umgeben, dass sic zu 
Missbräuchen chm haus keinen Anlass geben kann. 

Der siebente Abschnitt enthält die speciellcn 
Verfügungen, die sieh auf Geisteskranke beziehen, 
welche von einem Verbrechen freigesprochen wurden. 

Der achte Abschnitt enthält die Strafbestimmungen.*) 
Di scussion. 

M o r a vc s i k : Trotzdem das vorliegende Elab< >rat 
so detaillirt und auf so breiter wissenschaftlic her Ba¬ 
sis aufgebaut ist, dass wir dem Verfasser, dieser her¬ 
vorragenden Autorität auf dem Gebiete der heimischen 
Psychiatrie, zu warmem Danke verpflichtet sind, 
wünsche ich doch zu bemerken, dass eine Umschrei¬ 
bung des Begriffes der Geisteskrankheit in irgend 
einer fassbaren verständlichen F< >rm sehr angezeigt 
gewesen wäre. Selbst der Entwurf des neuen bürger¬ 
lichen Gesetzbuches gebraucht eine Reihe von Aus¬ 
drücken, wie „Geistesschwäche“, „Blödsinn“, „Geistes¬ 
krankheit“, stellt hier sogar Categ« »rien fest, die sich 
auf die Entschliessungsfähigkeit solcher Kranken be¬ 
ziehen und sehr geeignet sind, zur Verwirrung der 
Begriffe beizutragen. 

Der Zweck meiner Worte ist vom Standpunkte 
des Psychiaters aus zu betonen, dass zwischen Geistes¬ 
schwäche und Geisteski ankheit kein Unterschied 
besteht und dass dieser Umstand im vorliegenden 

*) Demnächst erscheint ein ausführlicher Artikel über 
diesen Entwurf. Red. 

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ISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 

Elaborate schärfer zum Ausdruck gelangen müsste. 
Denn Geistesschwäche ist im Gegensätze zur physi¬ 
ologischen geistigen Beschränktheit ein ausgesprochen 
pathologischer Zustand. 

v. O l a h: Mit den führenden Principien, den Grund¬ 
ideen des Pintwurfes stimme auch ich vollkommen 
überein. Das Irrenhaus hat aufgehört, eine rein po¬ 
lizeiliche Institution zu sein und der Schwerpunkt des 
Irrenwesens liegt heute nicht mehr im Einsperren, 
sondern im Heilen der Geisteskranken. Dieser Stand¬ 
punkt wird in dem im Geiste des Vortragenden zu 
schaffenden Gesetze zweifellos besser zur Geltung 
kommen, als heute. 

Besondere Wichtigkeit messe ich dem Umstande 
bei, dass von nun an nicht jeder Geisteskranke dem 
vormundschaftlichen Verfahren unterworfen werden 
soll. Das Phitmündigungsvcrfahren, die öffentliche 
Verhandlung desselben, die Urtheilvcrkündigung hält 
die leichteren Krankheitsfälle von der Anstalt fern 
und diese kämen so nur zu schweren P'ällen. Ich 
kann nicht einschen, warum zum Beispiel wegen einer 
Intoxications- oder Puerperal-Psychose, also wegen 
eines vorübergehenden Uebels, der schwerfällige Ap¬ 
parat des Vormundschaftsverfahrens in Thätigkeit ge¬ 
setzt werden müsste. 

Wir sehen ja auch bei anderen Erkrankungen, 
z. B. beim Typhus, schwere Bewusstseinsstörungen 
und doch wird niemand daran denken, hier ein Ent¬ 
mündigungsverfahren einzuleiten. 

FYeudigst begrüsse ich den Vorschlag, dass man 
in Irrenheilanstalten auch freiwillig sich Meldende 
aufnehmen könne. Nicht nur im Interesse dieser 
wenigen Kranken, die sich freiwillig zur Aufnahme 
melden werden, ist diese Neuerung zu bewillkommen. 
Von grosser Tragweite ist der Umstand, dass das 
Institut den Kranken und deren Familie in ganz 
anderem Lichte erscheinen wird, wenn es in das All- 
gemcinbewusstscin übergehen wird, dass hier auch 
freiwillig die Anstalt aufsuchende Kranke Aufnahme 
finden. Dieser kleine, fromme Betrug kann in vielen 
Fällen von grossem Nutzen sein. 

P'in wichtiges Moment ist ferner die successive Ent¬ 
lassung der Kranken. Das P'Jaborat erwähnt die 
probeweise P'.ntlassung, Beurlaubung. Die Intention 
ist dieselbe. Wir können bei dem zu entlassenden 
Irren selbst auf Grund unserer Beobachtungen und 
Erfahrungen im Institute niemals Voraussagen, wie er 
sich ausserhalb des Institutes benehmen wird, und 
nachdem nicht jeder Kranke über eine solche Um¬ 
gebung, Verwandtschaft etc. verfügt, die zur Beauf¬ 
sichtigung geeignet wäre, ist es viel angezeigter, wenn 
die Kranken zuerst ausserhalb der Anstalt, z. B. in 
der Nähe derselben gehörig instruirten Leuten für 
die Dauer einer Probe-Beurlaubung übergeben werden. 

Schliesslich halte ich es für eine Cardinal*For¬ 
derung des Irrenwesens., dass die sogenannte Irren- 
haus-Qualification modificirt werde. Es ist ganz un¬ 
richtig, das Recht zum Behandeltwerden an das Cri- 
terium der Heilbarkeit oder der Gemeingefährlichkeit zu 
binden. Die Irrenheilkunde kann auch in jenen 
Fällen viel leasten, wo eine Heilung ausgeschlossen 
ist. Ich halte also die Modification der Irrenhaus- 

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iqo2 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Qualification für eine der wichtigsten Gründe der 
Revision des Gesetzes und glaube, dass der diesbe¬ 
zügliche $ des Gesetzes dahin abzuändern ist, dass 
jeder solche unbemittelte Nerven- und Geisteskranke 
— ohne Rücksicht darauf, ob er gemeingefährlich ist 
oder nicht —, welcher infolge seiner Krankheit der 
öffentlichen Veisorgung bedarf und in der Irrenheil¬ 
anstalt schon darum am besten aufgehoben ist, weil 
das freie Leben, wie auch die Armenhaus- und Ge¬ 
meinde-Versorgung ihm schädlich werden könnte, An¬ 
spruch auf Behandlung im Irrenhause habe. Auch 
hätten im Rahmen dieses Elaborats einige Initiativen 
zur socialen Prophylaxe der Geisteskrankheiten Platz 
finden können. Hier wäre noch sehr viel zu thun, 
so im Kampf gegen den Alkohol, gegen die Lues, in 
der zwangsweisen Internirung von Trunksüchtigen 
u. s. w. Das Gesetz über das Irrenwesen kann nicht 
ausschliesslich zum Gesetz über Irrenheilanstalten 
werden, es muss tiefer in das Leben eindringen. Es 
ist mein Glaube und meine Ueberzeugung, dass die 
psychiatrischen Bestrebungen des XX. Jahrhunderts 
den Charactcr einer ausgebreiteten Vertheidigungs- 
Action annehmen werden. In allem anderen halte ich 
dafür, dass die Grundideen des Elaborates geeignet 
sind, bei der Codificirung eines Gesetzes über das 
Irrenwesen als Grundlage zu dienen. 

Fischer betont, dass der Schwerpunkt der Frage 
darin liegt, dass eine genügend grosse Anzahl von 
Irrenanstalten vorhanden sei. Er wünscht zweierlei 
Institute: Grosse, für unheilbare Kranke bestimmte 
Sammelanstalten und kleinere Anstalten für heilbare 
Kranke. 

Tclegdi: wünscht, dass die Leiter auch jener 
Irrenanstalten , welche im Anschlüsse an bestehende 
Krankenhäuser geschaffen werden, Fachleute mit spe- 
cieller psychiatrischer Vorbildung sein sollen. Diese 
führen die Abtheilung selbstständig auf eigene Ver¬ 
antwortung. Wird ein Geisteskranker von einer An¬ 
stalt in eine andere gebracht, so ist auch sein Vor¬ 
mund zu Käthe zu ziehen. 

Konrad: Ich schliesse mich vollständig jener 
Ansicht des Vortragenden an, dass es unmöglich ist, 
eine vollkommene, erschöpfende, jedes Attribut der 
Krankheit umfassende Definition der Geisteskrankheit 
zu geben. Diese Definition braucht auch gar nicht 
in das Gesetz ausgenommen zu werden. Aber es ist 
wohl zu überlegen, ob diese Definition des Begriffes 
„geisteskrank* 4 selbst nicht doch in das Gesetz auf¬ 
genommen werden soll. Im einheitlichen Gesetzent¬ 
würfe der Republik Schweiz über das Irrenwesen 
wurde diese Definition aufgenommen und lautet bei¬ 
läufig f< »lgendermassen: 

Geisteskrank ist: 

1. Wer an einer angeborenen oder erworbenen 
Geisteskrankheit leidet. 

2. Wer auch ohne tiefere Störung der Vernunft 
an (insbesondere auf constitutioneller Basis beruhen¬ 
den) pathologischen Instinkten und Neigungen oder 
schweren moralischen Defcctcn leidet. 

3. Wer sich durch narcotische Gifte (Alcohol, Mor¬ 
phium etc .) Sc haden zufügt, sobald er infolge seines 
Zustandes unfähig gewoiden ist, über sich selbst zu 


verfügen und die Rechte anderer zu achten, zum 
Schutze der eigenen Person jedoch der Pflege und 
Aufsicht bedarf oder anderen bedeutenden Schaden 
zufügt oder gemeingefährlich wird. 

Der practische Werth dieser Definition wäre der, 
dass w-ir gegenüber solchen Degenerirten und Deca- 
denten, welche sich gegen die Insinuation, geistes¬ 
krank zu sein, vertheidigen und die Üeflentlichkeit 
glauben machen, sie wären geistig gesund, eine gesetz¬ 
liche Handhabe bekämen. 

Ich empfehle meine Proposition der Aufmerksam¬ 
keit des Vortragenden. 

Die Idee der Fachkurse für das Wartepersonal 
ist zu billigen, doch müssen die Bezüge der Wärter 
erhöht werden. Nach einigen Bemerkungen admini¬ 
strativer Natur empfiehlt K. die Annahme der 
V« >rlage. 

Szigeti: Die frühzeitige Entmündigung des 
Geisteskranken ist sowohl vom Standtpunktc des bür¬ 
gerlichen als auch von dem des Strafrechtes aus 
ausserordentlich wichtig; dieselbe soll anfangs bloss 
eine temporäre sein; nach Ablauf eines Jahres muss 
sie erneuert werden und erst nach Ablauf des zweiten 
Jahres wird sie eine bleibende. Die baldmöglichste 
Entmündigung ist nothwendig, damit der Rechtssc hutz 
des Kranken für alle Fälle gesichert ist. 

Sa lg 6: Unter den heutigen Verhältnissen hat die 
Irren - Anstalt noch immer den Character einer 
Detentions-Anstalt und die Detention ist noc h immer 
viel wichtiger als die Behandlung der Kranken. So¬ 
wohl die Aufnahme als auch die Entlassung der 
Kranken geht mit grossem Apparate vor sich und 
gehört in den Wirkungskreis der Aerzte der Anstalt. 
Diese vielseitigen Agenden entziehen den Arzt seiner 
eigentlichen Aufgabe, Besonders in der Frage der 
Entlassung hat ausschliesslich der Arzt zu entscheiden 
und das giebt Anlass zu verschiedenen Missbräuchen 
oder Irrthümcm. Darum ist der Vorschlag des Ent¬ 
wurfes, dass die Institute durch externe Commissionen, 
in welchen neben Aerzten und Juristen auch Laien 
Platz finden mögen, controlliert werden sollen, unbe¬ 
dingt anzunehmen. Diese Commission hätte das In¬ 
stitut systematisch zu besuc hen, sie untersuc he die 
Kranken und entscheide in allen Angelegenheiten, 
welche sich auf die Kranken beziehen. 

Lechner: Die im Entwürfe enthaltenen Ideen 
und Principien finden meine volle Zustimmung. Nur 
eine Bemerkung möc hte ich machen. Derjenige Theil 
des Elaborates, welcher sich damit befasst, dass auch 
freiwillig sich Meldende in eine Anstalt aufgenommen 
werden können, bedarf einer gewissen Ergänzung. 
Wir kennen nämlic h eine ganze Reihe von Krank¬ 
heitsformen, über deren Stellung in der Psvcho-Patho- 
logie wir Sachverständige selbst nic ht rec ht klar werden 
können. Es sind das Ubergangsformen von zweifel¬ 
hafter Natur, wie sie in der Praxis so häufig Vor¬ 
kommen und gerade diese wären zur Behandlung in 
der Anstalt oft ganz besonders gut geeignet. Es 
müsste also ausgesprochen werden, dass auch Alco- 
holikcr, Nervenkranke, Gemüthskränke, Epileptiker in 
die Anstalt aufgenommen werden dürfen. Das ist 
eine sociale Nothwendigkeit, denn Wohlhabende lassen 


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432 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


sich in Sanatorien aufnehmen, Unbemittelte bleiben 
ohne Behandlung. In vielen Fällen würde die Inter- 
nirung und Behandlung, bezw. Erziehung in der An¬ 
stalt solche Kranke retten. Darum wünsche ich, dass 
nicht nur Geisteskranke, sondern auch Nerven- und 
Gemüthskranke, Alcoholisten u. s. w. aufgenommen 
werden können. 

Epstein hält es im Interesse der Kranken für 
notlnvendig, dass im Falle, als dieselben „geheilt“ 
entlassen werden, die Direction der Anstalt bei der 
Entlassung die Behörde officiell verständige, dass das 
Verfahren zur Aufhebung der Vormundschaft einzu- 
leiten sei. Dieser Vorgang wäre besonders für Un¬ 
bemittelte von grosser Wichtigkeit, denn diese haben 
weder das nöthige Geld dazu, noch kennen sic Mittel 
und Wege, wie man um Aufhebung der Vormund¬ 
schaft nachsuchen muss. (Fortsetzung folgt.) 

— Ueber die kürzlich erfolgte Aufdeckung der 
Missstände in San Servilio brauchen wir unsere Leser 
wohl nur auf den Artikel unseres sehr verehrten Herrn 
Mitherausgebers Privatdoccnt Dr. med. et phil. Wey- 
gandt in Nr. 19, II. Jahrgang zu verweisen. Hingegen 
dürfte psychologisch interessant sein, was dazu ein 
kirchliches Blatt schreibt: 

„Widerrechtlich und gewaltsam wurde der geist¬ 
liche Director des Irrenhauses von seinem Amte ent¬ 
fernt; jahrzehntelang sind die gutmiithigen Mönche 
von der Provinzialvcrwal tung*) aufs Empörendste 
ausgebeutet worden und jetzt erhalten sie den Tritt 
der Ungläubigen für ihren Edelsinn (!) und ihren uner¬ 
schöpflichen Opfcrmuth. Warum ? Ihre Methode 
soll nicht mit der Wissenschaft vereinbar sein? Was 
ist die Wissenschaft?!! Sicherlich ist auch diese Ver¬ 
folgung von der Liebe Gottes geschickt, um den ver¬ 
folgten Dienern seiner Kirche neue Verdienste im 
Himmel zu erwerben.“ (!) 

— Gabersee. Unter den „Mittheilungen“ dieser 
Wochenschrift Nr. 36 S. 398 ist eine die oberbayerische 
Kreisirrenanstalt Gabersee betreffende Nachricht ent¬ 
halten, welche der Richtigstellung bedarf. 

Richtig ist, dass 1901 u. 1902 in Gabersee zahl¬ 
reichere, meist leichtere Typhusfälle unter den Pfleg¬ 
lingen wie unter dem Personal aufgetreten sind. Die¬ 
selben sind jedoch nicht auf die „schlechte“ Qualität 
des hiesigen Trinkwassers, sondern auf die Quantität 
des bisher zur Verfügung stehenden Wassers zurück¬ 
zuführen, indem dieselbe es unmöglich machte, das 
Schwemmsystem einzuführen. Das hiesige Trinkwasser 
ist tadellos, aber das Wasserquantum = 1 3 4 Secun- 
denliter bei einem Krankenstand von etwas mehr 
als bco unzureichend. Der Typhus ist hier indirect 
durch das noch bestehende Tonnensystem verursacht, 
indem ein Theil des Anstaltsterrains durch Fäcalien 
verunreinigt und inficiert wurde. In diesem Falle 
lässt sich fast zur Evidenz naehweisen, dass der ur¬ 
sprüngliche Typhusherd im Boden, auf Wiesen, liegt, 
von wo aus er in die Gebäude und Abtheilungen 
übertragen wurde. 

Ein Project für ausgiebige Wasserversorgung ist 

*) Anne d. Red.: Merkwürdiger Weise fallen manche 
Prov.-Verwaltungen immer wieder darauf hinein! 


übrigens bereits ausgearbeitet und die zur Einrichtung 
des Schwemmsystems nüthigen Mittel bereits bewilligt. 

_ Dr. Dees. 

Erwiderung. 

Verspätet ersehe ich erst, dass mich, ebenso wie 
Herrn Collegen von Wagner in Wien, Herr Director 
Pfausler in einem Artikel, der in Nr. 32 Ihrer 
Wochenschrift erschienen, zum Object eines 
scharfen Angriffes gemacht; indem ich mir Vorbehalten 
muss, vielleicht später ausführlich auf das Sachliche 
des Angriffes, insoferne es sich um die von Herrn 
Director Pfausler erwähnte Irrengesetz-Enquete 
handelt, zurückzukommen, wobei dann möglicherweise 
auch der andere College dazu Stellung nehmen wird, 
muss ich doch schon jetzt auf die darin vorkommenden, 
meinem persönlichen Vorgehen gewidmeten Bemer¬ 
kungen reagieren. — 

Herr Director Pfausler verweist zur Begründung 
seiner Ansicht über die Stellung der Anstaltsärzte im 
Entmündigungsverfahren der in den Anstalten unter¬ 
gebrachten Kranken darauf hin, dass ich während 
meiner Dienstzeit als Director in Dobrzan als psychi¬ 
atrischer Experte in diesem Verfahren fungiert habe; 
dass ich weiter gegen den sich um diese Function 
bewerbenden dortigen Stadtarzt Stellung genommen; 
an diese zwei Feststellungen knüpft er dann weiter 
Bemerkungen, die in dem Citate eines Wortes des 
Justizministers von Körber gipfeln: ,,Es soll einerlei 
Recht sein für alle“. 

Darauf habe ich folgendes sachlich richtig zu 
stellen: 

1) Als ich Ende 1880 zur leitenden Stellung in 
Dobrzan berufen worden war, wurde ich von den 
Gerichtsbehörden nach längerem Sträuben meinerseits 
und nachdem es zu einem förmlichen Conflicte ge¬ 
kommen war, sozusagen gezwungen als Sachverstän¬ 
diger im Entmündigungsverfahren über die in der 
Anstalt untergebrachten Kranken mitzuwirken; 

2) Amtlich gegen den Stadtarzt Stellung zu nehmen, 
hatte ich keine Veranlassung, da ich gewiss von den 
Beinirden nicht befragt wurde; sollte ich das aber 
privatim, was ich mich jetzt, nachdem ich vor mehr 
als 16 Jahren aus jener Stellung geschieden, nicht 
mehr zu erinnern weiss, gethan haben, dann geschah 
es gewiss nicht deshalb, weil der betreffende nicht 
Anstaltsarzt war; 

3) Seitdem ich meine Stellung als Vorstand der 
psvchiatrischen Klinik innc habe, habe ich, und ich 
betone natürlich aber auch nicht ein einziges Mal 
als Sachverständiger bei der Entmündigung der in 
meiner Klinik untergebrachten Kranken mitgewirkt. 

Die vorstehenden sachlichen Richtigstellungen 
werden einerseits genügen, um meine Stellung zur 
ganzen Frage und deren Behandlung in der Enquete 
ins richtige Licht zu stellen, andererseits aber auch 
dem geneigten Leser cs ermöglichen, sich ein Urtheil 
zu bilden über die Berechtigung der Ausführungen 
des Herrn Director Pfausler und speciell der von 
ihm gemachten dunklen Andeutungen über die inne¬ 
ren und äusseren Wandlungen auf dem Wege von der 
Irren-Anstalt bis zur acadcmischen Katheder. — 

Prag, <>. Dezember 1902. Prof. A. Pick. 


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Für den redactionellon Theil verantwortlich; Oberarzt Dr. J. liresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schliss der Inseratcnannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevncmann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 

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Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

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Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

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Nr. 39. 27. December. 1902. 

Die Psych i at r i sch-Ne u r o 1 o g i sc he Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), »«richten. 

Inhalt. Originale: Ueber die Familienpflege in Göttingen. Von Dr. II. Behr, Assistenzarzt (S. 433)- — Mittheilungen 
(S. 438). — Referate (S. 444). — Pcrsonalnachricht (S. 444). 


Ueber die Familienpflege in Göttingen. 

Von Dr. H. Behr , vorm. Assistenzarzt an der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Güttingen, jetzt in Lüneburg. 

(Nach einem Vortrag in der Jahresversammlung 
der Irrenärzte Niedersachsens und Westphalens in Hannover am 3. Mai 1902.) 


j^/Jit dem Beginn des Jahres 1901 ist man an der 
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Güttingen 
mit der Einrichtung der Familienpflege vorgegangen. 
Nachdem von Seiten des Directors der Anstalt, des 
Herrn Professor Cramer, die nöthigen vorbereitenden 
Schritte getroffen und vor allem die maassgebenden 
Persönlichkeiten in den für die Fainilicnpflege zunächst 
in Aussicht genommenen Dörfern für die Sache ge¬ 
wonnen waren, ein Schritt, der durch das Entgegen¬ 
kommen und das Interesse des betreffenden König!. 
Landrathsamtes wesentlich erleichtert wurde, wurden 
im Januar des vergangenen Jahres die ersten Kranken 
in Pflege gegeben. Allmählich hat sich ihre Zahl 
vergrüssert, das Misstrauen, das die Landbevölkerung 
neuen derartigen Einrichtungen naturgemäss entgegen¬ 
bringt, schwand sehr schnell, als die ersten Kranken 


sich in jeder Beziehung gut bewährten, die Zahl der 
Anmeldungen nahm dauernd zu, so dass es lediglich 
dem Mangel an geeigneten Krankenmaterial zuzu¬ 
schreiben ist, wenn am 1. April 1902, also nach i ] j A 
jährigem Bestehen, erst 26 Kranke, 22 Männer 
und 4 Frauen in Familienpflege untergebracht waren, 
die sich auf die Ortschaften Elliehausen, Hetzershausen, 
Ellershausen und Grone vertheilten. Sämmtliche 
Dörfer liegen in der nächsten Umgebung von Göt¬ 
tingen und sind von der Anstalt aus bequem und 
schnell zu erreichen. 

Wenn ich zuerst auf die äusseren Vorgänge näher 
cingchen darf, so wurde dabei derart verfahren, dass, 
sobald sich ein Pfleger gemeldet hatte, zunächst mit 
der Aufnahme der betreffenden Pflegestellc durch 
einen Arzt begonnen wurde, und zwar an der Hand 


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Original fram 

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434 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


eines Fragebogens, wie er seit längeren Jahren in 
Uchtspringe in Gebrauch ist und sich bewährt hat. 
Eine besondere Berücksichtigung fand dabei in eistcr 
Linie die Kammer der Kranken, ('s wurde ein Luft¬ 
inhalt von mindestens 13 cbm verlangt, das Zimmer 
musste reichlich erhellt und gut zu lüften sein. Am 
liebsten wurden mit Rücksicht auf die Reinlichkeit 
Zimmer gewählt, deren Wände einfach goweisst und 
nicht tapeziert waren; nach Vorschrift des Contractes 
musste der Anstrich der Wand jedes jahr mindestens 
einmal erneuert werden. Abgesehen von dem noth- 
wendigen Mobiliar, einem gut erhaltenen und sauberen 
Bett muss jede Kammer eine Garderobe enthalten, 
die lediglich für die Kleidungsstücke der Kranken 
bestimmt war. Um einmal die Kranken vor Stör¬ 
ungen seitens der übrigen Hausbewohner zu schützen 
und um andererseits bei etwa eintretenden Erregungs¬ 
zuständen des Kranken Unannehmlichkeiten irgend 
welcher Art vorzubeugen, wurde ferner Werth darauf 
gelegt, dass die Zimmer, die mit der Kammer des 
Kranken in dirocter Verbindung standen , während 
der Nacht unbewohnt blieben. 

Besonders sorgfältig controllirt wurden weiter bei 
der Aufnahme neuer Pflegestellen die Wasscrverhält- 
nissc; die Lage des Brunnens, die Nähe von Dung¬ 
gruben wurde dabei entsprechend berücksichtigt, das 
Wasser selbst auch in jedem Falle auf sein Aussehen 
und seinen Geschmack hin untersucht. In einigen 
hüllen, in denen das I rinkwasser aus einem Bach be¬ 
zogen wurde, sind die Gesuche der betreffenden Land- 
wirthe von vornherein abgelehnt. Ueber den Leu¬ 
mund und die Y crmogensverhältnisse des Pflegers 
gab gewöhnlich der Bauermeister des Dorfes Auskunft, 
er diente gewissermaassen als Vertrauensmann, achtete 
auf sämmtlichc Kranke, die in der betreffenden Ort¬ 
schaft untergebracht waren, und machte dem con- 
tiollircndcn Arzt von eventuell vorgekommenen Un¬ 
regelmässigkeiten entsprechend Mittheilung. Fand sic h 
ein für die Familicnpflcge geeigneter Kranker, wobei, 
soweit es möglich war, auf die Wünsche des Pflegers 
Rücksicht genommen wurde, so wurde vom Director 
der Anstalt die Pflegestelle nochmals revidirt, und 
dann, falls sie den Ansprüchen genügte', der Vertrag 
mit dem Pfleger abgeschlossen.^ 1 Der Vertrag verlangt 
als erste Bedingung, dass der Kranke absolut als zur 
harnilic des Pflegers gehörig betrachtet wird, er soll 
über Tag stets mit ihr zusammen sein, vor allem 
auch die Mahlzeiten gemeinschaftlich mit den übrigen 
Familienmitgliedern einnehmen. Weiter giebt der 
Vertrag dem Pfleger genaue Vorschriften über die 
Behandlung der Kranken, die Anhaltung zur Sauber¬ 
keit, ebenso über die Instandsetzung und Reinlichkeit 


[Nr. 3 c). 

des Zimmers und der Kleidung. Während die An¬ 
stalt sämmtlichc Kleidungsstücke liefert, sie, sobald 
sie unbrauchbar geworden sind, ersetzt, das Schuhzeug 
auch reparirt, ist der Pfleger verpflichtet, die Leib¬ 
wäsche der Kianken zu waschen und auch sonst in 
brauchbarem Zustand zu erhalten. 

Der Pfleger erhält für den Kranken als Kostgeld 
je nach der Arbeitsfähigkeit 00 — 80 Pfg. pro Tag, 
die ihm monatlich postnumerando frei durch die Post 
zugesandt werden. Der einmal bestimmte Betrag für 
einen Kranken ist jedoch kein definitiver, vielmehr 
kann der Verpflegungssatz, w enn der Kranke sich nicht 
so bethätigen sollte, wie angenommen war, oder wenn 
seine Pfleg® sonst in irgend einer Weise besondere 
Schwierigkeiten und Mühe inacht, jeder Zeit von 
Seiten des Directois der Anstalt erhöht und im ent¬ 
gegengesetzten Falle herabgesetzt werden, allerdings 
immer nur in der Grenze zwischen üo und So Pfg. 
Dieser Vertrag zusammen mit dem vorher erwähnten 
Fragebogen gehen alsdann an das Landesdirectorium, 
das den Vertrag endgültig genehmigt und ihn der I)i- 
rcction der Anstalt znriicksendet. 

Jeder Kranke, der in Familienpflege gegeben w ird, 
wird mit der gleichen Anzahl gut erhaltener und 
brauchbar'er Kleidungsstücke und Wäsche ausgerüstet 
und zwar erhielt er in jedem Falle einen Arbeitsan¬ 
zug, einen neuen schwarzen Anzug für die Feiertage, 
2 Arbeitskittel, 2 Paar fedc Schuhe, 1 Paar Haus¬ 
se hübe, weiter (> Hemden, o Paar Strümpfe und die 
entsprechende Anzahl Taschentücher, Hüte, Mützen 
und dcrgl. Die mitgegebenen Kleidungsstücke weiden 
dein Pfleger beim Abholen des Kranken vorgezählt 
lind das Verzeiehniss der erhaltenen Sachen vom 
Pfleger unterst hrieben. Ein gleiches Verzeic hniss er¬ 
hielt er selbst und zwar in dem Uontrollbuch, einem 
kleinen Ortavheft. in das der revidirende Arzt auch 
den Tag der Revision und seinen Namen cinträgt, 
das weiter auch als Gew ic htsbuch dient und stets vom 
Pfleger mitgebracht worden muss, wenn die Kranken, 
was vorsehriftsmässig einmal im Vierteljahre geschehen 
soll, thatsächlich aber 1 läufiger geschieht, zum Baden 
und Wiegen in die Anstalt gebracht werden. Es 
werden in dieses Büch auch etwaige körperliche Er¬ 
krankungen , Anweisungen an die Pfleger vermerkt. 
Ein weiteres Rcvisionsbuch liegt im C« ■nfer enzziintner 
der Anstalt aus. Hier hinein weiden alle Beobacht¬ 
ungen des revidirenden Arztes über das Verhalten 
der Pfleglinge sowohl wie der Pfleger, über die Sau¬ 
berkeit und Ordnung in der Kammer des Kranken, 
die Reinlichkeit der Wäsche regelmässig nach jedem 
Besuch eingetragen. 


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Original fr&m 

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I 902 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Was die ärztlichen Revisionen selbst betrifft, so 
gilt eine besondere Vorschrift dabei nicht. Nach 
unseren Erfahrungen ist cs dringend geboten, die 
frisch in Familienpflcgc überführten Kranken am 2. 
<*lcr 3. Tage zu besuchen, um zu sehen, ob sic sich 
in die neuen Verhältnisse eingelcbt haben, oder ob 
die veränderte Umgebung und Lebensweise ungünstig 
auf sie ein wirken. Sieht man später, dass die Pfleg¬ 
linge sich gewöhnt haben, merkt man, dass auch die 
Pfleger es verstehen, mit den Kranken ordentlich um¬ 
zugehen und sic richtig zu behandeln,: so wird die 
Revision gewöhnlich alle 8—14 Tage wiederholt. Bei 
alten eingelebten Kranken genügt ein vierwöchent¬ 
lich wiederkehrender ärztlicher Besuch vollkommen, 
besonders da man auch dem Pfleger dadurch gewisser- 
maassen ein Vertrauensvotum giebt. 2 bis 3 mal im 
Jahr wurden sämmtliche Pfleglinge von dem Director 
besucht und ihre Zimmer revidirt. Weiter hatte der 
Oberwärter die Anweisung, von Zeit zu Zeit die Kleid¬ 
ungsstücke und die Wäsche der Pfleglinge auf ihre 
Brauchbarkeit hin zu untersuchen und für entsprech¬ 
enden Ersatz zu sorgen. 

Erwähnen möchte ich noch, dass jeder Pfleger, 
sobald er den für ihn bestimmten Kranken aus der 
Anstalt abhnlte, genau über die Art der Behandlung, 
die besonderen Eigenarten des Kranken vom Arzte 
informirt wurde, ebenso wie es ihm besonders ans 
Herz gelegt wurde, sofort der Anstalt Nachricht zu¬ 
kommen zu lassen, wenn der Pflegling irgendwie 
erkrankte oder andere abnorme Erscheinungen zeigen 
sollte. Ich darf schon hier erwähnen, dass die Pfleger 
in dieser Beziehung sich stets als sehr vorsichtig und 
zuverlässig erwiesen haben. 

Weiter möchte ich jetzt etwas näher auf die Re¬ 
sultate der Familienpflege und die Erfahrungen, die 
wir mit den Kranken sowohl wie mit den Pflegern 
gemacht haben, eingehen. Allerdings ist die Zeit 
noch zu kurz, um aus unseren Erfahrungen bindende 
Schlüsse über die Vortheile und Nachtheile der Fa¬ 
milienpflege ziehen zu können. Immerhin haben wir 
doch in der kurzen Zeit ihres Bestehens so gute Er¬ 
folge gesehen, dass ein weiterer Ausbau der Familien¬ 
pflege sich in jeder Weise rechtfertigen lässt. Wie 
schon Anfangs erwähnt, befanden sich am I. April 
d. |. 2 0 Kranke in Pflege, darunter 22 Männer und 
4 Frauen. Bei der Auswahl der Kranken musste 
natürlich mit der grössten Vorsicht vorgegangen werden, 
besonders in der ersten Zeit, wo die Pfleger erst 
lernen mussten, die Kranken richtig zu behandeln, 
und wo jeder Unglücksfall, jede gefährliche Handlung 
seitens des Pfleglings die Einführung der Familien¬ 
pflege sofort wieder in Frage stellen konnte. Es 


wurden daher grundsätzlich alle Kranken vermieden, 
die auf diese oder jene Weise mit dem Strafgesetz 
in Conflict gerathen waren oder die im Verlauf ihrer 
Erkrankungen besonders während des Aufenthaltes in 
der Anstalt irgend welche schwere gewaltthätige Hand¬ 
lungen verübt hatten. Dass bei der grossen Anzahl 
derartiger crimineller und gewalttätiger Elemente unter 
dem an und für sich nur geringem Bestände der 
Göttinger Anstalt die Ausdehnung der Familienpflcgc 
von vornherein sehr beschränkt wmrde und sich nur 
langsam weiter entwickeln konnte, liegt auf der Hand. 
Ausgeschlossen von der Familienpflege waren weiter 
alle Epileptiker und Paralytiker sowie die alten siechen 
und besonderer Pflege bedürftigen'Kranken. Ebenso 
war man mit Alkoholisten Anfangs vorsichtig, später 
haben wir auch mit ihnen unter entsprechenden Vor¬ 
sichtsmaassregeln einen Versuch gemacht, ohne dass 
bislang irgend welche unangenehme Erscheinungen 
dabei aufgetreten wären, was immerhin bemerkens¬ 
wert}! ist, da der Bauer dort zu Lände keineswegs 
dem Principe der Abstinenz huldigt. Am besten 
eignen sich nach unseren bisherigen Erfahrungen zur 
Familienpflege die alten abgelaufenen Fälle von chron. 
Paranoia, die Fälle von secundärem Schwachsinn 
massigen Grades, ebenfalls geeignet sind die Imbeeil len, 
wenn auch bei der Neigung dieser letzteren Categoric 
zu impulsiven Handlungen besondere Vorsicht und 
eine genaue Controlle absolut geboten ist. Unsere 
ersten Pfleglinge gehörten deshalb auch zu den alten 
abgelaufenen Fällen, die sich verhältnissmässig sehr 
schnell in die neuen Verhältnisse einlebten und den 
Pflegern in keiner Weise Schwierigkeiten machten. 
Dazu kam noch, dass Anfangs nur gute Feldarbeiter 
abgegeben wurden. Es war das fraglos richtig ge¬ 
bandelt, denn es kam darauf an , mit der Familien¬ 
pflege erst festen Fuss zu fassen, und den Bauern, w ic 
man zu sagen pflegt, den Mund w'ässrig zu machen. 
Aber die Sache hatte späterhin die unangenehme 
Schattenseite, dass jeder Pfleger einen Feldarbeiter 
verlangte, seinen Kranken mit dem des Anderen ver¬ 
glich, unzufrieden war, wenn er nicht das gleiche 
leistete, und natürlich von einem reinen Pflegling 
nichts wissen w'ollte. — Später hat sich dieses Ver¬ 
hältnis etwas gebessert, wir hatten zuletzt verschiedene 
Kranke, die nur in sehr beschränktem Maassc arbeits¬ 
fähig waren, in Pflege, aber immer wieder bin ich bei 
der Aufnahme neuer Pflegestellen dem Wunsche 
seitens der Pfleger begegnet, sie möchten solch’ einen 
Kranken haben, wie dieser oder jener habe, wobei 
stets auf die zuerst herausgegebenen Kranken als 
Muster hingewiesen wurde. Es dürfte sich daher 
empfehlen, sobald jetzt weitere Dörfer zur Familien- 


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Original frnm 

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436 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30. 


pflege herangezogen werden sollen, hier in erster 
Linie auf Aufnahme reiner Pfleglinge zu dringen. 
Für die Frauen, um auch darauf mit ein paar Worten 
einzugehen, wurde Anfangs das Alter jenseits des 
Climacteriums verlangt, wir sind aber bald davon ab¬ 
gekommen und es befinden sich unter den 4 Frauen 
2, die in jüngeren Jahren stehen. Es bedarf auch 
hier selbstverständlich der sorgfältigsten Contrulle seitens 
des Arztes, ebenso wie auch die Pfleger ständig auf 
die Gefahren aufmerksam gemacht und zu einer be¬ 
sonders guten Beaufsichtigung der betreffenden Kranken 
ermahnt wurden. Irgendwelche Unannehmlichkeiten 
sind bislang nicht vorgekommen. 

Wenn ich weiter auf die Frage eingehe, wie sich 
der Kranke selbst zu der Fainilienpflege stellt, ob er 
sich darin wohl fühlt, so glaube ich, obwohl die in 
Göttingen gemachten Erfahrungen erst eine vcrhält- 
nissmässig kurze Zeit umfassen, doch für unsere Fa¬ 
milienpfleglinge diese Frage in vollstem Maasse be¬ 
jahen zu müssen. Ich bin während des Jahres, wo ich 
mich speciell mit der Familienpflege beschäftigt habe, nie¬ 
mals Klagen oder berechtigten Beschwerden seitens 
der Pfleglinge begegnet, ich habe vielmehr immer den 
Eindruck gehabt, als ob sich alle in den neuen Ver¬ 
hältnissen sehr wohl fühlten, wohler jedenfalls, wie in 
der geschlossenen Anstalt, und dieser Eindruck ist 
mir wiederholt seitens der Pfleglinge bestätigt worden. 
Kranke, die sich Anfangs auf alle mögliche Art und 
Weise gegen die Ueberführung in die Familienpflege 
gewehrt hatten, waren schon nach kürzester Zeit nicht 
nur vollständig beruhigt, sondern vollkommen zufrieden 
mit dem Wechsel, sie empfanden die grössere Frei¬ 
heit, die ihnen dadurch gewährt wurde, dankbar und 
hatten die Anstalt meistens schnell vergessen. Bei 
einer ganzen Anzahl hielt es schwer, sie zum Baden 
in die Anstalt zu bringen, weil sie der irrthümlichen 
Ansicht waren, sie sollten dort wieder dauernd bleiben. 
Andere Kranke, die aus diesem oder jenem Grunde 
aus der Familienpflege zurückgezogen werden mussten, 
drangen fortgesetzt in den Arzt, sie wieder nach 
draussen zu schicken, sie hängen alle mit grosser An¬ 
hänglichkeit an ihren Pflegern. Ich möchte gleich 
hier erwähnen, dass ich verschiedentlich nicht uner¬ 
hebliche Besserungen im psychischen Verhalten der 
Kranken im Anschluss an die Ueberführung in die 
Familien pflege beobachten konnte. Ich habe dabei 
neben mehreren Anderen besonders einen vom Lande 
stammenden Kranken, einen chronischen Paranoiker, 
im Auge, der in der Anstalt recht stumpf und inter¬ 
essenlos war, zeitweise lebhaft hallucinirte, dann erregt 
wurde und zu einer ordentlichen Beschäftigung nie¬ 
mals heranzuziehen war. Ich war erstaunt über die 

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Veränderung des Kranken, als ich ihn 2 Tage nach 
seiner Ueberführung besuchte; er war äusserst lebhaft, 
sehr vergnügter und zufriedener Stimmung und arbeitete 
vor allem sehr fleissig, kurz es war zweifellos, dass 
die Ueberführung des Kranken in die Verhältnisse, 
die er von Jugend an gewöhnt war, in jeder Beziehung 
günstig auf sein psychisches Verhalten eingewirkt hatte. 
Alle diese Momente sind mir eine Bestätigung dafür, 
dass die Fainilienpflege nicht nur günstig auf das Be¬ 
finden des Kranken einwirkt, dass sie auch seitens 
der Pfleglinge seihst als eine Wohlthat anerkannt wird. 
Man bringt die Kranken eben wieder in die Verhält¬ 
nisse zurück, in denen sie aufgewachsen und gross 
geworden sind, in die sie sich auch nach dem Auf¬ 
enthalt in der geschlossenen Anstalt, der ihren Ge¬ 
wohnheiten zu Hause nicht in dem Maasse entsprechen 
kann, gern und schnell einleben. Es eignen sich 
deshalb, nach meinen Erfahrungen, am besten zur 
Familienpflege die aus ländlichen Kreisen stammen¬ 
den Kranken, während die Kranken aus der Arbeiter¬ 
bevölkerung, überhaupt aus den Städten, sich nicht 
so schnell an den Aufenthalt auf dem Lande ge¬ 
wöhnen und oft grössere Schwierigkeiten machen. 

Es dürfte daher vielleicht cmpfehlenswerth sein, 
für diese letztere Categorie, denen der Aufenthalt in 
den Dörfern und die ländliche Beschäftigung nicht 
Zusagen, an die Einrichtung von Pflegestellen in der 
Stadt selbst zu denken. Gerade für Göttingen wird 
sich dieses Projekt meiner Ansicht nach in den nalre 
der Anstalt liegenden Stadttheilen, die vorzugsweise 
von kleinen Leuten bewohnt sind, wo auch mehrfach 
ältere Wärter wohnen, ohne grosse Schwierigkeit aus¬ 
führen lassen. Allerdings halte ich die Unterbringung 
der Kranken auf dem Lande, wie es bisher war, für 
die idealere Art der Familien pflege. 

So günstig im Allgemeinen auch der Erfolg in 
der Familienpflege bislang gewesen ist, so sind wir 
natürlich auch nicht von Unannehmlichkeiten aller 
Art verschont geblieben. 2 Kranke mussten dauernd 
zurückgenommen werden, weil sie nach mehr oder 
weniger langem Aufenthalt in der Familienpflege Er¬ 
regungszustände bekamen. In drei Fällen wurden 
Entweichungsversuche gemacht, die aber sämmtlich 
resultatlos verliefen; die Kranken wurden nach kurzer 
Zeit der Anstalt wieder zugeführt. Ein Pflegling starb 
im Hause des Pflegers an einer äusserst acut verlaufen¬ 
den Peritonitis, und schliesslich verloren war einen 
Kranken durch einen schweren Unglücksfall. Der 
betreffende Pflegling, der bereits hochgradig verblödet 
war, war Abends, während noch mit der Dresch¬ 
maschine auf dem Felde gearbeitet wurde, auf eine 
Strohdieme gestiegen, um dort etwas zu helfen. An- 

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1 002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 437 


statt nun zu warten, bis eine Leiter angelegt wurde, 
wie ihm auch von den übrigen Arbeitern befohlen 
war, glitt er an der Dieme herunter und in die Zinken 
einer Forke, die versehentlich mit der Spitze nach 
oben gegen die Dieme gelegt war. Da uns die eigent¬ 
liche Todesursache von dem Pfleger verschwiegen war, 
haben wir der Staatsanwaltschaft Anzeige gemacht, 
die Untersuchung wurde aber nach kurzer Zeit nieder¬ 
geschlagen, weil eine strafbare Handlung nicht vorlag. 
Die gerichtliche Section ergab eine schwere Blutung 
in die linke Pleurahöhle, eine Verletzung der linken 
Lunge und Zerreissung der grossen mediastinalen Ge¬ 
wisse. Derartige Unglücksfälle sind allerdings in hohem 
Grade bedauerlich, aber man muss mit ihnen rechnen 
und es würde gänzlich verfehlt sein, aus einem solchen 
Grunde den Stab über der ganzen Familienpflege zu 
brechen. Je freier wir die Geisteskranken behandeln 
und die Familienpflege ist zur Zeit wohl die freieste 
Art der Behandlung, desto grösser wird auch die 
Wahrscheinlichkeit, dass derartige unglückliche Ereig¬ 
nisse einmal eintreten. 

Wenden wir uns jetzt kurz zu der Betrachtung 
des Pflegers. Die Bauern in der Umgebung von 
Göttingen gehören nicht gerade zu den reichen Land¬ 
wirtlien, sie sind andernfalls aber auch keineswegs 
arm, sondern vertreten durchschnittlich, soweit ihre 
Vermögensverhältnisse in Betracht kommen, den guten 
Mittelstand und eignen sich als solche, meiner An¬ 
sicht nach, ganz besonders gut zu Pflegern. Jeder 
Bauer hat seinen mehr oder weniger grossen Acker, 
durchweg recht guter und schwerer Boden, den er 
bepflanzt und von dessen Erträgen er lebt, er besitzt 
seine Scheunen und Stallungen und ist in der Lage, 
ausser Kühen, Schweinen und dergl. sich auch durch¬ 
schnittlich 2 Pferde zu halten, kurz, es sind ganz 
wohlhabende Landleutc, nicht zu reich, um sic h über 
die Kranken erhaben zu fühlen, aber auch nicht zu 
arm, um den Verdacht zu erwecken, dass die Kranken 
bei ihnen Noth leiden würden. Die Nahrung ist, 
wie ich mich verschiedentlich selbst überzeugen konnte, 
ausreichend und kräftig, die Pfleglinge, die im Ver¬ 
lauf des Sommers bei der Arbeit auf dem Felde theil- 
weise an Gewicht verloren hatten, sehen im allge¬ 
meinen blühend und gesund und haben zum Theil 
auch erheblich an Gewicht zugenommen. Die Woh¬ 
nungen der Pfleger lassen im Grossen und Ganzen 
auch nicht zu wünschen übrig, sie werden sauber und 
reinlich gehalten, wenn das auch grösseren Schwank¬ 
ungen unterliegt. Dagegen waren die Zimmer der 
Kranken immer tadellos in Ordnung, das Bett sauber 
und reinlich, die Kleider und besonders die Wäsche 
stets gründlich geflickt und rein gewaschen. Seinem 


ganzen Character nach muss man den Bauer in der 
Umgebung von Göttingen als einen biederen und 
fraglos intelligenten Menschen bezeichnen, er ist 
äusserst fleissig und solide und zeichnet sich in erster 
Linie durch grosse Ruhe und Gutmüthigkeit aus, kurz 
er ist durch seine ganze Art wohl geeignet, mit 
Kranken umzugehen und sie ordentlich und gut zu 
behandeln. Der Familien pflege bringen die Bauern 
im Allgemeinen ein grosses Interesse entgegen, dafür 
spricht schon die grosse Anzahl von Anmeldungen 
und Anfragen, auch aus weiter entfernten Dörfern. 
Natürlich glaube ich nicht, dass sie der Familienpflege 
nur um des guten Zweckes willen ihr Interesse ent¬ 
gegenbringen, so selbstlos denkt kein Bauer. Sie haben 
fraglos in erster Linie immer ihren persönlichen 
Nutzen und Vortheil dabei im Auge und lassen sich 
dadurch auch vorzugsweise bestimmen, aber aus 
manchen Kleinigkeiten geht doch andererseits wieder 
deutlich hervor, dass der persönliche Vortheil nicht 
allein maassgebend ist, dass sie auch für den Kranken 
selbst viel übrig haben und auch im Interesse der 
Kranken der Familienpflege wohlwollend gegenüber¬ 
stehen. Sie lassen die Pfleglinge an allen freudigen 
Ereignissen in der Familie theilnchmcn, geht der 
Pfleger Sonntags aus, so nimmt er den Pflegling mit, 
er beschenkt ihn zu Weihnachten, kauft ihm Kleid¬ 
ungsstücke, Cigarren u. dergl., der ganze Ton, in dem 
der Pfleger von seinem Kranken spricht, die Art, 
wie er auf seine Eigenarten eingeht, und nicht zum 
wenigsten die Zufriedenheit des Kranken selbst, alles 
das ist doch fraglos ein Zeichen dafür, dass die per¬ 
sönlichen Interessen nicht der allein leitende Factor 
sind, sondern das daneben auch das Interesse für die 
Kranken und ihr Wohlergehen eine grosse Rolle 
spielt. Nach unsem bisherigen Eifahrungen sind wir 
zu der Annahme berechtigt, dass sich der Bauer in 
der Göttinger Gegend in jeder Beziehung vorzüglich 
zum Pfleger eignet. 

Wenn ich schliesslich noch mit kurzen Worten 
auch die Vortheile berühre, die die Anstalt selbst 
von der Einrichtung der Familienpflege hat, so ist 
sie in erster Linie schon deshalb von grossem Werth, 
weil sie Platz für neue Aufnahmen schafft. Gerade 
zu der Zeit, als in Göttingen die Familien pflege ein¬ 
geführt wurde, vor der Eröffnung der neuen Anstalt 
in Lüneburg, w r ar die Ueberfüllung der übrigen Pro- 
Vinzialanstalten eine derartig starke, dass für frische 
Aufnahmen kaum Platz vorhanden w'ar. Weiter muss 
auch die pecuniäre Seite in Erwägung gezogen werden. 
Ich glaube nicht, dass bisher in Göttingen irgend 
welche Ueberschüsse erzielt sind, obwohl die Ver¬ 
pflegung ja bedeutend billiger ist wie in der Anstalt. 


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Original ffom 

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4,5* 

Aber die Kleider, Schuhe, Alles erfordert doch ent¬ 
schieden in der Familienpflege einen lebhafteren Er¬ 
satz wie in der Anstalt und gleichen den billigeren 
Verpflegungssatz mehr oder weniger aus. Aber auch 
das wird im Laufe der Zeit, mit der weiteren Aus¬ 
breitung der Kamihenpflege und der Zunahme der 
Zahl der Pfleglinge besser werden. 

Schliesslich möchte ich noch der Ansicht ent¬ 
gegentreten, dass durch die Familienpflege der An¬ 
stalt die besten Feldarbeiter entzogen wurden. Ob¬ 
wohl wir, wie schon erwähnt, anfangs nur gute Feld¬ 
arbeiter heiausgegeben hatten . sind Störungen im 
landwirtschaftlichen Betriebe der Anstalt niemals ein¬ 
getreten. Die Wärter, die natürlich am liebsten mit 
ihren alten ausgebiideten Kranken arbeiten, sind dann 


[Nr. ;,Q. 

einfach gezwungen, sich aus dem übrigen Kranken- 
material neue Arbeitskräfte heranzuziehen und her- 
anzululden. Weiden in Zukunft vorzugsweise ieine 
Pfleglinge nach draussen geschickt, so fällt dieser Fin- 
wurt ja au- h von v. «rnherein fort. 

Will ich nun aus diesen Mittheilungen einen Schluss 
ziehen, so darf ich ihn wohl dahin /.usammenfassen, 
da>s die Einrichtung der Famihenpflege in Göttinnen 
in jeder Beziehung ein recht glücklicher Schritt war. 
Die Erfahrungen , die bislang damit gemacht sind, 
sind sehr günstige, die Yortheile, die sie vorzugsweise 
den Kranken bringt, sind derartig grosse, dass sie 
wohl berechtigen, den einmal beschrittenen Weg weiter 
zu gehen und die Familienpflege mehr und mehr 
aiiN/.udehnen. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Yoi läufige Einladung zur nächsten Jahressitzung 
des Vereins der deutschen Irrenärzte. Die Jahres- 
sitzung wird am Montag, den 20. und Dienstag, den 
2 1. April 1903 in Jena stattfinden. 

Pr« «gramm. 

I. Anträge des Vorstandes: a) den Namen 
des Vereins in die Bezeichnung „Deutscher Verein 
für Psvchiatrie“ zu ändern, b) die Vorgesetzten Be¬ 
hörden um Gewährung von Reisekosten für die die 
Jahresversammlung besuchenden Anstaltsärzte zu er¬ 
suchen. 

II. Referate: i) Ueber die Anwendung der Iso- 
lirung bei der Behandlung GcBt-skrunker. Referent: 
Herr Diiertor Dr. Meicklin (Treptow a. d. R.). 

2) Ueber Begriff und Bedeutung der Demenz. Re¬ 
ferent: Herr Medicinalrath Prof. Dr. Tuc/ek (Mar¬ 
burg). Cerreferent: Herr Hotrath Dr. ( Binsen Dresden). 

3) Der Erlass des preüssrichen Justiz-Mini>teriums 
vom i). October lo°2. betreffend die SaehverstämligQ-n- 
thätigkeit in Entmündigungssachen, Referent: Herr 
Professor Dr. Thomson (Bonn). 

III. Die Anmeldung Von Vorträgen Bitten wir bis 
spätestens Anfang März 1003 an den mitunterzeieh- 
neten Professor jolly (Bedin N.W., Alexander-Ufer 7) 
zu richten. Herr Ilofrath Prof. Dr. Binswanger 
(Jena) hat sich freundlic bst bereit erklärt, den Vor¬ 
sitz des Locale« »mites zu übernehmen. 

Nähere Angaben über das Sitzungslocal, das ge¬ 
meinsame Mittagessen und sonstige Zusammenkünfte 
werden dem definitiven, im März zu versendenden 
Programm beigegeben werden. 

Der Vorstand. Fürstner. Hitzig. Jollv. Kreuser. 
Laehr. Pelman. Siemens. 

— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 8. December 1902. 
Vorsitzender Jollv, Schriftführer Bernhardt. 

Vor der Tagesordnung demonstrirt M. 
Roth mann einen 32 jährigen Mann, der vor 15 


Jahn n Lues gehabt hat, im Jahre 1900 an Kopf¬ 
schmerzen und nachfolgender rechtsseitiger Parese 
erkrankte. Durc h Imin« tioiiskur Besserung, die auch 
bei einem Re« idiv erzielt wurde. Seit ca. I Jahr 
rechtsseitige Krämpfe, ausserdem Schwindel. K«-pf- 
s< hnirr/.eii und Schwäche der rechten Extremitäten. 
Ubjcctiv lindel sich Differenz der Pupillen 1 1., 

refleet« •rische Pupillenstarrc, Hemiparcsis dextra mit 
gering« *r HvperaeNthesie und grobschlägigem Tremor 
der rei hten Hand hei Intention, starkes Schwanken 
bei Augenschluss, so dass Patient wie ein Brett um¬ 
zufallen droht, bisweilen dabei Neigung nach rechts 
zu fallen. Das intei essanteste Svinptom, das Patient 
darbiet«-t. ist ein Krampf der Mm. interni, ein Con- 
veigcnzkrampf, der bei jeglicher Fixation, zu der Pat. 
aufi^efordert wird, auftritt, gleichgiltig. nach welcher 
Eich tim <2 die Buihi fixieren sollen. In der Ruhe tritt 
dieser Krampf nicht auf, selten beim Lesen, auch 
nicht wenn Pat. sich ungezwungen nach der einen 
oder andern Richtung umsieht. Unter Schmierkur 
Besserung. Die L< »calisation der Irischeinung ist sehr 
schwer, besonders, wenn man versuchen will, die 
Svmptome auf einen Herd zu beziehen: vielleicht 
handelt es sieh um einen Herd in der Yierhügel- 
gegend. Wenn nicht die Therapie auf den Zustand 
günstig einwirkte, könnte man für einige Symptome, 
besonders die auffallend starke Gleichgewichtsstörung 
und den Convergenzkrampf, auch an functionelle 
(hvsterische) Störungen denken. 

D i scu ss io n. 

B ernhar d t macht darauf aufmerksam, dass 
Pat. während der Demonstration unbewusst ganz un¬ 
gehindert nach links und rechts geblickt habe. 

Rot hinan n bemerkt, dass er bereits hervor¬ 
gehoben habe, dass die Störung nur bei stärker in¬ 
ten« licitem Sehen vorkommt, zeitweilig allerdings auch 
beim Lesen. 


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Original fram 

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1902.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Tag esordn u ng. 

von Leyden und (J i un mach: Die 

R ö nt ge »gfa p h i e im Dienste der Riicken- 
m a r k s k ra n k h e i t e n. 

In der Einleitung des Yorlr.iges bespricht v. 
Leyden die (ieschit 1 »te der Diagnostik der Rücken- 
markskrankheiten in grossen Zügen; er hetont, dass 
bis heilte in der Klinik die anatomische Diagnose 
der Rücken in arkskra n kheiten (Inspekti« m, Palpatic »n etc.) 
der physiologischen ( Func tionsausfall. >egmentdiagnosc) 
weit unterlegen geblieben sei. In jüngster Zeit sei 
als werthvolles anatomisc hes Hilfsmittel der Diagnose 
die Lumbalpunc tion hinzugekommen. Die bisherigen 
Leistungen der Röntgographie haben uns für die Er- 
kenntnis der Vorgänge im Wirbelkanal selbst noch 
keinen Gewinn gebracht, wohl aber für die Differen¬ 
zierung der Wirbelerkrankungen selbst, und, wie aus 
den weiteien Mittheihmgen der Vorträge heivor^rhen 
wird, für die Ben:theilung manclier Vorgänge an den 
Knochen der Wirbel, dir* in Beziehung zu manchen 
Rückenmarkserkrankungen zu bringen sein weiden. 
((>ste< »pon >sc). 

Vortr. berichtet: 

i) über 5 Fälle von Deformitäten an der Wirbel¬ 
säule mit spinalen Symptomen, Paresen bezw. Para- 
plegiecn, in denen es sich in i Fall um (’aries. in 
2 um rachitische Yeiändcruiigen, in 2 um Spondvlose 
rhizomelique handelt. 

Demonstration der characteristischen Actinogramme 
durch Herrn (»runmach. 

2 ) über 2 Fälle von metastatischen Wirbeltuinnren, 
i. Carcinom dys b.--7. Halswirbels mit Spontan- 
fractur nach jMammacarcinom, 2. Sarcom der Len¬ 
denwirbelsäule nach Oberschenkelsarcom, beide durch 
das Röntgenbild bestätigt, sowie über 2 Fälle von 
traumatischen Wirbelerkrankungen, in deren einem 
das Röntggnbild einen Callus des 6. — 7. Halswirbels 
nach Fractur nach wies, während in dem 2., wo nach 
Sturz \<>n einer Leiter das nicht ganz reine Bild einer 
Ilalbseitenlähmung des unteren Brustmarks aufgetreten 
war, nicht die Zeichen einer Fractur nach¬ 
gewiesen werden konnten; ein Schatten in der Ge- 
gencl des 8.—-io. Brustwirbels wird von den Vortr. 
als Rest einer Blutung gedeutet. 

3) über 3 Fälle von Myelitis, von denen sich der 
eine als Spomh litis entpuppte, 1 von Meningomyelitis, 
2 Fälle von Tabes, davon einer mit Osteoarthropathie 
der Wirbelsäule, und einer von Bulbärparalyse, bei 
dem sich als interessanter Xebenbefund eine alte 
Luxation der Ilalsw irbelsäule durch das Röntgenver¬ 
fahren fcststellen liess. 

Bei den letztgenannten Fällen fanden sich nun, 
besonders bei den llerderkrankungen, in den unter¬ 
halb derselben gelegenen Partieen der'Wirbelsäule, 
aber auch in den Fällen von Tabes, eigenthümliche 
Aufhellungen der normalen Schatten der Wirbel¬ 
knochen, die, mit normalen Bildern verglichen, die 
Vortr. zu dem Schluss vcranlassten, dass es sich hier¬ 
bei um trophische Störungen in der Knoc hensubstanz 
handelt, (Osteoporose!* die in Beziehungen zu der 
spinalen Erkrankung gebracht werden müssen. 


Demonstration durc h Herrn Grün mach. 

Die Fortschritte, die die Röntgographie auf dem 
Gebiet der Rückenmarkserkrankungen bisher geleistet 
hat, beziehen sich demnach im wesentlichen auf die 
Erkrankungen der Wirbel seihst, zum Theil. aber auch 
auf secundäre Proccsse, in den letzteren im Gefolge 
und wahrscheinlich mich in einer gewissen Abhängig¬ 
keit um spinalen Ei krankungen. 

Die Discussion über den Vortrag wird vertagt. 

Martin Bloc h, (Berlin). 

— II. Landes-Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest. ( L Sitzung vom 20. (.)«•- 
tober l</02, Vnrm.i 1 Fortsetzung 

Den Yoisitz übernimmt N. Gsap, später, X. 
Th<» m a n. 

a) Referent: Karl Lechner. 2. Mode* r 11 e 
Princi]>ien in der Therapie der Geistes¬ 
krank h <* i t c* n. 

Die moderne P>\« hiatrie wird in ihrem \ä >: gehen 
von der Liebe zu dem Kranken beeinflusst und ge¬ 
leitet. Alle jene Maassnahmen als'*, welc he eigentlich 
gar nicht den Zweck hatten zu heben, sondern die 
menschliche Gesellschaft uni <!■'■■ UmgebunL' des 
Kranken zu schützen, hubpfl nun an Wichtigkeit 
verl« »ren. 

Unser Bestreiken richtet; sich jetzt nicht ausschliess¬ 
lich darauf, die bestehenden gefährlichen Symptome 
zum Sc hwinden zu bringen. Wir denken hauptsächlich 
an das Interesse des Kranken und legen auf geistige 
und körperiic he Diät, auf die Prophylaxe der Geistes¬ 
krankheiten das größte Gewicht. 

Die erprobten Arzneien von wirklichem Ileilwerth 
wollen auch wir nicht entbehren. Dennoch sind wir 
bestrebt, die interne Medik ation auf ein Minimum zu 
beschränken, die externen Pr« »ecdtiren, also Kaltwasser- 
cui, lilektric ität u. s. w. nur der Xothwendigkeit ange¬ 
messen zu gebraut hen und sc iiliessiich haben wir die 
ehedem so beliebten Zwangsmittel ganz verfassen und 
geben unseren Kranken die grösstinögliche Freiheit. 
Auch die < hgaiio- und Sei uml nhrapie wenden wir 
an, sobald sic* in ihrer Wirkung erprobt ist. 

Die körpe-di'he Diät I ^treuen wir uns durch 
gesunde W<»iniuiig Reinlichkeit, Bewegung in fris» her 
Luft, gute Ernährung und Bäder z.u ordnen. Die 
alkoholischen Gctiänke lmisvii aus d«-n Irrenheil- 
anstalten vollständig verbannt werden. Selbst als 
Arznei sollen sie nur in den seltensten Fällen eereiebt 
werden, denn w ir kennen k.uun ein Gift, wei« hes dem 
Gehirne schädlicher wäre als der Alkohol. 

Noch viel mehr erwarten wir Von der se- 1 is* hen 
Diät. Hier sind Bettruhe. zweckmässigeg Plaeirung, 
gutes Wartepeiscmal. dau* rnd-e Bes« häftigimg und ziel¬ 
bewusste Bec'intlussung des Seelen iejuci in von größter 
Wichtigkeit. Daneben sind 1 »eruhigeirde, warme Bäder, 
nasse Einpackungen, die* Suggestion und manc hmal 
auch die Hypnose von guter Wirkung. Um die 
zweckmässige Unterbringung der Kranken zu erleb litcrn, 
beabsichtigen wir im Anschlu ss an die Irrenanstalten 
Gewerbe-Ela hi isseinentc. laml w i rtl i>< hal'llic he (’ol- »nien, 
Dörfchen fü* das \\ artcpersonal zu enirhten und 
wollen geeignete Kranke der (>bhut solc her Wärler- 


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440 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39. 


Familien anvertrauen. Epileptiker, Alkoholiker, ver¬ 
brecherische Geisteskranke, sowie Nerven- und Ge- 
müthskranke sollen womöglich in besonderen Anstalten 
untergebracht werden. Ueberall müssen wir dahin 
wirken, dass der um seine Familie besorgte, arme 
Kranke irgendwie zu einem Gelderwerb komme und 
zwar nicht nur für die Zeit der Intcrnirung, sondern 
auch dann, wenn er geheilt oder gebessert entlassen 
wurde. Wir sorgen ferner dafür, dass die zurückge¬ 
lassene Familie für die Zeit, in welcher der Ernährer 
der Familie sich im Institute befindet, eine ange¬ 
messene Unterstützung erhalte. 

Grössere Erfolge als auf diesem Gebiete erwarten wir 
von unserer Thätigkeit auf dem Wege der Prophylaxe. 
Wir müssen das Zustandekommen der Gehirnkrank¬ 
heiten verhindern, soweit wir das können. Darum 
kämpfen wir gegen die Vererbung der Disposition 
zu Geisteskrankheiten. Durch richtige Erziehung seien 
wir bestrebt, die Psyche zur kräftigen Entwicklung zu 
bringen. Besondere Sorgfalt müssen wir der Erziehung 
nervöser, psychisch degencrirter Kinder zuwenden. 
Nehmen wir den Kampf gegen die socialen Uebel 
mit voller Energie auf, unterdrücken wir namentlich 
den so ungeheuer verbreiteten Alkoholismus, setzen 
wir der weiteren Verbreitung der Syphilis energischen 
Widerstand entgegen und versuchen wir wenigstens 
die Folgen des Pauperismus zu mildern. Diese Uebel 
geben nämlich den Boden ab, auf welchem die 
Geisteskrankheiten am üppigsten gedeihen. 

Erreichbar wären diese Erfolge: durch eine 
zweckmässige Beeinflussung der Eheschliessungen, 
durch Ordnung des Prostitutions- und Armenwesens, 
durch Gesetze gegen die Trunksucht, durch Errichtung 
von Anstalten, in welchen nervöse, und belastete 
Kinder erzogen werden, durch Erbauung von Sana¬ 
torien und Asylen für Trinker und Epileptiker und 
Nervenkranke, sowie durch Errichtung eigener Heil¬ 
anstalten für geisteskranke Verbrecher. Es giebt noch 
eine ganze Reihe solcher Institutionen, die uns in der 
Erreichung unseres Zieles behülflieh sein können, wenn 
die Gesellschaft den freiwillig angebotenen Rath und 
die Hülfe der Psvchiater annehmen wollen wird. 

Es wäre die Aufgabe einer aus der Mitte des 
Congresses zu entsendenden Commission nach dem 
Muster des Auslandes eine Bewegung zur Bekämpfung 
der erwähnten Uebel einzuleiten und zu führen , die 
schon vorhandenen diesbezüglichen Bestrebungen zu 
unterstützen und in der Leitung derselben dem 
Psychiater den ihm gebührenden Platz zu sichern. 

b) Correferent: G ustav O 1 a h. 

In den Bestrebungen der modernen Irrenheil¬ 
kunde kommen immer entschiedener zwei verschiedene 
Standpunkte zum Ausdruck. 

Der erste bezieht sich auf eine derartige Organi¬ 
sation der Irrenanstalten, dass dieselben nicht bloss 
kostspielige Internate für unheilbare Kranke seien, 
Internate, deren Kosten kleinere Staaten für die Dauer 
kaum ertragen werden können, sondern dass in den¬ 
selben heilbare Fälle zur Zeit Aufnahme und Heilung 
finden, was natürlich eine fortschreitende Spenali- 
sirung des ärztlichen Dienstes nothwendig macht. Der 
zweite Standpunkt ist der, ».lass die unheilbaren Ele¬ 


mente durch den hierzu geschaffenen und eingerichteten 
grossen Heilapparat, den wir Irrenanstalt nennen, auf 
einem möglichst gesellschaftsfähigen Niveau erhalten 
bleiben. 

In demselben Maasse, in dem vagabundirende und 
bettelnde, selbst das Nothwendigste entbehrende 
Geisteskranke mit der gesellschaftlichen Ordnung des 
Staates in Conflict gerathen, steigt die Last, welche 
durch die lebenslängliche Versorgung dieser Elemente 
dem Staate aufgebürdet wird und die Errichtung neuer 
Irrenhäuser nothwendig macht. Wollen wir mit dem 
Ausbau unserer staatlichen Institutionen alle unsere 
unversorgten Geisteskranken unterbringen, was schliess¬ 
lich nicht ausbleiben kann, so werden wir die Lasten 
dieser Versorgung nicht ertragen können, wenn wir 
keine Praeventiv- Maassregeln ergreifen. Darum wird 
cs überall als eine Nothwendigkeit angesehen, die 
Zahl der endgültig dissociirten Elemente, der noto¬ 
rischen Irrenhausbrüder, welche ein Artefact des 
falschen Svstems sind, zu verringern und ebenso ist 
es eine höchst wichtige Aufgabe der modernen Irren- 
pflcgc, die chronischen Fälle auf einer relativ socialen 
Höhe zu erhalten 

Ein weiteres Hauptprinzip ist die möglichst früh¬ 
zeitige Behandlung der Geisteskrankheiten. Das ist 
nur dann zu erreichen, wenn alle Factoren, welche 
die leichteren und beginnenden Psychosen vom In¬ 
stitute fern halten, radical ausgerottet werden. So 
lange bei der Schaffung von Irrenanstalten die Frage 
der Intcrnirung im Vordergründe stand, wurde dem 
Ingenieur von ärztlicher Seite nur die eine Aufgabe 
gestellt, mit Beachtung der modernen hygienischen 
Verhältnisse und der Interessen der öffentlichen 
Sicherheit auf einem bestimmten Terrain für Geistes¬ 
kranke so viel Belegraum als möglich zu schaffen. 
S<> entstanden die im Block- und Pavillon-System 
aufgeführten Irrenhäuser, mit tadellosen Heiz- und 
Ventilations-Einrichtungen, jedoch mit vollständiger 
Vernachlässigung der psychischen Hygiene erbaut, 
obwohl die entsprechend gewählte Gesellschaft, die 
kleineren und grösserett Gruppen, das bürgerliche 
Heim, das Bauern-Häuschcn durc h keinerlei patentirten 
Spucknapf, durch kein Ventilations-System und durch 
keinen Carbolgeruch ersetzt werden können. 

Ich will zugeben, dass auch die angedeutete 
Richtung nicht übertrieben werden darf. Wir be- 
nöthigen grosse, luftige Krankensäle, besonders für 
liegende Kranke, wir können 1- 2 Wannenbadräume 
pro Saal nicht entbehren, dennoch lässt die Auf¬ 
führung von ausschliesslich aus solchen Krankensälen 
bestehenden Irrenhäusern im Block- oder Pavillon- 
system auf sehr wenig psychiatrisches Gefühl des 
Erbauers schliessen. 

So construirte Irrenhäuser zwingen nicht zusammen¬ 
gehörige Kranke in eine abstossende Gemeinschaft, 
schaffen unhaltbare, hässliche Zustände und diesem 
Boden entspringt dann die Anwendung von Zwangs¬ 
mitteln , Missbrauch mit den hypnotischen Mitteln, 
die inveterirten Zellenbew'ohner, mit einem Worte die 
erschreckend grosse Anzahl der für die menschliche 
Gesellschaft endgültig Verlorenen. Es ist eine bereits 
banale, immer aber noch eine grosse Wahrheit, dass 


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iqo-\] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


44i 


die Ueberfüllung und der Irrenhaus-Character für 
eine Irrenheilanstalt dasselbe bedeuten, was die Sepsis 
für eine chirurgische oder gynäkologische Abtheilung. 
In ein solches Irrenhaus kann man heilbare Fälle 
mit den Chancen der Heilung nicht bringen und ist 
es doch die Aufgabe, der Psyc hiatrie zu retten, was 
noch zu retten ist, nicht aber Unheilbare lebenslänglich 
zu versorgen. 

Hält man diese Principien vor Augen, so tauc hen 
bei Besprechung der DetaiKragen folgende Fragen auf: 

Ks wären grössere Anstaltseinheiten zu sc hallen, 
deren Theile, wenn sie auch räumlich nicht Zusammen¬ 
hängen, einen einheitlichen < hganismus darslellen und 
dennoch die weitgehendste Differem Innig gestatten, 
dies zu dem Zwecke, um den Kranken immer in das 
betreffende Milieu bringen zu können, welches dem 
jeweiligen Stadium seiner Krankheit entspricht. Ein ein¬ 
heitliches Pavilk »ns\ Stern, besonders mit symmetrischer 
Anlage, entspricht den psychiatrischen Anforderungen 
durchaus nicht. Nach demjenigen Systeme, welc hes 
derzeit für das beste gehalten wird, übergeht die 
ganze Colonie fast unmerklich in die Umgebung und 
zeigt keinerlei auffallenden (’haracter. Unter Schaffung 
grosser Anstaltseinheiten verstehen wir durchaus nicht 
die Schöpfung riesiger umzäumter Anstalt»-Uolosse, 
in welchem 1500—jooc Kranke* untergebracht werden 
können, sondern solc he einheitliche ( hganisationen, 
in deren Rahmen die vorher erwähnten psyc hiatrischen 
Standpunkte zu verwirklichen wären; diese Organi¬ 
sationen senden durch probeweise Entlassung von 
Kranken in die Umgebung Fäden in die Aussenwelt 
aus und können auf diese W eise aufklärend und leh¬ 
rend, zu Organen der soc ialen Prophylaxe werden. 

Ein wichtiger Factor des Fortschrittes und der 
Vervollkommnung der Psychiatrie ist die Spe< ialisirung 
der ärztlichen Agenden. In den meisten Irrenheil¬ 
anstalten älteren Styles verrichten die Aerzte tagtäglich 
die gleiche Arbeit. Die Psychiatrie sowie deren 
Ilülfszweige, die experimentelle Psychologie, die Histo¬ 
logie, die chemischen Untersuchungen, einzelne Fleil- 
proceduren sind so umfangreich geworden, dass kein 
Mensch in allen diesen Fächern gleichzeitig Voll¬ 
kommenes leisten kann. Wie sehr man zum Beispiel 
bei Idioten der socialen Qualification nahe kommen 
kann, haben unsere Specialisten, welche sich mit 
Idioten befassen und dieselben fast gesellschaftsfähig 
machen, zur Genüge bewiesen. Diese Idioten wären, 
bei der heutigen Einthcilung des ärztlic hen Dienstes, 
in eine Irrenanstalt gebracht, geblieben, was sic waren. 
Dasselbe gilt znm grossen Theile für andere Formen 
der Geisteskrankheiten. Es ist die Aufgabe der In¬ 
stitutsleitung, der Specialisirung des ärztlichen Dienstes, 
welche der Schlüssel allen Fortschrittes ist, innerhalb 
des Institutes Geltung zu verschaffen. Das ist aber 
nur in grossen Anstaltseinheiten durchführbar. 

Viele haben an der Idee Gefallen gefunden, dass 
arbeitsfähige, unheilbare Kranke auf einer sogenannten 
Colonie, einem angenehmen und gesunden Orte, ge¬ 
sammelt und dort zu landwirtschaftlichen Arbeiten 
verwendet werden. Diese gefällige und idyllische 
Idee wird zur idealen Lösung erhoben, wenn man 
betont, dass diese Colonien sich selbst erhalten, 

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dass die Arbeit der Kranken alle Auslagen deckt. 
Diese Argumentation ist meiner Ansicht nach etwas 
unpsychiatrisch. Jede grössere Irrenanstalt bedarf 
zwar einer landwirtschaftlichen Colonie und zwar 
nicht aus administrativen, sondern aus therapeutischen 
Gründen, doch kann diese nur ein Glied, ein Organ 
des ganzen Institutes sein. Die Absonderung des un¬ 
heilbaren Materiales, als Selbstzweck vorgenommen, 
würde den bestehenden Anstalten den Gnadenstoss 
versetzen. 

Eine weitere k rage wäre die der Zahl-Abtheilungen. 
In einem dem (iemeinwohle gewidmeten öffentlichen 
Institute sollte man die strenge Absonderung der 
Geisteskranken je nach der Klasse, welche sie bezahlen, 
möglichst vermeiden. Es ist durchaus nicht in der 
Intention und im Interesse der Psychiatrie gelegen, 
dass jeder Kranke möglichst luxuriös untergebracht 
werde. Im Gegentheil ! Der Irrenhausluxus wirkt 
oft unangenehm, ja peinlich, im grössten Maasse anti- 
psvehiatrisch ist jedoch der Vorgang, einen Kranken 
aus der besseren Umgebung, nach welcher er sich 
sehnt, welche er zu würdigen weiss, zu entfernen, ihm 
die bessere Verpflegung, an die er im Leben gewöhnt 
war, zu entziehen, weil er in eine andere Verpflegungs¬ 
klasse gehört. Für ein Bein, das operirt werden soll, 
sind das Fragen von ganz unte rgeordneter Bedeutung, 
für ein Gehirn, das geheilt werden soll, ist das die 
Heilung selbst, deren Art und Wesen. 

Was die Benennung der Anstalt anbelangt — und 
diese ist ein cardinalcr Factor, w enn wir die Möglich¬ 
keit einer frühzeitigen Behandlung der Kranken 
schaffen wollen —, so will ich mit der Ausführung meiner 
Ansicht hier keine Zeit verschwenden und keine un¬ 
fruchtbare Discussion heraufbeschwören. Ich weiss, 
dass ich diesbezüglich etwas isolirt dastehe und will 
nur soviel bemeikcn, dass jede besc hönigende Be¬ 
nennung — unter welcher das Publikum ja dennoc h 
das bewusste Haus der lebenden Todten vermuthet 
— nur den Uebeigang zur einzig richtigen natur¬ 
wissenschaftlichen Auffassung bildet, welche die Geistes¬ 
krankheiten als eine specifische Erkrankung der 
Function des Centralnervensystems und das Irrenhaus 
als die Heilstätte dieser Erkrankung ansieht und 
dasselbe demgemäss benennt. 

Was die unmittelbaren Heilmittel der Psychiatrie 
anbelangt, so zeigen die maassgebenden Standpunkte 
eine successive Verschiebung. 

Es ist zweifellos, dass in der neueren Zeit jene 
hässlichen, gefährlic hen Formen, welche wir noch vor 
10— 25 Jahren durch das Fenster der Zelle zu be¬ 
obachten Gelegenheit hatten, fast vollständig ver¬ 
schwunden sind. Man kann darüber streiten, ob die 
Krankheitsbilder mit dem Fortschritte der Cultur ihre 
Form änderten, oder ob die Einrichtung der alten 
Irrenhäuser diese wilden Formen als rcactivc Krank¬ 
heitsbilder, artelicicll erzeugten, aber es ist zweifellos, 
dass das heutige Krankcnmatcrial socialer ist, dass 
es leichter ist, mit demselben umzugehen. 

Ueber die Princ ipien der medicamcntösen Therapie 
will ich bezüglich einiger specieller Indicationen später 
noch einiges sagen, hier möchte ich nur soviel be¬ 
merken, dass bisher — die mcdicamentöse Therapie 

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44-2 PS YGHIA T R1SCII - N E U R O LOG l SC H E WOCHENSCHRIFT. [Nr. y>. 


der Epilepsie und des Myxoedems, sowie die Wirkung 
der Salz-Infusionen ausgenommen — noch keine 
Studien angestellt wurden, welche versucht hatten, den 
wesentlichen Beziehungen zwischen dem Verlauf eines 
psychotischen Proccsses und der medicamentösen 
Therapie eine exacte, experimentelle Basis zu geben. 
Im Mittelpunkte des therapeutischen Interesses stehen 
jetzt die liegende Behandlung, die prolongirtcn Bäder, 
die suggestive Milieu-Therapie, die Heilbeschäftigung 
und die Regelung des St oft Wechsels. 

In der ganzen psychiatrischen Litteratur domi- 
niren diese Fragen. Durch die fachliche und früh¬ 
zeitige Ausnutzung dieser Prozeduren glauben wir 
einerseits als positive psychiatrische Leistung den 
stilleren Verlauf der acuten Psychosen, die sicherere 
Vermeidung gefährlicher C<unplicati« >nen , hierdurch 
ein viel günstigeres 1 leilungs-Percent, andererseits das 
Aufhalten der socialen Devastation der chronisch 
Kranken zu erreichen. 

Heute sieht es schon jedermann ein, dass uns in 
der Erreichung dieser Ziele die Ausschaltung aller 
mechanischen Mittel der Freiheitsbeschränkung sehr 
zu gute kommt. Wo das Vcrständniss für dieses 
Princip noch nicht erwacht ist, zeigt man uns einen 
solchen Zellenbewohner, welcher wiithend auf uns 
losstürmt, wenn wir durch das Fensterchen seiner 
Zelle blicken, und sagt höhnend: „Bitte mit diesem 
Kranken ohne Zelle fertig zu werden.“ Thatsächlich 
ist es eine schwere Aufgabe, einen solchen Kranken 
soc ial zu machen, doch darf es solche Kranke in mo¬ 
dernen Instituten überhaupt nicht geben. Hier kommen 
wir zu einem Circulus vitiosus. Die Isolirung schafft 
Formen, welche; man nicht mehr gesellschaftsfähig 
mac hen kann. Die Zelle macht die Zelle unentbehr¬ 
lich. Das tritt in solchen Instituten, in welcher die 
grossen, nach gemeinschaftlichem Typus gebauten 
Krankensäle die Gruppirung des Krankenmateriales 
unmöglich machen, unfehlbar ein, denn hier isolirt der 
Arzt, weil er sich anders nicht zu helfen weiss. Zwei 
Kranke werden handgemein. Der eine oder der 
andere wird in die Zelle gebracht. Fr ist schlaflos, 
also bekommt er ein Ilvpnoticum. Eins zieht das 
andere nach sic h und beides gemeinschaftlich deso- 
eialisirt den Kranken und erzeugt jene hässlichen 
Formen als Artefactc des Irrenhauses. Solchen be¬ 
gegnen wir heute glücklicherweise schon sehr selten 
lind wo wir ihnen begegnen, dort ist entwe der in 
der Leitung des Institutes oder im (Jrganismus seines 
I Ieilapparatcs der Fehler zu suchen. Selbst in der 
schwersten Bewusstseinsstörung sucht sich der Kranke 
dem Milieu, in welchem er sich befindet, anzupassen. 
Die Zuc hthäusler-Uniform, Sc hloss und Riegel, stämmige 
Wächter erwecken die Vorstellung des Gefängnisses 
und der Kranke benimmt sich anders als im Kran¬ 
kenkittel in einem Krankensaale oder in einem freund¬ 
lichen Speisesaalei Gabel und Messer in der Hand, 
unter den Aufsicht barmherziger Schwestern sein Mahl 
einnehmend. 

Mein Primarius Dr. Molnar, der Paradoxe liebt, 

]»liegt zu sagen, dass er immer, wenn ein Wärter 
sich beklagte, ein Kranker hätte ihn ohne Grund 

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attakirt, Lust hätte, den Wärter zu bestrafen. Allen¬ 
falls ist cs eine zu beherzigende Erfahrung, dass 
während die Gefängnisswächtern ähnlichen Wärter 
fortwährend thätlichen Insulten ausgesetzt sind, in der 
Anstalt, seitdem ich barmherzige Schwestern anstellte, 
denselben selbst auf der Männerabtheilung kein Leid 
geschah. 

Die Isolirung soll jedoch nicht mit der Absonder¬ 
ung verwechselt werden. Während die Isolirung ein 
gefährliches Werkzeug der Desocialisirung ist, ist die 
Separation ein mächtiger psychiatrischer Ileilfactor. 
Das Gehirn bedarf in vielen Fällen der Einsamkeit, 
welche der Arzt nicht nur gestatten, sondern auch 
so schaffen soll, wie das der Zustand des Kranken 
erfordert. W ir benützen in Ermangelung eines Bes¬ 
seren die alten Zellen zur Separation. Wir Hessen 
dieselben jedoc h schön malen, parquettiren und da¬ 
mit die Separation den Anschein der Absperrung 
verliere, haben wir die Einrichtung getroffen, dass 
die Thiiren der Zellen sich nur von innen nach aussen 
öffnen, so dass der Kranke herauskommen kann, wenn 
er will, während Niemand, der keinen Schlüssel hat, 
eintreten kann. 

Vielleicht wird es kleinlich scheinen und denen, 
die behaupten, dass die Psychiatric keine Wissenschaft 
ist, als willkommenes Argument dienen, wenn ich ver- 
rathe, dass wir auf die Kleidung auc h besonderes 
Gewicht legen. Die Milieu-Behandlung ist eines der 
Mittel, durch welche wir die Vorstellung der körper¬ 
lichen Krankheit in das Bewusstsein des Kranken 
bringen und so eine Grundlage für die weitere Be¬ 
handlung sc haffen. Darum haben Krankensaal, Bett, 
warme Bäder, Spitalskleidung eine so hohe W ic htig¬ 
keit bei den agitirten Formen, darum ist bei den 
Nichtliegenden die bürgerliche Kleidung am Platze. 
Wirksamer kann man diesen Heilfactoren gar nicht 
entgegenwirken, als wenn man den Kranken die 
graue Uniform der Zuchthäusler gibt, denn diese er¬ 
weckt in den Kranken die Vorstellung, eingesperrt 
zu sein und erschwert unnützerweise den Standpunkt 
des Arztes. (Bei uns kann ich den selbstbewussteren, 
nicht zahlenden Kranken innerhalb der Grenzen des 
Erlaubten solche bürgerliche Kleidung verordnen, als 
er sic h nur wünscht. Meine Vorgesetzte Behörde Hess 
mir — in der W ürdigung des Heilzweckes — hierin 
freie Hand.) Dasselbe gilt von der Entfernung oder 
spitzfindigen Umänderung aller jener Gegenstände, 
mit welchem der Kranke sic h oder anderen Schaden 
zufügen könnte und mit deren Entfernung man — 
wie man zu sagen pllegt die Möglichkeit der Un¬ 
fälle „auf ein Minimum reducirt“. Die' Erfahrung 
lehrte, dass die Zahl der Unfälle auch dann, wenn 
w'ir gar nichts entfernten, wenn wir alles so einrich¬ 
teten, wie überall anderswo, sich auch nicht über 
jenes gewisse Minimum erhob. Die Zahl der sich 
selbst gefährlichen Kranken macht ein verschwindend 
kleines Pen ent aus. Zur Beaufsichtigung dieser Kran¬ 
ken werden in jeder Anstalt ohnehin eigene Per¬ 
sonen angestellt und besondere Verfügungen getroffen. 
Es besteht nicht die geringste Ursache, dass das 
ganze Institut den Character des technischen Schutz¬ 
systems gegen Unfälle an sich trage. 

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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


443 


D iscussi on: 

Sa Igo: Der Vortragende hat sehr richtig bemerkt, 
dass die Irrcnheilanstalt ein Heilmittel ist und daher 
allen Anforderungen entsprechen muss, welche man 
vom Standpunkte der Heilung der Kranken stellen 
kann. Es ist natürlich , dass bei dem Kranken, der 
schon an und für sich schaudernd in die Anstalt 
kommt, wenn er dort auf der Beobachtungs-Abtheil¬ 
ung zwischen andere schwere Kranke gelangt, der so 
erlittene Shok nicht sehr viel zur Heilung beitragen 
wird. Aber sowohl unsere, als die ausländischen An¬ 
stalten gehen von dem Standpunkte aus, dass der 
Kranke zu bewachen ist, damit ja kein Unglück ge¬ 
schieht. Dieser Auffassung entspricht auch die The¬ 
rapie, welc he in erster Reihe eine Einsperrung des 
Krankem fordert: Auch ein Theil der Zwangsbehand¬ 
lung, die Zelle blieb erhalten. Ich sah noch eine 
Menge von Zwangsmitteln; mit der besseren Erkennt¬ 
nis der Krankheiten, mit der Vermehrung unserer 
Erfahrungen sind die meisten derselben überflüssig 
geworden. Während früher auf meiner Abtheilung 
bei einem kleineren Krankenstände 32 Zellen zu 
wenig waren, sind jetzt bei viel grösserem Kranken¬ 
stände auch diese 32 zu viel, weil die Zellenbehand¬ 
lung weder dem Kranken, noch dem Institute von 
Nutzen ist. Mit dem Wegfällen der Zellenbehand¬ 
lung sehen wir heute schon kaum mehr jene erwähnten 
arlcficiell verwilderten Fälle. 

Was die Bettruhe anbelangt, sah ich sowohl in 
ac uten als in chronisc hen Fällen (z. B. bei Epilepsie) 
ausgezeichnete Erfolge. 

Was die Medication anbelangt, sehe ich durchaus 
kein Verdienst darin, dass der Arzt kein Medicament 
verordnet; reichen wir immerhin solche Mcdicamcnte, 
von denen wir Nutzen erwarten, vermeiden müssen 
wir nur das gedankenlose Rcceptschreiben, welches ja 
überhaupt unärztlich ist. Wichtig ist ferner, dass die 
Kranken in die gut gebaute, zweckmässig eingerichtete, 
dem Zustande der Kranken entsprechende Anstalt 
leicht hinein und ebenso leicht aus derselben wieder 
heraus gelangen können. Unter den heutigen Ver¬ 
hältnissen, wo die dem Anstaltsarzte aufgebürdete 
grosse Verantwortlichkeit selbst dann nicht auflicht, 
wenn der Kranke die Anstalt schon verlassen hat, 
wo für alles, was der Kranke unter den verschiedenen 
Umständen des Ausscnlebcns anstellt, nicht nur seitens 
der Oeffentlichkeit, sondern auch seitens der Zuge¬ 
hörigen des Kranken der Anstaltsarzt verantwortlich 
gemacht wird, kommt leicht der sogenannte „Pavor 
manicomialis“ zustande. Es ist dies ein Zustand, 
welcher jede Betätigung, jede Entschliessung des 
Anstalt.sarztes im höchsten Grade beeinflusst. In dem 
Falle, dass die Irrcnheilanstalt einst'tatsächlich bloss 
eine Heilanstalt sein wird, wird der Arzt frei von 
solchen Nebenrücksichten und in der vollen Freiheit 
seiner Entschliessungen in allen Fragen , welche den 
Kranken berühren, entscheiden. 

Vorsitzender dankt den Vortragenden und 
schliesst die Sitzung. 

E p s t e i n (Budapest.) 

(Fortsetzung folgt.) 


— Auszeichnung eines ungarischen 
Arztes in Amcric a. Die Stadt New-York be¬ 
sitzt eine grosse Colonic für epileptische Kranke, 
welche von einem reichen, philanthropischen Mitbürger 
Namens Craig gegründet wurde. Diese sogenannte 
„Craig Colony“ hat gegenwärtig ein Vermögen von 
000,500 Dollars und erhält 112b derartige: Individuen, 
welche Unterricht gemessen und sic h mit nützlicher, 
hauptsächlich landwirtschaftlicher Arbeit beschäftigen. 
Der Directionsrath der „Craig Colonv“ hat eine in¬ 
ternationale Preisbewerbung für eine englisch ge¬ 
schriebene, mit Motto versehene Originalarbeit aus¬ 
geschrieben, welche den besten Beitrag zur Pathologie 
und Therapie der Epilepsie liefert. Das aus den 
hervorragendsten americanisrhen Nervenärzten be¬ 
stehende Preisrichter-Collegium hat dem Budapester 
Universitäts-Docenten und Ordinarius der Nervenab¬ 
teilung des St. Stefan-Spitales Dr. Julius Donath ein¬ 
stimmig den Preis zuerkannt für dessen Arbeit: „Die 
Rolle des Cholins in der Epilepsie“. Diese Arbeit, 
in welcher Donath nachgewiesen hat, dass in der 
Hirn-Rückcnmarksfliissigkeit eine giftige Substanz, das 
Cholin sich findet, welches, Thieren in die Hirnrinde 
eingespritzt, heftige Krämpfe hervorruft, wurde im 
vergangenen Monate auc h der Ungarischen Academic 
der Wissenschaften vorgelcgt. 

— Vorläufiges Programm des 14. internationalen 
med. Congresses in Madrid. 23.—30. April 1903. 

Abteilung 6. Neuropathies, Maladies, mentales 
et Anthropologie criminelle. President M. Jose Maria 
Escjuerdo y Zaragoza. Vice-Presidents MM. Luis 
Simarro y Lacabra, Rafael Salillas y Ponzano, Jaime 
Vera y Lopez. Secretairc M. Abdbn Sanchez Her¬ 
ren). Sccretaires adjoints MM. Jerbnimo Galiana y 
Soriano, Rambn Ezquerra y Baig, Enrique Navarro 
y Ortiz. Membres MM. Adriano Alonso Martinez, 
Emilio Loza y Collado, Serafin Buisen v Tomati, 
Tornas Maestre y Pcrez, Enrique Salcedo v Gincstal, 
Federico Olbriz y Aguilera. 

Rapports. 

1. „Folies toxiques et infectieuscs“.— Rapporteur: 
M. Jerbnimo Galiana. 

2. „Etiologie et therapeutique ps\-ehiques“. — 
Rapporteur : M. Sanchez Herren». 

3. „Centre de projection et d’association clans le 
c cTveau selon les determinations de l’anatomic 
pathologique actuellc“. — Rapporteur: M. Bi- 
anchi (Naples). 

4. „Etüde cliniquc de Tagnoscic et de l’asymbo- 
lie“. — Rapporteur: M. Simarro y Laeabra. 

5. „Delimitation de la nature pathologique du 
delit“. — Rapjxuteurs: MM. Rafael Salillas, 
Morsclli (Genes). 

6. „De l’intcrvention de la psychiatric dans le 
traitement reformateur des delinqunnts“. — 
Rappi »rtcurs : MM. Alonso Martinez, Lombroso 
(Turin). 

Communication. 

Mr. le Dr. Etiennc Skaiski (Vouvant): „L’eflfet 
crelectro-magnetisme animal“. 


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444 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30. 


Referate. 

— V. C o n g r e s intern a t i o n a 1 d’anthro- 
p o 1 og i e c r i m i n e 11 c. Amsterdam 9. — 1.9 Sep¬ 
tember 1901. (Fortsetzung.) 

G au ekler (Jurist, Nancy) verlangt die Trennung 
der Maassregeln, die zur Strafe dienen, von denen, 
die die Besserung des Delinquenten zum Zwecke 
Italien. Die Entscheidung, ob Strafe oder Bessi?% 
rungsmittel angewendet werden sollen, soll dem Richter 
überlassen werden. 

Morel (Muns): Prophylaxe und Behandlung der 
Gewohnheitsverbrecher. Sie gehören meist zur Klasse 
der Degenerirten und Imbecillcn. Viele werden 
durch das Milieu, in dem sie aufgewachsen sind, zu 
Gewohnheitsverbrechern. Die meisten Verbrecher 
fallen auf das 18. — 30. Lebensjahr. Diese Minder- 
werthigen müssen in besondern nach medizinisch- 
pädagogischen Gesichtspunkten geleiteten Anstalten 
erzogen und zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft 
herangebildet werden. Die Strafe, als Rache für 
verübte Missethaten, hat bei den Minderwertigen 
keinen Sinn, an ihre Stelle tritt besser die Erziehung. 

Sighele (Rom) bespricht die Psychologie der 
Verbrecher zu zweien und mehr: Couple criminel, 
associations des malfaiteurs, sccte criminelle, foule 
criminelle. Schon bei einem zu zweit verübten Ver¬ 
brechen sieht man, dass der eine der Führende, der 
andre der Geführte ist. Darnach ist die Verantwort¬ 
lichkeit zu beurthcilen. Beim Gcmeinschaftsvcrbrechen 
ist die Schuld des einzelnen, je nach den Umstän¬ 
den , schwerer oder milder zu beurtheilen als beim 
Einzel verbrec hen, z. B. wird beim vorher gemein¬ 
sam berathenen Verbrechen die Schuld des einzelnen 
sich vergrössem, während bei plötzlichen Erregungen 
der Massen sich auch der Beste zum Verbrechen 
hinreissen lassen kann, also seine Schuld sich ver¬ 
ringert. 

Deknatel (Breda) vei langt eine eingehende 
Untersuchung der Rekruten auf ihren psychischen 
Zustand. Die Einstellung Minderwerthigcr soll thun- 
lichst vermieden werden. Desgleichen sind Soldaten 
mit verdächtigen Symptomen erst einer genauen Be¬ 
obachtung zu unterwerfen, ehe man zur Strafe 
schreitet. 

Dorado (Jurist, Salamanka) fordert die gänz¬ 
liche Beseitigung der Strafe. An ihre Stelle trete 
die Pathologie pedagogique oder Pcdagogie correc- 
tionelle. In den Verbrechern hätten wir nur Un¬ 
glückliche zu sehen. Das Gesetz macht einen Unter¬ 
schied in der Bestrafung der minderjährigen und 
volljährigen Verbrecher. Und doch schwankt das 
Grenzjahr zwischen, 14, 10, jo, 21, 25 und 30 Jah¬ 
ren. Warum nicht weitergehen? Die pädagogische 
Behandlung schliesse eine Art Strafe nic ht völlig aus, 
wie ja das bei Kindern auch der Fall ist. 

Näcke: lieber die Unterbringung geisteskranker 
Verbrecher. Da Vf. eine Monographie darüber ge¬ 
schrieben hat, erübrigt sich hier das Referat. 

Steinmetz (Leiden) erörtert den Gewinn, den 


das Studium des Verbrechers aus der Ethnologie 
ziehen kann. Diese allein entscheidet die Frage, ob 
der Verbrecher ein Ucbcrbleibsel des primitiven Men¬ 
schen ist. Ein Fehler liegt darin, dass wir die Ver¬ 
brechen bei primitiven Völkern gern von unsrem 
Standpunkt aus beurtheilen, statt von ihrem eigenen. 

B 011 man (Loosduinen) beschreibt eine in einer 
holländischen Baucrnfamilic vorgekommene psychische 
Inferti«>n. Die Familienmitglieder waren bei stet, 
j»Hegten übertriebene religiöse Uebungcn, lasen Trac- 
tätrhen voll scheusslich-höllischer Phantasiegebilde 
und machten Influenza durch. Ein Bauer wurde 
verrückt, hallurinirte und verübte einen Mord, weil 
er den Satan töten müsste. Seine nähere und fernere 
Umgebung glaubte fest an die Sendung des Bauern- 
Messias, bis alle mehr oder weniger verrückt ge¬ 
worden waren. 

Piepers (Jurist, Nicderl.-Indien) sieht in der 
Entwicklungshemmung des Altruismus die Ursache 
des Verbrechens. Das Pathologische beim Verbrecher, 
seine Heredität, seine Degeneration, sind nur acci- 
dentelle Faetoren. Auch erworbene pathologische Zu¬ 
stände, z. B. nach Trauma und Vergiftung, können 
dieselbe Wirkung haben, nämlich die altruistischen 
Gefühle ersticken. 

Tenchini (Parma) hat eine Anomalie entdeckt, 
nämlich einen lamellenartigen Fortsatz, der, vom vor¬ 
dem Rand des jugum sphenoidale abzweigend, auf 
eine mehr oder weniger weite Strecke den Orbital - 
thcil des Stirnbeins bedeckt, so dass die Bogen der 
Orbitalhöhlen fast verdoppelt sind : Lamina orbitalis 
des Praesphenoids. Vf. untersuchte ca. 1200 Schädel 
bei Normalen, Verbrechern, Geisteskranken u. Affen. 
Die Anomalie fand sich häufiger bei Degenerirten 
und besonders bei denen, die mehrere Degenerations¬ 
zeichen aufwiesen. Vf. sieht darin einen Rückschlag. 

W e 11 e n b c r g h (La Haye) plädirt dafür, die 
Greise, die ein Verbrechen begangen haben, auf 
ihren geistigen Zustand zu untersuchen. Nach ihm 
beginnt das Greisenalter mit 70 Jahren. Um diese 
Zeit nimmt die Widerstandsfähigkeit ab. Begeht da 
jemand, der vorher unbesc holten war, ein Verbrechen, 
so ist seine Zurechnungsfähigkeit fraglich, selbst wenn 
keine eigentliche Psychose vorliegt. *897 waren 
unter 10000 Greisen 3 verbrecherische. Meistens 
sind's Sittlichkeitsverbrechen. (Fortsetzung folgt.) 

Ganter. 


Personalnachricht. 

— Sanitätsrath Dr. Bartels, Besitzer des Cur- 
hauscs für Nervenkranke „Villa Friede“ in Ballenstedt 
a. Harz, hat sich als Nervenarzt in Hameln nieder¬ 
gelassen. 


Hofrath Professor Freiherr von Kraf ft-Ebing 
ist gestern in Graz an den Folgen von Neuralgie 
und Nierenleiden im Alter von 62 Jahren ge¬ 
storben. 


1‘iir den i edactionel len iheil veiantwoitiu li : Oberarzt ] )r. J . 1» r e s U- r , Krasc.hnit/. (Sch csien). 

Krscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. WolfF) In Halle a S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. • 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice -Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien i. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. .v 

Telegr.-AdreMC: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 40 . 3- Januar. 1903 . 

Die Psychiatrisch-Neurolo gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie il«e Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Material zu § 1569 B. G. B. Nr. 14 (S. 445). — Mittheilungen (S. 449). — Referate (S. 453). — 
Personalnachrichten (S. 455). — Entgegnung auf die Erwiderung des Herrn Prof. Dr. Pick. Von Dr. Pfausler (S. 455). 


Material zu § 1569 B. G.-B. 

(Nr. 14.) 


J n Sachen der Fleischermeisterfrau Marie B. geh. F. 

zu K., Klägerin und Berufungsklägerin, gegen 
ihren entmündigten Ehemann, den Fleischermeister 
Ludwig B. zu K., zur Zeit in der Irrenanstalt K., ver¬ 
treten durch den Fleischermeister K. zu M. als Pfleger, 
Beklagten und Berufungsbeklagten, in der Berufungs¬ 
instanz wegen Scheidung der Ehe, hat der dritte 
Civilsenat des Königlichen Oberlandesgerichts in 
Königsberg auf die mündliche Verhandlung vom 
3. Februar 1902 für Recht erkannt: 

Das Urtheil der zweiten Civilkammer des Königl. 
Landgerichts zu K. vom 26. Februar 1901 wird 
dahin abgeändert: 

Die Ehe der Partheien wird geschieden. Die 
Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auf¬ 
erlegt. 

Thatbestand. 

Partheien sind seit dem 24. Öctober 1877 mit 


einander verheirathet. Aus der Ehe sind 2 erwachsene 
Kinder am Leben. 

Beklagter ist durch Beschluss des Amtsgerichts zu 
K. vom 5. November 1894 wegen Geisteskrankheit 
entmündigt. 

Klägerin verlangt wegen der Geisteskrankheit des 
Beklagten die Scheidung der Ehe. Der Vorderrichter 
hat die Klage abgewiesen. Er erachtet die geistige 
Gemeinschaft zwischen den Partheien nicht als auf¬ 
gehoben, da nach dem Gutachten des vernommenen 
Sachverständigen, des Directors der Provinzial-Irren- 
anstalt K. Dr. S., Zustände von Verwirrtheit bei dem 
Beklagten in der Irrenanstalt nie beobachtet worden 
sind, sein Gedächtniss unversehrt geblieben ist, er 
sich auf alle Einzelheiten seines Lebens genau zu 
besinnen weiss und er das Verständnis und Interesse 
für seine Familienangelegenheiten keineswegs verloren 
habe. Dies gehe auch aus einem Briefe des Be- 


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44ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 . 


klagten vom 25. October 1900 hervor, in welchem 
er der Klägerin zum Geburtstag gratulirt, sich über 
Vernachlässigung beklagt und um ihren Besuch bittet. 

In zweiter Linie hält der Vorderrichter nicht jede 
Aussicht auf Wiederherstellung der Gemeinschaft für 
ausgeschlossen, weil der Sachverständige die Krankheit 
des Beklagten nur als voraussichtlich unheilbar be¬ 
zeichnet. 

Gegen dieses Urtheil, auf dessen Thatbestand im 
Uebrigen Bezug genommen wird, hat Klägerin mit 
dem Anträge Berufung eingelegt: unter Abänderung 
der Vorentscheidung ihre Ehe zu scheiden. 

Für den Beklagten ist in der Berufungsinstanz Nie¬ 
mand aufgetreten. 

Zur Rechtfertigung ihrer Berufung hat Klägerin 
vorgetragen: 

Schon im Jahre 1803 habe zwischen Partheien bei 
dem Landgericht ein Scheidungsprozess geschwebt. 

Damals hätten die Zeugen Br. und M. bekundet, 
dass Klägerin von ihrem Mann in erheblicher Weise 
beleidigt und misshandelt worden sei. Schon damals 
habe der Director Dr. S. in einem Attest vom 2. No¬ 
vember 1892 bescheinigt, dass Beklagter, welcher vom 
15. Februar 1889 bis 28. Juni 1892 in der Irren¬ 
anstalt K. sich aufgehalten habe, mit einem unheil¬ 
baren, mit organischen Veränderungen verbundenen 
Gehimleiden behaftet sei und als gemeingefährlicher 
Irrer der Aufnahme in eine Irrenanstalt bedürfe. 

Beweis: die Processakten des Landgerichts L. B. 

14 93 - 

Im Jahre 1891 habe bei dem Amtsgericht B. ein 
Entmündigungsverfahren gegen den Beklagten ge¬ 
schwebt, welches zwar mit der Ablehnung der Ent¬ 
mündigung geendigt habe. In den Entmündigungs- 
akten befinde sich aber ein für die Beurtheilung des 
Beklagten wesentliches eidliches Gutachten des da¬ 
maligen Assistenzarztes an der Irrenanstalt K. Dr. F. 
vom 4. November 1891. Dr. F. erkläre unter Anderem : 
B. sei hereditär belastet, von früheren Erkrankungen 
sei nur bekannt, dass er nach Angaben seiner Frau 
wahrscheinlich syphilitisch gewesen sei. Am 19. Sep¬ 
tember 1888 habe sich zum ersten Male eine Ab¬ 
normität in seinem Verhalten gezeigt, und sei im 
October 1888 in der Innern Klinik zu K. festgestellt 
worden, dass Beklagter an der Zuckerkrankheit litt. 

Im Januar 1889 habe Beklagter sich von Wahn¬ 
vorstellungen und Sinnestäuschungen beeinflusst gezeigt, 
und in der darauf folgenden Zeit über sehr starkes 
Schwindelgefühl, Gleichgewichtsstörungen beim Gehen 
und Sehbeschwerden geklagt. Am 15. Februar 1889 
sei er in die Irrenanstalt aufgenommen worden; ausser 
den vorerwähnten Symptomen konnte hier noch con- 


statirt werden, dass die Pupillen sehr träge auf Licht¬ 
einfall reagirten, dass die Sprache schwerfällig und 
langsam war und die Zunge bei einzelnen Silben an- 
stiess. In der Nacht habe Beklagter laut mit seiner 
Frau und seinen Bekannten gesprochen. In der 
Kleidung sei er sehr nachlässig und unsauber gewesen. 

Im Uebrigen habe er in der Irrenanstalt behaglich 
und zufrieden gelebt. 

Am 20. Mai 188g sei er urlaubsweise nach Hause 
geschickt worden, habe aber schon nach 4 Wochen 
zurückgebracht werden müssen, weil er sein Geschäft 
geschädigt und durch Unvorsichtigkeit beim Rauchen 
eine Scheune mit der ganzen Roggenernte angeziindet 
habe. 

In die Anstalt habe er sich ruhig bringen lassen 
und sei hier ganz zufrieden, so lange er gut essen 
und trinken könne und ihm der Rauchtabak nicht 
ausgehc. 

Körperliche Symptome seien zur Zeit kaum 
demonstrabel. 

Beklagter leide jedoch an einer chronischen 
Geisteskrankheit, der progressiven Paralyse der Irren. 
Bei dieser Art der Geisteskrankheiten könnten so weit 
gehende Remissionen eintreten, dass die Kranken dem 
unkundigen Laien fast gesund erscheinen; nichts desto- 
weniger bleibe die Krankheit bestehen. 

Beweis: die Entmündigungsakten des Amtsgerichts 
B. E. 2/91. 

Im November 1893 sei sodann durch das Amts¬ 
gericht K. das Entmündigungsverfahren von Neuem 
eingeleitet und in demselben die Entmündigung des 
Beklagten ausgesprochen worden. 

Die in diesen Akten E. 9/93 befindlichen eid¬ 
lichen Gutachten des Dr. S. und des Dr. L. ergäben 
im Wesentlichen Folgendes: 

B. sei auf Wunsch seiner Angehörigen am 28. Juni 
1892 wieder probeweise aus der Anstalt entlassen 
worden, jedoch am 12. Juni 18113 auf Grund eines 
Attests des Irrenarztes Dr. St. vom 9. Juni 1803 
wieder in die Irrenanstalt aufgenommen worden. 

In diesem Attest bescheinige Dr. St., Patient leide an 
Paralvsis progressiva luetica, einer unheilbaren Krank¬ 
heit, die bei zeitweilig scheinbaren Besserungen unter 
allen Umständen mit fortschreitender Abschwächung 
der geistigen Fähigkeiten, Aufhebung der sittlichen 
Empfindungen und Anschauungen und dem Auftreten 
organischer Krankheitserscheinungen des Gehirns in 
kürzerer oder längerer Zeit zum tötlichen Ausgang 
führe. Patient habe während seines Aufenthalts in 
der Aussen weit den von seiner Frau erhaltenen Besitz 
fast ruinirt. In sinnloser, ganz kritikloser Weise habe 
er zu wirthschaften versucht, das Vieh weggeschlachtet, 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 447 


sei nach Polen gefahren um Schweine zu kaufen trotz 
der Grenzsperre, habe sämmtliche Wirthschafts- und 
Fleischereigeräthschaften verkauft, sich Gesellen ge¬ 
halten, obschon Nichts zu schlachten war, einer Dame 
einen Heirathsantrag gemacht und trotz der Anwesen* 
heit seiner Frau stets Heirathsannoncen in die Zeitungen 
setzen lassen, um sich Geld zu verschaffen, endlich 
seine Frau unaufhörlich mit geschlechtlichen Atten¬ 
taten verfolgt, obschon er ganz impotent war. Einem 
Schwager habe er wiederholt Geld entwendet. 

Es stehe mit Sicherheit zu erwarten, dass er die 
letzten Subsistenzmittel für seine Familie vergeuden 
und mit dem Strafgesetzbuch in Conflict kommen 
werde. 

Patient sei demgemäss in hohem Mnasse gemein¬ 
gefährlich und seine sofortige Ueberführung in eine 
Irrenanstalt dringend nothwendig. 

Im Anschluss an dieses Attest des Dr. St. erklärten 
Dr. S. und Dr. L.: 

Seit der Wiederaufnahme des Patienten sei in 
seinem Befinden keine wesentliche Aenderung einge¬ 
treten. 

Die Innervation der Gesichtsmuskulatur sei eine 
schlaffe, die linke Pupille sei, — aber nicht ganz 
regelmässig — weiter, als die rechte, beide reagiren 
träge bei Lichteinfall, die Sprache biete bei genauer 
Beobachtung deutliches Häsitiren. 

Das Vorhandensein eines mit organischen Ver¬ 
änderungen des Gehirns einhergehenden Leidens sei 
durch die Lähmungserscheinungen der Gehimnerven 
wissenschaftlich bewiesen. Das Leiden bietet einen 
aussergewöhnlich schleichenden Verlauf. Die psy¬ 
chischen Degenerationserscheinungen treten im gere¬ 
gelten Anstaltsleben weniger in die Erscheinung, als 
sie zweifellos sich zeigen würden, wenn B. gezwungen 
wäre, den Kampf um seine Existenz ohne Ueber- 
wachung und Schutz aufzunehinen. Die vorhandene 
geistige Schwäche lasse sich einem Laien nicht, wie 
ein Rechenexempel vordemonstriren; die ärztliche 
Ueberzeugung beruhe auf langer Beobachtung. 

B. sei an einem schleichenden Gehimleiden er¬ 
krankt; Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besse¬ 
rung bestehe nicht. B. sei nicht im Stande, die 
„Folgen seiner Handlungen zu überlegen“. 

Klägerin trägt sodann im Wesentlichen in Ueber- 
einstimmung mit vorstehenden Aeusserungen der Aerzte 
die ganze Krankheitsgeschichte des Beklagten nach 
Massgabe des hierdurch in Bezug genommenen Schrift¬ 
satzes vom 22. Juni 1901 vor, benennt Zeugen für 
die in den Gutachten der Aerzte erwähnten, durch 
die Unzurechnungsfähigkeit des Beklagten veranlassten 
Handlungen, eine vorsätzliche Brandstiftung, einen 


schweren Gelddiebstahl, die sinnlosen geschäftlichen 
Maassnahmen, die schamlosen, geschlechtlichen Atten¬ 
tate, das unvernünftige Benehmen des Beklagten, 
stellt ferner unter Beweis, dass sie in Folge der 
durch das Zusammenleben mit dem Beklagten 
ihr verursachten Gemüthsbewegungen vorübergehend 
die Sprache verloren habe, und benennt ferner den 
Arzt Dr. B. hier als Zeugen und Sachverständigen 
dafür, dass auch eine Schwester und ein Bruder des 
Beklagten geisteskrank seien und er mit Geisteskrankheit 
erblich belastet sei. 

Ueber die vorstehenden Behauptungen der Klä¬ 
gerin hat nach Maassgabe des Beweisbeschlusses vom 
24. Juni 1901 Beweisaufnahme stattgefunden durch 
Vernehmung der vorgeschlagenen Zeugen, welche im 
Wesentlichen die Behauptungen der Klägerin bestätigt 
haben. 

Wegen des näheren Inhalts der Zeugenaussagen 
wird auf die protocollarischen Feststellungen des Amts¬ 
gerichts B. vom 17. September und 22. October iqoi, 
des Amtsgerichts L. vom 2. October 1901, des be¬ 
auftragten Richters des Berufungsgerichts vom 2. No¬ 
vember 1901 Bezug genommen. Dr. B. hat insbe¬ 
sondere bestätigt, dass er eine Schwester des Beklagten, 
Frau B., längere Zeit an ausgesprochener Geisteskrank¬ 
heit behandelt habe, diese auch später in die Irren¬ 
anstalt A. gebracht worden sei, dass er ferner bei der 
ärztlichen Behandlung der Frau B. erfahren habe, 
dass ein in Berlin lebender Bruder ein Trunkenbold 
und zu Gewalttätigkeiten geneigter Mensch sei, end¬ 
lich dass der Vater des Beklagten im Rufe eines sehr 
jähzornigen Mannes gestanden habe, während die 
Mutter eine Trinkerin gewesen sei. 

Dr. B. gelangt hiernach zu der wissenschaftlichen 
Ueberzeugung, es bestehe ein hoher Grad von Wahr¬ 
scheinlichkeit dafür, dass der Beklagte mit der Neigung 
zur Geisteskrankheit erblich belastet sei. 

Demnächst ist der Director Dr. S. nochmals als 
Sachverständiger eidlich vernommen worden und hat 
unter ausdrücklicher Bezugnahme auf sein erstinstanz¬ 
liches Gutachten hinsichtlich der Antecedentien, in 
welchem er sich dem oben wiedergegebenen Gutachten 
des Dr. F. anschliesst und seine in Gemeinschaft mit 
Dr. L. in der K.'ger Entmündigungssache abgegebenen 
Gutachten, deren wesentlicher Inhalt bereits dargestellt 
ist, aufrecht erhält. Folgendes erklärt: 

Die Krankheit des Beklagten habe in jüngster 
Zeit geringe, aber deutlich erkennbare Fortschritte 
gemacht; insbesondere trete die Sprachstörung neuer¬ 
dings stärker und deutlicher hervor. Daraus müsse 
der Schluss gezogen werden, dass das der Geistes¬ 
krankheit zu Grunde liegende schleichende Leiden 


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448 


des Gehirns und seiner Häute an Ausdehnung und 
Intensität zugenommen habe. Nach den bestehenden 
Erfahrungen sei daher bei Lage des Falls eine Heilung 
oder wesentliche Besserung der Geisteskrankheit des 
B. ausgeschlossen. 

Dem Beklagten fehle das Verständniss für seine 
Lage und seine Pflichten der Ehefrau gegenüber und, 
wenn seine Frau auf geistige Mitarbeit und gemein¬ 
same geistige Thätigkeit rechne, so würde sie ver¬ 
gebens rechnen. 

Der eigentliche Zweck des Briefes, in dem Be¬ 
klagter seiner Frau zum Geburtstage gratulirt habe, 
sei in erster Linie die Wiedererlangung der Freiheit, 
— in zweiter Linie die Erlangung von Genussmitteln 
resp. der dazu nothwendigen Gelder gewesen. 

Für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse 
hätten auch geistig tief stehende Personen oft ein 
erhebliches Verständniss. Das Bewusstsein gemein¬ 
schaftlich bestehender Interessen fehle dem Beklagten. 

In Bezug auf die Scheidung habe Beklagter seine 
Ansicht plötzlich geändert; er wolle jetzt auch ge¬ 
schieden sein, — mit der Motivirung, dass seine Frau 
ihn zu Unrecht in die Irrenanstalt gebracht und immer 
vernachlässigt habe. 

Ersteres sei unrichtig, letzteres nur in beschränktem 
Maasse richtig. 

Dass die Frau den Beklagten nicht besuchte, sei 
begreiflich, da die unausbleiblichen Eindrücke und 
heftigen Scenen das Befinden der äusserst nervösen 
Frau ungünstig beeinflussten. 

Die Wiederkehr des Bewusstseins der gemein¬ 
schaftlich bestehenden Interessen sei gleichfalls aus¬ 
geschlossen. 

Das Beweisergebniss ist vorgetragen worden und 
war hiernach, wie geschehen zu erkennen. 

E n tsch ei d un gs g r ü n d e. 

Bei Feststellung des Grades, welchen die Geistes¬ 
krankheit des Beklagten erreicht hat, darf nicht blos 
das gegenwärtige, äussere Verhalten des Beklagten in 
Betracht gezogen werden, wie es sich unter dem Ein¬ 
fluss des längeren Aufenthaltes in der Irrenanstalt 
entwickelt, da das behagliche Leben in der Anstalt 
das Befinden des Kranken günstig beeinflusst, in der 
Anstalt auch wenig Anreiz und Gelegenheit zu augen¬ 
fälligen Excessen gegeben ist. 

Das Verhalten des Beklagten ausserhalb der Irren¬ 
anstalt war, wie auf Grund der Aussagen der ver¬ 
nommenen Zeugen als erwiesen anzusehen ist, ein 
derartiges, dass er trotz wiederholter Beurlaubungen 
immer wieder in die Anstalt zurückgebracht werden 
musste. 


[Nr. 40. 


Auf Grund der Bekundungen der Zeugen T. und 
Wittwe K. muss für erwiesen angesehen werden, dass 
Beklagter unter dem Einfluss seiner geistigen Erkrankung 
eine Scheune mit Vorräthen vorsätzlich in Brand ge¬ 
setzt hat. 

Die Aussage des Fleischers B. ergiebt, dass Be¬ 
klagter, während er aus der Irrenanstalt beurlaubt 
war, wiederholt Geld gestohlen hat. 

Aus der Bekundung der Zeugin N. geht hervor, 
dass Beklagter die Klägerin vielfach misshandelt hat. 

Nach der T.’schen Aussage hat Beklagter in un¬ 
sinniger Weise gcwirthschaftet, in Abwesenheit seiner 
Frau alles Vieh geschlachtet, — sämmtliches lebende 
und todte Inventar verkauft. 

Die Zeugin H. hat glaubhaft erfahren, dass Be¬ 
klagter einem Fräulein einen Heirathsantrag gemacht 
hat. 

Das gesammte Verhalten des Beklagten, so lange 
er in Freiheit war, war ein derartiges, dass Klägerin 
damals zu verschiedenen Zeugen geäussert hat, sic 
habe Angst, mit ihrem Manne zusammen zu leben, 
„er könne sic alle in der Nacht abschlachten“. 

Die Klägerin hat offenbar in Folge der durch 
das Zusammenleben mit dem Beklagten veranlassten 
häufigen Geinüthsbewegungen Sprachstörungen erlitten 
und eine Zeit lang gestottert. 

Beklagter befindet sich jetzt seit Juni 1893 dauernd 
in der Irrenanstalt Kürtau. Nach dem erstinstanzlichen 
Gutachten des Dr. S. war seit jener Zeit eine wesent¬ 
liche Veränderung in dem Befinden des Beklagten 
nicht eingetreten; die Lähmungserscheinungen waren 
sogar „theils ganz verschwunden, theils erheblich zurück¬ 
gegangen“. 

Ö o O 

Nach dem letzten S.’schcn Gutachten tritt aber 
jetzt die Sprachstörung wieder stärker und deutlicher 
hervor und ist hiernach wieder eine Zunahme der 
Gehirnkrankheit des Beklagten anzunehmen. Der 
gesammte Zustand des Beklagten ist daher gegen¬ 
wärtig als ein solcher anzusehen, dass dem Beklagten 
das Verständniss für das sittliche Wesen der Ehe 
abhanden gekommen ist, —- dass ihm das Bewusstsein 
der mit der Ehe verknüpften sittlichen Reihte und 
Pflichten fehlt. 

Der Brief des Beklagten, in welchem er seiner 
Frau zum Geburtstag gratulirt, ist wesentlich durch 
das Bestreben veranlasst, hierdurch Genussmittel zu 
erlangen und steht daher den vorstehenden Fest¬ 
stellungen nicht entgegen. 

Nach dem aus dem ärztlichen Gutachten ersicht¬ 
lichen Character der Krankheit und ihrer langen 
Dauer, der ständigen, wenn auch langsamen Ver¬ 
schlimmerung, der durch dieselbe verursachten Zer- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


449 


1903.] 


Störung der sittlichen und intellectuellen Urtheilskraft 
des Beklagten muss daher festgestellt werden, dass 
die Krankheit des Beklagten einen solchen Grad 
erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen 
den Parteien aufgehoben ist (cfr. Jur. Wochenschrift 
1901 S. 279). 

Da das Leiden des Beklagten, hervorgerufen durch 
eine erbliche Belastung mit der Neigung zu Gehirn¬ 
krankheiten, mit anatomischen Veränderungen eines 
Theils der Gehimsubstanz verknüpft ist und in den 
mehr als zwölf Jahren seines Bestehens, wenn auch 
schleichend, Fortschritte gemacht hat, tritt der Senat 


M i t t h e i 

— Psychiatrischer Verein zu Berlin. Sitzung 
vom 13. December 1902. Der Vorsitzende, Herr 
Moeli, widmet bei Beginn der Sitzung den verstor¬ 
benen Mitgliedern Dr. Kaplan-Herzberge, Sanitätsrath 
Dr. Wulffert-Berlin und Geheimen Sanitätsrath Dr. 
Fränkel-Dessau einen ehrenden Nachruf. 

Herr Juliusburger berichtet alsdann über eine 
06 jährige Patientin, welche hereditär belastet, seit 
dem 15. Lebensjahr an Krampfanfällen litt und welche 
jetzt das Svmptomenbild der originären Paranoia dar¬ 
bot. Dabei bestand ein retrospectiver Beziehungs¬ 
wahn, welcher sich nicht an wirklich Erlebtes an- 
knüpfte, sondern an Confabulationen. 

Herr Boedeker besprach einen schweren Nach¬ 
theil, welcher durch die behördliche Verfügung seiner 
Anstalt zugefügt werde, dass freiwillige Pensionäre 
nur in ganz bestimmten Räumen des Hauses unter¬ 
gebracht werden dürfen. Die Unzweckmässigkeit einer 
solchen Bestimmung bedarf keiner weiteren Be¬ 
sprechung an dieser Stelle. In der sich anschliessenden 
Erörterung berichteten drei Besitzer grösserer Privat- 
anstaltcn, dass für ihre Anstalten eine solche Ein¬ 
schränkung nicht bestände. 

Herr Locwcnthal bespricht im Anschluss an einen 
Specialfall die ministerielle Anordnung, dass bei ge¬ 
richtlicher Ablehnung der Entmündigung bezw. bei 
Aufhebung der ausgesprochenen Entmündigung die 
Entlassung aus der geschlossenen Anstalt eintreten 
muss. Da bei bestellender Geisteskrankheit ganz be¬ 
stimmte Voraussetzungen bestehen müssen, um die 
Entmündigung auszusprechen, so fehlt thatsächlich 
ein innerer Zusammenhang, um die Entlassung in 
solchen Fällen zu rechtfertigen. Zu erinnern ist an 
Alkoholiker, die sich häuhg in der Anstalt schnell 
bessern, an Melancholiker, bei denen die Entmün¬ 
digung häufig nicht ausgesprochen werden kann. In 
der Discussion weist Moeli auf den Rechtsweg in 
solchen Fällen hin, indem einmal im Wege der Be¬ 
schwerde der Beschluss angefochten werden kann, 
oder der Staatsanwalt von neuem anzurufen ist. 

Guck räth, bei zweifelhaften Fällen solle der Sach¬ 
verständige das Verfahren auf 6 Monate aussetzen 

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dem Gutachten des Sachverständigen auch darin bei, 
dass es nach den bestehenden Erfahrungen als un¬ 
heilbar anzusehen ist. 

Daraus folgt, dass auch jede Aussicht auf Wieder¬ 
herstellung der durch die Krankheit aufgehobenen 
geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Die Voraus¬ 
setzungen der Scheidung, welche § 1569 B. G.-B. 
erfordert, liegen somit vor. 

Demnach war, unter Abänderung der Vorent¬ 
scheidung, wie geschehen, zu erkennen. 

Die Entscheidung des Kostenpunkts beruht auf 

§ 19 C.-P.-O. 


1 u n g e n. 

lassen. Es trete dann auch schon eine vorläufige Vor¬ 
mundschaft ein und die Entlassung aus der Anstalt 
sei nicht nöthig. 

Herr Reich-Herzberge hat 44800 Anfälle bei 
hunderten von Epileptikern in der Anstalt Wuhlgartcn 
nach verschiedenen Richtungen gruppirt und die 
Häufigkeit der Anfälle mit den meteorologischen Fac- 
toren im Verlaufe von 4 Jahren verglichen. In Be¬ 
tracht wurden Temperatur, Barometerstand, Bewölkung, 
relative Feuchtigkeit, Niederschläge, Gewitter gezogen. 
Die Zusammenstellung ergab, dass absolut kein Ein¬ 
fluss der Witterungsverhältnisse auf die Häufigkeit der 
Anfälle zu finden war. Waldschmidt machte darauf 
aufmerksam, dass er früher Gelegenheit gehabt habe, 
zu beobachten, dass eine Mehrung der Anfälle auch 
von Blutungen bei starker negativer Electrizität der 
Luft stattgefunden habe. Ascher. 

— Stuttgart. Zum Fall Münch. Dem wegen 
seiner Processe und Excessc und wegen des merk¬ 
würdigen Streits über seinen Geisteszustand in den 
letzten Jahren vielgenannten Freiherrn Oskar v. Münch 
(früher Mitglied des Reichstags) ist eine angenehme 
Weihnachtsbotschaft zu theil geworden. Der heutige 
„Staatsanzeiger“ verkündet nämlich: Die polizeiliche 
Einweisung des Freiherrn v. Münch in eine württem- 
bergische Irrenanstalt ist nunmehr durch Erlass der 
k. Kreisregierung in Reutlingen aufgehoben worden, 
nachdem die frühere Anordnung seiner Begleitung 
durch einen Wärter bei seinem Aufenthalt in Württem¬ 
berg schon seit einigen Monaten in Wegfall gekommen 
war und sein Verhalten in neuerer Zeit keinen Grund 
mein zu der Befürchtung einer gemeingefährlichen 
Betätigung seiner Persönlichkeit gegeben hat. 

— Am 24. December waren 25 Jahre verflossen, 
seitdem der bekannte Nervenarzt Dr. Ludwig Hirt 
zum ausserordentlichen Professor an der medicinischen 
Facultät der hiesigen Universität ernannt wurde. Be¬ 
vor sich Dr. Ludwig Hirt der academischen Lehr¬ 
tätigkeit zuwandte, war er bereits längere Zeit als 
practischer Arzt tätig gewesen. Nach seiner am 
3. Juni 1871 erfolgten Habilitation beschäftigte er sich 

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450 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40. 


zunächst ausschliesslich mit Hygiene. Seine Vorles¬ 
ungen, die vorzugsweise für Studirende aller Fakul¬ 
täten gehalten wurden, erfreuten sich zu einer Zeit, 
wo die Gesundheitspflege überhaupt noch nicht als 
selbständige Wissenschaft anerkannt wurde, eines 
ausserordentlichen Zuspruchs. Während 15 Jahren 
war Hirt Commissarius in der medieinischen Staats¬ 
prüfung für Aerzte. Die Publication eines grossen 
Werkes über die Krankheiten der Arbeiter, welches 
1871 — 1878 in 4 Bänden erschien, wurde von der 
Kritik als bahnbrechend bezeichnet und machte den 
Verfasser zum Hauptbegründer aller modernen, auf 
den Arbeiterschulz hinzielenden Bestrebungen. Diesem 
Werke verdankte Hirt, nachdem sich eine Berufung 
als Ordinarius nach Utrecht zerschlagen hatte, seine 
frühe Ernennung zum ausserordentlichen Professor. 
Seit anfang der 80er Jahre wandte sich Hirt dem 
Gebiete der Neurologie zu und veröffentlichte ausser 
zahlreichen kleineren Abhandlungen ein werthvolles 
Handbuch der „Pathologie und Therapie der 
Nervenkrankheiten“, welches in Deutschland in 
mehreren Auflagen erschien und gleichzeitig ins Fran¬ 
zösische, Englische und Italienische übersetzt wurde. 
Vom Magistrat schon vor 17 Jahren zum dirigirenden 
Arzte der städtischen Armenhäuser erwählt, bekleidet 
der Jubilar noch heute dieses Amt und vermag seiner 
ausgedehnten ärztlichen Thätigkeit nach allen Richt¬ 
ungen hin noch in erfreulicher Weise Rechnung zu 
tragen. 

— II. Landes -Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc- 

tober 1902, Nachm.) 

Vorsitzende: L. Tolle, später A. Rozsaffy. 

Schriftführer: E. Nemeth, S. T e k e p d y. 

Der Vorsitzende meldet, dass Karl Lechner im 
Anschlüsse an seinen heute Vormittags gehaltenen Vor¬ 
trag dem Landes-Congresse der Irrenärzte folgenden 
Antrag vorlegt: 

Der Congress der Irrenärzte entsende eine Com¬ 
mission , deren Aufgabe es sei, eine gesellschaftliche 
Action gegen die in meiner Arbeit geschilderten 
socialen Uebel einzuleiten, schon bestehende, der¬ 
artige Bestrebungen zu unterstützen und in allen 
derartigen Institutionen dem sachverständigen Arzte 
den nöthigen Einfluss zu sichern. 

Der Congress nimmt den Antrag an. 

Tagesordnung. 

3. Die Unterbringung irrer Verbrecher. 

Ref. Emst Emil Moravcsik. 

Die Geisteskranken, welche mit der gesellschaft¬ 
lichen Ordnung in Conflict gerathen, müssen in zwei 
Gruppen unterschieden werden: 1. Verbrecherische 
Irren (criminels alienes) und 2. irre Verbrecher (alienes 
criminels). Nach der detaillirten Ausführung dieses 
Satzes schildert M. die verschiedenen Methoden, 
Welche in den verschiedenen Ländern bei der Unter* 
bringung von irren Verbrechern (geisteskrank gewordene 
Verbrecher) gebräuchlich sind. Diese Geisteskranken 
werden untergebracht: 1. in eigenen Central-Anstalten, 
2. in solchen Irrenanstalten, in welchen auch andere 
Geisteskranke aufgenommen werden, a) unter diese 


Kranken vertheilt, b) von diesen Kranken abgesondert 
auf eigenen Abtheilungen oder in eigenen Gebäuden; 
3. in Adnexen der verschiedenen Gefangenenhäuser. 
Selbst diejenigen, welche leugnen, dass eine strenge 
Absonderung von irren Verbrechern unbedingt notli- 
wendig ist, müssen — w’enn auch in einer anderen 
Form — die Nothw'endigkeit der Separation aner¬ 
kennen; Moravcsik ist der Ansicht, dass die neben 
Gefangenenhäusern errichteten, allen psychiatrischen 
Anforderungen entsprechenden Beobachtungs- und 
Irrenheilanstalten den Vorzug vor allen anderen An¬ 
stalten verdienen. Der Leiter dieser Anstalten muss 
natürlich ein Psychiater sein und soll in seiner Fach- 
thätigkeit vollkommen selbständig und unbeeinflusst 
bleiben. In solche Anstalten sollen sowohl Unter¬ 
suchungs-Häftlinge behufs Untersuchung ihres Geistes¬ 
zustandes als schon verurtheilte irre Verbrecher gebracht 
werden. Letztere sollen so lange hier bleiben, bis sie 
gesund gew'orden sind oder bis ihre Strafzeit abge¬ 
laufen ist. Der Vortragende giebt hierauf eine ein¬ 
gehende Schilderung der Beobachtungs- und Irren¬ 
heilanstalt, welche neben dem Budapester königl. 
Sammelgefängnisse errichtet wurde. Er schildert die 
Verhältnisse, die Einrichtung, die Organisation dieser 
Anstalt und äussert sich im Tone der wärmsten An¬ 
erkennung über ihre Thätigkeit. 

D isc ussion. 

Szigeti glaubt, dass besondere Irrenanstalten 
dennoch angezeigt wären, denn in solchen kämen 
Verdächtigungen des Gutachtens der Sachverständigen 
seitens einzelner Richter weniger zur Geltung. Der 
heutige administrative Vorgang, demgemäss die ver¬ 
brecherischen Irren im Irrenhause beobachtet werden, 
hierauf bis zur richterlichen Constatirung ihrer Geistes¬ 
krankheit wieder zurück ins Gefängniss wandern, um 
von dort nachher wieder ins Irrenhaus zurückzukehren, 
ist ein ganz unzweckmässiger; es wäre viel angezeigter 
und einfacher, die Kranken gleich in der Beobachtungs- 
Anstalt zu belassen. 

Mulnar bestätigt auf Grund eigener Erfahrungen 
alles, w r as Szigeti vorbrachte. 

Moravcsik: Dass ein in der Anstalt beobachtetes 
Individuum in dieser Anstalt nicht zurückgehalten 
werden kann, beruht auf den bezüglichen Verfügungen 
der Strafprocess - Ordnung und einer diesbezüglichen 
Ministerial-Verordnung, nach welcher die Dauer der 
Beobachtung die Zeit von zwei Monaten nicht über¬ 
schreiten darf. Diese Verfügung hat ihre guten 
Gründe. Gelangt ein Individuum unter Beobachtung 
und constatirt der Arzt die Geisteskrankheit, so ist 
der Gerichtshof nicht gezwungen, das Gutachten des 
Arztes zu acceptiren; der Betreffende wird nur von 
dem Augenblicke an als geisteskrank betrachtet, in 
welchem seine Geisteskrankheit richterlich festgestellt 
wurde. Die Ministerial - Verordnung war übrigens so 
vorsichtig, auch an solche Fälle zu denken, in welchen 
die Geisteskrankheit prägnant und in störender Form 
zum Ausdrucke kommt; in solchen Fällen verständigt 
die Leitung der Anstalt den Gerichtshof und der 
Kranke bleibt, so lange der Richter keine anderweitige 
Verfügung trifft, in der Anstalt. M. selbst wünscht, 


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»9°3-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


45 i 


dass irre Verbrecher und habituelle Uebelthäter im 
Institute verbleiben. 

4. Der Rechtsschutz der Geisteskranken. 

Ref. Eugen Konrad. 

Der Vortragende beschäftigt sich hauptsächlich mit 
dem Rechtsschutze der persönlichen Freiheit der 
Geisteskranken, mit den eherechtlichen Fragen der¬ 
selben und mit den einzelnen Graden der rechtlichen 
Handelns- und Entschliessungsfähigkeit der Irren. Die 
Grundlage dieser Ausführungen bildet der Entwurf 
des ungarischen allgemeinen Gesetzbuches über das 
bürgerliche Recht. 

Vom Standpunkte des Schutzes der persönlichen 
Freiheit aus genügt es nicht, dass die Geisteskrankheit 
des in eine Irrenanstalt aufgenommenen Kranken 
richterlich constatirt werde, sondern es ist unbedingt 
nothwendig, dass die Untersuchung auch darauf aus¬ 
gedehnt werde, ob die Zurückhaltung des Kranken 
in der Anstalt unbedingt nothwendig ist. Ja es wäre 
sogar zu fordern, dass der Gerichtshof auch auf die 
zeitliche Dauer und Wirkung seines Urtheiles bedacht 
sei, die Irrenanstalt durch den Rechtsspruch also 
eigentlich nur dazu Berechtigung erhielt, den Kranken 
je nach seinem Zustande eine bestimmte Zeit hindurch 
in der Anstalt zurückzuhalten. Die practische Aus¬ 
führung ist auf Grund des neuen ungarischen bürger¬ 
lichen Gesetzbuches ganz gut möglich. Das Bestreben 
des neuen bürgerlichen Gesetzbuches, dem Geistes¬ 
kranken Rechte zu erhalten und zu retten und Grade 
der privatrechtlichen Entschliessungs- Fähigkeit des¬ 
selben festzustellen, ist wärmstens zu begrüssen. Die 
aufgestellten Symptomencomplexe und Typen halten 
jedoch der psychiatrischen Prüfung nicht Stand und 
werden den Sachverständigen, falls die Bedeutung der 
einzelnen Symptome nicht genauer fixirt wird, noch 
manche Schwierigkeit bereiten. 

Unser Eherecht schiesst im Rechtsschutze der 
Geisteskranken weit über das Ziel hinaus, denn es 
erkennt die Geisteskrankheit nicht als Scheidungsgrund 
an. Der deutsche Standpunkt, welcher überall dort, 
wo seelische Gemeinschaft unmöglich geworden ist, 
die Scheidung gestattet, ist gerechter und entspricht 
auch viel besser den practischen Bedürfnissen. Unser 
heutiges psychiatrisches Fachwissen gestattet uns po¬ 
sitiv festzustellen, ob seelische Gemeinschaft mit dem 
Kranken oder ob Heilung desselben noch möglich 
ist oder nicht. 

Discussion. 

Ministerial-Secretär v. S z a s z y ersucht, dass der 
Vortrag in toto der Commission, welche den Entwmrf 
des bürgerlichen Gesetzbuches vorbereitet, zu Studien- 
zwecken überlassen werde. In merito bemerkt Sz. 
nur, dass zwischen der Begründung des § 7 und § 
916 und zwischen den folgenden §§ kein Widerspruch 
besteht. Nach § 7 ist sowohl der Geisteskranke als 
der Geistesschwache unter Vormundschaft zu stellen; 
§ 929 fordert, dass bezüglich der Fähigkeit, einen 
rechtsgültigen Contract abzuschliessen, zwischen Geistes¬ 
kranken und Geistesschwachen graduelle Unterschiede 
gemacht werden. 

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5. Karl Decsi: Die Wärterfrage. 

Decsi schildert jene gesteigerten Anforderungen, 
welche die Errungenschaften der modernen Psychiatrie 
und die freie Behandlung der Geisteskranken an 
Körper und Geist der Irren Wärter stellen. Dennoch 
werden diese Wärter nicht genügend entlohnt; ihre 
Wohnung ist schlecht, sie werden schlecht bezahlt; 
sie können keine Familie gründen, denn ihre Zukunft 
ist eine ungewisse. Die Folge dieser Zustände ist 
der stete Wechsel im Personale der W'ärter und eine 
hochgradige Verschlechterung der Qualität des Warte¬ 
personals ; die Wärtermisere wird durch statistische 
Daten, welche sich auf vaterländische und ausländische 
Zustände beziehen, bewiesen. Hierauf folgt eine Be¬ 
sprechung der Methoden, durch welche diese Uebel- 
stände abzuschaffen wären. Empfohlen wird eine 
Verbesserung der Gehalts- und Wohnungszustände, 
eine Regelung der Pensionsfähigkeit, die Colonisirung 
der Wärter, damit dieselben Familien gründen und 
erhalten können. Man sichere die Zukunft des 
Wärters und gebe ihm Gelegenheit, durch Curse und 
systematische Vorträge sein Fachwissen zu erweitern. 
Nach einer kritischen Betrachtung unserer Zustände 
empfiehlt Decsi, der Congress möge zum Studium der 
heimischen Verhältnisse auf diesem Gebiete eine 
eigene Commission entsenden. 

Discussion: 

O I ä h : Er habe vor einigen Jahren wiederholt 
versucht, durch Gehaltsverbesserung, durch systema¬ 
tischen Unterricht und Anstellung intelligenterer In¬ 
dividuen ein besseres Wartepersonal zu erhalten; doch 
blieben diese Versuche erfolglos. Die vorzüglichsten 
Wärter sind die barmherzigen Schwestern. Für den 
Wärter ist die Möglichkeit, eine Familie zi* gründen, 
bei uns nur auf der Abtheilung Prof. Moravcsik’s 
gegeben. Auch diese Einrichtung erwies sich als un- 
zweckmässig. 

Salgo: Der systematische Unterricht des Warte¬ 
personales hat die daran geknüpften Erwartungen nicht 
erfüllt. Das höhere Gehalt und die Pensionsfähigkeit 
haben zwar den Erfolg, dass die Wärter im Dienste 
verbleiben, doch ist es durchaus kein Vortheil, ein im 
langjährigen Dienste schwach und apathisch gewor¬ 
denes Wartepersonal zu besitzen. Zweckmässiger 
wäre es, dem Irrenw'ärter nach einer gewissen Dienst¬ 
zeit eine Abfindungssumme zu geben, w r omit er ein 
neues Leben beginnen könnte. Am zw'eckmässigsten 
w'äre es, anstatt der bisher üblichen 24 stündigen 
Dienstzeit eine Dienstzeit von 8 Stunden zu systemi- 
siren. 

Molnar weistauf die Einrichtung unserer ältesten 
Irrenheilanstalt, der Schwarzer’schen Privat-Irrenheil- 
anstalt hin. In derselben sind seit 25—30 Jahren 
gut versorgte, im Alter pensionirte Wärter angestellt, 
deren Dienst in Folge der weisen Zeiteintheilung ein 
verhältnissmässig leichter ist. 

Fischer bemerkt gegenüber den Ausführungen 
Salgo’s, dass der bessere Unterricht des Warteperso¬ 
nales eine elementare Notliwendigkeit ist. Progressive 
Gehaltsaufbesserung und zweckmässige Zeiteintheilung 
wären ebenfalls von bestem Erfolge begleitet. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 . 


Telegdi wünscht, dass gesetzlich oder auf dem 
Verordnungswege festgestellt werde, welches Maximum 
von Kranken einem Wärter zugewiesen werden darf. 
Wenn die Zahl der Kranken ansteigt, ist es heute nur 
auf dem Wege einer langwierigen Procedur möglich, 
eine Vermehrung des Wartepersonales durchzusetzen. 

Epstein: Es handelt sich darum, dass wir ein 
tüchtigeres Wartepersonal erhalten; das werden wir 
jedoch durch Verbesserung der Lage dieser Leute, 
durch Gehaltsaufbesserung, Pension u. s. w. allein nicht 
erreichen können. Zwei Dinge kommen hier in Be¬ 
tracht. 

Erstens soll die Diensteintheilung — w r ie das 
Salgo schon bemerkte — eine solche sein, dass der 
Wärter seinem Dienste gewissenhaft nachzukommen 
im Stande sei und zweitens werde er von solchen 
Arbeiten befreit, welche nicht in den Wirkungskreis 
eines Krankenwärters gehören. Solche Arbeiten sind 
z. B. Aufreiben des Bodens, Reinigung des Zimmers 
u. dgl. m. Für diese Arbeiten müssten eigene Leute 
angestellt werden. 

Raisz: Die Erfahrung lehrt, dass die Lösung der 
Wärterfrage von zwei Dingen abhängt. Erstens 
müssen wir unser Wartepersonal aus einer gesell¬ 
schaftlich viel höher stehenden Klasse nehmen, als 
wir das bisher gethan haben; zweitens müssen wir 
Wärter in genügend grosser Zahl anstellen und sie 
ordentlich bezahlen. In letzter Zeit besserten sich 
durch die Anstellung der barmherzigen Schwestern 
die Zustände ein wenig, doch sind auch diese nur 
von relativ besserer Brauchbarkeit. Es ist wichtig, 
dass der Wärter von echter Menschenliebe durch¬ 
drungen sei. Wir müssen bestrebt sein, Individuen, 
welche auf einem höheren gesellschaftlichen Niveau 
stehen, für den Beruf der Irrenwärter zu gewinnen. 

Decsi dankt für die Bemerkungen der Vorredner, 
da dieselben seine eigenen Ausführungen ergänzen 
und bereichern. Die Verhältnisse in der Schwartzcr’- 
schen Heilanstalt sind mit den Verhältnissen in un¬ 
seren öffentlichen Anstalten überhaupt nicht zu ver¬ 
gleichen. Während wir dort gute Verhältnisse finden, 
sind hier die Verhältnisse die denkbar schlechtesten. 

III. Sitzung vom 2 7. Octobcr 1902, Vormittag. 

Vorsitzender : Julius R i c k 1 , später Eng. Konrad, 
Franz Bir in ger. Schriftführer: Edmund N cm e th, 
G. Vernb ac h. 

6. Die sexuellen Per v er si tä teil vom psy¬ 
chiatrischen und strafrechtlichen Gesichts¬ 
punkte. 

a) Ref. Jacob Salgb. 

Die perversen Acusserungcn der Geschlechtslust 
sind beiläufig ebenso alt, wie der Geschlechtstrieb 
selbst. Vollkommen vertrauenswürdige Documente 
beweisen, dass es kaum ein Zeitalter gab, welchem die 
sexuellen Perversitäten unbekannt geblieben wären. 
Diese schriftlichen Ueberlieferungen beweisen, dass die 
Perversitäten nicht vielleicht eine Folge der heutigen 
decadenten Weltanschauung und der aus dieser her¬ 
vorgehenden Degeneration des Nervensystems sind, 
wie das manche Autoren behaupten und dass sie 


auch nicht dem Mangel an Cultur und geistiger Ent¬ 
wickelung zuzuschreiben sind. Wir wissen, dass in 
Rom und in Griechenland zur Zeit der höchsten 
Blüthe der Cultur die sexuellen Perversitäten eben 
so sehr verbreitet waren, wie bei den Indiern, bei 
den allerzurückgebliebensten afrikanischen Stämmen 
und anderen ganz ungebildeten orientalischen Völker¬ 
schaften , welche in diesen Perversitäten nichts 
Dehonestiiendes, Unschickliches erblickten. Erst seit¬ 
dem man begann, sich wenigstens mit dem Anscheine 
des wissenschaftlichen Ernstes mit dieser Frage zu 
befassen, ei hielt sie Bürgerrecht in ernsten wissen¬ 
schaftlichen Corporationen und bildet den Gegenstand 
intensiver Forschung auf ärztlichem und juridischem 
Gebiete. 

Ich werde mich natürlich hauptsächlich mit dem 
ärztlichen Theile der Frage befassen, die strafrecht¬ 
lichen Beziehungen meines Themas aber eben nur 
berühren. 

Wir wissen, dass in neuerer Zeit einige Fachleute 
die sexuellen Perversitäten unter dem Namen der 
Psychopathia sexualis zusammenfassten. Sie wollten 
damit andeuten, dass alle diese Perversitäten einem 
pathologischen Geisteszustände entspringen. Zur 
Unterstützung dieser Auffassung wurde darauf hinge¬ 
wiesen, dass die sexuellen Perversitäten gewöhnlich 
bei solchen Menschen auftreten, welche auch andere 
körperliche und geistige Abnormitäten, sogenannte 
„Stigmata“ aufzuweisen haben, welche unter gewissen 
hereditären Einflüssen leiden; dass sie auch in diesen 
Fällen erst dann auftreten, wenn schon eine gewisse 
Degeneration des Nervensystems und der psychischen 
Functionen vorhanden ist und dass schliesslich ein¬ 
zelne Arten der Perversität, namentlich die Homo¬ 
sexualität den Folgezustand einer angeborenen, also 
einem Entwicklungsfehler entspringenden Inversion 
der Geschlechtslust darstellen. 

Die ethnographischen und andere litterarische 
Beweise unterstützen jedoch diese Annahme nicht. 
Ich erwähnte schon vorher, dass die Homosexualität 
zu jeder Zeit, in jedem Stadium der Entwickelung und 
Cultur und an jedem Orte der Erde vorkam und vor¬ 
kommt und dass wir zwischen Homosexuellen häufig 
solchen Individuen begegnen, welche sonst kein Zeichen 
irgendwelcher Degeneration an sich tragen. Nichts 
beweist aber klarer und unwiderleglicher, dass die 
Homosexualität nicht als angeborene Inversion auf¬ 
zufassen ist, als der Umstand, dass homosexuelle 
Umtriebe niemals, weder bei einzelnen Individuen, 
noch bei ganzen Völkern das normale heterosexuelle 
Leben ausschlossen. Daraus folgt, dass sowohl die 
Homosexualität als auch manche andere Perversität 
nichts anderes, als der von Hoche zuerst besprochene 
„Reizhunger“, welcher aus den verschiedensten äusseren 
Ursachen entstehen kann, zur Grundlage hat. Er 
kann entstehen, weil die Gelegenheit zur normalen 
Befriedigung der Geschlechtslust fehlt, oder auch da¬ 
rum, weil der gewohnte normale Geschlechtsact nicht 
mehr im Stande ist, die gewohnte Sensation hervor¬ 
zurufen. Und wir wissen sehr gut, welche Findigkeit 
der Mensch im Aufsuchen und im Steigern des Ver- 


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1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


453 


gnügens, im Hervorrufen angenehmer Sensationen im 
Allgemeinen und insbesondere auf sexuellem Gebiete 
besitzt, ohne dass wir dieses Bestreben als patholo¬ 
gisch betrachten könnten. Nur die Homosexuellen 
suchen zu beweisen, dass die Homosexualität ange¬ 
boren ist, dass sie unter dem Zwange ihres perversen 
Triebes stehen und sich vergeblich gegen denselben 
wehren. Wir kennen aber die alte Sentenz: „Priapus 
ist der Gott der Lüge“ und wissen, dass auf keinem 
anderen Gebiete menschlichen Handelns so viel 
Selbstbetrug, so viel Täuschung Anderer vorkommt, 
als hier, und werden also auf die Bekenntnisse dieser 
Perversen kein besonderes Gewicht legen. 

Was jene körperlichen und geistigen Degenera¬ 
tions-Symptome anbelangt, welche bei perversen In¬ 
dividuen so häufig zu finden sind, so kennen wir 
deren pathologischen Werth überhaupt nicht. Wir 
haben keinen einzigen Beweis dafür, dass diese so¬ 
genannten Stigmata mit Abnormitäten des Nerven¬ 
systems Zusammenhängen und als Folgezustände dieser 
Abnormitäten aufzufassen sind. 

Damit will ich nicht etwa gesagt haben, dass bei 
Geisteskranken überhaupt keine sexuellen Perversitäten 
vorkämen. Im Gegentheile. Wir wissen, dass es 
eine ganze Reihe von pathologischen Geisteszuständen 
giebt, bei welchen sexuelle Perversität ständig in der 
Reihe der Symptome zu finden ist. Ich will nur 
so viel gesagt haben, dass sexuelle Perversität für sich 
allein nicht als Geisteskrankheit zu betrachten ist, ja 
nicht einmal das pathognomonischc Symptom irgend 
einer geistigen Erkrankung darstellt. In Fällen, in 
welchen sexuelle Perversität ein Glied im Symptomen- 
complexe einer Geisteskrankheit darstellt, erkennen 
wir den pathologischen Zustand aus anderen, viel 
charactcristischeren Symptomen und nur die durch 
andere Symptome diagnosticirtc Erkrankung beweist, 
dass wir die sexuelle Perversität hier als pathologisches 
Symptom aufzufassen haben. 

(Schluss fol^t.) 


Referate. 

— La quer, lieber schwachsinnige Sch ul- 
k i n der *). 

Die Schrift stellt sich die Aufgabe, nachzuweisen, 
inwieweit die Betheiligung von practischen Aerzten 
an der Beobachtung und Versorgung von Schwach¬ 
sinnigen nothwendig und erspriesslich erscheint. Den 
ersten beiden Schuljahren fällt die erfolgreichste Auf¬ 
gabe bei der Feststellung des kindlichen Schwach¬ 
sinnigen zu, weil für die Prüfung des Geisteszustandes 
in diesem Alter die Schule den besten methodischen 
Weg abgiebt. Die Erkennung der idiotischen Gruppe 
von Schwachsinnigen gelingt dem erfahrenen Lehrer 
in den meisten Fällen auch ohne die Mitwirkung des 


*) Heft 1 des IV. Bandes der Sammlung zwangloser Ab¬ 
handlungen a. d. Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten, 
herausgeg. von Prof Dr. A. Hoche, Freiburg in Br.) Halle a S. 
1902. Verlag von Carl Marhold Preis Mk. 1,50. 


Schularztes. Die Feststellung der Imbecillität der 
Kinder erfordert ein Zusammenwirken des Arztes mit 
dem Lehrer. Die Seh- und Hörprüfung, einige Monate 
nach Beginn des Unterrichts ausgeführt, wenn ein 
Kind den Fragen eines ihm fremden Beobachters, 
Schularzt, schon folgen kann, ergiebt die zwischen 
Arzt und Lehrer zu erörternde Frage, ist das Kind 
seh- bezüglich hörschwach oder begriffsschwach ? Das 
schwachsinnige Kind ist überaus leicht zum Weinen 
geneigt, wenn es Fragen nicht beantworten kann, 
baumelt bei der Untersuchung mit den Beinen, zupft 
an der Kleidung, spielt mit den Händen und steckt 
die Finger in den Mund oder in die Nase. Auf 
Grund schulärztlicher und specialärztlicher Vorunter¬ 
suchungen an den Sinnesorganen baut sich im ersten 
Schuljahre die ärztliche Wahrscheinlichkeitsdiagnose 
„Schwachsinn“ auf. Der Arzt muss immer im Auge 
behalten, dass die Minderwertigkeit der geistigen An¬ 
lage eine besondere Behandlung nothwendig macht, 
die unabhängig von den Maassnahmen für körperliche 
Heilung und Pflege erfolgen muss. Ein Kind, welches 
nach einem Jahre, spätestens nach zwei Jahren das 
Ziel der Unterstufe der Volksschule nicht erreicht hat. 
muss als schwachsinnig angesehen werden. In der 
Vorgeschichte schwachsinniger Schulkinder verdienen 
vier Momente der erblichen Belastung eingehende 
Berücksichtigung, Tuberkulose, Alkoholismus, Lues, 
Nerven- und Geisteskrankheiten der Erzeuger, Gross¬ 
eltern und Seitenlinien. Nach der Criminalität der 
Eltern und nach Selbstmorden in der Familie muss 
man fragen. — Sobald ein Kind in eine Hilfsschule 
(nur für schwachsinnige Kinder) eingetreten ist, ist 
die Beobachtung durch Lehrer und Arzt eine wesent¬ 
lich leichtere. Eine Aussonderung anstaltsbedürftiger 
Elemente, Epileptiker, z. B., ist hier so früh wie mög¬ 
lich in die Wege zu leiten, wegen des schlimmen 
Einflusses auf die anderen Zöglinge und weil sie 
einen Hemmsc huh im Unterricht bilden. Lehrer und 
Aerzte der Hilfsschulen müssen sich mit ihren Zög¬ 
lingen so lange wie möglich beschäftigen, dürfen in 
geistiger Beziehung nicht zu viel von ihnen verlangen 
und möchten ihre Schützlinge nach der Entlassung 
aus der Schule nicht spät genug aus den Augen 
lassen. Die Neigungen der Schwachsinnigen zu al¬ 
koholischen Ausschreitungen, ihre Verführbarkeit zu 
leichtsinnigen und verbrecherischen Handlungen, zu 
geschlechtlichen Ausschweifungen (Prostitution) führen 
sie sehr bald dem Gefängniss, dem Krankenhause, (dem 
Corrcctionshause) und oft den Irrenanstalten zu. Un- 
\ersorgte und unbeaufsichtigte Schwachsinnige bilden 
geradezu einen Krebsschaden an unserem socialen 
Organismus. Der Kampf gegen die Tuberkulose ist 
aufgenommen, der Kampf gegen die venerischen 
Krankheiten soll aufgenommen werden. Und der 
Kampf gegen den Alkohol ? er ist auch aufgenommen 
(aber abseits steht ihm die Mehrzahl der Angehörigen 
des Standes, welcher vor allem dazu berufen ist, das 
Volk in gesundheitlichen Fragen aufzuklären und ihm 
Führer zu sein. Im Zeitalter der Naturwissenschaften 
dürften sich die Aerzte nicht von den Laien belehren 
lassen. Das wird sich nochmals bitter rächen). 

J. S. M as c her- Hubertusburg. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40 . 


— Möbius, Geschlecht und Krankheit*). 

1903. 

Wenn die Frage erörtert ist, wie sich die Ge¬ 
schlechter den einzelnen Krankheiten gegenüber ver¬ 
halten, dann könnte vielleicht etwas darüber zu er¬ 
fahren sein, ob es eine Langlebigkeit giebt, die dem 
weiblichen Geschlechte eingeboren wäre. Krankheiten, 
die nur dem männlichen Geschlechte eigen sind, kennt 
M. nicht, wohl aber solche (Chlorose, Osteomalacie) 
die nur Weiber befallen. Die Osteomalacie der 
Männer will M. anderen Knochenkrankheiten zu¬ 
schreiben. In gewissem Sinne seien auch hierher die 
Uterusmyome zu rechnen. Diese Erkrankungen nennt 
M. eingeschlechtige. Dann giebt es Krankheiten, 
welche vorzugsweise nur ein Geschlecht befallen. Auch 
hier sind die „weiblichen“ Krankheiten gegenüber den 
„männlichen“ (Hämophilie, primärer Muskelschwund) 
im Vorsprung. Ein massiges Uebergewicht beim 
männlichen Geschlecht haben Diabetes mellitus. Dia¬ 
betes insipidus, Gehimgesclnvülste, angeborene Herz¬ 
schwäche, Leukämie, Heufieber. Im Gegensatz dazu 
bilden die vorwiegend weiblichen Krankheiten eine 
lange Reihe, zunächst eine Anzahl von Kinderkrank¬ 
heiten (chorea Sydenhamii, Keuchhusten,umschriebener 
Gesichtsschwund, Torticollis spasticus), sodann die 
Schilddrüsenkrankheiten , jedenfalls aber Myxödem, 
Basedow. Etwa 80% der Erkrankungen an chro¬ 
nischem Gelenkrheumatismus fallen auf das weiblic he 
Geschlecht. Als eine Krankheit der Weiber gilt so¬ 
dann die Hysterie, wie schon der Name angicbt. 
Das ist sicher, dass die nicht traumatische Hvsterie 
eine weibliche Krankheit, 70° „, ist. Bei den eigent¬ 
lichen Geisteskrankheiten ist nur beim manisch-de¬ 
pressiven Irresein ein starkes Ueberwicgen des weib¬ 
lichen Geschlechts, ö6°/ 0 , erwiesen. Bei der Migräne 
ist ebenso wie bei der Hysterie der Antheil der Knaben 
nicht viel kleiner als der der Mädchen. Erst das 
reifere Alter lässt den weiblichen Antheil erheblich 
anwachsen. Bestimmte Hautkrankheiten (Erythema 
nodosum, Lupus erythematosus) sind beim weiblichen 
Geschlecht ungleich häufiger als beim männlichen. 
Auffallend ist der Antheil des weiblic hen Geschlechts 
bei Erkrankungen an alkoholischer Neuritis. Es sind 
nur wenige Krankheiten (Cholelithiasis, acute gelbe 
Leberatrophie, Wanderniere, (lastropt«>sis, Trachom, 
Thränensackeiterungen), deren Häufigkeit im weib¬ 
lichen Geschlecht den Lebensumständen zugeschrieben 
wird. Die männliche Thätigkeit verursacht viele vom 
Verkehr abhängige und auf anderen Wegen ge¬ 
hende Infectionen bei dem männlichen Geschlechte. 
Hierher sind zu rechnen Eebris recurrens, Fleckfieber, 
Typhus abdominalis, Gelbfieber, Hundswuth, Tetanus, 
Dysenterie, Ischias. Die Bestände von Nervenschwäche 
sind bei Männern häufiger als bei Weibern. Einzelne 
Hautkrankheiten (Ekcema marginatum, Pemphigus) 
sind bei Männern häufiger. Der Alkohol lässt bei 
den Männern viele Erkrankungen entstehen, welc he 
bei dem zum Glück noch in Deutschland zum grössten 
Theil an-alkoholistischen Weibern das weibliche Gc- 

*) (Heft 1 der „Beiträge zur Lehre von den Geschlechts- 
Unterschieden.“) Halle a. S. 1903, Verlag von Carl Marhold. 
— Preis Mk. 1.—, im Abonnement Mk. 0,80. 


schlecht verschonen. Dahin sind zu rechnen das Delirium 
tremens, der chronische Alkoholismus und die Schä¬ 
digungen, welche der regelmässige Genuss von Alko¬ 
hol verursacht. Gastritis chronica, Magenerweiterung, 
Lebercirrhose, Leberabscess sind vorwiegend alkoholi- 
stische Erkrankungen. Die vorzeitige Arteriosclerose 
und Atheromatose, die chronischen Nierenkrankheiten 
verschulden Alkohol und Geschlechtskrankheiten in 
gleicher Weise. An croupöser Pneumonie erkranken 
mehr Männer als Weiber. Morphinismus ist haupt¬ 
sächlich eine Männerkrankheit. Der Tripper mit 
seinen Folgekrankheiten ist „unendlich viel häufiger“ 
beim Manne als beim Weibe. Die Zahl der Männer 
bei Syphilis und syphilitischen Nachkrankheiten ist 
viel grösser als die der Weiber. Krankheiten, bei 
denen keine oder doch nur unwesentliche Verschieden¬ 
heiten bei den Geschlechtern bestehen, sind Tuber- 
culosc, Carcinom, Cholera asiaticä, Cholera nostras, 
Pest, Aussatz, Malaria, Pocken, acuter Gelenkrheuma¬ 
tismus, Masern, Scharlach, Diphtherie, Rhachitis u. s. f. 
M. fasst nun die Krankheiten zusammen und unter¬ 
scheidet solche mit natürlichem Geschlechtsunterschied 
und solche mit socialem Geschlechtsunterschied. Die 
letzteren verursachen bei Männern eine grössere Mor- 
tabilität gegenüber den Weiben\; Bacchus und Venus 
verdankt die männliche Morlabilität ihr Uebergewicht 
über die weibliche. Keine Thatsache spricht für eine 
grössere Wiederstandsfähigkeit des Weibes gegen 
Krankheiten gegenüber dem Manne. Es liegt kein 
Grund vor, dem weiblichen Geschlechte an sich eine 
eigene Langlebigkeit zuzusprechen. 

I. S: M a scher- Hubertusburg. 

— V. C o n g r c s international d’anthro- 
pologie criminelle. Amsterdam 9.— 14. Sep¬ 
tember 1901. (Fortsetzung,! 

T $ e h i s c h ( Dt »rpat): Die Verbrechertypen nach 
D os toj ew sk ij. Eine ausgezeichnete Studie, die 
sich aber nicht referiren lässt. Darnach hat Dost, 
bereits 50 Jahre vor der Kriminalanthropologie die 
Yerbreehcrkategorieen so treffend unterschieden und 
beschrieben, wie es seitdem niemand besser gelungen 
ist. Er unterschied bereits den geborenen, den poli¬ 
tischen Verbrecher, den Gelegenheits- und Leiden¬ 
schaftsverbrecher, und unter den politischen Ver¬ 
brechern wieder den pathologischen, den geborenen 
und den Verbrecher aus Fanatismus. 

Franc hi (Jurist, Rom): Lieber die Einführung 
der psychophysischen Untersuchungsmethoden im Straf- 
process. 

R e n d a und S q u i 11 a c c: In Kalabrien über- 
wiegen die Verbrechen gegen das Leben und die 
Epilepsie. Ursachen: Ethnische, sociale, intellektuelle, 
moralische Factoren, Temperament, Gifte (Malaria, 
Alk< )holismus, Syphilis). 

Louise Robinovitsch weist, zur Verhütung 
des Verbrechens, auf die günstigen Erfahrungen hin, 
die im Elmira Reformatory gemacht wurden, wo die 
Verbrecher durch Unterricht, durch Erlernung ver¬ 
schiedener Handwerke zu ehrlichen Menschen ge- 


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1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


macht werden und nach ihrer Entlassung ehrlich ihr 
Brot verdienen können. 

Tarde (Paris) untersucht den Einfluss politisch¬ 
religiöser und öconomischer Krisen auf die Krimi¬ 
nalität. Sie sind nicht die einzige Quelle der Ver¬ 
brechen, ja nicht einmal eine konstante Quelle. 

Cutrera (Sicilien) kritisirt die Mängel der ita¬ 
lienischen Correctionshäuser. Dort werden Minder¬ 
jährige von 9 — 20 Jahren intemirt, alles durchein¬ 
ander, unverdorbene Knaben und geborene Ver¬ 
brecher, ohne etwas zu lernen. Bei der Entlassung 
fallen sie dann alle dem Verbrechen in die Arme, 
die weiblichen Personen auch der Prostitution. P 2 ine 
verfehlte Maassnahme ist ferner die Zuweisung eines 
Zwangsaufenthaltsortes an junge Leute, die ein Ver¬ 
brechen begangen haben. Manche Insel wird so 
zu einer Universität des Verbrechens. Vf. schlägt 
vor: Verwaiste oder von ihren Eltern verlassene 
Kinder werden gegen Entgeld in Familien unter¬ 
gebracht. Minderjährige geborene Verbrecher kom¬ 
men in besondere Anstalten zur Erziehung und 
um ein Handwerk zu lernen. Die absolut Unver¬ 
besserlichen werden dauernd intemirt. Manche Vcr- 
brecher-Recidivisten erhalten einen Zwangsaufenthalts¬ 
ort unter Polizeiaufsicht zudictirt. Die geborenen 
Verbrecher werden verbannt. Alle müssen zur Arbeit 
gezwungen werden. 

Bombarda (Lissabon) hofft aus dem Studium 
des Verbrechens bei Thieren Aufklärung für die ver¬ 
wickeltem Psychologie des Verbrechens beim Men¬ 
schen zu finden. Bei Thieren ist der psychologische 
Vorgang einfacher, nur sind die bisher gesammelten 
zahlreichen Beobachtungen wenig brauchbar, da sie 
zumeist von einem aprioristisch psychologischen Stand¬ 
punkt aus angestellt worden sind. Man muss das 
Leben der Thiere, vor allem das der Hausthiere, 
veränderten Bedingungen unterwerfen und sie so in 
ihrem Verhalten beobachten. Die Methoden der 
Anthropologie müssen auch hier angewendet werden. 
Alle Charaktereigenschaften, alle Leidenschaften, Ge- 
müthsstimmungen finden sich auch bei den Thieren. 
Auch da giebt es Geisteskranke, Unverbesserliche, 
Unträtable, pervers Sexuelle, Nervöse, Hysterische, 
Epileptische. Vf. beschreibt den epileptischen Cha¬ 
rakter zweier Hunde. 

Lombroso meint, die Verbrecher von Genie 
(Alexander, Napoleon) zeigten deshalb nicht den Ver¬ 
brechertypus, weil ihre Physionomiecn durch ihre 
hervorragende geistige Thätigkeit modificirt wurden, 
und weil sie sich nicht der gewöhnlichen brutalen 
Mittel des gewöhnlichen Verbrechers bedienten, son¬ 
dern solcher, die ein Studium der Wissenschaften 
voraussetzten. Auch stammten sie meistens aus den 
höheren Klassen, wo die atavistischen Merkmale 
weniger ausgeprägt seien. Bei vielen sei ausserdem 
der Verbrecher-Charakter erst durch eine Krankheit 
hervorgerufen worden, oder es seien nur innere I)e- 
lienerationszeichen vorhanden, z. B. Windungsanoma- 
gen der Gehirnrinde. 

F e r r i (Jurist, Rom) erblickt im Verbrechen eine 
natürliche Erscheinung, wie in einer Krankheit. Alle 


455 ■ 


Verbrecher sind Anormale, aber es giebt unter ihnen 
zwei Klassen: Involutiv Anormale mit atavistischen 
und egoistischen Tendenzen, aus deren Verbrechen 
nicht der geringste Nutzen hervorgeht, und evolutiv 
Anormale mit progressiven und altruistischen Ten¬ 
denzen, die sie aber manchmal bis zum Verbrechen 
überschreiten. Die Verbrecherenergie dieser letzteren 
Sorte kann von der Gesellschaft in nützliche Bahnen 
gelenkt werden. Sie rekrutirt sich aus den Deklassir- 
ten. Verwahrlosten, Verlassenen, politisch Unter¬ 
drückten. 

Colajanni weist an der Hand der Wahlergeb¬ 
nisse in Deutschland und Italien nach, dass die 
Gegenden, wo die meisten socialdemokratischen Stim¬ 
men abgegeben worden sind, auch die geringste Zahl 
an Verbrechen aufweisen. 

Clark Bell: Der Staat New-York hat vom 1. IX. 
1901 ab das Gesetz der sentence indeterminee ein¬ 
geführt. Darunter fallen Leute, die zum ersten Mal 
zu Gefängniss bis zu 5 Jahren verurtheilt werden. 

(Fortsetzung folgt.) 


Personalnachrichtei). 

— Der Titel „Sanitätsrath“ wurde verliehen an 
Director Dr. Vorster - Stephansfeld, Director Dr. 
Go ttlob - Merzig, Director Dr. N euhaus - Düssel¬ 
dorf, dem leitenden Arzte der israelitischen Heil- 
und Pflege-Anstalt für Nerven- und Gemüthskranke 
zu Savn b. Coblenz, Dr. Behrendt; der Professor¬ 
titel dem Privatdocenten Dr. Bonhoeffer in Breslau. 


Entgegnung anf die Erwiderung des 
Herrn Prof. Dr. Pick. 

Von Dr. Pfausler , Director in Valduna. 

Herr Prof. Pick hat auf S. 432 eine „sachliche 
Richtigstellung“ meiner Ausführungen in Nr. 32 dieser 
W ochenschrift, in soweit sic seine Person betrafen, 
zur Aufnahme gebracht, zu der ich folgendes be¬ 
merken muss: 

ad 1) Herr Prof. Pick giebt selbst zu, dass er 
in seiner leitenden Stellung in Dobran als Sachver¬ 
ständiger im Entmündigungsverfahren mitgewirkt hat. 
Eine sachliche Richtigstellung meiner diesbe¬ 
züglichen Angabe wird Herr Prof. Pick doch wohl 
ernstlich hierin nicht erblicken wollen, während er 
doch selbst das T h atsä c h 1 i c h e meiner Behauptung 
zugesteht. 

Herr Prof. Pick bringt dafür allerdings an¬ 
scheinend eine Entschuldigung vor und erklärt, dass 
er „nach längerem Sträuben“ seinerseits zur Exper¬ 
tise „sozusagen gezwungen worden sei“. Es dürfte 
somit gerathen sein, diese jedenfalls interessanten Vor¬ 
gänge erst näher aufgeklärt zu hören, bevor ich mich 
zu dieser Quasi - Entschuldigung, die übrigens zu 
meiner Aufstellung als eine „sachliche Richtigstellung“ 
nicht herangezogen werden kann, weiter äussere. 


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456 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40. 


ad 2) Es liegt mir die bestimmte Mittheilung vor, 
dass Herr Prof. Pick gegen den Stadtarzt, der sich 
zur Expertise in Dobran meldete, Stellung genommen 
hat. Herr Prof, Pick wagt selbst nicht dies vollends 
in Abrede zu stellen und flüchtet sich hierfür hinter 
einen Erinnerungs-Mangel. 

Dass eine solche Stellungnahme eine amtliche ge¬ 
wesen, wurde nicht behauptet; umsomehr aber ist die 
Annahme berechtigt, dass seine „privatime“ Stel¬ 
lungnahme auch seinen privaten Anschauungen 
entsprochen haben muss. 

Ich nehme gerne an, dass diese Stellungnahme 
nicht erfolgte, weil der betreffende Stadtarzt „n i c h t 
Anstaltsarzt“ war. 

Die Stellungnahme des Herrn Prof. Pick dürfte 
wohl darum veranlasst worden sein, weil er die Com- 
petenz des betreffenden Arztes für die Expertise als 
unzulänglich angesehen haben wird. Sonst sehe ich 
nicht ein, warum Herr Prof. Pick einerseits gegen 
seine Zuziehung zur Expertise sich lange gesträubt 
haben soll, und andererseits wieder gegen die Zu¬ 
ziehung des Stadtarztes zu derselben Stellung ge¬ 
nommen hat. Er wird doch nicht geglaubt haben, 
dass die Resultate der Expertise die besseren, oder 
dass das Gesammtwohl der ihm anvertrauten Kranken 
intensiver und allseitiger gefördert sein werde, wenn 
er diese Pflicht schwächeren Schultern freiwillig oder 
unfreiwillig überliess. In diesem Punkte treffen sich 
hoffentlich unsere Anschauungen. Meine Stellung¬ 
nahme gegen den bekannten Ministerial-Erlass richtet 
sich dahin, dass ich die Competenz der an die Stelle 
der Anstaltsärzte zur Expertise berufenen Sachver¬ 
ständigen für eine einwandfreie Rechtsentscheidung 
als ungenügend, ja vielfach als unzulässig erkenne. 
Darauf kommt es an. In der Experten-Commission 
ist der Richter als solcher vom psychiatrischen Stand- 
puncte ein Laie und vergiebt sich dabei nichts, wenn 
er sich in seiner Entscheidungsformel an die be- 
rathende und begutachtende Mitwirkung des Arztes 
anlehnt, vorausgesetzt, dass dieser nicht selbst in 
Sachen der gegenständlichen Beweisführung ein 
Laie ist. 

Wenn man entgegen hält, doch wenigstens der 
Bezirksarzt dürfe nicht umgangen werden, so hätte 
die Irrengesetz-Enquete bei ihrer grundsätzlichen 
Stellungnahme für den Ausschluss der Anstaltsärzte 
von der Expertise die thatsächlichen Verhältnisse be¬ 
rücksichtigen müssen, dass wir mit Ausnahme der 
Universitätsstädte Wien und Prag in ihrem Sinne 
entsprechende Experten mit vieijähriger psychiatrischer 
Vorbildung ausser den Anstaltsärzten wohl nirgends, 
auch nicht unter den Bezirksärzten haben. 

Die Psychiater auch als Anstaltsärzte durften in 
schwächlicher Rücksichtnahme auf ungerechtfertigte 
Recriminationen umsoweniger aus ihrer bisherigen 
Stellung verdrängt werden, als sie berufen sind bei 
der verheissungsvollcn Umbildung der Rechtswissen¬ 
schaft, bei der Reform des Strafrechtes zu einer all¬ 


gemeinen socialen Hygiene in besonderem Masse 
mitzuwirken, damit das „Juristen-Recht“ von 2 Jahr¬ 
tausenden, das die Juristen durch ihren gewaltigen 
Einfluss als Hüter des Rechtes in abgeschlossener 
Selbstherrlichkeit vielfach auch als Schöpfer des Rechtes 
ausnützten, durch die organischen, socialen und 
geistigen Entwicklungsfactoren des Volkes zu einem 
socialen Volksrechte sich umgestalte. Die Anstalts- 
Psychiater dürfen hierin, wie sie ihre Mithilfe an¬ 
bieten, auch mit Recht die Führung durch ihre hoch- 
geschätzten Lehrer beanspruchen, damit der gesammte 
Stand, gemäss dem schönen Worte Carlyle’s: „Lasst 
Jeden alles sein, was er fähig ist zu sein“, in wir¬ 
kungsvoller Einheit zur Erringung dieser grossen Ziele 
seine Kräfte leihe. 

ad 3) Herr Prof. Pick erklärt als Vorstand der 
psychiatrischen Klinik niemals als Sachverständiger 
im Entmündigungsverfahren mitgewirkt zu 
haben. Ich nehme dies zur Kenntniss. Doch darum 
ist es mir in diesem Punkte nicht einzig zu thun. 
Herr Prof. Pick dürfte wissen, dass die Irrengesetz- 
Enquete der Anschauung Ausdruck gegeben hat, „dass 
die gerichtsärztlichen "Untersuchungen, welche schon 
gegenwärtig in den Irrenanstalten stattfinden, nicht 
bloss der Entmündigung wegen, sondern auch wegen 
des persönlichen Rechtsschutzes der Geisteskranken 
stattfinden sollen, ob die Anhaltung des Kranken in 
der Irrenanstalt gerechtfertigt ist oder nicht.“ 

Nun möchte ich aber wissen, ob der Rechtsschutz 
der persönlichen Freiheit für ein „aus- Misstrauen 
und Bosheit“ schöpfendes Publikum nicht auch bei 
der Intemirung in eine Irrenklinik gefährdet erscheint, 
ob auch an Universitätsstädten — ich nehme die 
Städte Wien und Prag mit ihren eigenen Gerichts- 
Psychiatern aus — allenthalben die Voraussetzungen 
für den erwähnten Enquete-Beschluss gegeben sind; 
und ob, wo dies nicht der Fall, die Herren Professo¬ 
ren die geistigen und materiellen Interessen ihrer 
Kranken durch die auswärtige Expertise in allen Fällen 
hinlänglich gewahrt erachten. Für uns Ansta^tsärzte 
in der Provinz erscheinen durch die Neuregelung nicht 
die dürftigsten Anforderungen erfüllt, so dass unsere 
Stellungnahme gegen den Ministerial-Erlass umso ge¬ 
rechtfertigter ist, als unsere Anschauung von weiten 
juristischen Kreisen getheilt wird und uns von hoher 
Stelle die Befürwortung einer diesbezüglichen Eingabe 
an das Justiz-Ministerium zur Erreichung einer ent¬ 
sprechenden Abänderimg des Erlasses zugesichert 
wurde, indessen aber leider an anderweitige von un¬ 
serem Standpunkte unerfüllbare Bedingungen geknüpft 
worden ist. 

Nachdem so die „sachliche Richtigstellung“ des 
Herrn Prof. Pick in das rechte Licht gestellt, kann 
ich nur bedauern, dass Herr Prof. Pick in seinem 
Schlusssätze in empfindsamer Weise eine Unterstellung 
hervorhebt, die durch meinen sachlichen Aufsatz nicht 
gerechtfertigt erscheint, weshalb ich mir eine weitere 
Entgegnung darauf versagen muss. 


Fiir den redactioneücu Thcii verantwortlich: Oberarzt Or. J . lJrvs'ier, Kraschnttz (Sch.esien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schhjss der Insrratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Ilevnomann’sche Euchdruckerei (Oebr. WoifT) in Hallo .1 S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

berausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice * Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 41 . 10. Januar. 1903 . 

■ Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6)95), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltigo Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten. 

Inhalt. Originale: Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. Von Prof. Dr. 
Moeli, Geh. Med.-Rath (S. 457). — Mittheilungen (S. 461). — Referate (S. 463). — Berichtigung (S. 464). 


Einiges über die Weiterentwicklung 
der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. 

Von Prof. Dr. Moeli , Geh. Med.-Rath. 


TTinem Wunsche der Redaktion entsprechend, mache 
' ich einige Mittheilungen über die weitere Für¬ 
sorge der Stadt Berlin für Geisteskranke. 

Zunächst betreffen sic den Umfang der neuen 
Anstalten. Die in den 70 er Jahren gefasste Absicht, 
eine Anstalt für 600 Geisteskranke für Berlin zu 
bauen, wurde schon vor der Inangriffnahme der An¬ 
stalt Dalldorf aufgegeben. Entsprechend dem raschen 
Wachsthum des Bedürfnisses wurde sofort für 1000 
Kranke in 2 Abtheilungen gebaut, deren jede einem 
ärztlichen Leiter unterstellt wurde. Durch Zubauten 
u. s. w. kam es zur Belegung mit 1200 Kranken. 
Die in dieser Anstalt gemachten Erfahrungen führten 
dazu, die zweite Anstalt — Herzberge -— für 1000 
Kranke anzunehmen und dann auf 1150 (demnächst 
1200) Plätze zu erweitern. Dabei wurde aber hier, 


was nachträglich auch in Dalldorf geschah, die ärztliche 
Leitung der Anstalt einer Person übertragen. 

Schon die Grösse des Kranken-Bestandes, noch 
mehr aber die ungewöhnlich grosse, die Bestandzahl 
übersteigende Aufnahmeziffer, weisen darauf hin — 
wie bereits s. Z. in dem Programm für die Anstalt 
Herzberge ausgesprochen wurde — dass die persönliche 
Betheiligung an der Behandlung des einzelnen Kranken 
für den ärztlichen Leiter nicht durchführbar sei. (Im 
Jahre iqoi hatte die Anstalt Herzberge in Lichten¬ 
berg 1485 Aufnahmen). Die ärztliche Betheiligung 
des Direetors sollte sich auf die wichtigsten Fälle 
beschränken und in mehr berathender Weise statt¬ 
finden. Das blieb mit der Aufgabe vereinbar, einen 
Ueberblick über die Gesammtheit der Kranken, nicht 
bezüglich der Einzelheiten des Leidens eines jeden, 


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458 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 41. 


aber bezüglich ihrer Artung im Ganzen, des Antheils der 
einzelnen Krankheitsformen, der Herkunft u. s. w. sich 
zu verschaffen und Kenntniss von besonders wichtigen, 
z. Th. gerichtlichen oder der Beurtheilung und Be¬ 
handlung besondere Aufgaben stellenden Einzelfällen 
zu gewinnen. Die Forderung persönlicher Kenntniss 
der Kranken in diesem Umfange ist unabweislich, 
wenn die Einrichtungen und die Wirksamkeit der 
Anstalt von dem Leiter derselben stets ihrem Zwecke: 
wenn irgend möglich Rückführung der Kranken ins 
Aussenlebcn, entsprechend gehalten und weiter gebildet 
werden sollen. Auch ist es nur so möglich, die 
Befolgung gewisser Grundsätze bei der Behandlung 
einschliesslich des Einflusses der Umgebung, Lebens¬ 
weise zu sichern, die richtige Vertheilung der Kranken 
zu überwachen, die Regelung ihrer rechtlichen und 
sonstigen Angelegenheiten nach einheitlichen Gesichts¬ 
punkten zu ordnen und durchzuführen. 

Bei einer früheren Besprechung über den Umfang 
öffentlicher Anstalten für Geisteskranke in der Jahres¬ 
versammlung der deutschen Psychiater (Halle 1899: 
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 5, S. 653) trat Werner 
für eine Begrenzung auf boo Kranke ein. Alt bestritt 
dabei die grössere Billigkeit ausgedehnterer Anstalten. 
Mehrere staatliche und Provinzialbehörden haben sich 
seitdem dafür erklärt, diese Zahl oder höchstens die 
von 800 Kranken bei einfachen Verhältnissen (keine 
Pensionärabtheilung) nicht überschritten zu sehen. 

Andererseits ist in Nr. 9 dieses Jahrgangs ein 
Aufsatz von Starlinger-Wicn erschienen, der die Frage 
der grossen Anstalten auf Grund der Wiener Erfahrungen 
behandelt. Man wird aus den weiteren Ausführungen 
sehen, dass seine sehr richtigen Vorschläge bezüglich 
der ärztlichen Organisation in der Entwicklung der 
Berliner Anstalten schon früher, grüsstentheils unter 
dem Druck der Thatsachen, zur Geltung gelangt sind. 

Es sind nun in letzter Zeit durch die Umfrage 
einer Provinz die Meinungen mehrerer Psychiater über 
die zulässige Grösse von öffentlichen Anstalten für 
Geisteskranke von neuem gesammelt worden. 

Gegenüber den verschiedenen Ansichten über die 
vorliegende Frage kann ich nur wiederholen: Nach 
unserer Erfahrung ist die Antwort überhaupt nicht 
mit „Ja“ oder „Nein“ zu geben. Zur Erwägung kommt 
eine ganze Reihe von Einzelheiten: 

A) Grosse des Aufnuhntebexirks. 

In einer sehr dicht bevölkerten, an Verkehrsmitteln 
sehr reichen Gegend kann die Anstalt grösser sein, 
ohne den erwünschten Zusammenhang der Kranken 
mit Heimath und Angehörigen aufzuheben. Nicht nur 

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die Erleichterung der (auch der versuchsweisen) Ent¬ 
lassung und Beurlaubung, sondern auch die Wirk¬ 
samkeit der Anstalt auf die Kranken, erfordert in 
den bei weitem meisten Fällen Erleichterung des 
Verkehrs mit ihrer bisherigen Umgebung, der Familie 
u. s. w. In dünn bevölkerten Gegenden würde daher 
durch Vertheilung der Anstalten auf mehrere Stellen 
einer übergrossen räumlichen Entfernung des Kranken 
von seinem Aufenthaltsorte und der Erschwerung 
des Verkehrs entgegengewirkt werden müssen, also 
mittelgrosse Anstalten den Vorzug verdienen. 
Dagegen kommt dieser Gesichtspunkt nicht in Frage wo, 
wie bei uns, die Anstalt selbst von dem entferntesten 
Punkte ihres Aufnahmebezirks in etw'a s / 4 Stunden 
und ohne wesentliche Kosten durch ein Strassen- 
bahnnetz erreicht w r erden kann. 

B) Verhält uiss der Aufnahme zur Bestands zahl. 

Es bedarf keiner Ausführung, wie sehr das Wachsen 
der Aufnahmezahl und der Wechsel der Kranken 
die persönliche Kenntniss des Einzelnen erschwert. 
Ganz von selbst ergiebt sich bei grösserem Wechsel 
des Bestandes (der z. B. hier über 100 ° 0 der 
Plätze innerhalb eines Jahres beträgt) die Nothwendig- 
keit, die Einzelbehandlung der Kranken in die Hand 
erfahrener, älterer Vorsteher der einzelnen Ab¬ 
theilungen und zwar unter reichlicher Beigabe 
ärztlicher Hilfskräfte zu legen. Mit derartiger Ein¬ 
richtung ist aber dem Kranken auch in einer ganz 
grossen Anstalt das volle Maass ärztlicher Fürsorge 
gewährleistet. Natüilich gehört zu solcher Stellung 
auch die Abgabe ärztlicher Aeusscrungcn und Zeugnisse, 
die Anleitung des Pflegepersonals im Einzelnen, dessen 
Vertheilung in den einzelnen Häusern u. s. w. Die 
ärztliche Behandlung kann in grossen Anstalten bei 
richtiger Ausbildung des ärztlichen Dienstes und 
namentlich auch bei persönlicher genauer Fühlung 
der Betheiligten sogar gewisse Vorzüge, wenigstens 
gegenüber kleinen Anstalten darbieten. Es ist für die 
Mehrzahl der Kranken eine Behandlung in mehreren 
Instanzen sicherlich nicht oder wenigstens nicht auf 
die Dauer nöthig. Andererseits aber ist es in der 
grossen Anstalt möglich, für die wirklich wichtigen 
Fälle und für alle Fragen von allgemeinerer Bedeutung 
eine grössere Summe ärztlichen Wissens durch Zu¬ 
sammenwirken mehrerer Aerzte von reicher Erfahrung 
heranzuziehen. Grade eine Verschiedenheit der 
Auffassung, die sich auf ein begründetes selbst¬ 
ständiges Urtheil stützt, wird, in die richtigen Bahnen 
geleitet, immer anregend und Frucht bringend wirken. 

C) Die Schwierigkeit tierärztlichen Leitung 
einer Anstalt liegt bekanntlich grösstenthei 1 s in der Ord- 

Qriginal fram 

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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


nung der Verwaltung. Es muss mit vollster Entschie¬ 
denheit darauf gehalten werden, dass die V erwaltung ärzt¬ 
lich geleitet, aber nicht vomArzteausgeführt werden 
kann. Dies gilt ebenso für mittelgrosse wie für grosse 
Anstalten. In der Ueberlastung des ärztlichen Leiters 
mit Verwaltungsgeschäften und der Behinderung ärzt¬ 
lichen Wirkens muss man den allerwichtigsten Ein¬ 
wurf gegen die Vergrösserung der Anstalten über 
einen gewissen Umfang finden. Gelingt es nicht, 
die richtigen Einrichtungen zu treffen, um ein Ueber- 
maass der Verwaltungsgeschäfte zu verhüten, 
so muss man in der That eine Beschränkung des 
Umfanges zur Erreichung einer einheitlichen ärztlichen 
Leitung für nöthig erachten. 

Unter gewissen Umständen aber ist — bei gutem 
Willen und Einsicht der betheiligten Behörden — dieser 
Fehler vermeidbar. Dass man überhaupt dem ärzt¬ 
lichen Leiter einer Anstalt eine solche Menge von 
Verwaltungsgeschäften aufzubürden gewohnt ist, wie 
dies zahlreiche Beispiele zeigen, liegt nur zum Theil, 
berechtigterweise, im inneren Zusammenhang der Dinge, 
zum Theil dagegen an den äusseren Verhältnissen. 
Bei den abgelegenen kleineren Anstalten der früheren 
Zeit, wo ausser dem Director und dessen Vertreter 
überhaupt kaum ein höherer Beamter zur Verwendung 
kam, musste schliesslich alles, was im regelmässigen Be¬ 
triebe der Anstalt vorkam, so erledigt werden. Nur ein 
Theil dieser Beschäftigung aber gebührt dem ärztlichen 
Leiter, nämlich das, was mit der Krankenbehandlung 
und mit den Aufgaben der Anstalts leitung wirk¬ 
lich im Zusammenhänge steht: die Ordnung 
der Verhältnisse, welche nachweisbar auf die 
Kranken ein wirken. Ein solcher organischer Zu¬ 
sammenhang besteht aber z. B. nicht zwischen 
der Ausführung des Kassen- und Bureauwesens 
in seinen Einzelheiten, zwischen vielen Kleinig¬ 
keiten des maschinellen Betriebes, auch den Einzel¬ 
ausführungen zur Anschaffung von Beköstigungs-, Be- 
kleidungs- und Lagerungs - Gegenständen. Wäre es 
richtig, den leitenden Arzt einerseits durch Beigabe 
fachmännisch gebildeter Collegen in der Behandlung 
der Kranken, der Verwendung des Pflegepersonals 
u. s. w., also auf seinem eigensten Arbeitsgebiete, zu 
entlasten und ihn andererseits mit nichtärztlichcr 
Schreibarbeit oder mit Heizern, Dienstpersonal, 
landwirtschaftlichen Arbeitern u. s. w. unmittelbar 
zu beschäftigen? Wenn in der kleineren Anstalt 
der leitende Arzt in eingehender Weise auch diese 
ihm ferner liegenden Dinge selbst behandeln muss, 
sogar Einzelheiten derselben beherrscht und ausführt 
und dabei doch an den Fortschritten der ärztlichen 
Wissenschaft noch Antheil zu nehmen, seine Er¬ 


fahrungen stetig zu erweitern und tüchtige, jüngere 
Aerzte heranzubilden vermag, so verdient dies die 
grösste Achtung. Aber durch die, wie ich ausgeführt 
habe, z. Th. aus Noth erfolgte Gründung grosser 
Anstalten von 1000 und mehr Plätzen mit starkem 
Wechsel wird eine solche Verwaltungsleistung unmög¬ 
lich gemacht. Glücklicherweise liegt in dem Wachsen 
des Ganzen zugleich die Möglichkeit der Beseitigung 
der entstehenden Missstände. Wie aus den ein oder 
zwei Hilfsärzten, die vor einer Reihe von Jahrzehnten 
allein neben dem Director standen, sich jetzt überall 
ein ärztlicher Stab entwickelt hat, so muss nothwen- 
digerweise mit der wachsenden Beleg- und Aufnahme¬ 
zahl das Verwaltungspersonal ein anderes, zur sachge- 
mässen Erledigung der gewöhnlichen Vorgänge seines 
Dienstzweigs befähigteres werden. Es muss das Bureau 
selbständig arbeiten, die innere Verwaltung, die Land¬ 
wirtschaft muss in fachmännischer Hand liegen, 
ebenso bedarf der maschinelle Betrieb eines technisch 
gut ausgebildeten Vorstehers. Auch so bleiben immer 
noch für den Leiter neben der nöthigen Kenntniss 
der Kranken reichlich hygienische, bauliche Ange¬ 
legenheiten, die Beköstigung, Beschäftigung u. A. 
im Allgemeinen zu bearbeiten, dabei müssen ihm 
im Einzelnen technisch richtige Angaben entgegen- 
gebracht und die eingehende Ueberwachung des 
Bureau, des maschinellen, wirtschaftlichen u. s. w. 
Betriebs muss durch Thätigkeit speciell Vorgebildeter 
gewährleistet werden. Die Mittel zur Anstellung 
derartig ausgebildctcr Verwaltungskräfte gewährt ohne 
erhebliche Steigerung des durchschnittlichen Kosten¬ 
aufwands nur eine grosse Anstalt oder ein Kom¬ 
plex von mehreren räumlich zusammen gelegenen 
Krankenanstalten (auf letzteren Punkt komme ich 
gleich zurück). 

Da die allgemeinen Anordnungen über Beköstigung, 
Beschäftigung, den Pflegedienst und ähnliches in der 
Hand des Leiters bleiben müssen, ist die Art und 
Zusammensetzung des Krankenbestandes fin¬ 
den Umfang der Verwaltungsgeschäfte von grösster 
Bedeutung. Es giebt eine ganze Reihe von An¬ 
gelegenheiten, wobei es für die Leitung einer Kranken¬ 
anstalt keinen Unterschied macht, ob die Ausführung 
der Maassregeln 400 oder 1000 Kranke betriff!, wenn 
nur nicht eine Verschiedenheit durch Einrichtung von 
Klassen, Pensionären u. s. w. erhebliche Schwierig¬ 
keiten schafft. Dieser Umstand — Einfachheit der 
Verwaltung — ist daher von besonderer Bedeutung 
für die Frage: grosse oder mittlere Anstalten? Die 
Organisation also giebt den Ausschlag, nur sie 
vermag den ärztlichen Leiter für seine unerlässliche 
Thätigkeit: Kenntniss der Kranken im Ganzen und 


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Original frnm 

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460 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 41. 


der besonders wichtigen Fälle im Einzelnen — eine Auf¬ 
gabe, die allerdings mit der Grösse der Anstalten 
ebenfalls so wächst, dass eine gewisse Grenze sich 
von selbst ergiebt — genügend frei zu machen. 

Ob der ärztliche Director einer grossen Anstalt 
zugleich den Dienst auf einer bestimmten Abtheilung 
(Aufnahme-Ueberwachungshaus?) leiten kann, hängt 
ganz und gar von den ärztlichen Verhältnissen, ins¬ 
besondere von der Aufnahmezahl und dem Be¬ 
stand Wechsel ab. Bei einem Jahreswechsel der 
Plätze von 100 v. H. und darüber, ist in grossen An¬ 
stalten der Umfang der ärztlichen Thätigkeit auf der Auf¬ 
nahme-Abtheilung selbstverständlich viel zu gross, um so 
wahrgenommen zu werden. Aber auch bei ruhigerem 
Bestände ist die Bindung des Leiters an eine bestimmte 
Abtheilung bedenklich. Dass er den grösseren 
Theil seiner Zeit der Aufnahmeabtheilung widmet, 
ergiebt sich ganz von selbst — das ist hier wie 
anderswo der Fall. Aber keineswegs sind die Kranken, 
deren Kenntniss im Allgemeinen für ihn wichtig ist, 
nur in dieser Abtheilung in Behandlung. Auch an 
leichteren Formen Leidende (Landhauskranke) können 
Bedeutung haben und die Einsicht in den Gang der 
Dinge bei vorzugsweise Bettlägerigen (Pflegehaus) ist 
ganz unentbehrlich — namentlich auch wegen der 
andersartigen Anforderungen, die hier z. Th. an die 
Behandlung und Pflege gestellt werden. Auch die 
einheitliche Auffassung und Behandlung der Fälle 
leidet, wenn sie nicht — möglichst— in der Hand des¬ 
selben Abtheilungsvorstandes (Oberarztes) wenigstens 
bis zur Reconvalescenz bleibt. Die Aerzte, die nach 
Lage der Sache die Verantwortung für die Einzel¬ 
heiten der Behandlung weiterhin tragen, dürfen in der 
möglichst frühzeitigen und zusammenhängenden Be¬ 
obachtung nicht beschränkt werden. Die Abtheilungs- 
ärzte sollen bei der psychiatrischen Behandlung 
auch mit ihrer Persönlichkeit auf die Kranken ein¬ 
wirken und es soll an keiner Stelle der Schein 
einer geringeren Selbständigkeit ihrer Leistung erweckt 
werden. Gespart an Aerzten und ärztlichen Stellen 
kann aber durch die Einrichtung grosser Anstalten 
nicht werden. Eine Kostenverminderung auf diesem 
Wege wäre sicherlich durch den Rückgang der Leistung 
im Ganzen viel zu theuer verkauft. Unter keinen 
Umständen, also auch nicht durch alleinige Ueber- 
tragung der ärztlichen Thätigkeit auf einer bevorzugten 
Abtheilung auf den Director, darf die Gelegenheit zur 
Anregung und zur Ausbildung der Erfahrung und 
des Urtheils durch fortlaufende Beobachtung der Fälle 
für die Aerzte beeinträchtigt und die stetige Selbst¬ 
prüfung, ob die Auffassung richtig sei, abgeschwächt 
werden. Je nach der Zahl und Art der Aufnahme 

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wird diese Gefahr näher gerückt, wenn man den Leiter 
grosser Anstalten vorzugsweise als behandelnden Arzt für 
eine Gruppe von Kranken, deren Umgrenzung schwer 
richtig zu ziehen sein wird, betrachtet, und nicht als 
eine in erster Linie die ärztlichen Bestrebungen zu¬ 
sammenfassende und regelnde Stelle. 

])) Bezüglich der mehligen Frage „Kosten“ 

scheint mir der Vortheil doch auf Seite der grösseren 
Anstalten zu liegen, sowohl bezüglich der Bau- als 
der Betriebskosten. Für manche, allerdings nicht 
ausschlaggebende Dinge: Pförtner, Telephonwesen, 
Verkehrsmittel, auch für einzelne maschinelle Einricht¬ 
ungen, z. B. Beleuchtung, Desinfection, für Büchereien, 
für Instrumente und Laboratoriumseinrichtungen u. A. 
wird dies kaum bestritten werden. Aber wie be¬ 
merkt, soll ein ganz bestimmtes Urtheil über wesent¬ 
liche Verbilligung der Anlage nicht abgegeben werden. 

Immerhin muss ich darauf hinweisen, dass wohl 
die Baubeamten sich ganz überwiegend für die An¬ 
nahme grösserer Billigkeit der ausgedehnteren An¬ 
stalten entscheiden werden. Die Stadt Berlin wird 
nach reiflicher Ueberlegung voraussichtlich die neue 
(1500 Kranke haltende) Anstalt für Geisteskranke, 
wegen der vortheilhafteren Anlage mit einem auf den¬ 
selben Umfang berechneten Siechenhause und einer 
Heimstätte örtlich so Zusammenlegen, dass ein Theil 
der Anlagen, (Beheizung, Wasserversorgung, Wäscherei, 
natürlich auch Friedhof, vielleicht Desinfection) ge¬ 
meinsam eingerichtet wird, während Küche u. A. 
getrennt bleiben. Es wird die Gesammtanlagc erheb¬ 
lich über 3000 Kranke versorgen. Die Sachlage ist 
hier eine so ausnahmsweise, dass sie für die Bedürf¬ 
nisse an anderen Orten natürlich nicht in Frage 
kommt. Ich erwähne aber diese Thatsache, weil ein 
gewisser Grossbetrieb — hier allerdings in ganz be¬ 
sonderem Maasse -— doch als vorteilhafter anerkannt 
ist. Nach den bisherigen Erwägungen ist nicht im 
Mindesten zu befürchten, dass die Anstalt für Geistes¬ 
kranke in irgend welcher Weise zu kurz kommen 
werde, da den ihrer Eigenart entsprechenden Forde¬ 
rungen vollständig Rechnung getragen w'ird. 

Die vorstehenden Ausführungen über das Ver¬ 
halten grosser (über 1000 Kranke fassender) Anstalten 
zu denen von viel geringerem Umfange können also 
keineswegs dazu führen, in einseitiger Weise allgemein 
grosse Anstalten zu empfehlen. Ausdrücklich sind die 
besonderen Bedingungen dargelegt, die unein¬ 
geschränkt erfüllt sein müssen, wenn nicht die Be¬ 
friedigung aller Bedürfnisse für die Behandlung der 
Kranken und somit die Leistung des Ganzen gefährdet 
werden soll. Ist aber eine richtige Gestaltung der An- 

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ioo v v] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 461 


stalt, eine genügende Zahl von Abteilungsleitern und 
Hilfsärzten und namentlich eine zweckmässige An¬ 
ordnung des Verwaltungsdienstes gesichert, so können 
den kleineren Anstalten an Leistungsfähigkeit eben¬ 
bürtige grosse geschaffen werden. Diese Erfahrung 
hat die Erbauung einer neuen Anstalt von 1500 
Kranken für Berlin gerechtfertigt. Das Hinausgehen 
noch über die Belegziffer von Dalldorf und Herzberge 
wird durch den voraussichtlich geringeren Wechsel 
der Kranken in der etwas weiter entfernten Anstalt 
ausgeglichen werden. Damit ist die für die Ver¬ 
hältnisse Berlins noch zulässige Grösse einer Anstalt 
erreicht. 

Ist nur unter der Voraussetzung einer richtigen 
Organisation bezügl. der ärztlichen und Verwaltungs- 
Beamten der Bau einer so grossen Anstalt zulässig, 
so ergeben sich einige weitere Fragen. Die wichtigsten 
betreffen die Grösse des Grundstücks und der einzelnen 
Häuser. 

1. Die G r ö s s e des Grundstücks ist weniger 


von einer mehr oder weniger zerstreuten Bauart oder von 
der Grösse der einzelnen Krankengebäude abhängig, 
als von der Art der Kranken. In bekannter Weise 
wirkt hierauf namentlich der Antheil der bettlägerigen 
oder wenigstens körperlich hinfälligen, der frisch er¬ 
krankten und der unruhigen Fälle. Diese Gattungen 
überwiegen verhältnissmässig beträchtlich bei rein 
grossstädtischem Aufnahmebezirk. Aber auch für die 
unentbehrliche Beschäftigung im Freien kommt cs 
sehr auf die bisherigen Lebensgewohnheiten und die 
Umgebung der Kranken an. Die landwirtschaftliche 
Beschäftigung im weiteren Sinne gestaltet sich danach 
verschieden. Es ist begreiflich, dass bisher nur auf freiem 
Felde, im Wald, auf den weiten Flächen unserer 
norddeutschen Ebene beschäftigte Kranke ähnliche 
weiträumige Gefilde verlangen und sich auf kleineren 
Feldern, in Gärten, Parks, Baumschulen noch beengt 
fühlen würden. Will man ihnen ganz gerecht werden, 
so braucht man Felder und Wiesen von gewisser 
Ausdehnung, in das offene Land übergehend. 

(Schluss folgt.) 


M i t t h e i 

— II. Landes -Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc- 

tober 1902, Nachm.) Fortsetzung. 

Was die strafrechtliche Seite der Frage anbelangt, 
will ich mich auf einige kurze Bemerkungen beschränken. 
Die strafrechtlichen Verfügungen gegen sexuelle Per¬ 
versitäten sind sehr lückenhaft. Unser Strafrecht kennt 
nur eine Art der Perversität, die Homosexualität, und 
auch diese nur zwischen Männern. Ausserdem wird 
nur noch Nekrophilie und Xoophilie bestraft. Wir 
wissen, dass damit die Arten der sexuellen Perver¬ 
sität noch lange nicht erschöpft sind und dass die 
Homosexualität, wenn überhaupt strafbar, bei Weibern 
ebenso zu beurthcilen ist wie bei Männern. Was 
aber die Necrophilie und die Xoophilie anbelangt, 
so sind gerade diese Perversitäten thatsächlich Folge¬ 
zustände von Geisteskrankheiten und zwar von ter¬ 
minalen Stadien derselben. Unser Strafgesetzbuch 
lässt daher eine ganze Reihe von Perversitäten unge¬ 
ahndet und bezeichnet gerade die bei schweren Geis¬ 
teskrankheiten Vorkommenden als strafbar. 

Will nun aber die Gesellschaft die sexuellen Per¬ 
versitäten mit Fug und Recht verfolgen, so darf sic 
das weder vom Standpunkte der Moral, noch von 
dem des guten Geschmackes aus thun, sondern nur 
dann, wenn diese Perversen sich Vergehen gegen die 
Interessen der Gesellschaft zu Schulden kommen 
lassen. Die sexuellen Perversitäten sündigen gegen 
die cardinalen Interessen der Gesellschaft darin, dass 
sie sich gegen die Propagation richten. Wollen wir 
nun diese Hauptsünde verfolgen und strafen, so ist 

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1 u n g e n. 

es ganz klar, dass wir die Perversitäten des legitimen 
Geschlechtslebens ebenso strenge verfolgen müssen 
wie die des homosexuellen, und ebenso klar ist es, 
dass man unter den Perversitäten keine Ausnahme 
machen kann und darf. 

Ich kann also meine Ausführungen in Folgendem 
zusammen fassen: 

1. Die sexuellen Perversitäten als solche stellen 
weder für sich selbst eine Geisteskrankheit dar, noch 
können sie als pathognomonisches Symptom irgend 
einer ernsten Erkrankung des Centralnervensvstems 
angesehen wen len. Wir besitzen andere , viel wich¬ 
tigere Symptome zum Nachweise einer solchen Geis¬ 
teskrankheit. 

2. Nachdem die Gesetzgebung weder bei uns, 
noch irgendwo im Stande ist, alle jene Perversitäten, 
welche gegen die Propagation, gegen dieses fundamen¬ 
tale Interesse der Gesellschaft sündigen, zu verfolgen 
und zu strafen und nachdem alle hierherbezüglichen 
Handlungen, insoferne sie die Gesundheit anderer 
gefährden, andere schädigen oder die öffentliche 
Sittlichkeit bedrohen, im Strafgesetzbuchc an anderer 
Stelle schon Erwähnung fanden, ist jede besondere 
Bestimmung gegen die sexuellen Perversitäten über¬ 
flüssig. 

b) Correferent Isidor Baum garten, königl. ung. 
Kn »nanwalts-Substitut. 

Der Vortragende erklärt, dass er sich nur mit 
jenem Theile der Frage beschäftigen wird, welche 
sich auf den Uranismus, also die zwischen Männern 
geübte Unzucht bezieht, und dies auch nur von 

Orig mal from 

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[Nr. 41 


46 $ PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


dein einen Standpuncte aus, ob eine Abänderung 
der betreffenden Abschnitte des Strafgesetzbuches be¬ 
gründet ist oder nicht. Die europäischen Gesetz¬ 
gebungen scheiden sich mit Bezug auf diesen Gegen¬ 
stand in zwei Gruppen. Zu der einen Gruppe ge¬ 
liehen die germanischen und slavischen, zur andern 
die romanischen und manche östlichen Länder. Die 
ersteren bestrafen die Homosexualität unbedingt, die 
letzteren nur dann, wenn zugleich öffentlicher Scandal 
erregt, Gewalt angewendet wird oder jugendliche In¬ 
dividuen verführt werden. Das ungarische Strafge¬ 
setzbuch schloss sich dem deutschen Codex an. In 
den letzten Jahrzehnten wurde die Aufmerksamkeit 
der wissenschaftlichen Welt in intensiverem Maase 
als früher auf diesen Gegenstand hingelenkt. Aus¬ 
gezeichnete und berühmte Psychiater erklärten die 
Homosexualität für einen pathologischen Trieb und 
halten eine strafrechtliche Verfolgung für unerlaubt. 
Bei einer so decidirten Stellungnahme der Wissen¬ 
schaft musste der gegen die Homosexualität gerichtete 
Feldzug auch eine andere Richtung nehmen und die 
Criminalität konnte sich einer reiflichen Ueberlegung 
der Erfolge dieser Studien nicht entziehen. Diese 
Aufgabe ist um so schwieriger, als eine auf fester 
naturwissenschaftlicher Basis beruhende Theorie über¬ 
haupt nicht existirt, sondern bloss einander wider¬ 
sprechende kühne Hypothesen vorhanden sind. 

Mögen sich jedoch die Psychiater in der Erklärung 
dieses rüthselhaften Triebes noch so sehr wieder- 
sprechen, darin stimmen alle überein, dass der ho¬ 
mosexuelle Trieb nicht ausschliesslich als angeborener 
Trieb vorkommt, sondern durch Gewöhnung, Sug¬ 
gestion und Einfluss der Umgebung auch übertragen 
resp. erworben werden kann. Dieser Umstand allein 
beweist zur Genüge, dass staatliche Prävcntivmaass- 
rcgeln nothwendig sind. Die Gefahr der Ansteckung 
bedingt die Nothwendigkeit der Prophylaxe. Ander¬ 
seits geben selbst jene Gelehrte, welche die wider¬ 
natürliche Unzucht auf eine pathologische Degenera¬ 
tion zurückführen, zu, dass bei Homosexualität keine 
Geisteskrankheit vorhanden zu sein braucht, welche 
den freien Willen, die Entschliessungsfähigkeit unbe¬ 
dingt ausschliesst. 

Das weitgehendste Entgegenkommen gegen die 
Forderungen der Psychiatrie kann auch nur den Er¬ 
folg haben, dass wir zugeben, die freie Willens- 
äusserung des Urnings wäre bezüglich der Art der Be¬ 
friedigung seines (ieschleehtstriebes aufgehoben, dass 
der Urning also nicht im Stande ist, seine Zwangs¬ 
vorstellungen niederzukämpfen und mit Frauen ge¬ 
schlechtlich zu verkehren. Zur homosexuellen Be¬ 
friedigung des Geschlechtstriebes ist er darum durch¬ 
aus nicht gezwungen. 

Wir fordern auch vom normalen Menschen, dass 
er seinen natürlichen Geschlechtstrieb beherrsche und 
sich der widerret htlichcn Befriedigung desselben ent¬ 
halte. Also kann auch der dem Uebelthätcr ange¬ 
borene Hang nicht das Privilegium erhalten, zum 
Schaden anderer zur Geltung zu kommen. Es ist 
wohl wahr, dass der normale Mensch nicht absolut 
verhindert ist, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, 
sondern nur gezwungen ist, ihn einzuschränken. Dem¬ 


gegenüber muss sich der Urning in die Rolle des 
Kranken zu finden wissen und muss solchen Genüssen, 
welche ihm infolge der Natur seiner Erkrankung ver¬ 
wehrt bleiben, entsagen. 

Nun zählte der Vortragende die Gefahren auf, 
welche infolge der Uebertragung dieses Uebels das 
geistige, körperliche und ethische Wohl ganzer Gene¬ 
rationen bedroht, und w'ics besonders darauf hin, welche 
Gefahren die Schaffung einer männlichen Prostitution 
in sich birgt und giebt schliesslich der Ueberzeugung 
Ausdruck, dass eine Abänderung der diesbezüglichen 
Bestimmungen des Strafgesetzbuches nicht angezeigt 
erscheint. 

Di sc ussi on : 

Fischer: Ich stimme meinerseits vollkommen 
mit der Ansicht des Vortragenden überein, dass die 
sexuellen Perversitäten überhaupt nicht als Geistes¬ 
krankheit für sich, ja nicht einmal als das Symptom 
einer Geisteskrankheit angesehen werden können, so 
lange andere Symptome einer Geisteskrankheit nicht 
nachgewiesen werden können. Doch muss ich gegen¬ 
über der von Salgo vertretenen Ansicht daran fest- 
halten, dass die Neigung zum Uranismus in vielen 
Fällen angeboren ist. Das wissen wir nicht von den 
Sündern seihst, sondern aus dem Munde jener, die 
mit der Klage zum Arzte kommen, dass sie seit ihrer 
Kindheit von homosexuellen Gefühlen beherrscht 
w’erden. 

Den Ausführungen des Herrn Vortragenden habe 
ich kaum etwas beizufügen, doch muss ich hier er¬ 
wähnen, dass es auch Heterosexuelle giebt, welche 
unter gewissen Lebens Verhältnissen zur vollständigen 
Abstinenz gezwungen werden ; so z. B. die Geistlichen, 
unter denen es doch auch sicherlich vollständig Ab¬ 
stinente giebt. Warum sollten wir also nicht auch von 
den Homosexuellen vollständige Abstinenz fordern ? 
Wenn es aber vorkommt, dass ein Urning in voller 
Uebereinstimmung mit einem anderen seinen Ge¬ 
schlechtstrieb befriedigt und dafür bestraft wird, so 
gilt für diesen Fall der alte Satz: Summum jus, summa 
injuria. 

Szigcti: giebt der Ansicht Ausdruck, dass die an¬ 
geborene Homosexualität unter allen Umständen den 
Beweis dafür liefert, dass der Geisteszustand des Be¬ 
treffenden bezüglich der Geschlechtssphäre gestört ist. 
Nachdem jedoch die Psychiatrie eine isolirte Erkran¬ 
kung einzelner geistiger Functionen nicht kennt, so 
müssen wir logischerweise anerkennen, dass ange¬ 
borene Homosexualität auf eine allgemeine Geistes¬ 
störung hin weist. Der Geschlechtstrieb ist der mäch¬ 
tigste unserer Instincte und wenn derselbe bei je¬ 
mandem infolge angeborener Disposition eine perverse 
Befriedigung erfordert, so bandelt der so bcanlagte 
Mann unter dem Einflüsse eines unwiderstehlichen 
Zwanges, welcher ihm die Unrichtigkeit seines Han¬ 
delns nicht einsehen lässt, welcher ihn verhindert, die 
Strafbarkeit seines Thuns begreifen zu können; darum 
ist er auch nicht strafbar. Von diesen Formen sind 
die nicht angeborenen, also auch nicht pathologischen 
Formen der Perversität strenge zu scheiden. Diese 
verdanken ihren Ursprung verschiedenen moralischen 
und materiellen Uebeln und gegen diese Formen der 


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IQ03.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 46 } 


Perversität ist die ganze Strenge des Gesetzes anzu¬ 
wenden. 

Die auf einer angeborenen contracr-sexuellen 
Grundlage beruhende Perversion unterscheidet sich 
von der aus moralischer Verkommenheit hervor¬ 
gehenden Perversität hauptsächlich dadurch, dass: 

1. die geschlechtliche Perversion keine Sünde, 
sondern eine psychische Anomalie, eine Geisteskrank¬ 
heit ist, also ein abnormer, pathologischer Zustand; 

2. dass der homosexuelle Mann zur Befriedigung 
seiner Geschlechtslust keine unerwachsenen (ge¬ 
schlechtlich unreifen) Kinder, sondern nur erwachsene 
gebraucht, während der die gewöhnliche Unzucht 
(Perversität) ausübende Mann Knaben oder männ¬ 
liche Hetären bevorzugt; 

3. der contraer-sexuelle Mann nicht fähig dazu ist, 
die Päderastie im vulgären Sinne des Wortes (immissio 
penis in anum alterius) auszuüben, denn er empfindet 
Ekel davor, während sich die Perversität hauptsäch¬ 
lich in activer oder passiver Päderastie äussert. 

(Fortsetzung folgt.) 

— Solothurn. Nachdem schon im Jahre 1893, 
gestützt auf einen überzeugenden Vortrag des Herrn 
Dr. Greppin, Director der Heil- und Pflegeanstalt 
Rosegg bei Solothurn, von der kantonalen gemein¬ 
nützigen Gesellschaft die Gründung eines solothur- 
nischen IrrenhilfsVereins angeregt \v<>rden, ist 
derselbe nunmehr perfect geworden. Ein erweitertes 
Comitee von 30 Personen wurde vom engem Vor¬ 
stand beauftragt, der Angelegenheit im ganzen Canton 
Eingang und Boden zu verschaffen, um den bei uns 
wohnenden Geisteskranken und ihren Angehörigen 
mit Rath und That beizustehen und für die Hebung 
der öffentlichen Irrenpflege zu wirken. 

Preisausschreiben. Die Holtenzdorff-Stiftung 
setzte für die beste Bearbeitung des Themas : „Die 
strafrechtliche Behandlung der sog. vermindert Zu¬ 
rechnungsfähigen“ einen Preis von 1200 M. aus. 
Die Arbeiten sind bis 1. Dez. 1003 an den Schrift¬ 
führer der Stiftung, Rechtsanwalt I)r. Halle, Berlin, zu 
schicken. Das Preisgericht besteht aus den Herren: 
1. Medicinalrath Dr. Leppmann, Berlin. 2. Prof. Dr. 
van Hamei, Amsterdam. 3. Dr. Jaspar, Brüssel. 


Referate. 

— V. Cnngres international d’anthro- 
pologie criminelle. Amsterdam 9.-14. Sep¬ 
tember 1901. (Schluss.) 

P a r n i s e 11 i (Alexandria, Italien) fand bei Ver¬ 
brechern Anomalien des Circul. art. Willisii nach Ur¬ 
sprung, Entwicklung und Verlauf in 65,51 °/ 0 . Diese 
können eine schlechtere Ernährung und Entwicklung 
des Gehirns zur Folge haben. Bei den Verbrechern 
wurde das Gchirngewicht in 73,50 °/ (l zu leicht be¬ 
funden. In 51,72 °/ 0 davon entsprach das geringere 
Gehirngewicht jenen Anomalien des Circulus, wobei 
sich sonst noch allerlei pathologisch-anatomische Ver¬ 
änderungen des Gehirns und seiner Häute zeigten. 
Ein zu kleines Herzgewicht hatten 75,80 °/ 0 der Ver¬ 
brecher, und von diesen wiesen wieder 49,42 0 0 jene 

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Anomalien des Circulus, des Gehirns und seiner 
Häute auf. 

Moll: Der Arzt als Sachverständiger in Sachen 
der Sittlichkeitsverbrechen. 

Denis (Brüssel) giebl einen historischen Ueber- 
blick über die Anschauungen des Socialismus des 
XVIII. und XIX. Jahrhunderts, mit Bezug auf die Ent¬ 
stehung des Verbrechens. Der Socialismus legt das 
Hauptgewicht auf die politische und sociale Structur 
der Gesellschaft. 

Sutherland (Melb<>urne). Bis 1850 deportirte 
England seine Verbrecher nach Australien. Die freie 
dort eingewanderte Bevölkerung machte nur einen 
kleinen Theil aus. Trotzdem weist jetzt Australien 
keine grössere Verbrecherstatistik auf als die dviiisir- 
testen Staaten. Ja die Provinz Tasmania, die die 
meisten Verbrecher aufnahm, steht am günstigsten 
von allen übrigen Provinzen. Wie kommt das? Von 
den zwei Verbrecherkategorien hat sich der Gclegcn- 
heitsverbrechcr den neuen Verhältnissen angepasst, 
seine überschüssige Energie ist in die richtigen Bahnen 
gelenkt worden, er ist ein guter Bürger geworden. 
Ebenso seine Kinder. Die Blutmischung mit der 
normalen Bevölkerung hat das übrige gethan. Hin¬ 
gegen sind die geborenen Verbrecher langsam aber 
sicher ausgeschaltet worden. Sic sind von Laster 
und Krankheit hingerafft worden, tlieils haben sie sich 
gegenseitig selbst aufgerieben, tlieils sind sie hinge¬ 
richtet worden. Auch hinterlassen sie selten Kinder, 
weil die Weiber, mit denen sie verkehren, darnach 
sind. Als niederer Typus müssen sie aussterben, wie 
die Wilden. 

Frl. Poppee (Wien) hebt die Bedeutung der 
Graphologie für die gerichtliche Praxis hervor und 
fordert eine bessere Ausbildung und Förderung der 
Graph* »logen. 

Lombroso und Au deni n o machten Blutdruck¬ 
messungen bei Normalen, Epileptischen, Prostituirten 
und geborenen Verbrechern. Resultate unbestimmt. 

Carrara und Murgia stellten bei etwa 50 
jugendlichen Verbrechern von Cagliari Untersuchungen 
an. Diese Stadt hat bei ihren traurigen socialen Zu¬ 
ständen eine zahlreiche verwahrloste Strassenjugcnd. 
Die Hauptvergehen bestanden in Diebstahl und sexu¬ 
ellen Verirrungen. Nur etwa 10 ° 0 zeigten den Ver¬ 
brechertypus, und nur 5 °/ 0 hatten Eltern, die schon 
im Gefängniss oder in der Irrenanstalt waren. Die 
meisten der jugendlichen Sünder werden später ehr¬ 
liche Menschen. 

M m c. G i n a L onibrnso: Die I Iauti eflexc 
werden auch bei den Normalen mit dem Alter viel 
schwächer, besonders bei den Frauen. Am meisten 
gilt das für die Baue hrcflexe, weniger für die Plantar¬ 
reflexe. Diese Verminderungen sind bei den Ver¬ 
brechern ausgeprägter. Bei den Kindern treten zu¬ 
erst die Plantarreflexe auf. 

Garnier (Paris): Die Zahl der jugendlichen Ver¬ 
brecher wächst rascher als die der erwachsenen. 
Beim Mord sind die jugendlichen Verbrecher 0 mal 

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464 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT._[Nr. 41. 


mehr betheiligt als die erwachsenen, wenn man in 
der gleichen Periode die Lebensalter von 16 — 20 
und 31—35 Jahren einander gegenüber stellt. Die 
Hauptursache dieser Erscheinung ist der Alkoholismus. 
Der jugendliche Verbrecher ist gewöhnlich der Sohn 
eines Alkoholikers, ein Instinkt-Mensch mit mangel¬ 
hafter intellectueller und moralischer Entwicklung. Die 
Gegenmaassregeln bestehen in der Erziehung, Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus und Unterbringung der 
Unverbesserlichen in besonderen Vcrbrecheranstalten. 

Berillon hat mit dem Hypnotismus Heilungen 
erzielt bei Degenerirtcn, bei denen es sich um Klep¬ 
tomanie, Onanie, moralische Perversitäten (Charakter¬ 
fehler, Trägheit) und Onychophagie handelte. 

Lombroso: Die neuesten Ergebnisse der Kri¬ 
minalanthropologie seit 1897. 

Falco berichtet über die Reformen, die auf 
Grund der Kriminalanthropologie auf Cuba eingeführt 
werden. 

Zuccarelli (Neapel) empfiehlt die Kastration 
der Geisteskranken, Degenerirten, Alkoholiker, Syphi¬ 
litiker, Verbrecher etc. Eine Kommission entscheidet 
darüber, wer sich dieser Procedur zu unterziehen hat- 
Bei den Frauen durchtrennt man die Tube und ver¬ 
näht den uterinen Theil, bei den Männern macht 
man entweder die eigentliche Kastration, oder durch¬ 
trennt das Vas deferens. Diese Methode zieht Vf. 
wohlweislich dem Heirathsverbut vor. 

Legrain hat in Villc Evrard seit 4 Jahren etwa 
1600 rückfällige Trinker gezählt, d. h. 20— 25 ° 0 
der Kranken. Er bespricht die socialen und fami¬ 
liären Ursachen dieses Recidivismus und ihre Ab¬ 
hülfe. 

Sutherland (Melbourne): Jeder ist das Product 
von Erblichkeit und Milieu, handelt so, weil er so 
handeln muss. Die Gesellschaft hat aber den Be¬ 
griff der Verantwortlichkeit eingeführt. Dieser ist 
eine Fiction, aber für sie nützlich. Wer sich vergeht, 
ruft eine entsprechende Reaclion hervor. Die Furcht 
vor dieser wirkt als Gegenmotiv. Die Strafe als 
Rache hat keinen Sinn. 

Tschisch (Dorpat): Um den Einfluss von Rasse 
und Nationalität auf die Kriminalität zu untersuchen, 
eignet sich am besten Livland. Die socialen, öcono- 
mischen, politischen und kulturellen Bedingungen 
sind dort die gleichen, während die Bevölkerung 
tlieils aus Esten, Nachkommen der Finnen, theils aus 
Letten, Nachkommen der Arier, besteht. Die Esten 
sind Landbevölkerung. Es zeigt sich nun, dass Kinds¬ 
mord und Mord bei den Esten doppelt so häufig 
vorkommt als bei den Letten (1891—05). Mord meist 
aus Hass und Rache. Dasselbe gilt für die Körperver¬ 
letzungen und die Vergehen gegen das Eigenthum. 
Den Grund hierfür sieht Vf. in dem biologischen 
Faktor. 

Derselbe: Die psycho-physische Schwäche der 
Verbrecher äussert sich psychisch in der vorwiegenden 
Thätigkeit der niedern Nervencentren , also in der 
Vorherrschaft des Instinkts vor der Intelligenz, in der 


Arbeitsscheu, in der Unfähigkeit, die Folgen einer 
Handlungsweise abzuwägen, im Mangel von jeglichem 
Altruismus, jeglicher Reue. Physisch in der Schwäche 
und Langsamkeit des Pulses, in der angeborenen 
Verengerung der Aorta, in der Arteriosklerose, in 
Schädelmissbildung und • Abstumpfung der Hautsensi¬ 
bilität. Alkoholismus, Geistes- und Nervenkrankheiten 
finden sich fast immer in Verbrecherfamilien. All 
das stempelt den Verbrecher zu einer pathologischen 
Natur. 

Voisin: Statistisches aus der Ecole de refonne 
der Salpetrierc. Eröffnet 1891 für Mädchen. 

A n t o n i n i (Voghera): Nicht jeder Geisteskranke, 
der ein Verbrechen begangen hat, soll in die An¬ 
stalt für geisteskranke Verbrecher gebracht werden. 
Nicht das Verbrechen an sich entscheidet, sondern 
die Biologie des Verbrechers. 

Derselbe: Statistisches über die Vertheilung 
v«»n Verbrechen, Degeneration und Geisteskrankheiten 
(Epilepsie, Alkoholismus, Pellagra) in der Provinz 
Bergamo. Diese Provinz hat 3 Zonen, eine bergige, 
hügelige und ebene, was sich auch in jener Statistik 
geltend macht. 

S t r uc 1 e n s: In Belgien werden jugendliche Per¬ 
sonen unter 16 Jahren, die sich ein Vergehen zu 
schulden kommen Hessen, nicht bestraft, sondern ver¬ 
mahnt. Auch sonstige Maassnahmen werden er¬ 
griffen, um Vergehen zu verhüten. Gesetze, die 
Kinder gegen den Missbrauch der elterlichen Gewalt 
zu schützen, sind in Vorbereitung. Vf. weist vor 
allem auf die segensreiche Thätigkeit der Kinderschutz- 
vercine hin. 

M a r c o Trevcs (Turin): Es giebt geborene 
Verbrecher und Epileptiker ohne äussere und innere 
Degenerationszeichen. Diese weisen aber alsdann 
solche functioneller Natur auf, z. B. Anästhesie, Ge¬ 
hässigkeit, Empfindungsanomalien des Temperatur¬ 
sinnes und dergl. Sie finden sich vielfach bei Epi¬ 
leptikern, die keine Krämpfe und anatomischen De¬ 
generation szeichen haben. 

Derselbe: Bei Kälteanwendung erfolgt reflecto- 
risch eine tiefe Inspiration. Dieser Inspirations-Reflex 
fehlt manchen geborenen Verbrechern und Epilep¬ 
tikern. 

Derselbe unterscheidet f< »lg. Nagelformen: Do- 
licho-, Braehv-, Maero-, Micro- und Plagio-Onychie. 
Bei den geborenen Verbrechern und den Geistes¬ 
kranken kommen morphologische Anomalien der 
Nägel häufig vor. Sie sind entweder eine Abweich¬ 
ung vom ethnischen Nageltypus, oder beruhen auf 
krankhaften Prozessen. Ganter. 


B e r i c h t i g u n g. In Nr. 37 der psychiatr.-neu- 
rolog. Wochenschrift S. 415 links, Spalte 23 von oben 
muss es statt „c o n centrisch angelegt“ heissen: „ex ¬ 
centrisch". 


Für den rcdactionellen Thiil verantwortlich: Oberarzt Or. J. BresUer, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerci (Gebr. WoHT) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. h, Edinger, 

Uchtspringe ( Altmarkj. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a . M. 

Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. 13 . Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice Seine). Andernach. Pertb (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdoccnt, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marho ld Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr, 42 . 17 - Januar. 1903 . 

Die I’sych i atri sch - Neu r ol o gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. Von Prof. Dr. 
Moeli, Geh. Med,-Rath (Schluss) (S. 4Ö5). — Mittheilungen (S. 470). — Referate (S. 471). — Personalnachrichten (S. 472), 


Einiges über die Weiterentwicklung 
der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. 

Von Prof. Dr. Moeli, Geh. Med -Rath. 

(Schluss.) 


Ganz so liegt aber die Sache nicht hei einer 
Bevölkerung, die aus den Strassen einer Grossstadt 
andere räumliche Gewohnheiten mitbringt. Natürlich 
muss auch für sie die Anstalt frei liegen, aber das 
Eigengebiet der Anstalt muss nur so gross sein, dass 
es eine vollkommene Fernhaltung von störenden Ein¬ 
flüssen seitens der Anlieger gewährt und Raum für 
ausgiebige Bewegung in abwechselnder landschaftlicher 
Umgehung bietet. Ein grosser Park mit eingelagerten, 
nutzbar zu machenden Wiesen, mit Teichen, wo¬ 
möglich Wasserläufcn mit eventuell nach -einer Seite 
hin zu verlegenden Feldern, deren räumlicher Ein¬ 
druck bekanntlich durch die Landsehaftsgärtnerei sehr 
gehoben werden kann, muss verlangt werden. Das 
uns zu Gebote stehende Areal z. B. von oo 
ha hat sieh allmählich in diesem Sinne so ab- 

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wechslungsreich gestalten lassen, dass es nicht nur 
Bewegungsgelegenheit genügend bietet, sondern auch 
die wohlthuenden Eindrücke der Natur vielfach zu 
verbinden und wechselnd zu gestalten erlaubt. Für 
die aus der Grossstadt kommenden Kranken der un¬ 
bemittelten Klassen bietet es zum Ergehen in an- 
muthender Umgebung wie zur Beschäftigung im 
Freien, was man braucht. Noch freiere Bewegung 
kann dann durch „Ausgänge“ stattfinden. Eine grössere 
Ausdehnung des Grundbesitzes schadet gewiss nichts. 
Wenn man sich aber fragt, was braucht man unbe¬ 
dingt für diese grossstädtischen Kranken, so wird 
man nicht etwa der Ausdehnung des Gebiets gegenüber 
der örtlichen Entfernung von der Stadt, der Zugänglich¬ 
keit u. A. eine allzugrosse Bedeutung beimessen. 
Ich würde auch keinen Anstand nehmen, inmitten 

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466 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42 . 


einer vor Bebauung gesicherten und den Kranken 
zugänglichen Umgebung — wenn es sein müsste — 
das eigentliche Anstaltsgebiet noch etwas enger zu 
begrenzen, wenn dafür bessere Lage und Verkehrs¬ 
verbindungen gewonnen würden. 

Weniger Uebereinstimmung als in den Anschau¬ 
ungen über die Ausdehnung der nöthigen Bodenfläche 
wird wohl über die Grösse der einzelnen Häuser 
herrschen. Es besteht zweifellos jetzt eine Vorliebe, 
kleinere und für einzelne Kranken - Gattungen nur 
einstöckige Gebäude herzustellen. Die Vortheile 
solcher Bauart sind ja augenfällig. Schon das Be¬ 
streben, einen freien und ländlichen Eindruck in der 
Anordnung des Ganzen hervorzurufen, führt darauf. 
Dieser Character kann durch die Errichtung grösserer 
Gebäude leicht eine Einbusse erleiden, namentlich 
wenn zu der Grösse der Gebäude noch eine zu regel¬ 
mässige Anordnung derselben kommt. Immer werden 
kleine oder mittelgrossc Häuser in passender Zer¬ 
streuung im Allgemeinen einen günstigeren Eindruck 
machen und das ungewöhnliche, um nicht gar zu 
sagen bedrückende einer grossen Gesammtanlage für 
die Kranken am ehesten vermeiden lassen. (Auch 
hierbei werden sich übrigens die aus gedrängten 
Wohnungsverhältnissen und „Miethskasemcn“ kommen¬ 
den Kranken weniger empfindlich zeigen.) 

Diesen unzweifelhaften Vorzügen kleinerer Gebäude 
stehen nun gewisse Nachtheile gegenüber. Die Aus¬ 
dehnung der Anlage wird natürlich grösser. Damit 
steigern sich die Kosten, namentlich für Wasserver¬ 
sorgung und Entwässerung, für den die Heizrohren 
bergenden unterirdischen Kanal, für die Wegeanlagen 
u. A. Auch kann man in der Zahl mancher Räume 
(Theeküchen, Kleiderablagen, Aufenthaltszimmer des 
Pflegepersonals, ärztliche und Geräthe-Räume), die 
in jedem Hause vorhanden sein müssen, bei Anlage 
grösserer Gebäude eine gewisse Ersparnis* erwarten. 
Will man den grossen Entfernungen, die durch Ver- 
theilung in sehr viele kleine Gebäude entstehen, ent¬ 
gegenwirken, so läuft man Gefahr, die Häuser zu 
dicht aneinander zu rücken, die Gärten zu verkleinern, 
gegenseitige Störungen durch Geräusche und Gesichts¬ 
eindrücke zu begünstigen. 

Der Dienst wird auf kleineren Häusern erschwert 
durch die geringere Gesammtzahl des Personals und 
die Schwierigkeit der Ausgleichung und des Wechsels 
im Dienste, durch die Nothwendigkcit, das Essen 
nach sehr vielen Stellen zu fahren; dazu kommt die 
Zersplitterung der Aufsicht durch erfahrenes Ober- 
Pflegepersonal und die Belastung des ärztlichen 
Dienstes. Daher hat man sich zu prüfen, für welche 

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Kranke ist von der Kleinheit des Hauses bestimmt 
so viel mehr Nutzen zu erwarten, dass man diese 
Bedenken zurückstellen muss. Dabei wird stets vor¬ 
ausgesetzt, dass es auch bei grösseren Gebäuden der 
Vertheilung und Gruppirung — namentlich dem 
Zwischenschieben von kleineren Bauten (Werkstätten, 
Badeanstalten und ähnliches) und von reichlichen 
Zieranlagen und der Trennung durch hier eher als 
bei vielen kleinen Häusern zu Gebote stehende 
grössere Zwischenräume — gelingt, eine eintönige 
oder gar drückende Wirkung zu vermeiden. 

Ist dies der Fall, so wird man für den Theil 
der Kranken, welcher durch die Grösse des Hauses 
in seinem Befinden voraussichtlich nicht beeinflusst 
wird, ausgedehntere Gebäude ohne Schaden ver¬ 
wenden können. Hieher gehören zunächst Kranke, 
die dauernd oder fast dauernd bettlägerig sind. 
Wir brauchen für sie hygienisch besonders sorgfältig 
ausgearbeitete Räume, zum grossen Theil ebenerdig, 
— alle mit doppelseitiger Belichtung und Lüftung, 
bequem gelegene Closets und Baderäume u. s. w. 
Gegen die Zusammenfassung mehrerer solcher Ab¬ 
theilungen von etwa je 35 — 40 Plätzen in einem 
Gebäude bestehen aber weder hygienische noch spe- 
ciell psychiatrische Bedenken. Ist nur recht ausgie¬ 
biger Raum gewährt, so kann man sehr wohl einen 
grösseren Bau etwa in der Art herstellen, wde das in 
Buch für die sogenannten Pflegehäuser — die bei 
weitem grössten, mit etwa 150 Plätzen — geschehen 
ist. Ein fast nur auf einer Seite des Korridors aus- 
gebautes Mittelstück enthält den kleineren Theil der 
Krankenzimmer, nämlich die für nicht vorwiegend 
Bettlägerige, mit einigen Tagesräumen, und alle übri¬ 
gen Gelasse. An den Enden treten je zwei grosse 
Anbauten mit doppelt belichteten Sälen und den zu¬ 
gehörigen Neben räumen für die vorwiegend bettläge¬ 
rigen Kranken vor. Das Obergeschoss ist ebenso 
gebildet und bestimmt für in der Bewegung weniger 
Beschränkte. Es sind also gewissermassen vier Doppel¬ 
baracken für die Masse der aus verschiedenen Grün¬ 
den mehr oder weniger Bettlägerigen vorhauden. 
Sie sind verbunden worden durch ein Mittelstück von 
solcher Länge und Anordnung, dass Licht- und Luft¬ 
zutritt und Luftwechsel überall gesichert ist Das 
Dachgeschoss ist nur z. Th. ausgebaut und aus¬ 
schliesslich für das Pflegepersonal bestimmt, es ent¬ 
hält dessen Schlafräume und Aufenthaltszimmer, die 
Wohnung des Oberpflegers, die nöthigen Kleider¬ 
kammern u. s. w. An der freien Seite des Mittel¬ 
baues befinden sich Veranden. Die nähere Raum- 
vertheilung ergiebt sich aus dem Grundriss Nr. 1. Es 
ist nicht zu erwarten, dass vorwiegend Bettlägerige 

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* 9 ° 3 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


467 


bei diesen gegenseitige Störungen ausschliessenden 
Anordnungen von der Grösse des Baues Nachtheile 
hätten. — 

Es sei hier gleich — als Einschaltung — die 
Unterbringung des Pflegepersonals erwähnt. In der 
Lichtenberger Anstalt schläft das Pflegepersonal nicht 
in von Kranken benutzten Räumen, sondern soweit 
möglich (und abgesehen von den zweistöckigen Land¬ 
häusern) in den nur theilweise ausgebauten Dachge¬ 
schossen. Nur ein Bruchtheil der Pfleger muss aus dienst¬ 
lichen Gründen in kleinen, aber ganz abgeschlossenen 
Zimmern, die auf den beiden unteren für die Kranken 


Die Errichtung selbständiger Wohnhäuser 
für das Pflegepersonal halte ich für unsere Ver¬ 
hältnisse vorläufig noch nicht für unbedingt nöthig. 
Es hat sich gezeigt, dass durch eine möglichst gründ¬ 
liche Trennung, also durch Verlegung in ein beson¬ 
deres Stockwerk, es gelingt, den Pfleger in seiner 
freien Zeit, namentlich Abends, gewissermaassen aus 
der Atmosphäre des aufreibenden Krankendienstes 
herauszubringen. Dies meines Erachtens unabweis- 
liche Bedürfnis wird ja zweifellos durch Wohnen in 
gesondertem Hause noch gründlicher befriedigt. Be¬ 
sucht man ein nurses liome, wie z. B. das der An- 


Gnindriss Nr. 1. 



/tfve. 

Haus für 150 schwache Kranke der Anstalt für Geisteskranke der Stadt Berlin in Buch. 

Erdgeschoss. 

a Corridore, auch als Tagesräume zu benützen und auf offene Hallen (H) mündend, b Einfenstrige Zimmer für einzelne Kranke 
(Schlafzimmer), b , event. für wegen Infectionsgefahr (massigen Grades) Abzusondernde, für Erregtere oder für dem Anblicke der 
übrigen zu Entziehende (Moribunde u. A.). c Tage- und Speise-Räume für die nicht dauernd bettlägerigen Kranken, d Säle 
für dauernd oder ganz vorwiegend bettlägerige Kranke, e Schlafräume für nicht dauernd bettlägerige Kranke, f Küchen- und 
Anrichteraum, g Sprechzimmer und Vorzimmer, h Zimmer für einzelne Pfleger, welche auf diesem Stockwerk schlafen müssen, 
während die grosse Mehrzahl der Pfleger im Dachgeschoss untergebracht ist. Dort befindet sich auch der Aufenthaltsraum für 
Pfleger, i Wäsche- und Gerätheraum. k Wasch- und Baderaum. I Raum für verlängerte Bäder, m Aerztliches Untersuchungs¬ 
zimmer. n Chirurgisches Zimmer, mit besonders grosser Fensterfläche, Fliessenbelag, Entwässerung u. s. w. ausgestaltet. (Im 
Obergeschoss können g , m und n als Räume für Beschäftigung u. s. w. verwandt werden.) H Veranden (Hallen). 


bestimmten Stockwerken — aber möglichst getrennt von 
den Krankenräumen — liegen, schlafen. Nur so erhalten 
Pfleger und Kranke ihr Recht: die Vermeidung gegen¬ 
seitiger Störung. Bei der neuen Anstalt soll dies 
noch vollständiger durchgeführt werden, es hat nm 
der für Nothfälle gar nicht entbehrliche Theil des 
Pflegepersonals Schlafraum im Erd- und Obergeschoss 
erhalten. 


stalt Gartloch bei Glasgow, so kann über die Vorzüge 
solcher Einrichtung an sich kein Zweifel bestehen 
bleiben. Für das Pflegepersonal kann nicht leicht 
genug geschehen, denn es kann bekanntlich mehr 
verderben, als die schönste bauliche Anordnung nützen 
kann. Wenn nun trotzdem auf besondere Wohn¬ 
häuser für die Pfleger zunächst verzichtet ist, so ge¬ 
schah dies aus mehreren Erwägungen. Dass, um 


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4 68 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


einen gar zu grossen Bau und seine Nachtheile — 
gerade für diese Personen — zu vermeiden, die Her¬ 
stellung mehrerer Häuser nothwendig gewesen sein 
würde, war kein durchschlagender Grund. Wesent¬ 
licher aber wirkt der Umstand, dass das Pflegeper¬ 
sonal bei einem etwas weiter entfernten besonderen 
Wohngebäude — und eine gewisse Entfernung wird 
sich bei einer sehr grossen Anstalt schwer vermeiden 
lassen — manche Unbequemlichkeit mit in den Kauf 
nehmen müsste. Ich will kein besonderes Gewicht 
darauf legen, dass ein Zusammenwohnen von einigen 
2o|Personen, wiejetzt, und die Anordnung entsprechender 


man nicht eine Zusammenkunft in grösserer Zahl 
durch Vorträge oder sonstige Veranstaltungen schmack¬ 
haft machen, so zieht die Mehrzahl kleinere Kreise 
des Verkehrs vor. 

Schliesslich aber kommt die Störung, welche für 
die kurzen Dienstpausen im Laufe des Tagesdienstes 
durch das Wohnen ausserhalb der Krankenhäuser, 
selbst in mässiger Entfernung, entsteht, erheblich in 
Betracht. Es soll bei uns einem jeden Pfleger in der 
Regel die Möglichkeit gegeben werden, unter wech¬ 
selnder Ablösung im Dienste, um die Mittagszeit für 
etwa 3 /4 Stunden aus den Krankenräumen heraus- 


Grundriss Nr. 2. 



* S 70 20 30 

-O'-“»-- - l 1 ■ J- - 1- 

/cW. 


Offenes Haus für 100 geordnete Kranke der Anstalt für Geisteskranke der Stadt Berlin in Buch. 

Erdgeschoss. 

a Tageräume, h Schlafräume, b, Einfenstrige Zimmer für einzelne Kranke oder Pfleger, die Räume für die Mehrzahl der letzteren 
liegen im Dachgeschoss, c Für zwei Abtheilungen (also für 30 Kranke) gemeinsamer Speisesaal, d Kleiderablage und Wasch¬ 
raum für ausser dem Hause Beschäftigte, e Küchen- und Anrichteraum, f Fahrbare Wanne und Gerätheraum (h und f im 
Obergeschoss für Ausbesserungen u. s. w.). g Waschräume. Brausebäder u. s. w. h Arztzimmer (im Obergeschoss für häusliche 
Beschäftigungen), i Raum für 1 Bett oder einen Pfleger oder fahrbare Wanne (auf verlängerte Bäder wird hier nicht gerechnet). 
k Vorhalle. L Lazareth für leicht körperlich Kranke, oder zeitweise der Ruhe Bedürftige (nur im Erdgeschoss vorhanden). 


Erholungsräume, vielleicht gemüthlicher sich ausbilden 
lässt, als wenn eine drei- bis vierfach so grosse Zahl 
unter einem Dache versorgt werden soll. Immerhin 
haben wir erfahren, dass sich für die Zeit nach dem 
Dienste vorzugsweise kleinere Gruppen im Pflcgeper- 
sonale bilden und dass gemeinsame Erholungen und 
Gesclligkeitsgelegenheiten für eine grössere Menge bei 
dem Pflegepersonal im Allgemeinen nicht besonders 
beliebt sind. Ein Kreis wie der oben angegebene 
genügt zumeist für den regelmässigen Verkehr. Kann 


zukommen. Für die anstrengendere Thätigkeit — in 
Lazarethen u. s. w. ist dies durch regelmässige Ab¬ 
lösung in bestimmtem Wechsel für eine längere Pause 
gesichert. (Nur auf den Landhäusern, wo eine Auf¬ 
sicht über die Kranken nicht verlangt wird, ruht der 
Dienst nach Tisch gewissermassen von selbst einige 
Zeit.) Es ist leicht ersichtlich, dass sich diese Dienst¬ 
pause nur bei nicht zu weiter Entfernung des Wohn- 
raumes des Pflegers von der Dienststelle befriedigend 
durchführen lässt. So ist cs gekommen, dass wir das 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wohnen in den Krankenhäusern, aber möglichst ge¬ 
trennt von den Kranken, in anderen Stockwerken, 
wenn auch unter demselben Dache, vorläufig noch 
beibehalten haben. 

Eine vollkommene Ausnahme hiervon muss man 
aber bei dein Theilc des Personals machen, welcher 
den Nacht w a ch dienst in Vollwachen unter 
monatlichem Wechsel versieht und daher den grössten 
Theil des Tages zur Ruhe verwenden muss. Für diese 
Personen ist ein Wohnen ausserhalb des Gebäudes, 
wo sic Dienst tluin, nicht nur erwünscht, sondern 
auch für den ganzen Dienst in den Krankenhäusern 
förderlich. Sie finden hier am Tage nur schwer voll¬ 
kommene Ruhe und waren bei den für sie noth- 
wendigen Ausgängen und Spaziergängen und wegen 
des Ruhebedürfnisses, trotzdem ihre Schlafzimmer im 
2. Stock möglichst abgesondert gewählt waren, den 
Uebrigen nur im Wege. Deshalb haben wir jetzt 
diese Pfleger und Pflegerinnen sämmtlich für die 
einen Monat betragende Nachtdienstperiode auf 
in den Parkanlagen befindliche Landhäuser und 
zwar unter möglichster Berücksichtigung ruhiger Unter¬ 
kunft daselbst verlegt. Sie betreten die Hauptanstalt 
nur zum Antritt ihres Dienstes. Natürlich kann man 
eine solche Einrichtung auch in einem eigenen Ge¬ 
bäude bewirken; dass dies liier nicht geschehen ist, 
liegt nur daran, dass uns bisher geeignete Räume zu 
Gebote standen und dass die Zahl des Nachtwach¬ 
personals für Vollwacheu — im Ganzen 18 Männer 
und 12 Frauen — sich noch ohne Bedenken im 
Oberstock je eines Landhauses unterbringen liess. — 
Die Herstellung eines eigenen Wohnhauses wird dann 
nothwendig werden, wenn man die Durchführbarkeit 
weiblicher Krankenpflege auch auf einzelnen Männer- 
Abtheilungen bestimmt bejahen kann. — 

Nach dieser Abschweifung über das Wohnen des 
Pflegepersonals wende ich mich zurück zu den Be¬ 
merkungen über die Grösse der Kranken-Häuser. 
Als eine Probe des in der Ausdehnung dem grossen 
Pflegchause am nächsten kommenden Gebäudes ist 
der Grundriss Nr. 2 „offenes Haus“ beigefügt. In 
diesem Hause, welches ohne besondere Sicherung ist, 
sollen loo Kranke von geordnetem Verhalten unter¬ 
gebracht werden. Es sind dabei Korridore ver¬ 
mieden. Man fürchtet nun — abgesehen von dem 
äusseren Eindruck — von einer übermässigen Grösse 
eines Hauses, dass sich die Kranken gegenseitig stö¬ 
rend beeinflussen. Dies zu vermeiden ist natürlich 
um so leichter, je ruhiger und in ihrem Wesen über¬ 
einstimmend die Kranken sind. Gerade die grossen 
Anstalten können wegen der erheblichen Zahl der 
Insassen auch in etwas grösseren Gebäuden die Be- 

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-} f >0 

legschaft eher gleichartig gestalten. Dann aber kommt 
es bei der Frage der gegenseitigen Störung durchaus 
nicht etwa nur auf die Grösse eines Hauses, sondern in 
erster Linie auf die Grösse der einzelnen A bth ei 1 u n g 
an. Stehen genügende und mehrfache Tagesräume 
für jede Abtheilung zu Gebote, so hat auch hier das 
Zusammen fassen mehrerer Gruppen unter einem Dache 
keine schädlichen Folgen. Aus der Figur 2 ist nun 
ersichtlich, dass eine Gruppirung zu je 25 Kranken 
in dem Hause durchgeführt ist, also in einer Zahl, 
welche zweifellos eine durch zu grosse Massen her¬ 
beigeführte Unbehaglichkeit oder gar Unruhe bei so 
geordneten Kranken ausschliesst. Andererseits gestatten 
die vier Abtheilungen, nicht zusammengestimmte Ele¬ 
mente zu vertheilen. Es ist sonach die Zahl in einer 
Abtheilung eher geringer als die derjenigen Kranken, 
welche in einem kleineren Hause für Ruhige, aber 
ohne Unterabtheilungen mit einander in Berührung 
treten würden. Nur der Speisesaal ist für je 2 Abtheil¬ 
ungen, also für 50 Kranke, eingerichtet, wie sich dies 
uns durchaus bewährt hat. 

Wie in diesem sogenannten „offenen Hause“ soll 
auch im Aufnahme-Hause keine Abtheilung über 25 
Kranke enthalten und dabei in allen Räumen getrennt 
sein. 

Die Landhäuser als kleinste bauliche Einheiten 
bieten etwa je 40 Plätze. Plier, bei nicht mehr be¬ 
sonders zu beaufsichtigenden Kranken stellt jedes 
eine Abtheilung dar. Es konnten auf diesen Häusern 
wieder eine grössere Anzahl von Kranken in unmittel¬ 
bare Berührung, ohne Gliederung in Abtheilungen, 
gebracht werden als dort, wo, wie im sog. offenen 
Hause der Hauptanstalt, die Auslese in dieser Richt¬ 
ung noch eine sorgfältigere sein muss. 

Dass für diese Kranken über eine gewisse Grösse 
des Gebäudes (hier 40 Plätze) nicht hinausgegangen 
werden kann, ergiebt sich aus ihrer Eigenart. Einmal 
sind es genesende oder in Folge ihrer Besserung der 
Entlassung entgegensehende Kranke. PTir sie soll nach 
bekannten Grundsätzen möglichst wenig „Anstalt“ und 
möglichst viel „Heim“ hergestellt werden. Gerade dieser 
durchgreifende Unterschied, der in der Grösse wfie in 
der Lage und der Einrichtung der Häuser zum Ausdruck 
gelangt, kann übrigens auch ärztlich verwandt werden. 
Zu den erwähnten, voraussichtlich in absehbarer Zeit 
zur Entlassung kommenden Kranken tritt eine Reihe 
von länger der Anstaltspflege bedürftigen, geordneten 
Personen, deren Zustand mehr eine zweckmässige 
Behausung und Schutz vor den Einwirkungen des 
Aussenlebens bedingt als eine eingreifende Behand¬ 
lung und genaue Ueberwachung. Auch sie finden 
zweckmässig in kleineren freiliegenden Häusern Platz. 

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4?o 

Aus dem Gesagten wird sich ergeben, nach welchen 
Grundsätzen verfahren worden ist. Die Abschätzung 
der verschiedenen Kategorien des Krankenbestandes 
ist maassgebend gewesen. Soweit kleine Häuser nütz¬ 
lich sind, werden sie erbaut. Wo die grosse Menge 
der Kranken mit ausgesprochen tiefergreifenden Ver¬ 
änderungen des Gehirns — also von Paralytischen, 
Senilen, an Gefässveränderungen u. s. w. Leidenden, 
welche die Grossstadt liefert — oder der aus anderen 
Gründen vorzugsweise mit Bettruhe zu pflegenden 
Kranken mehr eine Hospitaleinrichtung erforderte, ist 
die Zusammenziehung der Abtheilungen zu grösseren 
Gebäuden nicht abgewiesen worden. 

Wie sich die Familienpflege unter Aufsicht der 
Anstalt in Buch gestalten wird, muss abgewartet werden. 
Für ihre Einrichtung in einem gewissen Umfange er¬ 
scheinen die Verhältnisse, bei Heranziehung der an 
derselben Vorortlinie liegenden Ortschaften, durchaus 
nicht ungünstig. Die Lage der neuen Anstalten, etwas 
entfernter von der Stadt, könnte sogar auf den ersten 
Blick viel vortheilhafter erscheinen, als die der dicht 
an dem eng bebauten Stadtgebiet liegenden älteren. 

Indess kommt es bei unserer Familienpflege nicht 
in erster Linie auf geringere Wohnungsdichte, ruhige 
Umgebung u. s. w\ an, sondern, wenigstens für einen 
gewissen Theil der Kranken, auch auf möglichste 
Anlehnung an die früheren Verhältnisse. Die Unter¬ 
bringung in den mehr ländlichen Verhältnissen der 
Vororte mit ihrem Gemüsebau u. s. w\ kann daher 
für dauerndere Versorgung Vorzüge gegenüber der in der 
Stadt bieten, sie wird aber nicht in allen Fällen für 
die Anbahnung der Rückkehr in die frühere Beschäf¬ 
tigung u. s. w. und für die Erreichung einer möglichst 


[Nr. 42 . 

dem bisherigen Lebensgange entsprechenden Lage ge¬ 
nügen. Daher wird vielleicht eine Neuordnung der 
fachmännisch ärztlichen Aufsicht der Familien pflege, 
welche cs gestattet, Kranke, die aus verschiedenen 
Anstalten stammen, zusammenzufassen, sich nützlich 
erweisen. Die Aufsicht über in Pflege Gelangende 
braucht dabei nicht sofort oder in allen Fällen auf 
diese Weise geführt zu werden, sondern kann je nach 
der Art des Falles auch — vielleicht nur für ge¬ 
wisse Zeit — noch von der entlassenden Anstalt aus¬ 
geübt w f erden. 

Aus allen obigen Ausführungen ersieht man, wie 
die Fürsorge einer so grossen Stadt wie Berlin in 
mehrfacher Beziehung, namentlich in der Art der bis¬ 
herigen Lebensbedingungen der Kranken und in 
starkem Ueberwiegen der Aufnahme über die Bestands¬ 
ziffer Abweichungen gegenüber anderen Stellen dar¬ 
bietet Trifft letzteres allerdings in besonderem 
Maasse für die bestehenden Anstalten zu, so werden 
doch auch die künftigen, in w'esentlichen Punkten, den 
geschilderten Eigenthümlichkeiten anzupassen sein. 

Eine erschöpfende Darstellung des Planes für die 
Weiterentwicklung der Berliner Fürsorge war, wie der 
Titel dieses Aufsatzes zeigt, hier nicht beabsichtigt. 

Bei dieser Aufgabe w r ürden noch andere Fragen, 
die ebenfalls durch die Eigenthümlichkeiten einer rein 
grossstädtischen Bevölkerung besondere Bedeutung er¬ 
langen , namentlich die zweckmässige Unterbringung 
solcher mit zahlreichen Delicten im Vorleben behaf¬ 
teter Kranker, bei denen erneute Gesetzesverletzungen 
ausserhalb der Anstalt zu erwarten sind, eine ein¬ 
gehendere Erörterung zu erfahren haben. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Bemerkungen zu dem Referat des Herrn 
Frimararzt Dr. Epstein übermein Buch „Die Träume“. 

Zu den wohl wollenden Besprechungen, welche die 
deutschen Collegen meinem Buche „Die Träume“ 
gewidmet haben , ist jetzt noch die von Herrn Dr. 
Epstein, in No. 22, 1902 der „Psychiatrisch-Neu¬ 
rologischen Wochenschrift“ hinzugetreten. Es sei mir 
hier gestattet, zu einigen kritischen Bemerkungen, die 
auch von anderer Seite in Deutschland gemacht wurden, 
mit wenigen Worten Stellung zu nehmen. 

Ich sagte, dass der Traum Ursache einer Geistes¬ 
krankheit sein kann; Herr Dr. Epstein behauptet, dass 
dies schwer anzunehmen und dass ihm eine durch 
einen Traum bedingte Psychose noch nicht begegnet 
ist. 

Ein anderer kritischer Punkt wäre die Frage der 
T raumäquivalente. 


Diese beiden Punkte sind es, w’elche auch Herr 
Dr. Möbius in seiner Vorrede zur deutschen Ausgabe 
meines Buches beanstandet hat. 

Dass der Traum manchmal Geistesstörung hervor¬ 
ruft, ist eine allen älteren und neueren Irrenärzten 
bekannte Thatsache. In meinem Buche habe ich 
über einen Theil der einschlägigen Litteratur berichtet. 
Insbesondere bei den französischen Autoren finden 
sich mehrere Beobachtungen registrirt, welche deutlich 
zeigen, w as Herr Dr. Epstein bestreitet. Aber vielleicht 
soll es heissen, dass, wenn der Traum auch einen 
krankhaften Geisteszustand erzeugen kann, 
er noch nicht eine Geisteskrankheit im eigentlichen 
Sinne des Worts entstehen zu lassen braucht. — Hier 
befinden wir uns in der That auf dem Gebiet jener 
psychiatrischen Nomenclatur, welche Möbius in meinem 
Buche als wenig sichre bezeichnet. Als ich „Die 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 471 


Träume“ (italienische Ausgabe) schrieb, herrschte bei 
den italienischen Psychiatern keine völlige Ueberein- 
stimmung über die Nomcnclatur und Classification der 
Psychopathien. Jede Klinik und jede Anstalt hatte 
ihre eigenen gewohnten Bezeichnungen; z. B. stellte 
inan hier und da nie die Diagnose Paranoia, weil 
man sich ohne Weiteres nach der Klassifikation von 
Verga richtete; in Rom z. B., wo das Lehrbuch 
von Schüle noch massgebend war, dagegen stellte 
man mit Vorliebe diese Diagnose. Jetzt ist das anders. 
Die letzten Ausgaben des Kraepelin’schen Buches 
sind auf diese Aenderung der Anschauungen von 
grossem Einfluss gewesen, wie man auf dem Congress 
der italienischen psychiatrischen Gesellschaft im Jahre 
1901 constatiren konnte. 

Wie dem auch sei, ich nahm an, dass, während 
der Traum häufig krankhafte Geisteszustände, acute 
oder subacute, verursachen kann, er seltener auch 
chronische Psychosen paranoischer Natur hervorrufen 
könne. Ich hatte schon in früheren Veröffentlichungen 
über damit übereinstimmende klinische Beobachtungen 
berichtet und nach mir haben es auch andere Forscher 
gethan. 

Wenn Herr Dr. Epstein solche Beobachtungen 
nie gemacht hat, so kann das nur beweisen, dass der 
Vorgang ein seltener ist. Seine negativen Erfahrungen 
können meine positiven nicht abschwächen. Dass sich 
ein Zweifel erheben kann, ob ein bestimmter Traum 
die U r s a c h e der Krankheit, oder das Symptom 
einer schon vorher bestehenden, noch nicht deutlich 
zum Ausbruch gekommenen ist, habe ich schon in 
meinem Buche erörtert. 

Die Frage der Traumäquivalente nervöser Zufälle, 
von mir im Jahre 1897 auf dem hypnologischen 
Congress in Brüssel behandelt, ist sicherlich noch 
complicirter, zumal da, wie ich in meinem Buche be¬ 
merkte, der Begriff der Aequivalenz in der Nerven- 
pathologie nicht sehr klar ist. So gut es möglich, 
suchte ich ihn jedoch zu erklären und zu bestimmen, 
bevor ich die von mir als Traumäquivalente inter- 
pretirten klinischen Thatsachen beschrieb. 

Herr Dr. Epstein sagt, dass mein Begriff des Traum- 
äquivaler.ts z. Th. demjenigen des epileptischen Aequi- 
valents entspricht. Gut: epileptisches Aequivalent, 
aber onirisches! Für mich besteht kein Zweifel, 
dass der epileptische Anfall in manchen Träumen 
der Epileptiker ein Aequivalent findet. Nach mir 
haben, wenn auch unter anderen Namen, Fe re, 
Ducoste, Foumier und auch italienische Psychiater 
dies nachgewiesen. Ist es vielleicht das Traumäqui¬ 
valent des hysterischen Anfalls, das man in Zweifel 
ziehen will? Ich gebe zu, dass der auf Seite 101 
meines Buches erwähnte Fall auch als Fall von Epi¬ 
lepsie gedeutet werden kann, namentlich, da ich bei der 
summarischen Beschreibung nicht mitgetheilt habe, 
dass die Kranke ohne Bromkur heilte; aber das be¬ 
einträchtigt nicht meine Schlussfolgerung, dass auch 
bei der Hysterie Traumäquivalente Vorkommen können; 
ich führte zum Nachweise noch andere klinische Fälle 
an. 


Herr Dr. Epstein wundert sich über einige meiner 
klinischen Ausdrücke auf Seite 149. Im italienischen 
Text lauten sie so: „e certo che alla visione onirica 
cenestesica si deve quella ceita prescienza che talora 
is sogno ci da circa gli avvenimenti che si verifiche- 
ranno nel nostro corpo in un tempo piu o meno lon- 
tano, e quella reminiscenza talvolta meravigliosa di 
avvenimenti accaduti in noi e dalla coscienza della 
veglia completamente ignorati“. Nun, diese Behauptung 
bietet nichts Neues. Ich will damit nur sagen, dass 
während des Schlafs unser allgemeines Empfindungs¬ 
vermögen so fein sein kann, dass es 1. körperliche 
Veränderungen, z. B. beginnende Krankheiten, uns 
wahrnehmen lässt, die im Wachen nicht wahrnehm¬ 
bar sind; 2. solche Veränderungen, die in Wirk¬ 
lichkeit in uns vor sich gegangen, aber im Wachen 
von uns gänzlich ignorirt worden sind, im Traum 
als neues Erlebniss oder als Erinnerung auftauchen 
macht. „Visione onirica cenestesica“ ist ein neuer 
Ausdruck, der bedeutet Projectionen der gewöhnlichen 
oder allgemeinen oder inneren Empfindungen in das 
Traumbewusstsein. Aber gerade wegen seiner Neu¬ 
heit sagte ich „wenn es der Ausdruck gestattet“, ob¬ 
gleich er sehr leicht verständlich ist. Uebrigens, wenn 
jene meine Behauptung, für sich allein gelesen und 
betrachtet, zweideutig erscheinen sollte, so möge man 
das Vorausgehende und Nachfolgende lesen. Vielleicht 
Hessen sich in der deutschen Uebersetzung die im 
italienischen Original ausgedrückten Ideen nicht immer 
naturgetreu wiedergeben, und vielleicht finden daher 
die deutschen Leser Manches dunkel, was an sich 
klar und gemeinverständlich ist. 

Rom, 20. December 1902. 

Prof. Sante de Sanctis. 

— Dortmund, Die Unterbringung der Geistes¬ 
kranken hat sich für Dortmund in letzter Zeit zu 
wahren Kalamitäten herangebildet. Zeitweise mussten 
solche Kranke bereits in Gefängnissräumen unterge¬ 
bracht werden, da die für diesen Zweck vorgesehenen 
Räume auf der Station für Irre nicht ausreichten, 
weshalb sich infolgedessen für die hiesige Verwaltung 
die Nothwendigkeit herausgestellt hat, der Frage näher 
zu treten, ob die Stadt oder die Provinz zur Unter¬ 
bringung der Geisteskranken verpflichtet sei. Für die 
bedürftigen Kranken fällt diese Pflicht ohne weiteres 
der Provinz zu, dagegen sind die gesetzlichen Be¬ 
stimmungen darüber nicht ganz klar, wer für die 
Unterbringung der begüterten Geisteskranken zu sorgen 
hat. Die hiesige Verwaltung steht auf dem Stand¬ 
punkt, dass dieses Sache der Provinz sei und hat sich 
unter Darlegung des Sachverhalts an das Oberpräsidium 
gewandt 

Referate. 

— Die Dipsomanie. Eine klinische Studie 
von Dr. Robert Gaupp, Privatdozent an der Uni¬ 
versität Heidelberg. Verlag von Gustav Fischer, 
Jena 1901. 

Für die Klinik der Epilepsie ein bedeutsames 
Buch, wenn der Verfasser mit seinen Anschauungen 


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472 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


Recht behält! Denn er beabsichtigt nicht mehr und 
nicht weniger als „der Dipsomanie das klinische 
Bürgerrecht als einer Form psychischer Epi¬ 
lepsie zu verschaffen.“ 

Von vornherein muss anerkannt werden, dass der 
logische Aufbau der Gaupp’schen Beweisführung 
durchaus zwingend und geradezu mustergiltig ist. Der 
Beweis kann also als erbracht angesehen werden, wenn 
die anderweitige Nachprüfung die von Gaupp ver¬ 
werteten klinischen Thatsachen als solche durchweg 
bestätigt. 

Verfasser stützt sich auf die durch Kräpclin und 
Aschaffen!>urg ausgebildcte Lehre von den epileptischen 
Verstimmungen. Solche Verstimmungen treten bei 
Epileptikern nach der anschaulic hen Schilderung in 
Kräpelin’s Lehrbuch (0. Auflage, Seite 461) ohne 
äussere Veranlassung aus innerer Ursache auf. 
Sie dauern Stunden bis Tage lang und kennzeichnen 
sich entweder nur als gemütliche Spannung ohne Be¬ 
wusstseinstrübung oder es treten zu derselben auch 
vereinzelte Sinnestäuschungen hinzu, so dass ein flicsson¬ 
der Übergang zu den bekannten Formen epileptisc her 
Delirien existirt. Während dct Dauer der Ver¬ 
stimmung kann jedes Krankheitsgefühl fehlen; nach 
ihrem Verschwinden hat der Kranke Einsicht für das 
Pathologische seines Verhaltens: er konigirt die im 
Verstimmungs-Anfall gemachten Aeusscrungen bezw. 
Handlungen; die Verstimmung erscheint ihm selbst 
nachher fremdartig. 

Die Erwähnung, welche bisher in der Litteralur 
die Kräpelin’sche Lehre von den epileptischen Ver¬ 
stimmungen gefunden hat, ist durchweg eine zu¬ 
stimmende gewesen, so neuerdings bei Pfister. 

Eine besondere Nachprüfung dieser Lehre von 
anderer Seite ist bisher, soweit ich sehe, nicht erfolgt. 
Gaupp selbst aber kann aus eigener Anschauung die 
Angabe Aschaffenburg’s bestätigen, dass die Mehrzahl 
der in der Heidelberger Klinik behandelten, durchweg 
geisteskranken Epileptiker solche Verstimmungen 
darbietet. Er theilt uns auch (seine Gruppe II) die 
Krankengeschichten einer Reihe solcher Patienten 
mit, welche an periodischen Verstimmungen leiden 
und bei denen sich ausserdem andere epileptische 
Anfälle psychischer oder somatischer Art finden. 

Gaupp schildert ferner (seine Gruppe I) eine 
Reihe von Fällen reiner Dipsomanie. Bei diesen 
Fällen bildet regelmässig eine spontan auftretende 
Verstimmung die Einleitung des dipsomanischen An¬ 
falls. Der Verstimmung folgen die Trunkexccsse etc. 
Waren diese Dipsomanen in der Anstalt internirt, so 
traten die Verstimmungen in ganz gleicher Weise auf, 
wenn auch aus äusserem Zwange ihnen das Trinken 
nicht folgen konnte. 

Gaupp führt uns dann einen Schritt weiter: Er 
schildert eine 3. Gruppe von Kranken, welche ausser 
den dipsomanischen Attaquen vereinzelt auch andere 
anerkannt epileptische Anfälle darboten, wie Krämpfe, 
Schwindelanfälle, Dämmerzustände etc. 


Hier werden die meisten Kliniker auch die von 
Gaupp angeführten Thatsachen aus eigener Erfahrung 
bestätigen können, insbesondere wie oft in der Anam¬ 
nese mancher Dipsomanen vereinzelte Krampfanfälle, 
Absencen der Kinderzeit figuriren. Aber sollten wir 
nicht gerade in dieser Gruppe theoretisch ein reich¬ 
licheres Thatsachenmaterial fordern dürfen ? Wir 
kennen alle den unheilvollen Einfluss des Alkohols 
auf epileptische Gehirne. Die Dipsomanie nun pflegt 
nac h längerem Bestehen nach Gaupp’s eigener treff¬ 
licher Schilderung meist mit chronischem Alkoholismus 
sich zu combiniren. Wenn die Dipsomanie, beziehent¬ 
lich die ihr zu Grunde liegende Gehirn Veränderung 
nichts als eine besondere Form der Epilepsie ist, 
dann müssen wir als Endstadium der Dipsomanie 
häufig echte Epilepsie mit ihren ausgesprochenen Er¬ 
scheinungen, (mit Krämpfen, geistigem Rückgänge etc.) 
anzutreflen erwarten. Vielleicht fehlten Gaupp aus 
äusseren Gründen (Material der Klinik) derartige Be¬ 
obachtungen. 

Ich glaubte der Sac he am ehesten zu dienen, ge¬ 
wiss auc h im Sinne des Verfassers, wenn meine Be¬ 
richterstattung besonders die Punkte heraushebt, an 
denen meines Erachtens die weitere klinische Forschung 
sich mit den Gauppschen Ergebnissen zu beschäftigen 
haben wird. 

Bezüglich des übrigen Inhalts der Arbeit möge 
die Bemerkung genügen, dass an der Hand eines 
reichen Materials und eingehendster Berücksichtigung 
der Litteratur die Dipsomanie hier in allen ihren 
klinischen Einzelheiten und Beziehungen eine sorgfältige 
Schilderung gefunden hat, so dass die Lektüre des 
Büchleins auch ausserhalb ihrer geschilderten Haupt¬ 
tendenz vielfache Anregung und Belehrung bietet. 

B r a t z - Wuhlgarten. 


Personalnachrichten. 

— Personal Veränderungen an den Pommer¬ 
sch en Pro vin zial - Irren ans talten. 

Der kommissarische Assistenzarzt Dr. Voll heim 
in Lauenburg i. Pom. ist zum Assistenzarzt ernannt. 
Der Volontärarzt Dr. Balz er daselbst ist mit dem 
r. September 1902 aus dem Provinzialdienste ge¬ 
schieden, an seine Stelle ist der praktische Arzt Dr. 
Erwin Lauschner aus Leipzig getreten. In Uecker¬ 
münde ist Dr. Heinrich Overhof als Volontärarzt 
und der kommissarische Assistenzarzt Paul Meyer 
als Assistenzarzt angestellt. 

— Unserem sehr verehrten Herrn Mitherausgeber, 
Privatdocent Dr. Sehultze, wurde das Präclicat als 
Professor verliehen. — In Marburg habilitirte sich 
Dr. Jahrmärker für Psychiatrie. 


Herr Professor Dr. Pick-Prag ersucht uns zur 
Kcnntniss zu bringen, dass er keine Veranlassung 
habe, auf die Entgegnung des Herrn Director Dr. 
Pfausler weiter zurückzukommen. 


Für den redactionelleu Theli verantwortlich: Oberarzt Dr. J. JJrc&lcr, Kraschnitz (Schlesien). 

Krscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Ilevnemann’sehe Pmchdruckerci (Gehr. WoitT) in Halle a S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von * 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I«, Edinger, 

Uchtspringe (Alimark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M, 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst Schul tze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice v Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: M arho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 43. 24. Januar. 1903. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Jöh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Goethe über Irrenanstalten und Geisteskrankheiten. Von Geh. Med.-Rath Dr. F. Fischer-Pforzheim (S. 473). 
— Mittheilungen (S. 476). — Referate (S. 479). 


Goethe über Irrenanstalten und Geisteskrankheiten. 

Von Geh. Medicinalrath Dr. F. Fischer- Pforzheim. 


^Jnterm 17. März 1830 berichtet Eckermann fol¬ 
genden Ausspruch Goethes: „Die Welt ist so 
voller Schwachköpfe und Narren, dass man nicht 
nöthig hat, sie im Tollhause zu suchen. Hierbei fällt 
mir ein, dass der verstorbene Grossherzog, der meinen 
Widerwillen gegen Tollhäuser kannte, mich durch 
List und Ueberraschung einst in ein solches einführen 
wollte. Ich roch aber den Braten noch zeitig genug 
und sagte ihm, dass ich keineswegs ein Bedürfniss 
verspüre, auch noch diejenigen Narren zu sehen, die 
man einsperre, vielmehr schon an denjenigen voll¬ 
kommen genug habe, die frei umhergehen. „Ich bin 
sehr bereit“, sagte ich, „Euer Hoheit, wenn es sein 
muss, in die Hölle zu folgen, aber nur nicht in die 
T o 11 h ä u s e r.“ “ Dazu bemerkt Ludwig Geiger in 
seiner neuen Ausgabe derEckermann’schen Gespräche: 
„Die folgende sehr merkwürdige Aeusserung kann 
durch kein damaliges Zeugniss belegt werden, weder 


in Werken noch Briefen wird von Irrenhäusern ge¬ 
sprochen.“ 

Vielleicht gehört diese Aeusserung Goethes auch 
zu jenen „Gedächtnissverwirrungen und Verwechs¬ 
lungen“, von denen er sagt, dass sie wohl einmal 
Vorkommen und dass Wohlwollende sie verzeihen 
werden. Er schreibt nämlich von Ilmenau aus (während 
einer Reise mit dem Herzog Carl August) am 5. Juli 
1781 an Frau v. Stein: „(Wir) haben im Zucht- 
und Tollhaus (Eisenach ?) merkwürdige Gestalten ge¬ 
sehen.“ Darnach war er mit dem Herzoge in einem 
„Tollhause“. Auch den Inhalt eines Gespräches mit 
Riemer am 1. Februar 1813 kann ich nur mit dieser 
Annahme verstehen (Biedermann III, 74): 

„Das Ungeheuere in der Kultur ist dies, dass wir 
unser Publikum wider seinen Willen und zu unserm 
Schaden zur Ironie erheben, indem wir seine Leiden¬ 
schaften reinigen dadurch, dass wir alles zur Ansrhau- 


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474 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 43 - 


ung bringen, selbst den Wahnsinn und die Irren¬ 
häuser und Narrenhospitäler. Denn was kann von 
dem allen das Resultat sein, als dass es dieses sonst 
für das Gefühl und die Empfindung so Zer¬ 
reissende auc h nur als einen Zustand kennen lernt, 
als ein Pathologisches, demgegenüber cs sich besser, 
erhabener fühlt und mit dem es zuletzt spielen lernt.“ 
Geisteskranke und Irrenhäuser haben für Goethe 
etwas „für das Gefühl und die Empfindung Zcrreis- 
sendes“, dieser Eindruck kann nur aus der leben¬ 
digen Anschauung empfangen sein. 

Der Begriff „Tollhaus, Irrenhaus“ wird ausser¬ 
dem von Goethe häufig gebraucht. Gerade in dem 
eingangs erwähnten Gespräche vom 17. März 1830 
erzählt er eine Unterredung über den Wert her' mit 
dem Bischof von Derby, Lord Bristol, dem er 
u. A. verwirft: „Und ferner, wenn Ihr durch Eure 
Predigten über die Schrecken der Ilöllenstrafen die 
schwachen Seelen Eurer Gemeinden ängstigt, soriass 
sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges 
Dasein zuletzt in einem Tollhause endigen!“ 

An Schiller sc hreibt er am 28. Juni 1708: „Desto 
entschiedener ist der Brief, den Sie zugleich erhalten 
und ein herrliches Muster einer Tollheit ausser dem 
Toi lha use, denn das Kriterium, warum man einen 
solchen Mensc hen nic ht einsperrt? möchte schwer an¬ 
zugeben sein. Das einzige, was vor ihn spricht, möchte 
die Unschädlichkeit sein und das ist er nicht* sobald 
er uns näher kommt. Da ich ihn aber nicht ein¬ 
sperren kann, so soll er wenigstens ausgesperrt w erden“. 

Auch folgender Vers mag hier als weiterer Beleg 
angeführt werden: 

„Mit Narren leben wird Dir gar nicht schwer, 
Versammle nur ein To 11 haus um Dich her, 
Bedenke dann — das macht Dich gleic h gelind — 
Dass Narrenwärter selbst auch Narren sind.“ 

In einem Briefe vom 5. August 1812 an Christiane 
findet sich folgende Stelle: „Von Arnims nehme ich 
nicht die mindeste Notiz, ich bin froh, dass ich die 
Tollhänslcr los bin“. 

Ueber den offenbar geisteskranken Einsiedel 
schreibt er am 4. November 1781 an den Herzog 
Carl August: „Ich habe indess als moralischer Leib¬ 
arzt einen verworrenen Handel (denn wenig mensch¬ 
liche Dinge endigen sich, ausser durch den allgemeinen 
Schluss) doch bis zur Entwicklung führen helfen. 
Eine alte Krankheit zerrüttet die Einsiedclische Fa¬ 
milie, der häusliche, politische, moralische Zustand 
hat auf den Vater gewirkt, dass er nahe an Toll¬ 
heit, wahnsinnige, wenigstens schwer erklärliche 
Handlungen vorgenommen hat, endlich zu Hause 
durchgegangen ist und seinen Sohn hier aufgesucht 


hat. Ich habe mich, um kurz zu sein, des Alten be¬ 
mächtigt und ihn nach Jena in das Sc hloss gebracht, wo 
ich ihn unterhielt, bis seine Söhne ankamen, die indess 
zu Hause mit Mutter und Onkel negotiirt und die Sache 
auf einen Weg geleitet hatten. Die ganze Woche 
ist mir auf diese Besorgnisse aufgegangen, und ich wollte 
Ihnen nicht eher schreiben, bis ich dem Ausgang 
näher wäre, worauf ich jeden Tag hoffte“. 

Von ganz besonderer Bedeutung ist Goethes Mit¬ 
arbeit bei der Gründung der Irrenanstalt in Jena. 

Am ig. März 1802 schreibt er (damals in Jena) 
in sein Tagebuch : „Landschaftliches Cirkular wegen 
Combination des Irrenhauses“. 

In einem Briefe vom 6. September 1803 an Pro¬ 
fessor Johann August Reichardt in Jena steht folgende 
bedeutsame Stelle: „Wenn nun die hiesigen medici- 
nischen Anstalten durch das, nicht bloss für die Auf¬ 
bewahrung, sondern zugleich für die Kur der Kranken 
errichtete Irrenhaus einen neuen Umfang gewinnen, 
wenn ... so geht auf das deutlichste hervor, dass 
es unserer Akademie weder an Thätigkeit, noch an 
Antheil fehle“. 

Also schon im Jahre 1803 verlangte Goethe, dass 
die Irrenanstalt in Jena nicht nur Pflege-, sondern 
auch Heil-Anstalt werde und sah in der Benutzung 
derselben als Unterrichtsanstalt eine Förderung der 
Interessen der Universität. Wenn die amtliche Thätig¬ 
keit Goethes nach dieser Richtung aus den Akten 
erschlossen werden könnte, würde manche Seite des 
Goetheschen Wesens wohl in anderer Beleuchtung 
erscheinen, als bisher. Ich hoffe, dass wir auch 
dieses Gesc henk von dem Goethe-Schiller-Archiv der¬ 
einst erwarten dürfen. 

Auf der Reise nach Teplitz gelangte Goethe nach 
Pirna, wo er am 25. April 1813 in sein Tagebuch 
schreibt: „Der Sonnenstein gegenwärtig grosse An¬ 
stalt eines Irren-, Kranken- und Besserungshauses“ 
und von Teplitz aus schreibt er am 21. Mai 1813 
an Christiane: „Seitdem Torgau zur Festung bestimmt 
ist, so hat man den Sonnenstein, ein weitläufiges 
Schloss gleich über Pirna, zum Irren-, Kranken- und 
Besserungshaus mit grossen Kosten eingerichtet, an¬ 
sehnliche Gärten ummauert pp. Die Anstalt soll vor¬ 
trefflich sein und von einem geschickten Arzte Biniz 
besorgt“. 

Also auch hier zeigt Goethe Interesse für die Irren¬ 
anstalt. 

Characteristisch für Goethes Auffassung der Geistes¬ 
krankheiten (siehe Wilhelm Meister Wanderjahre) ist 
ein Brief, den er an Johann Christian Reil in Halle 
am 15. August 1803 schrieb, als Dank für die Ueber- 
sendung der bekannten „Rhapsodien über die An- 


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•Oo.v] 


wendung der psychischen Kurmethode auf Geistes¬ 
zerrüttungen“ : 

„Das von Euer Wohlgeboren mir übersandte be¬ 
deutende Werk habe ich mit vielem Antheil und 
zu meiner Belehrung durchlescn, es war mir lim so 
willkommener, indem Sie darin die wichtigsten Punkte 
der Naturforschung berühren und ihre eigene Ueber- 
zeugung dabei an den Tag legen. Führt mich das 
Glück wieder in Ihre Nähe, so wird durch eine solche 
vorläufige Bekanntschaft das Gespräch schneller ein¬ 
geleitet und belebt. Worauf ich mich im voraus freue. 

Erlauben Sie, dass ich einen Versuch beilege, wie 
ich das, was sie p. 58 ff so schön vortragen, poetisch 
ausztisprechen gewagt habe.“ 

Nach der Weimarer Ausgabe ist die Beilage höchst 
wahrscheinlich das Gedicht „Die Metamorphose der 
Pflanzen“ und pg. 58 ist in der zweiten Auflage von 
Reifs Rhapsodien 1818 pg. 60. 

Noch einige weniger bekannte, sinngemäss hier 
sich anschliessende Aussprüche Goethes, die seine 
Gedanken über Geisteskrankheiten verratheil, hebe 
ich hervor: 

An Behrisch schreibt er am 2. November 1767: 
„Aber kein Kranker kann durch eines unempfindlichen 
Arztes grausames „es hat nicht viel zu sagen“ mehr 
geängstigt werden, als ein See len kranker durch einen 
gefühllosen Freund. Ein zurücktretendes Uebelist das 
gefährlichste und es muss zurücktreten und für 
Schrecken zurücktreten, wenn der Kranke eine warme 
sanfte Hand zu fassen hofft und eine kalte, kalte zu 
fassen kriegt“. 

In den Unterhaltungen mit dem Kanzler Müller 
lesen wir am 13. Juni 1823: „Vom Wahnsinn gab 
er die einfache Definition: dass er darin bestehe, wenn 
man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände 
und Verhältnisse, mit denen man es zu thun habe, 
weder Kenntniss habe, noch nehmen wolle, diese 
Beschaffenheit hartnäckig ignorirc.“ (s. Sprüche in 
Prosa Hcmpel No. 349.) 

Bei Eckermann lesen wir am 18. Oktober 1827: 
„Da lobe ich mir das Studium der Natur, das eine 
sohhe Krankheit (Geisteskrankheit) nicht auf- 
kommen lässt... Auch bin ich gewiss, dass mancher 
dialektisch Kranke im Studium der Natur eine 
wohlthätige Heilung finden könnte.“ 

Am 3. Mai 1814 sagte Goethe zu Riemer: „Hy¬ 
pochondrisch sein heisst nichts anders, als ins 
Subjekt versinken“ lind bei Frau von Stein spricht 


475 


er am 1. Juni 1789 von der „hypochondrisch 
quälenden Kraft der traurigen Vorstellungen.“ 

Die Pflanzenmetamorphose scheint Goethe zu 
einer Zwangsidee geworden zu sein. Zum Kanzler 
von Müller sagt er am 2Ö. Februar 1832 : „Ihr andern 
habt es gut, ihr geht in den Garten, in den Wald, 
beschaut hannlos Blumen und Bäume, während ich 
überall an die Metamorphosenlehre erinnert werde 
und mit dieser mich abquäle“ 

In einem Briefe an Knebel vom 30. Mai 1817 
lesen wir: „Menschen, die Talent und Thätigkeit haben, 
zugleich aber verrückt sind, thun den grössten 
Schaden.“ 

Nicht unerwähnt lassen möchte ich, wenn dies 
auch nicht streng genommen hierher gehört, folgende 
Stelle aus einem Briefe an Herder vom 27. Decembcr 
1788: „Deine Frau seh’ ich von Zeit zu Zeit und 
öfter, wenn der geistige Arzt nöthig sein will. Ich 
habe manche Dose moralischen Cremor tartari ge¬ 
braucht, um die Schwingungen ihrer E 1 e k t roanischen 
Anfälle zu bändigen“. 

Schliesslich empfehle ich noch die Briefe Goethes 
an den „hypochondrisch allzu weichen“ Joh. Friedrich 
Krafft aus den Jahren 1778 bis 1783 zur eingehenden 
Lektüre allen, die sich über Goethes Auffassung neu¬ 
ras then isc her Zustände unterrichten wollen. 

Was Goethe in Briefen und Gesprächen sagt, ver¬ 
mittelt oft in sehr wesentlichen Punkten das Ver¬ 
ständnis für das in den Werken Ausgeführte. Das 
gilt allgemein und im Besonderen für das viele Psy¬ 
chiatrische in Goethes Schriften. 

Unsere kleine ausgewählte Zusammenstellung zeigt, 
wie viel hier noch zu thun ist. Möchte dieselbe 
Manchem eine Anregung zur. Mitarbeit an dem grossen 
Werke der Darstellung von Goethes psvehiatrischer 
Anschauung nach der Seite der Naturwissenschaft 
und der Kunst bringen. 

Solange noch nicht alle Briefe, Tagebücher, amt¬ 
liche Schriftstücke veröffentlicht sind, kann es sich 
nur darum handeln, möglichst viel Material zusammen* 
zutragen und zu ordnen. 

Möbius hat in seinem vortrefflichen Buche „Uebcr 
das Pathologische bei Goethe“ den Versuch gemacht, 
das umfangreiche pathologisc he Material hauptsächlich 
in den Werken Goethes zu bewältigen. Ein vollstän- 
ständiger Abschluss erfordert aber noch unübersehbare 
Arbeit. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


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4;6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.5. 


M i t t h e i 

— Die traurige Angelegenheit der Kronprin¬ 
zessin von Sachsen ist bereits Gegenstand so 
vieler psychologischer Erörterungen gewesen, dass 
eine fachärztliche Aeusserung dazu wohl gestattet sein 
dürfte. Die Liebe der Ehefrau zu einem anderen 
Manne zu erklären, bedarf es nicht des Nachweises 
von Krankheit oder krankhafter Veranlagung, wofür 
übrigens auch keine Anhaltspunkte Vorlagen. Bis da¬ 
hin handelte es sich um eine sittliche Verirrung. Die 
Sachlage änderte sich indess durch den Zustand der 
Schwangerschaft. Diese beeinflusst ja bekanntlich die 
Gemüthslage seelisch völlig gesunder Frauen in un¬ 
verkennbarer Weise. Wäre nun trotz der Neigung 
zu einem Anderen die Schwangerschaft eine legitime, 
so würde jener Einfluss sich zwar in gesteigertem 
Grade, aber in günstigem Sinne geltend gemacht 
haben, d. h. in dem Abbruch der verbotenen Beziehungen, 
in der sittlichen Einkehr. Bei der Illegitimität aber 
der Schwangerschaft treffen die normalen körperlichen 
und seelischen Wirkungen der letzteren ein durch innere, 
sittliche Kämpfe bereits zerrüttetes Gemüth, dessen Träge¬ 
rin sich selbst und die Umgebung vielleicht noch lange 
über den wahren Seelenzustand hinwegtäuscht. Von 
Schwangerschaft und Wochenbett ausgelöste Geistes¬ 
störungen, die ihre tieferen Ursachen in Erschüt¬ 
terungen der Seele haben, sind nichts Seltenes; man 
hätte Besonderes darin nicht finden können, wenn 
bei der Kronprinzessin ein Verfall in schwere, offen¬ 
kundige Geisteskrankheit erfolgt wäre. Thatsächlich 
ist eine solche bis jetzt nicht eingetreten, wenn auch 
in letzter Zeit wiederholt etwas von Depression ver¬ 
lautete. Aber wen die Erfahrung zu Vorsicht und 
Geduld bei der Erschliessung zweifelhafter Geistes¬ 
zustände geführt hat, der wird nicht geneigt sein, fn 
einer Reihe auffallender, anscheinend mit Besonnen¬ 
heit ausgeführter Handlungen den Beweis unge¬ 
schwächter Verstandes- und Urtheilskraft zu sehen. 
Er wird u. A. zunächst die gänzliche Ausschaltung 
fremder Einwirkung, hier also derjenigen Girons, als 
selbstverständliche Voraussetzung betrachten für die 
Erkenntniss, in welchem Umfange sonderbare Ent¬ 
schlüsse und anstössige Handlungen eigenes Geistes- 
w'erk der zu Beurtheilenden waren. Von diesem 
Gesichtspunkte aus muss man auch alle bisherigen 
# psychologischen Betrachtungen des Gegenstands als 
vergebliche bezeichnen, da ihnen diese Voraussetzung 
fehlt. Eine Frau, die ihre selbstverschuldete traurige 
Lage zu überschauen und ohne äusseren Zw'ang, mit 
voller Verstandes- und mit sittlicher Kraft sich zu 
entschliessen und soweit möglich wieder aufzurichten 
im Stande gewesen w'äre, hätte unter den gegebenen 
Verhältnissen nicht den jämmerlichen Ausweg ge¬ 
wählt, durch die Verbindung mit dem Geliebten 
ihrem Thun den Schein psychologischer Consequenz 
nach aussen, der Stimme ihres Gewissens ein Gegen¬ 
gewicht zu verschaffen,— eine kranke Frau allein 
aber hätte zu diesem Schritte nicht einmal die nöthige 
Energie gehabt. 

Alles in Allem: Die Dinge liegen bei der Kron¬ 
prinzessin, soweit sie überhaupt der Oeffentlichkeit 


1 u n g e n. 

bekannt sind, noch viel zu wenig klar zu Tage, um 
ein definitives fachärztliches Urtheil zu gestatten ; es 
ergiebt sich aber nach dem oben Ausgeführten als 
rein menschliche Pflicht, den Seelenzustand der Kron¬ 
prinzessin aufs Eingehendste prüfen zu lassen. Es 
will uns scheinen, als wird dann neben dem vielen 
Verdammensw'erthen Manches zu Tage treten, wofür 
sie nicht oder nicht voll verantwortlich zu machen ist. 
In dem zweiten Theil des Dramas handelt es sich 
unzweifelhaft um die raffinirte Beeinflussung und Aus¬ 
nützung einer nicht völlig dispositionsfähigen, schwange¬ 
ren Frau. — 

Zum Schluss sei an dieser Stelle dem lebhaften 
Bedauern darüber Ausdruck gegeben, dass gegenüber 
der Kronprinzessin, ohne dass über ihren Geisteszu¬ 
stand Genaueres bekannt geworden, die Verbringung 
in die Irrenanstalt als ultima ratio bezeichnet w erden 
konnte. Das Publikum muss glauben, dass in schlicht 
bürgerlichen Fällen dieser Art auf gleiche Weise ver¬ 
fahren wird. Die Irrenanstalt wäre übrigens auch bei 
einer ernsten Geisteskrankheit für die Kronprinzessin 
bei den gegebenen Umständen kaum der ausschliess¬ 
lich geeignete Ort. Da in dem Zusammenhang mit 
dieser Angelegenheit auch vom Kloster die Rede war, 
so drängt sich Einem die Frage auf, wieviele unglück¬ 
liche weibliche Wesen mit zweifelhaften oder krank¬ 
haften Geisteszuständen dort festgehalten und moralisch 
gemisshandelt werden mögen. Man sollte die Klöster 
daraufhin einmal (und öfter) einer gründlichen Revi¬ 
sion unterziehen lassen. 

— II. Landes - Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc- 
tober 1902, Nachm.) Fortsetzung. 

Nachdem der echte Urning also niemals mit unent¬ 
wickelten (unreifen) männlichen Individuen (Knaben) 
Unzucht treibt, sondern ausschliesslich mit Erwach¬ 
senen verkehrt und nachdem er niemals Präderast im 
vulgären Sinne des Wortes ist, so ist es zweifellos, 
dass die Handlung, welche das ungarische Strafge¬ 
setzbuch als widernatürliche Unzucht bezeichnet und 
mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft, nicht 
aus moralischer Verkommenheit hervorgeht, keine Un¬ 
zucht (Perversität) im gewöhnlichen Sinne des Wortes 
ist, sondern bloss eine perverse Handlung, die aus 
einem angeborenen contraer-sexuellen Triebe hervor¬ 
geht, also pathologischen Ursprunges ist. 

Weil aber der echte Urning niemals Knaben zur 
perversen Handlung verführt, nachdem bloss Er¬ 
wachsene und nicht unreife Kinder in ihm die libido 
sexualis erwecken und er die Perversio sexualis auch nur 
mit Erwachsenen und deren Einwilligung und nie¬ 
mals mit Anwendung von Gewalt ausübt, ist dieser 
echte Urning der menschlichen Gesellschaft nicht ge¬ 
fährlich und ist seine Unterbringung in einer Irren¬ 
anstalt nicht nur nicht nothwendig, sondern nicht 
einmal gerechtfertigt. 

Die Streichung des § 241 ist nicht nothwendig, 
ja nicht einmal angezeigt. Damit jedoch infolge 
dieses Gesetzartikels nicht auch die aus einer patho¬ 
logischen contraer-sexuellen Empfindung hervorge- 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 477 


hende Perversion bestraft werde, ist es nothwendig, 
dass immer, bevor die Anklage wegen eines Delictes 
gegen den § 241 erhoben wird, der Geisteszustand 
des Angeklagten durch einen sachverständigen Psy¬ 
chiater untersucht werde. 

Salgo dankt dem Vortragenden im Namen des 
Congresses für seinen eindringlichen und die Frage 
vollständig erschöpfenden Vortrage. 

7. Karl Schaffer: Weitere Mittheilungen 
zur corticalen Topographie der Paraly se. 

Der Vortragende hat vor 2 Jahren dem I. Landes- 
Congresse der Irrenärzte die Ergebnisse seiner ersten 
Studien über die paralytische Degeneration der Ge¬ 
hirnrinde vorgelegt. Seither hatte der Vortragende 
Gelegenheit, das Gehirn von fünf Paralytikern zu 
untersuchen und auf grossen, durch die ganze He¬ 
misphäre hindurch geführten Schnitten, welche nach 
der Weigert’schen Haematoxylin-Färbung gefärbt 
waren, den Ausfall der markhaltigen Fasern zu stu¬ 
dieren. 

Von den fünf zur LTntersuchung gelangten Fällen 
waren 3 einfache Fälle von Paralysis progressiva, 
2 waren mit Tabes complicirt; es muss betont werden, 
dass auch in diesen Fällen von Taboparalyse die 
Paralyse selbst durch progressive Verblödung und 
durch schwere Sprachstörungen characterisirt war. Die 
Erfolge seiner Untersuchungen fasst der Vortragende 
in folgenden Punkten zusammen: 

1. Die im Verlaufe der typischen Paralyse auf¬ 
tretende Markfasem-Degeneration tritt an bestimmten, 
nach einem gewissen Typus angeordneten Rinden¬ 
gebieten auf und verschont andere wieder regelmässig 
angeordnete Rindengebiete entweder vollständig oder 
doch in auffallendem Maasse. 

Die der Degeneration unterworfenen Rindengebiete 
sind folgende: 

a) Pol und Basis des Stimlappens. 

b) Der Parietallappen auf der Convexität der 
Hemisphäre. 

c) Die 2. und 3. Windung des Stimlappens voll¬ 
ständig, von der ersten Windung nur der dem Pole 
des Schläfelappens näherliegende Antheil. 

d) Der frontale Theil des Gyrus fomicatus. 

Die freibleibenden Rindengebiete sind folgende: 

a) Die Central-Windungen; nur die hintere leidet 
mitunter ein wenig unter der Degeneration. 

b) Die Convexität des Stimlappens und zwar 
umso mehr, je näher der betreffende Theil zur vor¬ 
deren Central-Windung liegt. 

c) Der Occipitallappen, hauptsächlich jedoch der 
Cuneus. 

d) Die tiefliegende und die erste Windung des 
Schläfelappens. 

e) Das Ammonshom und der Gyrus lingualis. 

2. Die soeben angegebene und beschriebene Ver- 
theilung der Degeneration entspricht der Flechsig - 
sehen Rindeneintheilung; von der Degeneration be¬ 
freit blieben die centralen, sensiblen Felder, während 
die Flechsigschen Associations-Centren degenerirten. 

3. Bei den atypischen Fällen von Paralyse, bei 
der Lissauerschen Paralyse degeneriren in strictem 
Gegensatz zur typischen Paralyse, gerade die senso¬ 


rischen Felder der Rinde, klinisch ist in solchen 
Fällen die Geistesschwäche weniger auffallend. 

4. Die regelmässige Vertheilung der Markfasem¬ 
degeneration beweist die Electivität des paralytischen 
Rindenprocesses. Doch kommen auch unregelmässige, 
vasculäre Heerde in der Rinde der Hemisphäre vor, 
das sind bloss superponirte, nicht wesentliche Ver¬ 
änderungen. 

5. Es scheint, dass in verschiedenen Fällen typi¬ 
scher Paralyse die Flechsig’schen Associations-Centren 
nicht allesammt erkranken, oder doch wenigstens 
nicht alle in gleichhohem Maasse. So leidet z. B. 
das occipitale Associations - Centrum fast gar nicht 
oder doch nur in geringem Maasse unter der Dege¬ 
neration; am schwersten ist die Degeneration im 
Stirn- und Schläfen-Associations-Centrum, während 
das Centrum des Parietallappens in viel milderer Form 
zu erkranken pflegt. 

8. Arthur Sarbo: Die Rolle des Achilles¬ 
sehnenreflexes bei der Paralysis progres¬ 
siva. 

Der Vortragende erwähnt, dass die Untersuchung 
dieses Reflexes bis in die jüngste Zeit hinein sehr 
vernachlässigt wurde. Der Vortragende hat an Ge¬ 
sunden eine Reihe von Untersuchungen angestellt, 
welche ergaben, dass dieser Reflex bei nicht nerven¬ 
kranken Personen immer leicht auszulösen ist Unter 
900 Nervenkranken fehlte dieser Reflex in 109 Fällen 
und zwar bei Alcoholismus, Poliomyelitis, Tabes und 
Paralysis progressiva, also bei solchen Erkrankungen 
des Nervensystems, bei welchen wir mit vollem Rechte 
voraussetzen können, dass anatomische Veränderungen 
vorliegen. Hierauf bespricht S. das Verhalten des 
Achillessehnenreflexes bei der progressiven Paralyse. 
In 31 °/ 0 der Fälle fehlt dieser Reflex vollständig, in 
einer grossen Anzahl der Fälle ist er auffallend leb¬ 
haft, bei einem kleinen Theil der Fälle verhält er 
sich normal. Manchmal fehlt er früher als das Knie¬ 
phänomen. 

Wichtig ist das Verhalten dieses Reflexes vom 
differenzial-diagnostischen Standpunkte aus, besonders 
gegenüber der Neurasthenie; die Untersuchung dieses 
Reflexes ist ebenso wichtig und ebenso wenig zu 
unterlassen, wie die des Kniephänomens. 

Discussion: 

Donath: Achtet schon seit ziemlich langer Zeit 
auf den durch die Achillessehne ausgelösten Reflex 
und findet, dass — wie das der Vortragende schon 
erwähnte — jede Combination vorkommt. Trotzdem 
die französischen Autoren behaupten, dass bei der 
Tabes der Achillessehnenreflex früher verschwindet 
als der Kniereflex, beobachtete D. Fälle, in welchen 
kein Kniereflex mehr vorhanden war, während der 
Reflex der Achillessehne noch bestand. Es hängt 
das eben davon ab, wo die Tabes ihre Zerstörungen 
beginnt. 

Schaffer: schliesst sich den Ausführungen des 
Vortragenden an, da seine eigenen klinischen 
Erfahrungen die Erfahrungen des Vortragenden be¬ 
stätigen. Was die Bemerkungen Donath’s, dass der 
Kniereflex manchmal früher verschwindet als der 
Achillessehnenreflex, anbelangt, so ist das eine 


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478 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43 


natürliche Erscheinung, denn das Verschwinden des 
Reflexes hängt immer mit dem Sitze der anatomischen 
Veränderungen zusammen. Das pathologisch-histolo¬ 
gische Material, welches Sch. zur Verfügung steht, 
zeigt, dass der pathologische Process häufiger im 
lumbo-sacralen, als im lumbo-dorsalen Segmente auf- 
tritt, darum ist das Ausbleiben des Kniereflexes häu¬ 
figer als das Ausbleiben des Achillessehnenreflexcs. 

Sarbo: will gegenüber Donath nur soviel be¬ 
merken, dass er es nicht als Regel hinstellte, dass 
der Achillessehnenreflex früher verschwindet, als der 
Kniereflex, denn er selbst hat ja Fälle erwähnt, in 
welchen die Reihenfolge eine umgekehrte war. Er 
wollte nur betonen, dass in der Mehrzahl der Fälle 
der Achillessehnenreflex früher verschwindet, als der 
Kniereflex. Der Schwerpunkt der Ausführungen des 
•Vortragenden liegt darin, dass das Verschwinden des 
Achillessehnenreflexes für sich allein wohl weder 
Tabes, noch Paralysis progressiva bedeutet, dass aber 
Fehlen des Achillesschnenreflex bei Vorhandensein 
des Argill-Robcrtsohn'schen, Phänomens z. B. schon 
auf Tabes oder Paralyse hinweist, dass also i'as Ver¬ 
halten des Achillessehnenreflexcs dieselbe Bedeutung 
hat, als das Verhalten des Kniereflexes. 

9. Julius Donath: Durch Spiritismus ver¬ 
ursachte Hystero-Epil epsi e. 

Die Ministerial-Verordnung des kön. ung. Mini¬ 
steriums des Innern vom 19. December 1890, welche 
das Hypnotisiren nur Aerzten und nur zu Heilzwecken 
und auch so nur in Anwesenheit einer dritten Person 
gestattet, ist sehr heilsam, weil auf diese Weise Ge¬ 
fahren, welche die durch Laien ausgeführte Hypnose 
mit sich bringt, vermieden werden und weil so die 
Hypnose in verbrecherischer Absicht oder zum Zwecke 
öffentlicher Schaustellungen nicht missbraucht werden 
kann. Auch der Arzt ist auf diese Weise gegen 
böswillige und grundlose Verleumdungen seitens der 
hvpnotisirtcn Person geschützt. Doch geht die Ver¬ 
ordnung zu weit, indem sie den Fachmann im Studium 
dieses Phänomens hindert. Wir müssen nämlich be¬ 
denken, dass wir die Heilwirkung, die individuelle 
Dosirung des Hypnotismus nur durch sehr genaue 
und gewissenhafte Untersuchungen feststellen können. 
Während diese Verordnung aber dem ärztlichen 
Forscher die Hand bindet, bleibt im Lande der 
Hypnotismus in geheimen Zusammenkünften v<>n 
Laien ungestört, berüchtigte Hypnotiseure treiben ihr 
Handwerk wie ehedem, als es noch keine diesbezüg¬ 
liche gesetzliche Verfügung gab. 

Was nun die Beschäftigung mit spiritistischen 
Ideen und Handlungen anbelangt, so können die 
dabei so häufigen Aufregungen und seelischen Er¬ 
schütterungen solcher Personen, welche zur Neuro¬ 
pathie neigen, leicht gefährlich werden. 

I11 dem Falle, welchen der Vortragende auf seiner 
Abtheilung im St. Stephans-Spitale beobachtete, traten 
bei einem bis dahin vollständig gesunden Mädchen, 
welches auf Befehl seines Dienstgebers an spiritistischen 
Sitzungen als Medium theilnahm, plötzlich schwere 
hystero - epileptische Krämpfe, Aphonie, concentrische 
Gesichtsfeldeinschränkung, Angstzustände, Hallucina- 
tionen und Schlaflosigkeit auf. 


In einem zweiten Falle traten bloss mildere 
hysterische Erscheinungen auf. Die junge Frau wurde 
durch die vierwöchentliche Beschäftigung mit dein 
Spiritismus sehr reizbar, sie fürchtete sich vor den 
cilirten Geistern und litt an Schlaflosigkeit. 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass nicht 
nur der Hypnotismus, sondern auch der Spiritismus 
zu schweren Störungen des Nervensystems, besonders 
zu Hvstero-Epilepsie führen kann. Es ist zweifellos, 
dass neuropathisch beanlagte Individuen leichter zur 
Beschäftigung mit dem Spiritismus neigen, doch muss 
betont werden, dass in dem erwähnten Falle bei dein 
kräftigen Bauernmädchen überhaupt keine neuro¬ 
pathisch e Belastung nachweisbar war. 

Wir haben die Ausübung des Hypnotismus seitens 
Unberufener verboten, die religiösen Wunder unserer 
Zeit werden — wenn sie nur die kleinste Störung 
der öffentlichen ()rdnung bedingen — gewaltsam 
unterdrückt, trotzdem sie der Gesundheit nicht schäd¬ 
lich sind. Der Vortragende meint, dass wir keinen 
Augenblick zögern dürfen, auch den Spiritismus, 
Sitzungen und Zusammenkünfte, diesen ganzen be¬ 
schämenden Cultus unserer Zeit, welcher auch der 
Gesundheit schädlich ist, durch ein gesetzliches Ver¬ 
bot einzuscliränken. 

Der Vortragende legt dem Landes - Congresse 
folgende Anträge zur Beschlussfassung vor: 

1. Das Ministerium des Innern werde aufgefordert, 
die Verordnung, welche Laien die Ausübung des 
Hypnotismus untersagt, mit voller Strenge zu hand¬ 
haben. 

2. Der Minister erlasse eine Verordnung, welche 
die spiritistischen Zusammenkünfte auf das strengste 
untersagt. 

D i s c u s s i o n : 

Hajos: erwähnt einen Fall, in welchem ein In¬ 
dividuum, welches sich erst in v< »rgerückteni Alter 
mit spiritistischer Lectüre zu befassen anfing, an Se¬ 
ancen niemals theilnahm, mit der Zeit irrsinnig wurde ; 
im Irrenhause trat Besserung ein. Nach der Ent¬ 
lassung beschäftigte sich der Patient wieder mit dem 
Spiritismus und gelangte infolgedessen baldigst wieder 
in die Anstalt zurück. 

R a 11 s c h b u r g: schliesst sich dem Anträge des 
Vortragenden an, weil die durch den Spiritismus ver¬ 
ursachten Geisteskrankheiten durchaus nicht zu den 
Seltenheiten gehören. Doch müssen wir auch auf 
gesellschaftlichem Wege durch Aufklärung zu wirken 
suchen. Es ist zu bedauern, dass in unserem Vater¬ 
lande gerade Aerzte eine führende Rolle in der spiri¬ 
tistischen Bewegung einnehmen, während der Arzt 
diese Bewegung bekämpfen müsste. 

Tel eg di: Der Spiritismus ist eine Form, welcher 
sich Geisteskrankheiten gerne bemächtigen, wie die 
Hallucinationen unserer Kranken, welche noch nie 
ein Telephon gesehen haben, sich mit Vorliebe an 
das Telephon an knüpfen. Jetzt ist der Spiritismus 
in Mode, er wird schon wieder selbst aus der Mode 
gehen. Auf administrativem Wege kann man nichts 
gegen ihn thun. 

Donath: dankt für das seinem Vortrage ent¬ 
gegengebrachte Interesse und würdigt besonders 


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1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ranschburg’s Bemerkungen. Vortr. glaubt selbst nicht 
daran, dass man auf administrativem Wege diese 
Uebel gänzlich vertilgen kann, doch würden durch ge¬ 
eignete Maasregeln besonders die hypnotischen Sean¬ 
cen eingeschränkt werden. Auf die Bemerkung 
Telegdi’s sei nur so viel erwidert, dass es schon von 
Vortheil ist, wenn das grosse Publikum durch das 
gesetzliche Verbot der Seancen davon Kenntniss er¬ 
langt, dass die medicinische Welt diese Seancen ver- 
urtheilt und das allein würde dem Publikum schon 
zum Nutzen gereichen. 

io. Rudolf Bai int: Die diactctische Be¬ 
ll a n d 1 u n g d c r E p i 1 e p s i e. 

Der Vortragende recapitulirt zuerst kurz alles, was 
er über die Erfolge der von ihm vorgcschlagenen 
chlorarmen Diät im kön. urig. Aerztevcrcin sagte und 
damals im „Orvosi Iletilap“ mitthcilte. Es stellte sich 
schon damals heraus, dass es eine Reihe von Fragen 
giebt, welche durch die damaligen Versuche keine 
befriedigende Losung fanden. Eine solche offene 
Frage war die, ob es möglich ist, die chlorfreie Diät 
längere Zeit hindurch fortzusetzen, wenn ja, wie diese 
Diät beschaffen sein muss, um nicht unerträglich zu 
werden; ob keine Bromintoxication auftritt. Die Ant¬ 
wort auf diese Fragen suchte B. in Experimenten, 
welche 1 1 3 Jahre hindurch fortgesetzt wurden, zu 
finden. Hierauf citirt der Vortragende die Ergebnisse 
der Untersuchungen anderer Forscher, welche ebenso 
wie er selbst, gute Erfolge sahen. In 5 Fällen, in 
welchen die Beobachtungsdauer eine längere — 7 
Monate bis 1 1 2 Jahre — war, wurde die Diät so 
modificirt, dass der Patient von chlorfreier Diät lang¬ 
sam zur gewöhnlichen Diät überging, jedoch so, dass 
alles ohne Kochsalz zubereitet und mit Bromnatrium 
gesalzen wurde. Diese Fälle wiesen noch bessere Er¬ 
folge auf, als andere 3 Fälle, welche B. im Armen¬ 
hause beobachtete. Auch Broinvergiftung trat manch¬ 
mal auf, doch hat dieselbe bei gehöriger ärztlicher 
Aufsicht und Behandlung nichts zu bedeuten. Sie 
bildet sich rasch zurück und ist sogar zu vermeiden. 
Die Psyche der Kranken änderte sich während der 
Behandlung nicht. Auf Grund dieser Beobachtungen 
empfiehlt B. diese Heilmethode aufs wärmste, doch 
ist wöchentliche Gewichtsmessung und beständige ärzt¬ 
liche Aufsicht unbedingt nothwendig. 

Discussio n. 

Konrad: Ich habe mich viel mit derartigen Ex¬ 
perimenten beschäftigt und bin neuen therapeutischen 
Methoden gegenüber sehr skeptisch geworden. Vor 
einigen Jahren erschien jedoch ein Artikel des Herrn 
Vortragenden, der so viel Vertrauenerweckendes ent¬ 
hielt, dass ich seither dennoch mit der salzarmen 
Diät cxpcrimcntirc. Ich wählte 27 Epileptiker aus, 
dieselben erhielten täglich 1—8 gr. Bromkalium. 
Ich liess die salzfreie Kost besonders hersteilen, ausser¬ 
dem bekamen meine Kranken 2 gr. Bromkali pro die, 
1 gr. im Brode, 1 gr. im Gemüse. Ich wendete diese 
Diät 4 Monate hindurch an und stellte die . epilep¬ 
tischen Anfälle des ganzen Jahres in einer übersicht- 
lieben Tabelle zusammen, so dass das erste Drittel 
des Jahres zur Bromtherapie, das zweite Drittel zur 


479 

diaetetischeii Therapie verwendet wurde, das dritte 
Drittel stellt den Zeitabschnitt nach der salzfreien 
Kost, in welchem zur normalen Diät zurückgekehrt 
wurde, dar. Von 27 Kranken zeigte sich bei 9 ein 
bestimmter Erfolg. 


Fall 

1., 

II., 

III. Drittel 

I. 

7 

0 

24 Der Pat. stirbt im Status epilcpticus. 

ir. 

L 3 

/ 

,, „ ,, ,, „ „ 

in. 

22 

7 

0 Hier trat noch Nachwirkung auf. 

IV. 

ö 

1 

18 

V. 

33 

3 

20 

VL 

27 

8 

8 

VII. 

14 

2 

20 

VIII. 

47 

0 

5 

IX. 

20 

8 

25 


Da ich nun einmal ein Skeptiker bin, glaube ich, 
dass man insbesondere in der Therapie der Epilepsie 
sich vor dem Principe des „post hoc“ sehr in Acht 
nehmen muss. Darum durchforschte ich bei diesen 
Kranken auch die älteren Tabellen und fand, dass 
es Zeitabschnitte gegeben hat, in welchen bei diesen 
Kranken ohne jede Therapie eine Verminderung der 
Zahl der Anfälle eintrat, dieselben sogar gänzlich aus¬ 
blieben. Darum will ich noch kein abschliessendes 
Urtheil über die salzfreie Diät fällen, sondern will 
Control-Versuche anstellen, welche die Zeit von einigen 
Jahren beanspruchen. Im Zusammenhänge mit diesen 
Versuchen müssen quantitative Harnuntersuchungen 
auf Harnsäure und die Menge der Salze im Harne 
angestellt werden, lieber meine Erfolge werde ich 
seinerzeit berichten. (Fortsetzung folgt.) 

— Der „Astral-Feind.“ Zu einem tragischen 
und geheimnisvollen Tode haben einen französischen 
Erfinder seine wahnsinnigen Theorien geführt. Albert 
Quelle aus Meudon bei Paris, ein vermögender Mann, 
gab sich in seinen Mussestunden wissenschaftlichen 
Untersuchungen hin. Besonders beschäftigte er sich 
mit dem Studium des Spiritismus und Occultismus. 
Er widmete sich so eifrig den Fragen nach dem Un¬ 
bekannten, dass sein Verstand zerrüttet wurde und 
er glaubte, von einem Astralgeist verfolgt zu werden. 
Um sich gegen die Angtiffe seines unsichtbaren 
Feindes zu verteidigen, fertigte Quelle einen merk¬ 
würdigen Metallapparat in der Art des Helmes an, 
wie ihn Taucher unter Wasser tragen. Sein erster, 
vor zwei Jahren gemachter Helm befriedigte ihn je¬ 
doch nicht, und seitdem arbeitete er an einem anderen, 
den er am vorigen Mitwoch zum ersten Mal erproben 
wollte. Er schrieb an einen Arzt in Paris und bat 
ihn, der Probe beizuwohnen; aber der Doktor er¬ 
suchte den Erfinder, den Versuch bis Freitag aufzu¬ 
schieben, und versprach, dann anwesend zu sein. 
Als an jenem Tage der Doctor nun an die Thilr des 
kleinen Pavillons in Mendoii, den Guelle bewohnt, 
klopfte, erhielt er keine Antwort und als nun die 
Thür gewaltsam geöffnet wurde, bot sich seinen Augen 
ein schrecklicher Anblick. Guelle lag leblos auf dem 
Fussboden seines Laboratoriums, und der Kopf war 
mit dem seltsamen Astralhelm bekleidet. An dem 
Apparat war ein Behältniss mit Chloroform befestigt, 
das durch eine Röhre tropfenweis auf die Lippen des 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 43 - 


480 


Erfinders fiel. Auf dem Tische lag ein Brief, in dem 
der Verstorbene erklärte, er könne die Angriffe seines 
„Astral-Feindes“ nicht länger ertragen. 

— Das Rauchen in den Irren- und Nerven¬ 
heil s t ä 11 e n. Dass geistige Getränke in unseren 
Anstalten als Genussmittel nicht zu dulden sind, da¬ 
rüber herrscht, von einer geringen Zahl noch Anders¬ 
denkender abgesehen, unter den Anstaltsärzten Ueber- 
einstimmung. Der Alkohol ist eben das gefährlichste 
und verbreiteste Gift für das Nervensystem und da¬ 
rum muss er vor allem von den Nervenkranken fern¬ 
gehalten werden. Auch das Nikotin ist ein starkes 
Nervengift, wenngleich seine Gefährlichkeit der des 
Alkohols nicht im Entferntesten gleichkommt, was 
aber nur an der geringen Menge des gewöhnlich 
beim Rauchen aufgenommenen Nikotins liegt; denn 
das letztere selbst ist von etwa der gleichen Giftigkeit 
wie Blausäure. Speciell durch Nikotin bedingte Geis¬ 
tesstörungen ernsterer Natur sind selten beobachtet 
worden. Es ist denn auch bisher keine Stimme da¬ 
hin laut geworden, dass man das Rauchen ganz ge¬ 
nerell in der Anstalt verbieten müsse; übermässiger 
Tabakgenuss wird selbstverständlich nicht geduldet. — 
Es giebt aber doch eine ganze Reihe von Anstalts¬ 
insassen, die besonders wegen einer abnorm gestei¬ 
gerten Ansprechbarkeit der Herz- und Gefässnerven 
nicht rauchen dürfen, jedenfalls das Nikotin besser 
meiden. Was thun ? Den Genuss geistiger Getränke 
haben wir unseren Patienten schon entzogen, sollen 
wir ihnen auch das Rauchen verbieten ? Wollen wir 
consequent sein, dann müssen wir auch hier jede 
Concession an eingewurzelte Gewohnheiten und Vor- 
urtheile verdammen und müssen sagen: „Los vom 
Nikotin!“ Glücklicher Weise ist es nun aber durch 
die Geh. Rath Prof. Dr. med. Gerold’sche Erfindung, 
eine Methode, durch welche das Nikotin unschädlich 
gemacht wird, ermöglicht, unseren unglücklichen 
Kranken, die ja auf so vieles verzichten müssen, die 
Erfüllung unserer Forderung zu erleichtern. Diese 
Erfindung ist trotz vielfacher Empfehlungen lange zu 
wenig beachtet gewesen, bis San. Rath Dr. Fürst und 
Dr. Cowl das Gerold’sche Verfahren im physiologischen 
Laboratorium des Instituts für medizinische Diagnostik 
in Berlin mittelst einer Reihe von Versuchen und 
Parallel versuchen an Menschen und Thieren einer 
wissenschaftlichen Nachprüfung unterwarfen, deren 
Ergebniss durchaus günstig war. Auf der 73. Ver¬ 
sammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in 
Hamburg berichtete Fürst über diese Untersuchung 
unter Demonstration der mit dem v. Basch’schen 
und Dudgeon’schen Apparate gewonnenen sphyg- 
mographischen Curven. 

Es stellte sich heraus, dass der Blutkreislauf durch 
den Rauch der nicht präparirten- Cigarre stark alterirt, 
durch den Rauch der präparirten Cigarre unter gleichen 
Bedingungen nicht beeinflusst wird, dass irgend eine 
Nikotin Wirkung nach dem Rauchen der präparirten 
Cigarren selbst durch empfindliche automatisch-gra¬ 
phische Methoden nicht mehr zur Anschauung zu 


bringen ist („Die ärztliche Praxis“, 1901 Nr. 22 ), dass 
daher diese nikotin-neutrale Cigarre vom hygienischen 
Standpunkte aas als ein rationeller Ersatz für die 
bisher gewohnte Cigarre und demgemäss als ein Fort¬ 
schritt zu bezeichnen sei. Auch Professor Dr. Stern, 
sowie eine Reihe praktischer Aerzte sprechen sich — 
ersterer ebenfalls auf Grund von physiologischen La¬ 
boratoriumsversuchen — sehr günstig über diese Ci¬ 
garre aus. Das Verfahren besteht darin, dass die 
Tabakblätter vor der Verarbeitung mit einer Lösung 
von Tannin und einer Abkochung von Origanum 
vulgare behandelt werden. Das Nikotin wird dadurch 
neutralisirt, das specifische Aroma bleibt aber er¬ 
halten. Die fabrikmässige Herstellung dieser nikotin- 
neutralen Cigarren besorgt die Firma Wendt’s Ci¬ 
garrenfabriken Aktiengesellschaft in Bremen. 

Ich glaube, dass es sich hier um ein Produkt 
handelt, dessen Einführung in den Bestand des An¬ 
staltsmagazins man anstreben muss. Jedenfalls wäre 
es erwünscht, wenn in den Anstalten Versuche grösse¬ 
ren Umfangs damit gemacht und wenn die pracüschen 
Erfahrungen grösseren Stils in diesem Blatte zur Er¬ 
örterung gebracht würden. Dr. B r e s 1 e 1. 


Referate. 

— Der Zusammenhang von Nerven¬ 
erkrankungen mit Störungen in den weib¬ 
lichen Geschlechtsorganen. Von Dr. A. 
Theilhaber in München. Verlag von Carl Marhold 
in Halle a. S., 1902. Preis Mk. 0,80. 

Verf. stellt 2 Hauptsätze in dieser Brochüre auf, dass 

1) Nervenleiden Störungen in den Genitalien 
hervorrufen können, und zwar beträfen diese am 
häufigsten die Periode, 

dass 2) umgekehrt auch Abnormitäten der 
weiblichen Geschlechtsorgane Erkrankungen 
des Nervensystems, als Hysterie, Nervosität im allge¬ 
meinen, Neurasthenie, Neuritis und Psychosen, zur 
Folge haben. 

Was Satz 1 anbetrifft, so entstehen die Menstrua¬ 
tionsanomalien entw’eder durch cerebral bedingte Blut¬ 
druckverminderung (Amennorrhoe) oder durch Blut¬ 
drucksteigerung (Menorrhagie). 

Die Entstehung der in Satz 2 erwähnten Er¬ 
krankungen des Nervensystems führt der Verf. meist 
auf Anomalien im Blut zurück und nicht auf eine 
Reflcxneurose. 

Dr. Heinicke -Grossschweidnitz. 


Druckfehlerberichtigung. 

Die Firma Eduard Speiser, welche die Matratzen- 
theile zu den in No. 37 beschriebenen Krankenbetten 
für unreinliche Geisteskranke liefert, befindet sich nicht 
in Soncheim, sondern in Sinsheim (Kr. Heidelberg). 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hcyncntann'sche Buchdruckerei (Gebr. WolflF) in Halle a* S. 


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Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Mcerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
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Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. üitti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : M arh o Id V er lag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 44 . 31. Januar. 1903 . 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6595), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Pflege und Krziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director 
Dr. Josef Krayatsch, Maucr-Ochling (S. 481). — Mittheilungen (S. 484). — Referate (S. 487). 


Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. 

Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich). 


Geschichtliches. 

ach einem Vortrage des Primararztes Dr. Ludwig 
Pfleger, welchen derselbe am i. Februar 1882 
im Wiener medicinischen Doctoren-Collegium abge¬ 
halten hatte, wurden zur Zeit Kaiser Josef II. auf 
Vorschlag van Swieten’s beschlossen, in ganz Oester¬ 
reich Krippen für blödsinnige Kinder zu errichten. 
Dieser Plan kam nicht zur Ausführung, doch wurden 
damals in Spitälern und Klöstern kleine Abthcilungcn 
zur Unterbringung von Idioten geschaffen. 

Als die erste wirkliche Anstalt, welche überhaupt 
zur Erziehung von Idioten errichtet worden ist, wird 
die des Lehrers Guggenmos in Salzburg, welche im 
Jahre 1828 entstand, bezeichnet. 

Trotz ihrer befriedigenden Erfolge musste sie im 
Jahre 1835 mangels der behördlichen Unterstützung 
aufgelassen werden. 

In Niederösterreich bestand in der alten, mit der 


Versorgungsanstalt vereinigt gewesenen Irrenanstalt zu 
Ybbs eine Schule für Idioten, für welche ein eigener 
Lehrer bestellt war. Als die Anstalten getrennt und 
neu aufgebaut bezw. umgebaut wurden, kaufte die 
Kommune Wien daselbst das sog. Tonder’sche Haus, 
welches von 1864 an zur Aufnahme von blöden und 
epileptischen Kindern bestimmt und zur Unterbringung 
von 40 solchen Kindern eingerichtet wurde. Die 
Kinder erhielten vom Beneficiaten der Anstalt einen 
den Fähigkeiten entsprechenden Unterricht und 
konnten bis zum 14. Lebensjahre daselbst verbleiben. 

Die von Dr. Friedmann und Glinsky in den 
Sechzigerjahren zu Zwölfaring errichtete Idiotenan¬ 
stalt, welche später nach Kierling übersiedelte und aus 
den älteren, nachmaligen Objecten der Irrenanstalt 
bestand, hatte auch geistesschwache Kinder in Obhut, 
welche auf Landeskosten vom niederösterreichischen 
Landesausschus.se in Pflege gegeben wurden. 



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482 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 44. 


Die Anstalt wurde ira Jahre 1872 wegen der dort 
Vorgefundenen argen Missbräuche behördlich ge¬ 
schlossen und die Pfleglinge im Hartl-Hause, als An¬ 
hang der n. ö. Landes-Irrenanstalt in Klosterneuburg 
und selbständige Idiotenabtheilung, unteigebracht. 

In diese Abtheilung wurden nur die pflegebedürf¬ 
tigen Idioten aufgenommen. 

Um aber den immer grösseren Bedürfnissen nach 
einer Anstalt für erziehungsbedürftige Pfleglinge theil- 
weise Abhilfe zu schaffen, wurde der Landesausschuss 
ermächtigt, mit der Idiotenanstalt zu St. Ruprecht bei 
Bruck a. Mur wegen Uebemahme von 40 erziehungs¬ 
fähigen, schwachsinnigen Kindern einen Vertrag ab- 
zusch Hessen. 

Gleichzeitig constituirte sich in Wien ein 
Verein zur Beschaffung von Mitteln im Wege der 
Privatwohlthätigkeit behufs Gründung einer Idioten¬ 
anstalt, welches Bestreben die Erbauung eines Asyles 
für schwachsinnige Kinder in Biedermannsdorf unter 
dem Namen „Stefan ie-Stiftung“ zur Folge 
hatte. 

Dennoch genügten die zur Verfügung stehenden 
Betten nicht und es langten immer mehr Gesuche 
um Aufnahme pflegebedürftiger idiotischer Kinder 
ein, so dass der Landesausschuss gezwungen war, 
durch Errichtung einer selbständigen Idiotenanstalt für 
Kinder Abhilfe zu schaffen. 

Der Landtag von Niederösterreich hat 
sich wiederholt mit der Frage der Idiotenfürsorge be¬ 
schäftigt und im Jahre 1880 in Klosterneuburg eine 
kleine, aber unzureichende Idiotenanstalt errichtet. 
Im Jahre 1882 hat der Landtagsabgeordnete 
Monsignore Kn ab, welchem die glänzenden Erfolge 
der Cretinenanstalt Ecksberg in Bayern vorschwebten, 
im Landtage den Antrag auf Errichtung einer Anstalt 
für schwachsinnige Kinder gestellt und der Regierungs¬ 
rath Dr. Moritz Gauster, Director der Irrenanstalt 
in Wien, ein diesbezügliches Programm ausgearbeitet, 
welches jedoch aus financieilen Gründen die Zustim¬ 
mung des Landtages nicht finden konnte. 

Im Jahre 1894 griff der nieder-österreichische 
Landtagsabgeordnete Monsignore Dr. Scheicher aber¬ 
mals die Idee auf und stellte einen entsprechenden 
Antrag, welcher vom Landtage angenommen, vom 
Landesausschusse sofort verwirklicht wurde; demselben 
wurde zunächst vom Landtage der nöthige Credit und 
die Uebemahme der Verpflegskosten für zahlungsun¬ 
fähige Kinder zugesichert. 

Zum Studium der bestehenden auswärtigen Idioten¬ 
anstalten wurde im Jahre 1894 der Director der 
nieder-österreichischen Landes-Irrenanstalt Dr. Josef 
Krayatsch (Berichterstatter) nach Deutschland und 


in die Schweiz ehtsendet, welcher seine gesammelten 
Erfahrungen hinsichtlich der baulichen Anlagen solcher 
Anstalten und deren Einrichtung in seinem Reisebe¬ 
richte über den Besuch einiger deutscher Idioten¬ 
anstalten niedergelegt hat. 

In Würdigung der ärztlichen Forderungen und 
aus Rücksicht einer einfachen Verwaltung beschied 
der Landtag das zu errichtende Institut einer schon 
bestehenden Irrenanstalt anzugliedem und entschloss 
sich hierbei für die Anstalt Kierling-Gugging, weil die 
Umgestaltung des Pavillons IV dieser Anstalt zur 
Idiotenanstalt am geeignetsten erschien. 

Die Errichtung der Pflege- und Beschäftigungs¬ 
anstalt für schwachsinnige Kinder setzte zunächst die 
Kenntniss der Ziffer der im schulpflichtigen Alter 
stehenden Kinder Niederösterreichs voraus, welche 
infolge einer angeborenen oder erworbenen Geistes¬ 
störung vom Schulbesuche enthoben sind. Nachdem 
eine solche Ziffer durch Zählung jener Kinder in der 
zur Verfügung stehenden Frist nicht zu erreichen 
war, so wurde es nothwendig, das Ergebniss ähnlicher 
Zählungen, wie solche in Württemberg, Dänemark 
und im Canton Zürich vorgenommen wurden, zu be¬ 
nutzen. — Nach diesen kommt ein Schwachsinniger 
auf 500 Einwohner. 

Demnach würde Niederösterreich bei einer Ein¬ 
wohnerzahl von 2800000 rund 5000 Schwachsinnige 
zählen, von denen im Veigleiche mit dem König¬ 
reiche Sachsen, welches von 3880 Blödsinnigen 635 
solche im Alter von 5—15 Jahren in öffentlichen und 
Privatanstalten verpflegt, 913 Blödsinnige im Alter 
von 5—15 Jahren stehen dürften. Die Zahl der 
schulpflichtigen Kinder auf 100 Einwohner schwankt 
durchschnittlich zwischen 15—20, daher dürfte die 
Zahl der schwachsinnigen Kinder im Alter von 5 bis 
15 Jahren, vorausgesetzt, dass Niederösterreich 5600 
Schwachsinnige überhaupt aufweist, zwischen 840 und 
1120 zu suchen sein. 

Weit geringer ist jedoch diese Ziffer nach der 
Volkszählung vom Jahre 1890. Nach derselben 
kommen anf Niederösterreich 3000 Idioten und 
Cretins mit etwa 400 Köpfen im schulpflichtigen Alter. 

Diese Zahl wird, wie Professor von Wagner in 
seinen Untersuchungen des Cretinismus in Steiermark 
nachgewiesen hat, nur theilweise der Wahrheit ent¬ 
sprechen. Bestätigt wird diese Annahme dadurch, 
dass im Jahre 1899 in den niederösterreichischen An¬ 
stalten für Pflege und Erziehung schwachsinniger 
Kinder 284 Knaben und 181 Mädchen, zusammen 
schon 465 Kinder verpflegt wurden. 

Projektirt wurde zunächst die Errichtung zweier 
Villen mit je acht Erziehungs-, beziehungsweise Pflege- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


483 


1903-] 


gruppen, welche den Pavillon IV mit dem Speisesaal, 
der Küche, den Arbeitszimmern, Wohnzimmern für 
die Schwestern flankiren sollten. Das Projekt wurde 
zu theuer befunden und die Erweiterung des Pa¬ 
villons IV durch Anbau beschlossen. Dieses Projekt 
erfüllte allerdings auch die geforderte Unterbringung 
der Pfleglinge nach Erziehungs- beziehungsweise 
Pflegegruppen und räumliche Trennung der Knaben 
und Mädchen, doch sind die Tagräume trotz der 
Einsprachen der ärztlichen und administrativen Ex¬ 
perten gelegentlich der Besprechung des Projektes und 
seiner baulichen Ausführung zu klein ausgefallen. 

Der erste Spatenstich wurde Ende 1895 gemacht 
und die Anstalt schon am 17. August 1896 feierlich 
eröffnet. 

Da nach dem Statute die unterrichtsfähigen, schwach¬ 
sinnigen Kinder an Anstalten unter pädagogischer 
Leitung abzugeben sind, hatte die Anstalt nur den 
Zweck, die in den pädagogisch nicht bildungsfähigen 
Kindern vorhandenen geistigen Fähigkeiten erziehlich 
auszubilden. 

Es wird bei solchen Kindern das Hauptgewicht 
nicht auf den Unterricht, sondern auf die Erziehung 
und Beschäftigung gelegt, während die vollständig ver¬ 
blödeten Kinder eine menschenwürdige Pflege er¬ 
fahren. 

Um allen diesen Forderungen Rechnung tragen 
zu können, wurde bei der baulichen Anlage der An¬ 
stalt derart Vorsorge getroffen, dass 96 Knaben, 96 
Mädchen, im Ganzen 12 Gruppen, das ist in je drei 
Erziehungs- und je drei Pflegegruppen geteilt, Unter¬ 
kunft finden können. 

Jede Gruppe von 10 bis 16 Kindern, welche unter 
der unmittelbaren Aufsicht zweier Schwestern, von 
denen in der Erziehungsgruppe eine Kindergärtnerin 
ist und den erziehlichen Teil zu besorgen hat, während 
die andere eine Pflegeschwester ist, bewohnen ge¬ 
meinsam einen Schlafsaal und einen Tagraum. 

Zwei benachbarte Gruppen verfügen über eine 
gemeinsame Waschstelle und Rumpelkammer und eine 
viersitzige Abortanlage. Allen Gruppen steht ein 
grosser Speisesaal und ein gemeinsamer Baderaum 
mit fünf Kupferwannen und ein gemauertes Bassin 
zur Verfügung. Im ersten Stockwerke befindet sich 
die Wohnung der Vorsteherin, ein Betsaal, Speise- 
und Gastzimmer für die Schwestern. Ausser den 
bereits angeführten Räumlichkeiten sind noch vorhan¬ 
den zwei Beschäftigungsräume, zwei Einzelzimmer, 
ein Zimmer für zwei kranke Schwestern, eine ent¬ 


sprechend eingerichtete Küche, eine Mehlspeisküche, 
ein Gemüseputzraum, Schlafzimmer für das Küchen¬ 
personal, ein Raum für reine, ein Raum für schmutzige 
Wäsche, ein ärztliches Zimmer, ein Besuchszimmer, 
ein Materialmagazin, ein Kohlenkeller, ein Gemüse- 
und Krautkeller, ein Victualien-Depot, ein Eiskeller, 
eine Fleischkammer, ein Holzkeller, zwei Dienerwoh¬ 
nungen, ein Heizkesselraum, eine Petroleumkammer. 

In dem für Mädchen und Knaben abgetheilten 
Garten befindet sich ein geräumiges, heizbares Garten¬ 
haus, welches mit Tumgeräthen ausgestattet ist und 
bei schlechtem Wetter zum Aufenthalte und ausser¬ 
dem zum Abhalten von Bewegungsspielen und Turn¬ 
übungen dient 

Die Hauptaufgabe der Pflege- und Beschäftigungs¬ 
anstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling-Gugging 
geht dahin, die ihr zugewiesenen Kinder zu pflegen, 
zu erziehen und zur Arbeit heran zu bilden, aber 
auch diejenigen, welche erwiesenermassen unterrichts- 
fähig sind, in einer Vorschule zu unterrichten, damit 
diese zu ihrer weiteren Ausbildung den zur Verfügung 
stehenden Anstalten in Banck a. M. und in Bieder¬ 
mannsdorf zugeführt werden. Sie soll ja eine beschei¬ 
dene Familienerziehung ersetzen, weshalb die Kinder 
einer Gruppe nach Thunlichkeit gleichartig und immer 
von denselben Pflegerinnen gepflegt beziehungsweise 
erzogen werden. Die Pflege geschieht durch auf¬ 
opferungsvolle Pflegerinnen, die Erziehung durch er¬ 
fahrene Kindergärtnerinnen, welche auch in der Ver¬ 
suchsabtheilung die Anfangsgründe im Unterrichte, 
Religion inbegriffen, ertheilen. 

Die Beschäftigung der dazu fähigen Pfleglinge er¬ 
folgt u. zw.: die der Mädchen in der Näh- und Strick¬ 
stube, in der Küche und beim Waschtrog, die der 
Knaben in den Werkstätten, im Gemüsegarten und 
bei der Landwirtschaft. Sowohl in der Knaben- als 
auch in der Mädchenabtheilung befindet sich je ein 
Arbeitszimmer, welches mit den nöthigen Behelfen 
als: Wandtafeln zum Religions- und Umschauungs- 
unterricht, Harmonium zum Gesangsunterrichte aus¬ 
gestattet sind. 

Ein lehrplanmässiger Unterricht wurde deshalb in 
das Erziehungsprogramm nicht aufgenommen, weil 
die unterrichtsfähigen Pfleglinge in die Anstalt zu 
Biedermannsdorf oder Banck a. M. abgegeben werden 
und weil erfahrungsgemäss die erziehungsfähigen Pfleg¬ 
linge mit Erfolg zu leistungsfähigen, landwirtschaft¬ 
lichen Dienstboten erzogen werden können. 

(Fortsetzung folgt.) 


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4tS4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44. 


Mittheilungen. 


— Göttinger psychologisch-forensische Ver¬ 
einigung. 2. Sitzung am 18. December 1902. Vor¬ 
sitzender: Landgerichtspräsident Heinroth. Schrift¬ 
führer: Privatdoeent Dr. med. Weber. 

Prof. Dr. jur. von Hippel: Willensfreiheit 
und Strafrecht. 

Hauptsächlich vom Standpunkte des praktischen 
Criminalisten bespricht Referent die Frage, ob die 
Begriffe der Verantwortlichkeit, Schuld, Zurechnungs¬ 
fähigkeit, Vergeltung und Strafe, an die Annahme 
einer Willensfreiheit gebunden sind, oder sich auch 
als die Grundlagen der derzeitigen Strafgesetzgebung 
halten lassen, wenn man von der Möglichkeit einer 
Willensfreiheit absieht und auf einem rein determini¬ 
stischen Standpunkt steht. Referent betont, dass 
zwischen beiden Anschauungen ein scharfer Gegen¬ 
satz besteht, der keine vermittelnde Stellung zulasse. 
Andererseits wird die Bedeutung dieses Gegensatzes 
nicht selten übertrieben. Es handele sich nicht um 
verschiedene Weltanschauungen; man könne z. B. 
sowohl auf dem Boden des reinen Materialismus, wie 
des gläubigen Christenthums stellend, für den Deter¬ 
minismus oder für die Willensfreiheit cintrcten. Es 
handele sich nur um verschiedene Anschauungen 
über das Zustandekommen der einzelnen mensch¬ 
lichen Handlungen. Die Vertreter der Willensfrei¬ 
heit behaupten, dass derselbe Mensch unter genau 
denselben Verhältnissen nach Belieben das eine oder 
andere wollen und demgemäss so oder anders han¬ 
deln könne, indem sic annehmen, dass die äusseren 
Verhältnisse bei dem Zustandekommen eines Ent¬ 
schlusses nur „sollicitiren“, nicht „nccessitiren“. 

Der Determinismus bestreitet die Möglichkeit des 
„anders handeln könnens“ unter gleichen Verhält¬ 
nissen, da die Willenshandlungen der Menschen wie 
alles Geschehen, dem Gesetze vom zureichenden 
Grunde unterliegen; die sic hervorbringenden Fac- 
toren sind einerseits die körperliche und geistige Eigen¬ 
art des Thäters, andererseits die jeweilige äussere 
Situation. Derselbe Mensch in derselben Situation 
konnte nur diesen, nicht einen andern Entsc hluss 
fassen. Hierin liegt keinerlei Leugnung der Macht 
der menschlichen Persönlichkeit, der Mensch wählt 
auf Grund verstandesgemässer Erwägung und fasst 
danach seinen Entschluss. Aber er kann nur wählen, 
was ihm auf Grund seiner Eigenart als das R ich- 
tigste erscheint, nicht ad libitum Gegcnthciligcs. 
Das die Handlung spontan, d. h. unwillkürlich be¬ 
gleitende Freiheitsgefühl, erklärt Ref. mit Ho che als 
das Bewusstsein von dem ungestörten Ablauf der 
Willensvorgänge. Das auf Reflexion beruhende Ge¬ 
fühl der Freiheit aber, welches wir bei der Betrach¬ 
tung zukünftiger oder vergangener Situationen 
haben, ist lediglich ein Möglichkeitsurtheil, welches 
darauf beruht, dass wir zur Zeit nicht alle pro et 
contra wirkenden Bedingungen richtig übersehen 
können. 


Ref. zeigt nun weiter, wie innerhalb dieses deter¬ 
ministischen Standpunktes sich die Begriffe des Ge¬ 
wissens, der Reue, Verantwortlichkeit, Schuld, Zu¬ 
rechnungsfähigkeit, Vergeltung und Strafe erklären 
lassen, und betont, dass diese Grundbegriffe des heu¬ 
tigen Strafrechts sich mit einer deterministischen Auf¬ 
fassung nicht nur sehr wohl vereinigen Hessen, son¬ 
dern dass allein der Determinismus, nicht die Willens¬ 
freiheit, diese Begriffe befriedigend zu erklären ver¬ 
möge. 

In der Diskussion 

bemerkt Exc. Geheimrath Flank, dass er nicht völlig 
auf die Willensfreiheit verzichten könne. Im Allge¬ 
meinen unterliege ja das menschliche Handeln, wie 
alles Geschehen, dem Causalgesetz. Daneben habe 
aber der Mensch die Möglichkeit, nach bestimmten 
Motiven zu handeln; diese aber seien nicht so zwingend, 
wie es das Causalgesetz fordere. 

Auch Geheimrath von Bar betont, dass bei 
aller Anerkennung der Gründe des Determinismus 
ein „gewisser Rest von Verantwortlichkeit“ als Grund¬ 
lage der menschlichen Handlungen übrig bleibe. 

Von verschiedenen Seiten wird auf den § 51, Str.- 
G.-B., eingegangen und hervorgehoben, dass der Be¬ 
griff der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit für 
die Praxis nothwendig einer Erläuterung oder Grund¬ 
bestimmung bedürfe. Dazu sei aber der Zusatz von 
der freien Willensbestimmung nicht geeignet. Auch 
das Vorhandensein oder der Mangel des Verständ¬ 
nisses für das Strafbare der Handlung genüge nicht, 
ebensowenig die Motivirung der Strafthat aus dem 
Geisteszustand. 

Prof. Gramer hebt hervor, dass der sachver¬ 
ständige Arzt von seinem naturwissenschaftlichen Stand¬ 
punkte überhaupt keine Willensfreiheit, die ein Be¬ 
griff der Ethik und Metaphysik sei, anerkennen könne. 
Er stehe auf dem Standpunkte, die Frage nach der 
freien Willensbestimmung als Sachverständiger über¬ 
haupt nicht zu beantworten, sondern höchstens auf 
Befragen seine persönliche Meinung diesbezüglich zu 
äussern. (Weber- Güttingen.) 

— II. Landes - Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc- 
tober 1902, Nachm.) Fortsetzung. 

Pandy und seine Schüler haben eine Reihe von 
Versuchen mit der neuen Heilmethode angestellt. 

An dieser Methode ist nichts Ueberraschendes, 
nichts Wunderbares. Hat doch schon Esquirol be¬ 
tont, dass die Epilepsie bei jedem neuen Eingriffe 
eine gewisse Besserung aufweist. Auch kehrten im 
Verlaufe der Experimente die Anfälle bald zurück 
und so stellte es sich heraus, dass das günstige Ur- 
theil verfrüht war. Toulouse und Riebet schrieben, 
dass Brom bei Na Cl-freier Kost 4mal so stark wirkt, 
als bei gewöhnlicher Diät. Also giebt Balint 12 gr., 
Konrad 8 gr. Bromkali pro die. Die Cur ist schwer 
durchführbar und gefährlich. Zwei der Kranken 


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iooU PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 485 


starben im Verlaufe des Experimentes. P. ordinirt 
auf seiner Abtheilung kein Brom mehr, nur in sel¬ 
tenen Ausnahmsfällen. 

Ranschburg: Eine neue Therapie soll weder 
mit Entzücken, noch mit Antipathie besprochen werden. 
Das gilt besonders für die Therapie der Epilepsie, 
da wir ja wissen, dass die Epilepsie oft von selbst 
auffallende Besserungen aufweisst, dass wir hinwieder¬ 
um in anderen Fällen mit keinerlei Mitteln im Stande 
sind, auch nur einen einzigen Anfall hintanzuhalten. 
Auch R. versuchte die Toulouse-Richet’sche Methode, 
die Erfolge waren so wenig einheitliche, dass es un¬ 
möglich ist, sich ein abschliessendes Urtheil zu bilden. 
In einigen Fällen wurde die Cur so schlecht ertragen, 
dass sie aufgelassen werden musste. Das Aufhören 
mit der salzlosen Diät verursachte keine auffallende 
Verschlechterung. In einigen Fällen zeigte sich wieder 
ausgesprochene Besserung, bei einem Knaben so weit 
gehend, dass er nun wieder die Schule besuchen kann. 
An manchen Tagen giebt R. seinen Kranken normale 
Diät, ja sogar gesalzene Speisen. 

Sa Igo: Gegen die Epilepsie wurde natürlich sehr 
vielerlei versucht. Doch ist die Controlle infolge des 
eigenthümlichen Verlaufes der Epilepsie eine so 
schwierige, dass es heute kaum möglich ist, ein be¬ 
ruhigendes Urtheil zu fällen. Casuistik und nicht 
Statistik ist dazu berufen, diese Frage zu lösen. Die 
grossen schweren Anfälle werden nach einer gewissen 
Behandlung seltener, doch behält Meynert, der immer 
betonte, dass die häufiger auftretende kleinere Epilepsie 
die schlimmere ist, Recht. Ich erinnere mich eines 
besonders typischen Falles, den ich während meiner 
klinischen Dienstzeit zu beobachten Gelegenheit hatte. 

Es war ein Fall, in welchem fortwährende schwere 
Anfälle vorhanden waren. Wir reichten Atropin und 
die Anfälle sistirten, der Kranke blieb ein Jahr lang 
frei von jedem Anfalle. Nun entliessen wir den 
Kranken; am nächsten Tage brachte man ihn uns 
wieder; er litt unter den heftigsten, mit Tobsucht 
einhergehenden Anfällen. Es wurde jede Therapie 
vermieden, dennoch hatte der Patient wieder ein 
Jahr lang keinen einzigen Anfall. Wir entliessen ihn nach 
diesem zweiten auf der Klinik anfallslos zugebrachten 
Jahre wieder als geheilt, nun hörten wir nichts von 
ihm, bis ihn nach 10— 11 Monaten in der Gesell¬ 
schaft der Aerzte ein College als durch „Faradisation 
geheilt“ vorstellte. 

Unter gewissen Verhältnissen bleiben also die epi¬ 
leptischen Anfälle spontan aus. Dazu kommt nun 
noch der Zweifel, ob die Diagnose der genuinen Epi¬ 
lepsie auch richtig war? Wir fassen unter dem Namen 
Epilepsie eine ganze Reihe von Krankheiten zu¬ 
sammen, trotzdem wir in vielen Fällen die Art der 
Veränderungen überhaupt nicht kennen, lieber den 
Erfolg oder die Erfolglosigkeit irgend einer Heilme¬ 
thode lässt sich nur mit der grössten Vorsicht etwas 
Bestimmtes aussagen. Die Versuche mit der salz¬ 
freien Diät sind, da sie unschädlich sind, unbedingt 
fortzusetzen. 

Poszvek kann auf Grund seiner 19jährigen 
Praxis sagen, dass jede Therapie bei der Epilepsie 


von suggestiver Wirkung ist. Der Erfolg hängt von 
der Individualität des Arztes ab. Das neue Ver¬ 
fahren ist nur dazu gut, um dem Arzte Geduld, dem 
Kranken Aussicht auf Heilung zu verleihen. 

Bai int: Die guten Erfolge, welche die Experi¬ 
mente des Herrn Directors Konracl aufweisen, freuen 
mich ausserordentlich. Die Thatsache, dass nach 189 
Anfällen des Zeitabschnittes vor der diätetischen Be¬ 
handlung, im Zeitabschnitte dieser Therapie nur 36 
Anfälle auftraten, beweist die grosse Wirksamkeit 
dieser diätetischen Behandlung. Mit grossem Inter¬ 
esse sehe ich den Control versuchen entgegen, trotz¬ 
dem ich glaube, dass nach dem eclatanten Erfolge, 
den die Therapie in den erwähnten 9 Fällen aufwies, 
dass Abfallen der Zahl der Anfälle während der diä¬ 
tetischen Therapie und das rasche Ansteigen der¬ 
selben, nachdem man mit dieser Therapie aufhörte, 
nun keinesfalls mehr dem Zufalle zugeschrieben werden 
kann. Auch B. weiss, dass nach dem Aussetzen der 
Therapie gehäufte Anfälle auftreten, darum betonte 
er die Nothwendigkeit, die Diät durch langsames Ver¬ 
mindern der Brommengen und langsames Vermehren 
der Kochsalzmengen und nicht plötzlich zu ändern. 

Der Vortragende kennt den negativistischen Stand¬ 
punkt Pandy’s schon lange. Sein jetziger Standpunkt 
ist jedoch etwas unklar. Pandy sagt einerseits, dass 
die Wirkung der therapeutischen Methode durch die 
Steigerung der Brom Wirkung bedingt ist, andererseits 
schreibt er wieder die ganze Wirkung der Suggestion 
zu. Ist denn die Steigerung der Brom Wirkung eine 
Suggestion? Zu dieser Suggestionstheorie will der 
Vortragende nur bemerken, dass Schlöss Versuche 
mit verschiedener Diät anstellte. Warum war nur 
bei der chlorfreien Diät eine Verminderung der An¬ 
fälle zu constatiren ? Und wenn die Suggestion das 
heilende Agens ist, warum blieb dann bei den Bckes- 
gyulaer Kranken Pandy’s jede Wirkungaus? Haben 
diese Kranken so wenig Vertrauen zu der Heilkraft 
der bei ihnen angewendeten Therapie? Was den 
Fall von Bromvergiftung anbelangt, den P. erwähnt, 
so könnte es denn doch noch sehr bezweifelt werden, ob 
es sich in diesem beschriebenen Falle um eine wirk¬ 
liche Bromvergiftung handelte oder nicht. Der Kranke 
nahm Jahre hindurch ohne jeden Schaden Brom, nun 
wird er für die Dauer von 13 Tagen einer gesteigerten 
Bromwirkung ausgesetzt. Nach 13 Tagen wird, weil 
der Puls auf 90 steigt, das Brom fortgelasscn, nach 
36 Tagen stirbt der Kranke trotz jeder Therapie, ohne 
Brom seit dem Auftreten der ersten Symptome auch 
nur gesehen zu haben — das kann ich, besonders 
ohne Section, durchaus nicht für einen sicheren Fall 
von Bromvergiftung ansehen. 

Mit Herrn Primarius Salgd stimmt der Vortragende 
darin, dass aus einem Falle keine weitgehenden Schlüsse 
gezogen werden dürfen, vollständig überein, doch ist 
es zweifellos, dass wir die Experimente fortsetzen 
müssen, denn der rein negative Standpunkt hat noch 
keine Wissenschaft vorwärts gebracht. 

(III. Sitzung. 2 7. October 1902). 

Vorsitzender: Alexander Szabo, später Gedeon 
R a i s z. Schriftführer: S. T e 1 e k y, Gustav V c r u b 2 k. 


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486 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 44 


11. M. Kende: Die Versorgung der 
Schwachsinnigen und Blödsinnigen in den 
verschiedenen Staaten Europa’s. 

Kende beweist durch Zahlen, wie lückenhaft und 
unvollkommen die Versorgung der Blödsinnigen selbst 
in Culturstaaten ersten Ranges ist; so erhalten in 
England, wo alle Geisteskranke entsprechend unter¬ 
gebracht sind, von 47000 Idioten nur 24000 An¬ 
staltspflege; in unserem Vaterlande sind von 1900 
Idioten beiläufig 150 entsprechend untergebracht. 
Dabei sind die meisten Anstalten von privatem 
Character und nehmen bloss zahlende Kranke auf, 
so dass gerade die Armen von der Pflege in einer 
Anstalt ausgeschlossen sind. 

Durch entsprechende Institute kann ausserordent¬ 
lich viel geleistet werden. Diese Institute sollen Ver- 
pflegsanstalten für unheilbare, der Bildung unzugäng¬ 
liche Idioten (75 °/ 0 ) und Lehranstalten und Aushilfs¬ 
schulen für bildungsfähige Idioten sein, wo die Zög¬ 
linge sich nicht nur elementare Kenntnisse aneignen, 
sondern auch ein entsprechendes Handwerk erlernen 
können und damit haben wir nicht nur diese Un¬ 
glücklichen versorgt, sondern es wird auch die durch 
die häusliche Pflege dieser Kranken gebundene 
Arbeitskraft frei, die beaufsichtigenden Angehörigen 
solcher Kranken können nun ihrer Arbeit nachgehen. 

Discus sio n: 

Lukäcs erwähnt wieder die von ihm propagirte 
Idee der „Idioten-Bewahr-Anstalten“. Der Zweck 
dieser Institution wäre, die armen Idioten tagsüber 
zu unterrichten, zu pflegen, so dass sie gut versorgt 
wären, die Arbeitskraft der beaufsichtigenden Ange¬ 
hörigen frei würde, was für beide Theile von grossem 
Vortheile wäre. 

12. Ludwig Hajos: Die wissenschaftliche 
Erkennung des normalen psychischen Ha¬ 
bitus. 

Die Psychiatrie beruht zwar auf psychologischer 
Basis und verfolgt psychologische Methoden, doch 
fehlt ihr die Kenntniss des normalen Seelenlebens. 
Das, was wir gewöhnt sind unter Psychologie zu ver¬ 
stehen, ist zum grössten Theile nichts anderes, als 
die philosophische Ausarbeitung subjectiver Daten, 
welche introspectiven Ursprunges sind. Die Aufgabe 
der Psychiatrie ist nicht nur, die Geisteskrankheiten 
zu constatiren, sondern auch zwischen normalem und 
pathologischem Geisteszustände zu unterscheiden. 
Darum kann sie auch die philosophische Psychologie, 
welche die inneren Beziehungen der psychischen Er¬ 
scheinungen und nicht die äusserlichen Symptome 
derselben prüft, kaum als positive Grundlage ge¬ 
brauchen. Es wäre eine dringende Nothwendigkeit, 
sowohl für die theoretische, als für die practische 
Psychiatrie, eine auf anthropologischer Basis aufgebaute 
Psychologie zu besitzen, welche Psychologie sich nicht 
so sehr mit der Lösung von Problemen, als mit der 
Beschreibung objectiv leicht zu prüfender Symptome 
des Seelenlebens beschäftigen würde. 

Jedermann, nicht nur der Psychiater verfügt über 


eine gewisse, erfahrungsweise construirte Ifenschen- 
kenntniss, welche jedoch sowohl beim Psychiater als 
bei dem Nichtpsychiater gleich unwissenschaftlich ist 
Eine solche Menschenkenntniss ist nichts anderes als 
eine Anhäufung von mehr oder weniger Erfahrung 
in unserer Erinnerung und diese kristallisirt sich ihrem 
spontanen Ursprünge und ihrer autodidactischen Be¬ 
arbeitung entsprechend niemals in ein disciplinirtes 
System, welches den Austausch der Daten ermög¬ 
lichen würde, und so wird es zur Unmöglichkeit, all- 
gemeingiltige Bilder zu entwerfen und Gesetze fest¬ 
zustellen. 

(Schluss folgt.) 

— Dem Tropenkoller will der österreichische 
Consular- und Gerichtsarzt in Catjro Dr. Hans Ritter 
v. Becker eine Stelle in der Reihe der anerkannten 
Geisteskrankheiten geben. Er geht von der Beob¬ 
achtung aus, welche die Aerzte an den Mitgliedern 
der österreichisch-ungarischen Colonie in Cairo ge¬ 
macht haben. Diese verfallen verhältnissmässig 
häufig geistigen Erkrankungen. Becker, der über seine 
Beobachtungen und Anschauungen auf dem medici- 
nischen Congresse in Aegypten berichtete, bringt die 
gesteigerte Zahl der Geisteskrankheiten bei Euro¬ 
päern in den heissen Ländern in Beziehung zu 
Stoffwechsel-Störungen, die eine Folge des heissen 
Klimas sein sollen. Unter dem Einflüsse dieser Stoff¬ 
wechselstörungen soll es zur Bildung von Giften 
kommen, welche das Centralnervensystem und damit 
die Psyche schädigen. Solche Beeinflussung der Psyche 
durch Stoflfwechselanomalien Werde verständlicher, wenn 
man bedenke, dass unter gewöhnlichen Verhältnissen 
Gelbsucht und Leberleiden bisweilen schwere Miss¬ 
stimmungen, ja Melancholie verursachen. In das Gebiet 
dieser Geisteskrankheiten in Folge Stoffwechselano¬ 
malien fällt nach Becker auch der Tropencoller, die folie 
morale tropicale. Die Aeusserungen des Tropencollers 
erwecken schon bei dem Laien den Verdacht, dass 
es sich dabei um etwas Krankhaftes handelt, um eine 
krankhafte Impulsivität und ein krankhaftes Damieder¬ 
liegen der ethischen Anschauungen. In der Geschichte 
findet man eine Art alkoholischen Typ dieser Krank¬ 
heitsform in Alexander dem Grossen, dessen Aufent¬ 
halt in den heissen Euphrat-Niederungen nach den 
Strapazen des indischen Kriegszuges in einer fast un¬ 
unterbrochenen Kette von Thatsachen die Krankheits¬ 
geschichte eines alkoholischen Tropen wahnsinnigen 
darbietet Was durch das Clima und die Verhältnisse 
geschaffen wird, ist nach Becker aber nur die Dispo¬ 
sition für die Tropencoller. Sodann folgt der unleug¬ 
bare Einfluss der psychischen Tara; nur allzu häufig 
sind in der Beobachtungsreihe bereits in Europa mo¬ 
ralisch minderwerthige havarirte Individuen, denen 
der Tropendienst zur letzten Ressource werden sollte. 
Um die Krankheit zum Ausbruch zu bringen, müssen 
noch Schädigungen hinzukommen. Sie sind in dem 
Alcoholmissbrauch, der Malaria, Dysenterie, in Ueber- 
anstrengung, mangelhafter Ernährung, in psychischen 
Schäden, wie Vereinsamung, dem Gefühle grosser 
Verantwortlichkeit gegeben. „Der Character der Er¬ 
krankung im allgemeinen ist ein rapides Sinken 
des moralischen Urtheils und der einzelnen ethischen 


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1903] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


487 


Principien bei scharf pointirtem Selbstgefühl, das 
manchmal bis ins Prahlen und in Grossthuerei aus¬ 
artet ; launenhaften, eigensinnigen, sprunghaft 
wechselnden Stimmungen; auffallender Reizbarkeit, 
rohen, oft unmotivirten Gewaltacten ohne merkliches 
Sinken der Intelligenz, ja häufig bei gesteigerter Be¬ 
obachtungsgabe und regerer Auffassung. Der Zom- 
ausbruch wird zur lange dauernden Gleichgewichts¬ 
störung etc. Reissen sie einen solchen Kranken aus 
seinem tropischen Milieu, so finden sie ihn — wie 
ich es selber gesehen — vielleicht als simplen Alco- 
holiker beim „Apperitif“ oder beim Stammtisch, ja 
selbst im Gesellschaftsanzug beim Diner als ange¬ 
nehmen Causeur — möglicherweise ein bischen selbst¬ 
bewusst, vielleicht auch ein wenig Tartarin der 
Löwenjäger — häufig sogar still und zurückgezogen. 
Die ihm zur Last gelegten Brutalitäten sind sämmtlieh 
Folgen von Umständen, an die er sich meistens nicht 
präcise erinnert, die aber die Sache unumgänglich noth- 
wendig erscheinen Hessen — „übrigens sei Alles der 
Form nach gesetzlich geschehen“ („Kriegsgericht“, 
,»standrechtliche Massregel“, „wohlgemeinte nothwen- 
dige Züchtigung“ etc.). Nimmt man alle Symptome 
zusammen: die Entwerthung der ethisch-moralischen 
Grundsätze, die vermehrte Impulsivität, den AfTect- 
choc, die verfeinerte Beobachtungsgabe etc., so erhält 
man das Bild einer atavistischen Form des Irrsinns.“ 
Dr. von Becker will, dass bei der Beurtheilung von 
Vergehen und Verbrechen, die von Europäern in 
heissen Ländern verübt werden, ein anderer Massstab 
angelegt Werden solle, als im Mutterlande von Alters 
her Brauch ist. Einer der angesehensten Tropen¬ 
hygieniker, Plehn, wies schon eindringlich darauf hin, 
dass die Aeusserungen des Tropencollers oft genug 
nichts anderes als acute Ausbrüche von chronischem 
Alcoholismus sind. 


Referate. 

— R. v. Krafft-Ebing. Psychosis menstrualis. 
112 S. Stuttgart, F. Enke. 

Der berühmte Wiener Kliniker sendet damit die 
erste Arbeit aus seinem Grazer Tusculum, ein Beweis, 
dass er das gewählte Otium nicht ohne Htterarische 
Betätigung sich denken kann.*) Hier beschäftigt er 
sich in Form einer klinisch-forensen Studie mit der 
wichtigen Rolle, welche die Menstruation im Nerven- 
und Geistesleben des gesunden und kranken Weibes 
einnimmt. Ein geschichtlicher Rückblick über die 
Arbeiten der wichtigsten Autoren auf diesem Gebiete 
führt in das Thema ein. 

Sodann findet — r. die primordiale menstruelle 
Psychose ihre klinische Darstellung; dieselbe ist als 
eine Pubertätspsychose bei erblich Belasteten aufzu¬ 
fassen, die im Anschlüsse an die erste Ovulation ein¬ 
setzt und gewöhnlich nach einer Reihe (4—13) von 
Anfällen von je 1—2 Wochen Dauer in Genesung 
übergeht. 

*) Allzufrüh ist unterdessen der hervorragende Mann einem 
reichen Schaffen durch den Tod entrissen worden. 

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2. Die Ovulationspsychose, die häufigste und 
wichtigste Form, die sowohl als einzelner Anfall als 
auch, und zwar viel häufiger, als recidivirende und 
periodische Form vorkommt. Ersterer trägt den 
Character des transitorischen Delirs mit starker Be¬ 
wusstseinsstörung und Amnesie und lässt ihre Auf¬ 
fassung als eines Aequivalents der Hysterie, Epilepsie 
oder Neurasthenie zu. Als prädisponirende Ursachen 
der recidivirenden und periodischen Ovulationspsy¬ 
chose spielt die erbliche Belastung und die Anlage 
des Centralnervensystems die grösste Rolle. Inter¬ 
essant ist ihr Auftreten auch nach Cessiren der 
Menses, im Climacterium. Erkrankungen der Geni¬ 
talien waren nur selten für die Aetiologie beizuziehen. 
Temporär, d. h. für den einzelnen Anfall ist der 
Schwerpunct auf die bedeutende, über die auch phy¬ 
siologisch nachgewiesene, weit hinausgehende Erreg¬ 
barkeitssteigerung des Gehirns und der Nerven, be¬ 
sonders auch der vasomotorischen, während des prae- 
menstrualen Abschnitts der Welle zu legen. So kommen 
sowohl manische (der Wallungshyperämie ent¬ 
sprechende), wie melancholische (der Gehimanämie 
entsprechende) Krankheitsbilder zustande. Der Ein¬ 
tritt der Psychose war von 54 Fällen praemenstruell 
28, menstrual 19 und postmenstrual 8 mal; bei 
demselben Individuum kann hierin aber im Verlaufe 
der Psychose ein Abwechseln Vorkommen. Die Dauer 
der Anfälle wechselt zwischen 5 Tagen und 2 Wochen. 
Ausbruch und Abfall sind meist brüsk. Die Manie 
wiegt vor (34 von 54 Fällen); des weiteren kommen 
vor: Melancholie, Dipsomanie, Paranoia; degenerative 
Zeichen jeder Art prägen sich im Verlaufe vielfach 
deutlich aus. Die Gesammtprognose ist keine un¬ 
günstige; von 36 Fällen liefen 25 in Genesung, 11 
in geistige Schwäche aus. Gravidität unterbricht 
oder heilt die Krankheit; das Climacterium kann die 
Genesung bringen. In der Therapie wird das Brom, 
weil die Herabsetzung der gesteigerten Gehirnerreg¬ 
barkeit bewirkend, in Gaben nicht unter 6 gr. vor 
Eintritt der Menses als das beste präventive Mittel 
gepriesen. Es bewährt sich besonders bei den 
manischen Fällen. Für die Kastration wird die In- 
dication gestellt, dass jede andere Cur wirkungslos 
war und mehr als 15 Anfälle nach längst abge¬ 
schlossener Pubertät erfolgt sein sollen. 

3) Die epochale Menstruationspsychose, wie sie 
von Schüle als besondere Form aufgestellt worden ist, 
d. h. circuläre Psychosen, die praemenstrual beginnend, 
vor und nach dem Intermenstrum ihren Zustands- 
character ändern und so neben der biologischen eine 
psychopathische Wellenbewegung aufweisen. Wichtig 
sind hier die luciden Intervalle, die mitunter den 
einen Cirkel vom andern scheiden. 

Als wichtiges Schlusscapitel wird dann die forense 
Bedeutung der Menstruationsvorgänge sowohl beim 
gesunden Weibe, als beim psychopathischen, als be¬ 
sonders bei den hier dargestellten Menstrualpsychosen 
dargestellt und die Berücksichtigung dieses Moments 
aufs dringendste empfohlen. Gesteigerte Reizbarkeit, 
pathologische Affecte, Zwangshandlungen werden 
durch die Menses hervorgerufen. Selbstmord, Brand¬ 
stiftung, Mord, besonders häufig der eigenen Kinder, 


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4B8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44. 


Diebstahl sind der Ausdruck und Ausbruch der krank¬ 
haften Gehirnthätigkeit. Die zum Schlüsse ' aufge¬ 
stellten Thesen für die strafgerichtliche Untersuchung 
weiblicher Inculpaten sind durchaus gerechtfertigt und 
beherzigenswerth, damit dem Momente der Menstru¬ 
ation und seiner Einwirkung auf das Seelenleben des 
Weibes die gebührende Beachtung in der Recht¬ 
sprechung werde. 

Eine grosse Reihe von sehr lehrreichen Kranken¬ 
geschichten bereichern die werthvolle Monographie. 

Max Fischer. 

— Hoche. Die Freiheit des Willens vom 
Standpunct der Psychopathologie (Grenzfragen des 
Nerven- und Seelenlebens Heft XIV. Wiesbaden. 
1902). 

Verfasser geht von der Thatsache aus, dass die 
Elemente des psychischen Geschehens beim Geistes¬ 
kranken dieselben sind, wie beim Geistesgesunden, 
wie er auch im Einzelnen nach weist, und wendet die 
von medicinischer Seite in der Psychopathologie ge¬ 
machten Erfahrungen zu einer Analyse des Begriffs 
der Willensfreiheit an. 

Die Erörterungen des in der Criminalpsychologie 
und gerichtlichen Psychiatrie so erfahrenen Autors 
sind um so werthvoller, als ihnen auch eine Anzahl 
weiterer, interessanter psychologischer Bemerkungen 
eingestreut sind. Bei einer Analyse des Freiheitsbe¬ 
griffes scheidet er zunächst die Einschränkung der 
Freiheit der Entschliessung durch äussere Mittel und 
durch „inneren Zwang“ (z. B. drohende Todesgefahr) 
aus der Besprechung aus. Das Problem der Willens¬ 
freiheit besteht vielmehr in der Frage, ob wir bei 
irgend einer beabsichtigten Handlung vollkommen 
frei sind in der Wahl der Motive (psychologische 
Freiheit) und ob die eine Entscheidung in dieser 
Wahl herbeiführenden psychischen Vorgänge, die da¬ 
zu nöthigen Vorstellungen und Urtheile, unabhängig 
von dem sonst allgemein gütigen Causalitätsgesetze 
verlaufen (causale Freiheit). Die älteren philoso¬ 
phischen Theorien darüber werden kurz erwähnt, 
namentlich die Kant-Schoppenliauer sehe Lehre vom 
intelligiblen Character. Verfasser aber kommt haupt¬ 
sächlich auf Grund psychopathologischer Thatsachen 
zu einer Verwerfung des Begriffes der Willensfreiheit, 
worin ihm die meisten heutigen Psychiater zustimmen 
werden. 

Verfasser zeigt nun, wie sehr die jeder Willens¬ 
handlung vorausgehenden psychischen Vorgänge so¬ 
wohl inhaltlich als formal tief begründet sind in in¬ 
dividuell verschiedenen, intellectuellen und gefühls- 
mässigen Vorgängen, deren Gcsammtheit eben den 
Character des Einzelnen bedingen und über die 
wir, da sie theils angeboren, theils anerzogen sind, 
nicht hinauskommen. Bei diesen Erörterungen werden 
eine Anzahl Begriffe in einer auch für Laien 
verständlichen Weise erörtert. 

Wenn trotz dieser engen causalcn Abhängigkeit 
jeder einzelnen Willenscntschlicssung von dem indi¬ 


viduellen Character vielfach das Problem der Willens¬ 
freiheit aufrecht erhalten wird, so wird dies vom 
Verfasser darauf zurückgeführt, dass unsere meisten 
Willenshandlungen von einem lebhaften Freiheits¬ 
bewusstsein begleitet sind. Eine Analyse des 
letzteren, das sich aus einem verstandesmässigen und 
einem gefühlsmässigen Theil zusammensetzt, und die 
Thatsache, dass es sich auch bei psyrhopathologischen 
Zuständen findet, wo doch sicher der Wille unfrei ist, 
ergibt aber, dass das Freiheitsbewusstsein nicht zum 
Beweiss für das Bestehen der Willensfreiheit heran¬ 
gezogen werden kann. Es beweist höchstens, dass 
bei der Abwägung der Motive der Ablauf der 
geistigen Vorgänge nicht wesentlich beeinträchtigt war, 
dass also die psychologische Freiheit vorhanden war. 
Endlich wird betont, dass die Annahme einer Willens¬ 
freiheit unvereinbar ist mit der jetzt am meisten an¬ 
erkannten Hypothese des psychophysischen Parallelis¬ 
mus; denn wenn man zugiebt, dass der materielle 
Ablauf aller Vorgänge sich nach dem Causalitätsge- 
setz vollzieht, so muss man dies auch der anderen, 
immateriellen Seite des geistigens Geschehens zubilligen. 
Dass durch den Wegfall der Willensfreiheit unser 
persönliches Handeln und unser Verhältniss zur Ethik 
nicht verändert wird, dass dagegen die mit dem 
freien Willen rechnenden Strafrechtstheorien Schiff¬ 
bruch leiden müssen, sind weitere Folgerungen, auf 
die Verfasser nur vorübergehend hin weist.*) 

(W e b e r -Göttingen). 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten. Bd. 36 Heft 1. 

N ei ss e r (Lubli n i tz). Beitrag zur A etio- 
logie der periodischen Psychosen. 

Verfasser berichtet zunächst über einen Fall von 
periodischer Psychose im Anschluss an einen Schlag¬ 
anfall, dann über einen solchen, bei welchem Krämpfe 
in der Kindheit aufgetreten waren, und bestätigt da¬ 
mit die Angaben von Pilcz, welcher als neuen ätio¬ 
logischen Factor für die Auslösung periodischer Psy¬ 
chosen organische cerebrale Erkrankungen („Hirn¬ 
narben“) aufgedeckt hat und welcher fand, dass 
periodisch Kranke in ihrer Kindheit sehr häufig cere¬ 
brale Leiden durchgemacht haben („Fraisen, Gehirn¬ 
hautentzündung“ etc). Ferner erwähnt Verf. kurz 
das Vorkommen einer circulären Psychose bei einem 
Patienten, der einige Jahre zuvor von einem Blitz¬ 
strahl getroffen worden war, und macht schliesslich 
unter Mittheilung einer Krankengeschichte auf eine 
kleine Gruppe von periodischen Psychosen aufmerk¬ 
sam, welche unmittelbar nach einem Trauma auf- 
treten, als Erregungszustände in Einzelanfällen verlaufen 
und scheinbar eine günstige Prognose bieten. 

. Arnemann, Gross-Schweidnitz. 

*) Dass auch die Cfiminalrechtspflege ohne den Begriff der 
Willensfreiheit auskommt und dass mit der Verwerfung des¬ 
selben die Grundlagen des heutigen Strafrechts nicht alterirt 
werden, hat kürzlich in einem Vortrag in der Göttinger psycholog.- 
forens. Vereinigung Professor Dr. jur. v. Hippel ausgeführt. 
(Siehe Sitzungsbericht in dieser Nummer.) 


Für den redactionel len Theil verantwortlich: Oberarzt J)r. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnetnann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische 

Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ii. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazaini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

. Budapest. St. Maurice .Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien i. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adreaae: Marhold Verlag, Hai leiaale. Fernsprecher 244. 

Nr, 45. ~ 7. Februar. _ 1903, 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3 spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director 
Dr. Josef Krayatsch, Maucr-Oehling (Fortsetzung) (S. 489;. — Ein wichtiger Moment in der Entwickelung der Fürsorge 
für Trunksüchtige (S. 493). — Mittheilungen (S. 496). 


Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. 

Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich). 

(Fortsetzung.) 


II. 

Anslal(sfj/äli</kpit vom Jahre 1896 bis vum Jahre 
19 OL 

Die Aufnahms- und Leistungsfähigkeit der Pflege- 
und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder 
w;ir durch ihren Belagraum und ihre Organisation in 
enge Grenzen gewiesen und konnte den besonders 
durch die feierliche Eröffnung der Anstalt am 17. 
August 1896 in der Oeffentlichkeit rege gewordenen 
und gesteigerten Nachfragen um Aufnahme schwach¬ 
sinniger Kinder aus der Provinz kaum gerecht werden. 
Aus diesem Grunde mussten die Aufnahmsgesuche 
aus den anderen Provinzen Oesterreichs und aus 
anderen Staaten — Ungarn, Rumänien, selbst aus 
der Türkei unberücksichtigt bleiben. Besonders rege 
waren die Nachfragen nach Unterbringung epilep¬ 


tischer, im schulpflichtigen Alter stehender Kinder, 
welche wegen der bestehenden, den öffentlichen Un¬ 
terricht störenden Krampfanfälle vom Schulbesuche 
enthoben wurden, jedoch mangels eines schulplan- 
mässigen Unterrichtes in der Kinderanstalt, nicht auf¬ 
genommen werden konnten. Dessen ungeachtet war 
die Thätigkeit der in der Kinderanstalt in Verwendung 
stehenden Angestellten eine sehr segensreiche, wie 
aus den Jahresberichten des niederösterreichischen 
Landesausschusses über diese Zeitperiode in erzieh¬ 
lich-pädagogischer, ärztlicher und administrativer Rich¬ 
tung zu entnehmen ist. 

Seit der Eröffnung der Pflege- und Beschäftigungs¬ 
anstalt für schwachsinnige Kinder am 17. August 
1896 bis zum Ende Juni 1901 wurden 242 Knaben 
und 191 Mädchen aufgenommen. 


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490 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45. 


Tagesordnung. 


Zeit 

Sonn- und Feiertage 


Wochentage. 

4 


wie an Wochentagen 

4 

Glockenzeichen 4 Uhr der Nachtwache zum Aufstehen 
der Schwestern. 

*46—7.7 


wie an Wochentagen 

*/*<»—‘/*7 

Aufstehen der Pfleglinge, Waschen, Haarmachen, Zahnpflege, 
Ankleiden. 

7,7 


wie an Wochentagen 

V*7 

Glockenzeichen ' 2 7 Uhr. Morgenandacht und Früh¬ 
stück der Pfleglinge im Speisesaal, Frühstück der 
Pflegebedürftigen auf ihren Abtheilungen, Frühstück 
der diensthabenden Schwestern mit den Kindern im 
Speisesaale und auf der Pflegeabtheilung, das der 
dienstfreien im Refektorium nach dem Gottesdienste. 

' 


wie an Wochentagen 

7-8 

Bettmachen, Säuberung und Lüftung der Abtheilungen, 
Waschen der Gange. 

CS 

1 

00 


Gartenbesuch oder 
Spiele im Tagraum 

8-9 

Kindergarten, Beschäftigung, Gartenbesuch, Spiele viele 
Stundenplan. 

9 —VjIO 

Zweites Frühstück nach 
dem Gottesdienste 

£ 

c« 

T 

0 

Zweites Frühstück. 

x ! t \ö— 7*i 1 



1 2 10— 1 2 i 1 

Kindergarten, Beschäftigung, Garten besuch, Spiele, Bad 
vide Badeordnung. 

V,ii--ii 




Decken der Tische, Aufenthalt der Pfleglinge in den Tag¬ 
raumen. 

11 —7*12 


“ wie an Wochentagen 

11 — V * 1 - 

Glockenzeichen 11 Uhr. Mittagessen der Pfleglinge 
der Beschäftigungsabtheilung im Speisesaalc, der Pflege¬ 
bedürftigen auf den Abtheilungen 

7,12—12 

1 


V,I2—12 

Vor und nach dem Essen kurzes Tischgebet, Waschen des 
Mundes, Abräumen der Tische, Aufenthalt der Pfleg¬ 
linge in den Tagraumen. 

12—7,i 



12—V 2 I 

Glockenzeichen 12 Uhr. 1. Abtheilung d. Schwestern. 

1/ T T 
/a I — I 




Glockenzeichen 12 Uhr. 2. Abtheilung d. Schwestern. 
Inzwischen Ueberwachung der Pfleglinge. 

I—2 



I—2 

Säuberung des Geschirres, Gartenbesuch, Bewegungsspiele. 

2—3 

Gottesdienst — Freizeit 

2—3 

Kindergarten, Beschäftigung, Gartenbesuch. 

3-7,4 


■ wie an Wochentagen 

3—7*4 

Glockenzeichen 3 Uhr. Jause der Pfleglinge im Speise- 
saale oder im Garten der Pflegeabtheilungen. 

z,4—4 


7*4—4 

Aufenthalt der Pfleglinge im Garten, inzwischen Jause der 
Schwestern abwechselnd im Refektorium. 

1 

i 

| 1. 

O 

Gartenbesuch Spaziergänge, 
Spiele im Tagraum 

4—7,6 

Gartenbesuch, Spiele im Tagraum oder Garten. 

7*6—6 



7,6-6 

Glockenzeichen 1 / 2 6 Uhr. Abendessen der Pfleglinge 
im Speisesaale und in den Pflcgeabtheilungen. 

6—7,7 


> wie an Wochentagen 

6 1 2 7 

Herrichten der Schlafräume, Schlafengehen der Pflegebe¬ 
dürftigen und kleinen Pfleglinge. 

*47—7*8 


'A/ 1 ;2^ 

Aufenthalt der erwachsenen Pfleglinge im Tagraum, Abend¬ 
essen der Schwestern iu 2 Gruppen im Refektorium. 

1/0 1 / 

/*ö— /*9 



, /t8 1 26 

Schlafengehen der erwachsenen Pfleglinge, Erholung der 
Schwestern. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


491 


I 903 -] 


Auszug aus der provisorischen Hausordnung. 

Aerztliche Visite. Die ärztliche Visite findet zwischen 9 und 11 Uhr statt. Plötzliche Erkrankungs¬ 
fälle sind dem Journalarzte, besondere Ereignisse nebst Alarmirung der Hausdiener durch das elektrische 
Alarmsignal dem Direktor und Verwalter telephonisch zu melden; bei dem Ausbruche eines Brandes ist 
nach den Bestimmungen der Feuerlöschordnung vorzugehen. 

B a d. Jeder Pflegling erhält wöchentlich ein Reinigungsbad im Centralbade. Die Reihenfolge regelt die 
Badeordnung. Die Pflegebedürftigen werden nach ärztlicher Anordnung unter Umständen auch täglich in 
den kleinen Badestuben gebadet. 

Kindergarten und Beschäftigung regelt der Stundenplan. Die Pflege der Kinder durch die 
Schwestern wird im Allgemeinen durch den Unterricht, im Besonderen durch eine kurze Pflegebelehrung bestimmt. 

Besuchsordnung. Die Pfleglinge können nur im Besuchszimmer gegen Vorweis der Eintrittskarte 
besucht werden. 

Besuchsstunden. Wochentags 1 — 5 Uhr Nachmittags. Sonntags l / 2 10—V2 12 Uhr Vormittags und 
1—5 Uhr Nachmittags. Die Besucher und Pfleglinge werden durch die Pförtnerin überwacht. Die Besuche 
von Pfleglingen in den Schlafsälen und im Krankenzimmer bedürfen der besonderen Erlaubniss des Direk¬ 
tors. Die Bereitung und Verabreichung der Speisen, sowie die Gebarung mit der Kleidung und Wäsche, 
endlich die Handhabung der Heizung, der Ventilationsanlage werden durch besondere Vorschriften geregelt. 


Da zur Zeit eine allgemein anerkannte Eintheilung 
der verschiedensten Krankheitsformen der psychischen 
Schwächezustände im Kindesalter auf Grund gleicher 
pathologisch anatomischer Befunde noch nicht mög¬ 
lich ist, so wurden jene versuchsweise, wie folgt, ein¬ 
geteilt : 

A. Idiotie: 

I. alle nicht bildungsfähigen. 

B. Schwachsinn höheren Grades: 

II. alle erziehungsfähigen. 

III. alle beschäftigungsfähigen. 

C. Schwachsinn: 

IV. alle unterrichtsfähigen Kinder. 

Zur Idiotie gehören alle Formen, welche nach 
Schiile die Attribute des idiotischen Blödsinnes und 
des hochgradigen, nicht bildungsfähigen Schwachsinnes 


besitzen, demnach nicht bildungs- bezw. nicht • er¬ 
ziehungsfähig sind. 

Zum Schwachsinn höheren Grades gehören 
alle hauptsächlich bildungs- bezw. erziehungsfähigen 
Formen, deren Träger Nachahmungstrieb zeigen, 
sich ankleiden und waschen lernen, sich geordnet 
verhalten, selbst essen, Neigung zur Geselligkeit und 
zum Spielen besitzen, sich auch etwas sprachlich oder 
durch Zeichen verständlich machen können und im 
Stande sind, zusammengesetzte Arbeiten im Kinder¬ 
garten und in verschiedenen Beschäftigungszweigen 
zu erfassen. 

Zum einfachen Schwachsinn gehören alle 
Schwachsinnsformen, deren Träger unterrichtsfähig 
sind. 


III. 

Fachlich statistischer Theil für die Zielt von der Eröffnung der Anstalt vom 17. August 1896 

bis Ende Juni 1901 . 


Tabelle I. 


Zahl der Schwachsinnigen geordnet nach Diagnosen und Complicationen: 








Complicirt mit 




Form 

1 'S . 

. 1 

l 



e 

<u 








1 


1 


1 


Im 

a; 

1 . 

.. 


+-> 


0 



Diagnose 

Zahl 

Epilepsie 

Chorea 

Taub- 

TD 

XS 

£ 

2 

3 

to 

Schwer- 

hörigkeit 

x: 

jjj 

0 

s 

0 

.52 

a> 

& 

V 

d 

cd 

erethische 

Cretinismus 

mongoloi< 

Typus 

£ 

'V 

c 

3 

ohnfc 

— 

cd 

ü 

'a 

6 

0 

(J 

Summa 


K I 

M 

K 

M 

K 

M 

|K 

M 

1 K 

M 

1 K 

| M 

K 

M 

|K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

[M 

KJ 

M 

Idiotie. 

Schwachsinn höheren 

105 

77 

16 

17 

2 

5 

I 

— 

_ 

— 

— 

— 

24 

x 9 

00 

1 *0 

27 

3 1 

— 

4 


1 7 

8 

105 

77 

Grades. 

59 

55 

9 

18 

1 

3 

5 

2 

— 

4 

— 

— 

12 

9 

27 

t3 

4 

5 

1 

1 

— 

— 

59 

55 

Schwachsinn . . . 

78, 

59 

9 

6 

6 

2 

14 

9 

I I 

9 

2 

2 

21 

20 

1 4 

IO 

— 

— 

t 

1 

— 

— 

78 

59 

Summa. 

242 | 

191 

34 

4 t 

91 

jio| 

201 

11 

1 1 

13 

2 

2 

57 

48 

79 

50 

7 

5 

6 

3 

1 7 | 

8 

242 

I9 1 


□ igitized by 


Original from 

HARVARD UN1VERSITY 






492 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4.5- 


Tabelle II. 


Zahl der Schwachsinnigen geordnet nach den Diagnosen im Veihältnisse zur Nichtbildungs-, Bildungs-, 

Beschäftigungs- und Unterrichtsfähigkeit. 


Diagnose 

Zahl 

Nichtbildungs¬ 
fähig I 

Bildungsfähig 

II 

Beschäftigungs¬ 
fähig III 

II, III und 
Unterrichts¬ 
fähig IV 

Summe 


K 

1 M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

! M 

K 

M 

Idiotie. 

Schwachsinn höheren 

105 

77 

105 

77 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

105 

77 

Grades. 

59 

55 

— 

— 

38 

22 

21 

33 

— 

— 

59 

55 

Schwachsinn . . . 

78 

59 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

78 

59 

78 

59 

Summe: 

242 

191 

105 

77 

38 

22 

21 

33 

78 

59 

242 

191 


433 












Tabelle III. 


Zahl der Schwachsinnigen im Verhältnisse zur erblichen Belastung. 



1 


1 

Geisteskrank oder 

nervenkrank 


Potatoren 

U A 

tr. 

1 


Diagnose 

Zahl 

Vater 

Mutter 

Geschwister 

Grosseitem 

Seitenver- 

wandte 

Vater 

Mutter 

Ohne nachg 
wiesene erl 

*-> 

(n 

CS 

O 

PQ 

0 ) 

43 

Summa 


K 

| M 

K 

; m 

1 K 

M 

1 K 

1 M 

| K 

1 M 

K 

| M 

K 

M 

K 

M 

K 


M 

K 

| M 

Idiotie. 

Schwachsinn höheren 

U) 5 

77 

8 

7 

9 

3 

6 

1 7 

4 

1 

8 

7 

7 

7\ 

3 


60 


45 

105 

77 

Grades. 

59 

55 

7 

4 

5 j 

4 

1 

3 

1 

2 1 

11 

4 

7 

5 

2 


25 


33 

59 

55 

Schwachsinn . . . 

78 

59 

13 

4 

12 

12 1 

1 

1 3 

2 


6 

5 

9 

7! 

1 1 

1 1 

2 

34 


26 

78 

59 

Summe: 

* 4*1 

191 

28 

1 ^ 

26 

19 

8 

13 

7 

3 

25 I 

16 

23 

1 19 

6 

2 

1 19 


104 

242 

191 


433 





















Tabelle IV. 


Krankheitsursachen. 





L 

a 

Hilfe 

3 

X 

<D 

O 

.2 

So 

O- 

ju 

13 

fcO 

0 

3 

£ 

X 

cd 

£ 

.22 

’w 


jd 

Q 

cT 

o 

*3 

43 

ex 

■ 

9 

•4-1 

*0} 

Ja 

'S 

0 

u 

<y 



Diagnose 

Zahl 

<D 

fcp 

1 

Künstl. 

<V 

'U 

‘53 

ja 

£ 

w 

c 

L 

r. 

r. 

w 

<U 

rj 

c 

B 

3 

H 

U 

cS 

O 

'S 

Ä 

0 

0 

c 

is—• 

2 

& 

3 

« 

'O 

c 

> 

Ü 

X 

s 

3 

►4 

£ 

O 

Summe 


K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

|M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

Idiotie. 

,o 5 

77 

— 

1 

M 

7 

40 

3i 

20 

13 

1 

2 

15 

9 

4 

3 

7 

5 

1 

2 

2 

2 

71 

_ 

_ 

2 

105 

77 

Schwachsinn höhe- 





























ren Grades . . 

59 

55 

2 

1 

6 

2 

21 

19 

5 

7 

2 

4 

12 

3 

— 


2 

1 

1 

I 

1 

— 

— 

— 

7 

15 

59 

55 

Schwachsinn . . 

78 

59 

2 

1 

4 


23 

12 

7 

2 

2 

3 

22 

8 

3 

3 

1 

— 

— 


— 

1 

— 

1 

14 

22 

78 

59 

Summe : 

242 

191 

4 

3 

24 

15 

84 

62 

32 

22 

5 

9 

49 

20 

7 

8 

10 

6 

2 

3 

3 

3 

I 

1 

2 1 

39 

242 

191 


□ igitized by 


Goc >gle 


Original from 

HARVARD UNIVERSITY 









1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 493 


Tabelle V. 
Arten des Abganges. 


Diagnosis 

Abgangszahl 

läusl. Pflege 

ildungsanstalt 

Besserungs- 

anstatt 

Colonie 

Haschhof 

Iirenanstalt 


Idioten- 

Abteilung 

Armen- 

Versorgung 

gestorben 

Blinden- 

Institut 

Summa 





CQ 


















K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

\I 

K | 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

K 

M 

Idiotie. 

68 

22 

4 

4 

— 

— 



— 

— 

1 

2 

57 


1 

4 

5 

12 

— 

— 

" 

68 

22 

Schwachsinn höheren 























Grades .... 

28 

30 

5 

.0 

3 



— 

1 

— 

4 

5 

14 


— 

12 

1 

3 

— 

— 

,8 

30 

Schwachsinn . . . 

45 

46 

11 

13 

28 

24 

2 


3 

— 

-] 

— 

— 

— 


7 

1 

1 

— 

I 

45 

46 

Summa: 

*4 1 

98 

20 

27 

3 i 

24 

2 

— 

4 

— 

1 

5 J 7 


— 

1 

2 \ 

3 

7 

16 

— 

I 

• 4 • 

98 


Tabelle VI. 
Todesursachen. 


Status 

1 

Marasmus 

Lungenent- 

T über- 

Darm- 

Herzfehler 

epilepticus 


Zündung 

kulosis 

katarrh 


K 

M 

K ! M 

K 

M 

K j M 

K 

| M 

K 1 M 

* 

3 

1 ! 1 


l ” 

2 

2 7 

1 1 


t 

. 1 2 ! 2 

1 

1 1 


Tabelle VII. 


In Anstalten zur Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder geordnet nach dem Intelligenzgrade. 


Diagnosis 

Im Jahre 1899 
verpflegt 

K | M 

I. 

Pflegebedürftig 

K | M 

11. “ 

theils bildungs¬ 
fähig 
ui. 

theils beschäf¬ 
tigungsfähig 

K | M 

IV. 

unterrichtsfähig 

K i M 

Summe 

K | M 

Idiotie. 

ii 7 

54 

11 7 

54 

— 


. 


“7 

54 

Schwachsinn höheren 
Grades. 

53 

64 



53 

64 

— 


53 

04 

Schwachsinn. 

1 14 

63 


— 


— 

114 

63 

“ 4 

63 

Summe: 

284 


11 7 

54 

53 

64 

1 14 

63 

-1- 

00 

181 


465 







465 


Ueber jeden Pflegling und Zögling wird eine ge¬ 
naue Pflege- bezw. Erziehungsgeschichte geführt, die¬ 
selbe mit einem Status somaticus und psychicus prae¬ 
sens eingeleitet und dabei Körpergrösse, Gewicht und 
.alle regelwidrigen organischen Aenderungen verzeichnet. 

Digitized by Google 


Eine alle 2 Monate vorgenommene Wägung und 
alljährlich vorgenommene Messung der Körpergrösse 
unterstützen die ärztliche Ueberwachung des allge¬ 
meinen Ernährungszustandes und des Wachsthums. 
In den Erziehungsgeschichten werden ferner alle auf 


Original fram 

HARVARD UN1VERSITY 










494 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. {Nr. 45- 


die Pflege, Erziehungs-, Beschäftigungs- und Unter¬ 
richtsversuche gemachten Beobachtungen und die 
krankhaften Veränderungen verzeichnet. 

Die mehr dem practischen Bedürfnisse Rechnung 
tragende und an der Hand der Erziehungsgeschichten 
verfasste Zählung der bisher in der Anstalt verpflegten 
Kinder nach dem Geschlechte, dem Intelligenzgrade 
und den verschiedenen Complicationen schafft allein 
sichere Grundlagen, auf welchen der Entwurf die 
Organisation einer zu erbauenden Erziehungs- und 
Pflegeanstait für schwachsinnige Kinder unter Berück¬ 
sichtigung der Pflege, der Erziehung, der Beschäftigung, 
des Unterrichtes, im Verhältnisse zum Belagraume 
beruhen. 

Die Tabelle I zählt die 433 Kinder nach dem 
Geschlechte, dem Intelligenzgrade und den Compli¬ 
cationen. Wir lernen die Letzteren kennen, um uns 
derselben bei der Gruppirung der Kinder hinsichtlich 
der Pflege, Ueberwachung, der Erziehung und des 
Unterrichtes zu bedienen. 

In erster Linie sind es die mit Epilepsie und 
Chorea behafteten Kinder, in Summa 43 Knaben und 
15 Mädchen, welche, abgesehen von dem Grade der 
Intelligenz und der besonderen Charactereigenschaften, 
wegen der periodisch wiederkehrenden Krampfanfälle 
eine besondere Pflegeart bei Tag und Nacht in An¬ 
spruch nehmen und daher eine eigene Gruppirung 
für die Pflege und Erziehung nothwendig machen. 

Die taubstummen Pfleglinge, 20 Knaben und 11 
Mädchen, bedürfen wegen der eigenartigen Erziehung 
und des Unterrichtes eine separate Behandlung durch 
geschulte Erzieher und Lehrer und müssen wegen 
ihrer gemeinsamen Bestrebungen und Ucbungen im 
Verkehre eine selbständige Gruppe für sich bilden. 

Eine Gruppe von Kindern, die der Schwerhörigen, 
11 Knaben und 13 Mädchen, erregte bald die Auf¬ 
merksamkeit der Aerzte und Lehrkräfte durch ihre 
besonderen guten Fortschritte. Sowohl die vor¬ 
genommene Intelligenzprüfung, als auch die geistige 
Entwickelung erbrachten den Nachweis, dass es sich 
in den meisten Fällen mehr um eine Ignoranz, als 
um eine schwere geistige Abschwächung gehandelt 
hat, da die Kinder im Laufe ihrer Lebensjahre 
jene Eindrücke entbehren mussten, welche durch 
das Gehör vermittelt, deren Wissensschatz be¬ 
reichern sollten, und deshalb in der geistigen Ent¬ 
wickelung ihren Geschwistern und Mitschülern gegen¬ 
über zurückgeblieben sind. In der Schule werden sie 
wegen ihres Verhaltens verspottet, und in die Taub- 
stummens« hule wegen der allerdings verminderten 
Hörfähigkeit ni<hl aufgcnommcn. Ein mehr das In¬ 
dividuum berücksichtigender Einzelunterricht ist bei 

Digitized by Google 


den Schwerhörigen von grösstem Vortheil und wird 
so manchen zu einer tüchtigen Arbeitskraft erziehen. 

Die Eintheilung der Schwachsinnsformen in 
apathische und erethische giebt Anhaltspunkte für die 
Gruppierung der Kinder nach erziehlichen Grund¬ 
sätzen, da unter den erethischen Kindern der ge¬ 
steigerte Bewegungsdrang und die Neigung zu sexu¬ 
ellen Ausschreitungen häufiger zur Beobachtung ge¬ 
langen und eine besondere Ueberwachung erheischen. 

Die Zählung der Cretinen und der Schwachsinns¬ 
formen mit mongoloiden Typus und der Blinden ist 
nothwendig aus ärztlichen und pädagogischen Gründen. 

Von besonderer Wichtigkeit ist die Tab. II, 
welche die 433 schwachsinnigen Kinder nach dem 
Geschlechte, dem Grade der Intelligenz, der Nicht- 
bildungs-, Bildungs- oder Erziehungsfähigkeit, Be¬ 
schäftigungs- und Unterrichtsfähigkeit zählt; die genau 
erhobenen Ziffern geben sichere Anhaltspunkte für 
die Zahl der Pflege- und Erziehungsgruppen, für die 
Grösse der Schul- und Arbeitszimmer. Die Tabellen 
III und IV berücksichtigen die Zahl der Krankheits¬ 
ursachen, der beobachteten Krankheitsformen und 
die der erblich belasteten Träger der Letzteren. Die 
betreffenden Erhebungen w-urden von den Haus- und 
Gemeindeärzten gelegentlich der Ausstellung des ärzt¬ 
lichen Fragebogens gepflogen, welchen die Angehörigen 
dem Aufnahmsgesuche anzuschliessen haben. Diese 
Erhebungen dürften so manche Lücken aufweisen, 
w'eil die Angehörigen oft Grund genug haben, Unan¬ 
genehmes zu verschweigen. Um so auffälliger sind 
demnach die Ziffern, welche dennoch die Zählung 
der erblich belasteten Kinder und der verschiedenen 
Krankheitsursachen erbracht hat. 

Unter den Grosseltern, Eltern, Geschwistern und 
Scitcnverwandten der 433 Kinder befanden sich 152 
nerven- oder geisteskranke Personen und ausserdem 
42 trunksüchtige Väter und 8 trunksüchtige Mütter, 
in Summa 4ö° 0 . 

Bei 146 Kindern wird die Eclampsie, bei 80 die 
Rbachitis, bei 15 der Keuchhusten, bei 16 der Hv- 
drocephalus als Krankheitsursache erwähnt. Es wird 
wiederholt ärztlich hervorgehoben, dass die Infections- 
krankheiten bei rhachitisch und neuropathisch veran¬ 
lagten Kindern den Ausbruch der Eclampsie veran¬ 
lasst haben. 

# In 45 Fällen war es die essentielle Kinder¬ 
lähmung, welche in den meisten Fällen eine schwere 
Verblödung mit irreparabler motorischer Störung, 
welche die befallenen Kinder meist zu den pflegebe¬ 
dürftigsten Geschöpfen macht, zur Folge hat. 

In 7 Fällen werden die Frühgeburt, in 39 Fällen 
die operative Hilfe bei behindertem Geburtsverlaufe 

Original fram 

HARVARD UNIVERSSTY 



1903 ] 


als Krankheitsursachen angeführt. Ob der mechanische 
Insult z. B. durch die Zange, oder die Asphyxie die 
schwere Schädigung des Gehirnes verschuldet, kann 
wohl heute noch nicht einwandfrei beantwortet 
werden. 

Die V. Tabelle bringt die Arten des Abganges 
und hiermit die ziffemmässige Bestätigung der Leist¬ 
ungsfähigkeit der Anstalt. 

In die häusliche Pflege wurden 45 Kinder genom¬ 
men, darunter zumeist Kinder des einfachen Schwach¬ 
sinns, welche wegen ihrer Beschäftigungsfähigkeit zu 
Hause Verwendung finden konnten. Einzelne Eltern 
nahmen die Kinder deshalb heraus, weil diese keine 
Fortschritte machten. 54 Kinder konnten wegen er¬ 
hobener Unterrichtsfähigkeit in die Bildungsanstalten 
in Biedermannsdorf und in Bruck a. M., übersetzt 
werden, in welchen ein schulplanmässiger Unterricht 
organisirt ist. 

Zwei Knaben kamen wegen ihrer Eignung in 
Besserungsanstalten und ein Mädchen in die Landes¬ 
blindenschule. Mangels geeigneter Pflegeplätze für 
nichtbildungsfähige Knaben wurde eine Idiotenab¬ 
theilung im allgemeinen Krankenhause in Mödling 
eröffnet und 71 Knaben dahin übersetzt. Ausserdem 
kamen wegen deren besonderen Verhaltens 24 


495 


Kinder in Armenversorgung und 12 in die Irren¬ 
anstalt. 

Mit der Eröffnung der niederösterreichischen 
Landescolonie Haschhoff am 16. März 1899 wurde 
es möglich, solche Knaben, welche nach erreichtem 
16. Lebensjahre nicht mehr in den Rahmen der 
Kinderanstalt gehören, aber sonst die Eignung zu 
einer landwirtschaftlichen Beschäftigung nachweisen 
und doch nicht in der Lage waren, selbständig einem 
Erwerbe nachgehen zu können, in dieselbe behufs 
Erziehung zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten zu 
übersetzen. 

In der Colonic Haschhof befinden sich zur Zeit 
4 ehemalige Pfleglinge der Kinderanstalt und sind 
in diesem Berufe recht verwendbar. Die Colonie 
und Familienpflege in Mauer-Oehling wird auch 
weibliche Pfleglinge dieser Categorien zu übernehmen 
im Stande sein. 

Während der 5 Jahre starben 22 Kinder, das 
sind 5 0 darunter 9 an Tuberculosis, welche die 
Krankheit bei ihrer Aufnahme bereits nachweisen 
Hessen. 

Bemerkensw’erth ist die Thatsache, dass unter 
den Letzteren sich Idioten mit mongoloidem Typus 
befanden. (Schluss folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ein wichtiger Moment in der Entwickelung der Fürsorge für Trunksüchtige. 


Tjurch die Tagespresse ging in dieser Woche die 
Nachricht, dass dem Bundesrath eine Novelle 
zum Krankenversicherungsgesetz zugegangen sei. 
Durch diese Novelle soll die Zeit der Krankenunter¬ 
stützung auf 26 Wochen und ebenso die Unter¬ 
stützungsdauer nach einer Entbindung auf 6 Wochen 
erhöht werden. Ferner fallen die Vorschriften fort, 
welche die Gewährung einer Krankenunterstützung 
bei Geschlechtskrankheiten bisher ausschliessen. Wenn 
diese Vorlage des Reichsamts des Inneren, woran 
nicht gezweifelt werden kann, die Zustimmung des 
Bundesraths finden sollte, so wird hierdurch die Lücke, 
welche zwischen dem Ende der Kranken- und dem 
Beginn der Invalidenunterstützung bisher lag, ausge¬ 
füllt und gleichzeitig eine Bestimmung beseitigt, 
w'elche in unbegreiflicher Verkennung der öffentlichen 
Gesundheitspflege und aus überlebten Auffassungen 
heraus die Geschlechtskranken von den Wohlthaten 
der Krankenunterstützung ausschloss. „Unzweifelhaft 
— so heisst es in der anscheinend offieiösen Aus¬ 
lassung — dürfte es Pflicht des Reichstages sein, 
dieses Gesetz mit seinen allseitig freudig zu be- 

Digitized by Google 


grüssenden, bedeutsamen socialen Fortschritten noch 
in dieser Session zu verabschieden.“ 

So sehr wir auch vom psychiatrischen Standpunkt 
wegen der vielfachen Folgen mangelhaft behandelter 
Syphilis die obligatorische Einbeziehung der Ge¬ 
schlechtskranken in die Krankenversicherung begrüssen 
können, ebenso sehr müssen wir in dieser Ankündi¬ 
gung die Wegräumung der gleichfalls veralteten Son¬ 
derstellung der Trunkfälligen vermissen. Nach § 6a 
Absatz 2 des Krankenversicherungsgesetzes braucht 
jetzt die Kasse Krankenunterstützung auch denen 
nicht zu gewähren, welche „sich eine Krank¬ 
heit durch Trunkfälligkeit zugezogen 
haben.“ 

Diese Bestimmung muss unseres Erachtens gleich¬ 
falls fallen. Wird auch sie durch die neue Novelle 
beseitigt, so ist durch die gesetzliche Verpflichtung 
der Kasse, welche nunmehr für ein halbes Jahr 
obligatorisch wird, eine financielle Basis für die Be¬ 
handlung der Trunksüchtigen gewonnen, wie wir sie 
in jahrelangen Bestrebungen kaum haben erhoffen 
dürfen. Es bleibt dann nur die Errichtung der A11- 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 




496 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 45. 


stalten zu regeln übrig. Wie viel leichter werden 
sich dann auch öffentliche Verbände (Provinz, Landes¬ 
versicherungsanstalt) zur Errichtung solcher Anstalten 
entschliessen, wenn die Bezahlung der Verpflegung 
der Kranken für ein halbes Jahr gesichert ist. 

Es wird danach Sache der Irrenärzte sein, in der 
anscheinend sehr knapp bemessenen Frist, innerhalb 
welcher die neue Novelle verabschiedet sein soll, für 
die Einbeziehung der Tnmksüchtigen in die Gesetzes¬ 
novelle zu wirken. 

Eine wesentliche Mehrbelastung der Kranken¬ 


kassen würde dadurch nicht herbeigeführt werden, 
da bekanntlich die meisten der durch Trunkfälligkeit 
entstandenen Krankheiten schon bei der jetzigen 
Gesetzeslage als Magen-, Leber-, Nieren- und Ner¬ 
venleiden auf Kassenkosten zur Behandlung kommen, 
ohne dass die Frage der Trunkfälligkeit als der Ur¬ 
sache seitens der Kassen überhaupt aufgeworfen wird. 
Durch eine rechtzeitige Behandlung dieser Grund¬ 
ursache würde in vielen Fällen jenen Folge- 
erkrankungen und ihren Kosten vorgebeugt werden 
können. B ra t z - Wuhlgarten. 


M i t t h e i 1 

— Weitere Erörterungen über den Preussi- 
schen Justizministerialerlass vom i. X. 02. 

Herr Amtsrichter Dr. Levis (Pforzheim), Auto¬ 
rität auf dem Gebiete der Entmündigungsfragen, 
schreibt in Nr. 1 der Zeitschrift „Das Recht“ vom 
10. Januar 1903: 

„Auswahl der Sachverständigen im 
Entmündigungsverfahren. 

1. „Bei den Ermittelungen in Entmündigungs¬ 
sachen (wird) den Amtsgerichten . . . empfohlen: 

. . . Die Wahl der Sachverständigen ist in erster 
Linie auf solche Personen zu richten, welche auf dem 
Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Er¬ 
fahrung besitzen. Sind solche Personen nicht zu er¬ 
reichen, so ist die Wahl wenn möglich auf einen 
Kreisphysikus ... zu richten“. So lautete § 14 
Ziff. 2 der allgemeinen Verfügung des preussischen 
Justizministers vom 28. November 1899. Durch An¬ 
ordnung vom 1. Oktober 1902 ist die mitgetheilte 
Bestimmung aufgehoben und durch eine neue ersetzt 
worden, wo es heisst: „Als Sachverständiger ist ge¬ 
mäss § Ö53 Abs. 2 in Verbindung mit § 404 Abs. 2 
C. P. O. regelmässig der Gerichtsarzt (§ 9 des Ge¬ 
setzes betr. die Dienststellung der Kreisärzte . . .) 
als der für medicinische Angelegenheiten öffentlich 
bestellte Sachverständige . . . zuzuziehen. Andere 
Personen sollen nach dem angeführten § 404 Abs. 2 
C. P. O. als Sachverständige nur dann gewählt werden, 
wenn besondere Umstände es erfordern“. 

Diese Neuerung ist in der Tagespresse vielfach 
besprochen und aus Zweckmässigkeitsgründen meist 
abfällig kritisirt worden. Sie erregt aber auch bei 
einer Betrachtung, die von rechtlichen Gesichtspunk¬ 
ten ausgeht, nicht unerhebliche Bedenken. 

2. Es scheint, dass die Verfügung nichts weiter 
beabsichtigt, als die nach den bestehenden Gesetzen 
gegebene Rechtslage den Gerichten in Erinnerung zu 
rufen. Dafür spricht die Fassung des Erlasses, dem 
sichtlich folgender Gedankengang zu Grunde liegt: 

a) Dei Kreisarzt ist nach dem am 1. April iqoi in 
Kraft getretenen neuen Kreisarzt-Gesetze der für 
medicinische Angelegenheiten Öffentlich bestellte Sach¬ 
verständige. 

b) Nach § 404 Abs. 2 C. P. O., der auch im 


u n gen.*) 

Entmündigungsverfahren anwendbar ist (§ 653 Abs. 2 
C. P. O.), sollen, wenn für gewisse Arten von Gut¬ 
achten Sachverständige bestellt sind, andere Personen 
nur dann gewählt werden, wenn „besondere Umstände 4 * 
es erfordern. Also ist 

c) in Entmündigungssachen, von besonderen Fäl¬ 
len abgesehen, der Kreisarzt als Gutachter zuzuziehen. 
— Dieser Schluss (c) ist m. E. nicht ohne weiteres 
zutreffend. Denn er übersieht eine Zwischenfrage, 
die sich aufwirft: Bietet nicht vielleicht die 
Geisteszustands-Untersuchung im Ent¬ 
mündigungsverfahren an sich derartige 
Besonderheiten, dass hier allgemein die 
Wahl möglichst nicht auf den Kreisarzt 
zu lenken is t? 

Die Beantwortung dieser Frage ist nach der C. 
P. O. den Gerichten Vorbehalten. Trotzdem nimmt 
der angezogene preussische Erlass Stellung zu ihr. 
Denn sichtlich wird jene Frage verneint, indem aus¬ 
gesprochen wird: der Regel nach sei der Kreisarzt 
der geborene Sachverständige in Entmündigungs¬ 
sachen. Damit greift also die Anordnung in das 
richterliche Zuständigkeitsgebiet ein, natürlich ohne 
bindende Kraft für den Entmündigungsrichter. Diesem 
bleibt vielmehr das Recht und die Pflicht, vor allem 
zu prüfen, ob nicht der allgemeine Charakter der 
Geisteszustands-Untersuchung die grundsätzliche Be¬ 
vorzugung des Irrenarztes vor dem Kreisärzte er¬ 
fordert. 

3. M. E. muss diese Prüfung zu der Ueberzeugung 
führen, dass der öffentlich bestellte Sachverständige 
im Entmündigungsverfahren nur ausnahmsweise als 
Gutachter zu brauchen ist. 

Zunächst spricht die Entstehungsgeschichte des Ge¬ 
setzes für dies Ergcbniss. Man wellte durch § 404 
C. P. O. keineswegs die ärztlichen Specialisten aus 
dem gerichtlichen Verfahren verdrängen. Die Be¬ 
fürchtung, dass dies die Folge der gesetzlichen Be¬ 
stimmung sein könnte, w'urde bei den Berathungen 
laut. Die Mehrzahl der Reichstags-Justizkommission, 
welche den heutigen § 404 Abs. 2 C. P. O. schuf, 
vertraute aber offenbar darauf, dass ceteris paribus 
der Specialarzt dem öffentlich bestellten allgemein- 
medidnischen Sachverständigen vorgezogen werde. 


9 Die Hinausschiebung des Schlusses des ungar. Berichts wolle mau mit der Dringlichkeit der vor- wie der nach¬ 


stehenden Mittheilupgen als en 

Digltizedby 


st 


chuldigt gelten lassen. 

e 


Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


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1903-] 


Dr. Zinn, welcher die fragliche Gesetzesbestimmung 
selbst vorschlug, betonte es ausdrücklich, dass, wenn 
am Orte, wo der Gerichtsarzt seinen Sitz hat, ein besser 
geeigneter Specialist sich befinde, dieser als Sachver¬ 
ständiger zu wählen sein werde (vgl. Hahn, Mate¬ 
rialien z. C. P. O., 2. Aufl., S. 637). Die Urheber 
des Gesetzes sahen sonach einen „besonderen Um¬ 
stand“, welcher die Nichtzuziehung des Kreisarztes 
rechtfertigt, ganz allgemein im Vorhandensein 
eines nicht schwerer erreichbaren Specialisten. Ge¬ 
wiss wird man also im Entmündigungsverfahren, 
dessen grosse Schwierigkeiten eine besonders vertiefte 
Sachkunde erfordern, dem naturgemäss besser vorge¬ 
bildeten und geübten Irrenarzte den Vorzug geben 
vor dem Gerichtsarzte. 

Für dieses Ergebniss kann man einen gewissen 
Anhaltspunkt auch mittelbar aus § 655 C. P. O. ge¬ 
winnen. Dieser Norm zufolge darf eine Entmündi¬ 
gung ohne Anhörung von Sachverständigen nicht 
ausgesprochen werden. Die Vorschrift kann auf den 
ersten Blick überraschen. Giebt es doch sicherlich 
Fälle, wo die Entmündigungsreife schon für den 
Richter so klar zu Tage tritt, dass man eines Sach¬ 
verständigen entrathen könnte. Trotzdem ist die ge¬ 
setzliche Anordnung heilsam und wohl begründet 
Denn es können auch bei dem scheinbar einfachsten 
Falle Schwierigkeiten vorliegen, die aber nur das 
sachkundige Auge erblickt. Beim Entmündigungs¬ 
verfahren, welches ganz ungewöhnlich tief in die per¬ 
sönlichen Verhältnisse des Betroffenen eingreift, muss 
darauf Bedacht genommen werden, auch derartige 
verborgene Schwierigkeiten, wenn sie vorhanden sind, 
zu entdecken. Ob sie vorhanden sind, lässt sich 
zum voraus niemals sagen. Man muss daher in jedem 
Falle mit ihnen rechnen. Das thut § 655 C. P. O., 
indem er stets die Zuziehung eines Sachverständigen 
fordert. Und es liegt in der Consequenz dieser Be¬ 
stimmung, dass man in jedem Falle auf die aller¬ 
grössten Schwierigkeiten sich vorbereitet und des¬ 
halb stetshin denjenigen Sachverständigen wählt, der 
auch diesen möglichst gewachsen ist; also die stete 
Zuziehung des möglichst best vorgebildeten Gut¬ 
achters liegt im Geiste des Gesetzes. Und diese 
Eigenschaft kommt in erster Reihe dem Irrenarzte zu. 

4. Dass der Irrenarzt, der sich mehr oder weniger 
ausschliesslich der Nerven- und Irrenheilkunde ge¬ 
widmet hat, auf diesem seinem Arbeitsfelde dem All¬ 
gemein- und damit auch dem Gerichts-Arzte über¬ 
legen ist, bedarf wohl nicht erst des Beweises. Es 
ist ja gewiss freudig zu begrüssen, dass man neuer¬ 
dings auf die psychiatrische Ausbildung der beamteten 
Aerzte, wie der Aerzte überhaupt, grössere Sorgfalt 
verwendet. Aber das Können des Gerichts-Arztes 
auf diesem Felde muss infolge verhältnissmässig ge¬ 
ringer klinisch-psychiatrischer Erfahrung ein halb¬ 
wüchsiges bleiben, und sollte deshalb bei Maassregeln 
von der Bedeutung der Entmündigung nicht den 
Ausschlag geben. Dafür fehlt auch dem Laien nicht 
das nöthige Verständiss. Und es ist deshalb zu be¬ 
fürchten, dass die öffentliche Meinung es nicht ruhig 
aufnimmt, wenn man im Entmündigungsverfahren die 
sachkundigeren Irrenärzte ausschliesst. An und für 

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sich begegnet ja in weiten Volkskreisen unser Ent¬ 
mündigungsverfahren lebhaften Anfeindungen, im All¬ 
gemeinen, wie ich glaube, mit Unrecht. Aber trotz¬ 
dem sollte man sich hüten, neue Angriffe hervorzu¬ 
rufen, und überdies noch solche, denen man eine 
innere Berechtigung nicht absprechen kann. Schon 
aus diesem Grunde empfiehlt es sich wenig, die Ge¬ 
richtsärzte als Sachverständige im Entmündigungsver¬ 
fahren zu bevorzugen. Denn ein solches Vorgehen 
wird, wie die Auslassungen der Presse über den neuen 
preussischen Erlass deutlich zeigen, derartige Angriffe 
gewiss zur Folge haben. 

5. Und wer hätte von einem solchen Vorgehen 
Vortheile? Die Gerichtsärzte? Noch nicht einmal sie. 
Im Gegentheile: ihre Bevorzugung im Entmündigungs¬ 
verfahren wird sich eher als ein privilegium odiosum 
erweisen. Auffallenderweise scheint die Gefahr, welche 
sie laufen, von den Gerichtsärzten selbst gar nicht be¬ 
achtet zu werden. Ist doch auf ihre Veranlassung, auf 
Anregung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins 
nämlich, die neue preussische Verfügung erlassen worden. 
Indessen berücksichtige man doch, wie häufig sich be- 
bedauerlicherweise zwischen Richtern und ärztlichen 
Sachverständigen ein gespanntes Verhältnis entwickelt. 
Die Hauptgründe hierfür interessiren uns an dieser 
Stelle freilich nicht, aber auf einen mitwirkenden 
Grund ist hinzuweisen: auf ein hier und dort beim 
Richter auftretendes gewisses Misstrauen in die rechte 
Sachkunde des Gutachters. Dieses Misstrauen lässt 
sich darauf stützen, dass man sagt: das Arbeitsfeld 
des Kreisarztes ist ein so grosses, dass es ganz un¬ 
möglich ist, es wirklich zu beherrschen. Auf allen 
Gebieten der Heilkunde soll der beamtete Arzt auch 
bei den schwierigsten Fragen Bescheid wissen; es 
wird von ihm häufig, so namentlich bei sanitätspoli¬ 
zeilichen Gutachten, genügendes Verständniss für 
technische und volkswirtschaftliche Fragen verlangt, 
und sodann ist auch das juristische Wissen, welches 
ein tüchtiges gerichtliches Gutachten erfordert, kein 
ganz geringes. Woher soll der beamtete Arzt die 
Zeit nehmen, um all die notwendigen Kenntnisse 
und Erfahrungen zu sammeln, zumal er durch Warten 
beim Gerichte und dienstliche weite Gänge oft genug 
Stunden und halbe Tage einfach verliert ? Man muss 
sich diese Frage nur vorlegen, um einzusehen, dass 
es ganz unmöglich ist, den Anforderungen wirklich 
zu genügen, welche an den Kreisarzt gestellt werden. 
Wird nur einmal den Gerichtsärzten die Wahrheit 
bewusst, dass sich in der Beschränkung erst der 
Meister zeigt, so werden sie selbst am meisten be¬ 
strebt sein, nicht auch noch mit den besonders grossen 
Schwierigkeiten der Entmündigungsgutachten belastet 
zu werden. Der Gerichtsarzt hat ja selbst das grösste 
Interesse daran, nicht einer Aufgabe gegenüber ge¬ 
stellt zu werden, welcher er nicht unbedingt gewachsen 
ist. Dies Interesse des amtlichen medicinischen Sach¬ 
verständigen darf beim Entmündigungsrichter auf sorg¬ 
fältigste Beachtung rechnen. Liegt es doch jedem ge¬ 
wissenhaften Richter an, dem gerichtlichen Sachverstän¬ 
digen das volle Zutrauen aller Betheiligten zu schaffen 
und zu erhalten. Nur zu leicht wird aber dies Ver¬ 
trauen eingebüsst, wenn der Gerichtsarzt mit zu vielen 

Original from 

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4U8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.5. 


oder zu verschiedenartigen Geschäften befasst wird 
und daher seinen Aufgaben nicht überall genügen 
kann. 

6. Darum dient man denn nicht zum wenigsten 
den Interessen des Kreisarztes, wenn man diesen nur 
ausnahmsweise im Entmündigungsverfahren heranzicht 
Thut man dies, so vermeidet man weiter eine un- 
nöthige Erschütterung des Gefühls der Rechtssicher¬ 
heit im Volke. Und gleichzeitig handelt man nach 
den Anforderungen der Zweckmässigkeit und im Geiste 
des Gesetzes. Man verletzt hierbei auch durchaus 
nicht die Vorschrift des § 404 Abs. 2 C. P. O.; wenn 
die preussische Verfügung vom 1. Oktober 1902 von 
dem gegentheiligen Standpunkte ausgeht, so kann 
ihrer Auffassung nicht beigepflichtet werden. Das ist 
das Ergehniss der vorstehenden Erörterung. 

Pforzheim. Amtsrichter Dr. Otto Levis.“ 

Herr Landrichter a. D. Ernst Mumm schreibt in 
„Der Tag“ vom 6. XI. 1902 zu diesem Gegenstand: 

„Die Neuerung hat grosses Aufsehen erregt und 
namentlich in den Kreisen der Irrenärzte eine arge 
Verstimmung hervorgerufen. Gewiss nicht mit Un¬ 
recht. Es versteht sich doch ganz von selbst, dass 
man zum Sachverständigen die Person wählt, die am 
sichersten das betreffende Fach beherrscht, die eben 
am besten „die Sache versteht“. Der Kreisarzt nun, 
dessen Kenntniss der gerichtlichen Psychiatrie auf 
dem oft nicht allzu gründlichen Universitätsstudium, 
günstigstenfalls auf einer kurzen Assistententhätigkeit 
an einer psychiatrischen Klinik beruht und der in 
seinem Berufe immer nur vereinzelt mit psychiatri¬ 
schen Fällen zu thun hat, besitzt gar nicht genügend 
Gelegenheit, sich in der Psychiatrie diejenige prak¬ 
tische Erfahrung und wissenschaftliche Durchbildung 
zu verschaffen, die zu der eminent schwierigen Be- 
urtheilung „zweifelhafter 44 Geisteszustände erforderlich 
ist. Solche Erfahrung hat allein oder doch in aller¬ 
erster Linie der Irrenarzt. Deshalb ist er der rechte 
Sachverständige, und deshalb sollte man grundsätzlich 
ihn und nicht den Kreisarzt als Gutachter hören. 

Die Verfügung vorn 7. Oktober bedeutet eine so 
offenbare Verschlechterung der bestehenden Verhält¬ 
nisse, dass man gar nicht begreifen kann, welche Er¬ 
wägungen wohl für ihren Erlass bestimmend gewesen 
sein mögen. Schliesslich ist man auf die Idee ver¬ 
fallen, der Zweck der Verordnung sei allein der: das 
magere Gehalt der Kreisärzte aufzubessern. Diese 
Annahme geht sicher fehl. Aber kann man ange¬ 
sichts des Inhalts der neuen Bestimmung es jemanden 
verargen, wenn er an dergleichen denkt? 

Und ein anderes noch: Der Ministerialerlass vom 
1. Oktober ist geeignet die Psychiater in dem Glau¬ 
ben zu bestärken, die Beamten der Justiz kämen 
ihnen mit Misstrauen entgegen und schenkten ihren 
Gutachten nicht die Beachtung, die ihnen im Inter¬ 
esse der Rechtssicherheit gebührte. Das ist ein 
schlimmer Verdacht. Man sollte sich hüten, ihm 
neue Nahrung zuzuführen. 

Landrichter a. D. Ernst Mumm.“ 

Eine andere an die Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift gerichtete Zuschrift führt Folgendes 
aus: 

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„Wenn an dieser Stelle nochmals das Wort ergriffen 
wird zu der bekannten und viel besprochenen Ver¬ 
fügung des Herrn Justizministers vom 1. X. 02, so 
geschieht das weniger, um die sachliche Befähigung 
der hierbei in Betracht kommenden Sachverständigen, 
der Kreisärzte auf der einen, der Irrenärzte auf der 
anderen Seite, gegeneinander abzuw'ägen. Hierauf 
kann ja schon deshalb verzichtet werden, w-eil 
diese Frage Amtsrichter Otto Levis in einem längeren 
Artikel des Rechts Nr. I, 1903 ebenso ausführlich 
w'ie objectiv besprochen hat. Levis hat sich zu 
Gunsten der Irrenärzte entschieden, und das ver¬ 
dient um so mehr gewürdigt zu werden, als Levis, 
der Verfasser einer umfassenden, w r ohl der ausführlich¬ 
sten Monographie über die Entmündigung Geistes¬ 
kranker, als einer der zuständigsten Sachverständigen 
in diesem Kompetenzkonflikt angesehen werden darf. 

Es sei hier vielmehr kurz die rechtliche Seite der 
Frage nochmals angeschnitten. Bekanntlich w'urde 
der Erlass der Verfügung motivirt mit der Aenderung 
der Sachlage, die durch das Kreisarztgesetz geschaffen 
sei. Der Frage, ob das wirklich so ist, ist bisher 
nur wenig näher getreten w r orden. Wohl ist in 
einigen politischen Zeitungen die Ansicht ausge¬ 
sprochen und auch begründet worden, dass von einer 
Aenderung der Sachlage kaum die Rede sein könne ; 
indess scheinen diese Ausführungen w r enig Beachtung 
gefunden zu haben. Darum sei es gestattet, eine 
Verfügung des Landgerichtspräsidenten in Marburg 
an die ihm unterstellten Amtsrichter hier abzudrucken; 
Medieinalrath Dr. Heinemann hat sie in einem „Dienst- 
eid-Sachverständigeneid“ betitelten kleinen Aufsatz in 
der Zeitschrift für Medic.-Beamte 1902, Nr. 10, pag. 
337 zum Abdruck gebracht. 

„Nachdem bei mir die Frage angeregt worden 
ist, ob die Kreisärzte bei ihren Vernehmungen als 
Sachverständige jedesmal besonders zu vereidigen 
sind, wenn sie nicht in dem Verzeichnisse der ein 
für alle Mal vereidigten Sachverständigen eingetragen 
sind, oder ob bei ihnen die Bezugnahme auf ihren 
Diensteid genügt, theile ich dem Königl. Amtsge¬ 
richte meine Ansicht über diese Frage mit. 

Das Reichsgericht hat in feststehender Praxis 
(vergl. Entsch. in Strafsachen, Bd. 3, S. 321, Bd. 8, 
S. 357, Bd. 30, S. 33) angenommen, dass der 
Diensteid der Kreisphysiker in Preussen bezw. der 
Oberamtsärzte in Württemberg, obwohl er vor einer 
Verwaltungsbehörde geleistet sei, für Gutachten inner¬ 
halb des Amtskreises der Medicinalbeamten auch als 
ein für alle Mal geleisteter Sachverständigeneid zu 
betrachten sei. Es gründet diese Ansicht darauf, dass 
der Diensteid das Gelöbniss der Beamten enthalte, 
alle vermöge seines Amtes ihm obliegenden Pflichten 
nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, und 
dass zu ihren Dienstpflichten namentlich die Ge¬ 
schäfte der gerichtlichen Medicin, die des Gerichts- 
arztes gehören. Dies gelte sowohl für die Straf- als 
für die Zivilrechtspflege. 

An dieser Auffassung ist auch nach der neuen 
Gesetzgebung bezüglich der Kreisärzte festzuhalten. 
Der Kreisarzt ist nach § 9 des Gesetzes vom 16. 
Sept. 1899 (Ges. S., S. 174) der Gerichsarzt seine s 

Original fram 

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1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 49g 


Amtsbezirks, und Alles, was das Reichsgericht bezüg¬ 
lich der Kreisphysiker angeführt hat, gilt demnach 
auch für ihn.“ — — — — 

Daraus ergiebt sich also Folgendes: Der Dienst¬ 
eid der Kreisphysiker deckte den Eid, den er als 
Sachverständiger für die Straf- oder Civilrcchtspflegc 
zu leisten hat; denn zu seinen Dienspflichteii ge¬ 
hören namentlich die Geschäfte der gerichtlichen 
Medicin, die des Gerichtsarztes. Er gehört also zu 
den Personen, die nach $ 73, Abs. 2 St. P. O. und 
$ 404 Abs. 2 C. P. O. für gewisse Arten von Gut¬ 
achten, liier die gerichtlich-mcdicinischen , als Sach¬ 
verständiger öffentlich bestellt sind. 

Der Landgerichtspräsident stellt aber ebenso aus¬ 
drücklich fest, dass diese Auffassung der Stellung der 
Medicinalbeamten auch bezüglich der Kreisärzte gilt. 

Daraus ergiebt sich, dass von einer Aen- 
derung der Sachlage, die durch das Kreisarzt¬ 
gesetz geschaffen sei, nicht die Rede sein kann. 

Ist unsere Auffassung richtig, so ist die eingangs 
erwähnte Verfügung auch vom juristischen Standpunkt 
aus nicht einwandfrei und unbedenklich; vor Allem 
lag dann für den Justizminister kein zwingender An¬ 
lass vor, den Bitten des Vereins der Medicinalbe- 
amten nach dem Inkrafttreten des Kreisarztgesetzes 
nachzugeben.“ 

Eine Auffassung, die sich über den in Rede 
stehenden Erlass befriedigend äussert, befindet sich 
in dei „Zeitschrift f. Medicinalbeamte“ No. 21, 1902: 

--Damit ist in dankenswerther Weise einem be¬ 
rechtigten Wunsch der Medicinalbeamten Rechnung 
getragen, dessen Erfüllung auch durchaus mit den 
gesetzlichen Bestimmungen in Einklang steht. Nach 
§ 4 des Kreisarztgesetzes ist der „Kreisarzt der Ge¬ 
richtsarzt seines Amtsbezirks“ und demgemäss nach 
§ 73 Abs. 2 der Str. P. O. und nach § 404 der 
C. P. O. von den Gerichten als Sachverständiger zur 
Beantwortung aller gerichtsärztlichen Fragen heranzu¬ 
ziehen ; andere Sachverständige sollen nur dann ge¬ 
wählt werden, „wenn besondere Umstände es fordern“. 
Früher mögen solche „besonderen Umstände“ in der 
theilweise ungenügenden psychiatrischen Vorbildung 
mancher Kreisphysiker gefunden sein, heute liegen 
dagegen derartige Bedenken in Folge der seit dem 
Jahre 1896 gerade auf psychiatrischem Gebiete ge¬ 
steigerten Anforderungen im Physikatsexamcn und 
der seitdem eingeführten psychiatrischen Fortbildungs¬ 
kurse für die im Amte befindlichen Medicinalbeamten 
nicht mehr vor; denn dadurch ist eine genügende 
Ausbildung derselben in der Psychiatrie gewährleistet. 
Es ist auch nicht erklärlich, w'arum im Entmündigungs¬ 
verfahren derselbe Kreis- oder Gerichtsarzt versagen 
sollte, der im Strafverfahren bei zweifelhaften Geistes¬ 
zuständen meist als Sachverständiger fungirt, als Ge- 
fängnissarzt häufig solche Zustände zu beobachten und 
zu beurtheilen hat, dem ferner hauptsächlich die Be¬ 
gutachtung von Geisteskranken behufs Aufnahme in 
eine Irren- u. s. w. Anstalt zufällt und der somit 
dauernd auch durch seine überwachende Thätigkeit 
gegenüber den privaten Irrenanstalten, Gelegenheit 
hat, weitere Erfahrungen auf psychiatrischem Gebiete 
zu sammeln und sich nach dieser Richtung hin fort¬ 


zubilden. Wenn von anderer Seite die Ansicht aus¬ 
gesprochen wird, „der Zweck der neuen Bestimmung 
sei kein anderer, als das vielfach sehr magere Ein¬ 
kommen des Kreisarztes aufzubessem, sic bedeute 
demgemäss auch eine Benachteiligung der grossen 
Masse der ausübenden Zivilärzte“, so ist diese An¬ 
sicht eine durchaus irrige. Der pekuniäre Erfolg, 
der ausserdem für den einzelnen Kreisarzt nur ein 
verhältnissmässig geringer ist, kommt hierbei gar nicht 
in Betracht; massgebend ist unseres Erachtens ledig¬ 
lich die sachliche Erwägung gewesen, dass der zu¬ 
ständige Kreis- oder besondere Gerichtsarzt auf einem 
zu seiner Sachverständigen-Thätigkeit gehörenden und 
von ihm völlig beherrschten Gebiete künftighin nicht 
mehr bei Seite geschoben werden soll und dass der 
behandelnde Arzt (Anstaltsarzt) ebenso wie bei den 
Obduktionen auch im Entmündigungsverfahren wohl 
gehört und zugezogen w-erden kann, aber nicht mehr 
den alleinigen Sachverständigen bildet, wie dies bisher 
sehr häufig der Fall war. Die Sicherheit des Ent¬ 
mündigungsverfahrens wird dadurch nicht gefährdet, 
sondern im Gegentheil wesentlich erhöht.“ 

Der Herausgeber dieser selben „Zeitschrift für 
Medicinalbeamte“, Regierungs- und Medicinalrath Dr. 
Rapmund in Minden, ist allerdings im J. 1900 
anderer Ansicht gewesen, denn er schreibt in „Der 
beamtete Arzt und ärztliche Sachverständige“ von Dr. 
O. Rapmund, Berlin 1900, Theil I, S. 7: 

„ . . . Dass Jemand z. B. während seiner Studien¬ 
zeit eine Vorlesung über gerichtliche Medicin gehört 
und eine psychiatrische Klinik während eines Halb¬ 
jahres mit Erfolg besucht, künftighin vielleicht auch 
die durch die neue medicinische Prüfungsordnung 
eingeführte Fachprüfung in gerichtlicher Medicin und 
Psychiatrie bestanden hat, sollte unseres Erachtens 
nicht als ausreichend für die Zulassung zur kreisärzt¬ 
lichen Prüfung erachtet, sondern eine längere, prak¬ 
tische Thätigkeit in einem gerichtlich - medicinischen 
und pathologisch-anatomischen Institute sowie an einer 
öffentlichen, nicht ausschliesslich für Unheilbare be¬ 
stimmten Irrenanstalt verlangt werden; desgleichen 
müsste die mündliche Prüfung noch nach der prak¬ 
tischen Seite hin erweitert werden. — — — —“ 

(Bei der Begutachtung von Geisteskranken behufs 
Aufnahme in eine Anstalt verfügt der Kreisarzt nach 
Obigem über nicht wesentlich mehr Kenntnisse als 
viele praktische Aerzte besitzen, aber über geringere 
praktische Erfahrung als letztere, da er ja für ge¬ 
wöhnlich nicht Praxis betreibt; worüber er verfügt, 
das ist sein amtlicher Charakter. Dieser wird 
gegenüber der Fachkenntniss der Leiter von Privat¬ 
anstalten, welche zweijährige Vorbildung in der Psy¬ 
chiatrie aufweisen müssen, nicht schwer in die Wag¬ 
schale fallen. Ob das ausreichend ist, dass im Straf¬ 
verfahren bei zweifelhaften Geisteszuständen der Kreis¬ 
arzt meist als Sachverständiger fungirt, ist nach Obigem 
leicht zu beurtheilen —). 

Hierher gehört auch eine Aeusserung des Prof. 
Dr. med. Rieh. Ko ekel in seiner Antrittsvorlesung 
vom 11. 6. 98: Die gegenwärtige Bedeutung der ge¬ 
richtlichen Medicin (Leipzig, Verlag v, S. Hirzel) S. 11: 

„ . . . . Erinnern wir uns, dass zur sachgemässen 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 45. 


Erledigung aller, aus dieser umfangreichen Thätigkeit 
des beamteten Arztes sich ergebenden Fragen genaue 
specialistische Kenntnisse erforderlich sind in der Hy¬ 
giene, der Medicinalpolizei, der inneren Medicin, der 
Geburtshülfe und Gynäkologie, der Chirurgie, der Psy¬ 
chiatrie, der pathologischen Anatomie, sowie ausserdem 
noch der bezüglichen Bestimmungen des Strafgesetz¬ 
buches, des bürgerlichen Gesetzbuches und der Un¬ 
fall-Gesetzgebung, so wird kaum jemand verlangen, dass 
ein Arzt alle diese Gebiete vollkommen beherrscht. 

Die immer weiter fortschreitende Erweiterung und 
Vertiefung der eben genannten wissenschaftlichen Dis- 
ciplinen muss im Laufe der Zeit dahin führen, dass 
in noch viel ausgedehnterem Maasse als bisher die 
Wahrnehmung der bezirksärztlichen Funktionen von 
der der gerichtsärztlichen getrennt wird. 

Bleibt doch dann dem Gerichtsarzt noch eine 
solche Fülle von Obliegenheiten, dass es manchmal 
nöthig sein könnte, auch hier eine weitere speciali- 

stische Scheidung eintreten zu lassen.“ 

und ferner eine juristische und auf Juristen bezügliche 
Aeusserung, die aber auch auf den Kreisarzt Anwendung 
finden kann: aus „Die Handlungsfähigkeit der Geistes¬ 
kranken nach dem B. G.-B.“ von Dr. Brunswig 
(Leipzig, 1901, Deichert’s Verlag, S. 3): 

„.Und gesetzt den Fall, es wäre möglich, 

eine gründliche Kenntniss der medicinischen Lehre 
von den Geisteskrankheiten zu erwerben, was wäre 
damit gewonnen ? Zum wirklichen Sachverständigen 
ist doch der Richter damit noch lange nicht geworden; 
dieses Ziel lässt sich nicht durch ein noch so fleissiges 
Studium von wenigen Semestern erreichen; dazu ge¬ 
hört vielmehr jahrelang andauernde Beschäftigung mit 
der irrenärztlichen Praxis; klinische Beobachtung und 
ununterbrochene Fühlung mit den Fortschritten der 
psychiatrischen Wissenschaft; lauter Erfordernisse, 
deren absolute Unerlässlichkeit ebenso selbstverständlich 
ist, wie die Unmöglichkeit, dass der Richter sie erfülle.“ 

Ferner geben wir noch folgender Aeusserung in 
der „Nationalzeitung“ Raum (vom 2. XI. 02): 
„Die Presserörterungen über den Justizministerialerlass 
betr. Zuziehung der Kreisärzte als Sachverständige 
im Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit 
oder Geistesschwäche hatten in der „Nordd. Allgem. 
Ztg.“ eine Erläuterung dahin zur Folge gehabt, dass 
der Erlass weiter nichts sei, als ein aus dem Gesetz 
betr. die Dienststellung des Kreisarztes vom 16. Sep¬ 
tember 1899 sich ergebender Hinweis auf den ge¬ 
setzlichen Stand der Sache, und dass es auch fernerhin 
dem Ermessen des Richters überlassen bleibe, ob er 
in dem Vorhandensein eines Facharztes und in 
sonstigen Verhältnissen einen „besonderen Umstand“ 
erblickt, um von der Wahl des Kreisarztes abzusehen 
und einen Spezialarzt zuzuziehen. Mit Bezug hierauf 
wird uns von ärztlicher Seite geschrieben: „Die Er¬ 
örterungen über den Erlass haben die Wirkung gehabt, 
dass sie an einem Beispiel (denn was für das Spezial¬ 
fach der Psychiatrie gilt, trifft doch auch für die 
übrigen Spezialdisziplinen der Medizin zu) zeigten, 
wie bedenklich im Allgemeinen die Bestimmung des 
Kreisarztgesetzes ist, dass der Kreisarzt, der doch in 
der Hauptsache der hygienische Beamte 


des Kreises ist, in der Regel als der öffentlich 
bestellte ärztliche Sachverständige für die Gerichte gilt. 
Denn er wird unmöglich die verschiedenen Spezial¬ 
gebiete der Medizin so beherrschen können, um in 
jedem einzelnen als voller Sachverständiger anerkannt 
zu werden. Das Interesse der Rechtsprechung, welche 
über die mannigfaltigsten medizinischen Dinge die 
ärztliche Wissenschaft zu befragen und zur Beweis¬ 
führung zu benützen, häufig sich genöthigt sieht, er¬ 
fordert vielmehr, dass in der Regel der Specialge¬ 
lehrte, sofern er als zuverlässig bekannt ist, als voller 
Sachverständiger betrachtet werde und der Kreisarzt 
erst dann in Frage kommt, wenn ein Specialfachmann 
nicht vorhanden oder nur mit besonderen Schwierig¬ 
keiten zu erreichen ist. Dem gegenüber hätte die 
Rücksicht auf die Gehaltsbezüge der Kreisärzte bei 
den maassgebenden Factoren s. Z. nicht ausschlag¬ 
gebend sein sollen, und eine Aenderung dürfte sich 
bald als nothwendig erweisen.““ 

Auch die folgende Stelle aus der „Köln. Volks¬ 
zeitung“ spricht sich gegen den Erlass aus: 

„Die Irrenärzte haben sich dank ihrer Vorbildung 
und eingehenden beruflichen Beschäftigung mit krank¬ 
haften Geisteszuständen der ihnen seither zufallenden 
Aufgabe durchaus gew achsen erwiesen; auch nach der 
rein wissenschaftlichen Seite hin sind sie es gewesen, 
die zur Entwicklung der Disciplin der gerichtlichen 
Psychiatrie beigetragen haben. Alles das dürfte für 
den Kreisarzt nicht zutreffen. Das Mindestmaas der 
Vorbildung besteht in dem Besuch einer psychi¬ 
atrischen Klinik für ein Semester, was, nebenbei ge¬ 
sagt, die neue Prüfungsordnung für jeden Mediziner 
vorschreibt. Im Examen selbst überwiegt die theo¬ 
retische Prüfung, wenn auch ein Geistesgestörter vom 
Kandidaten begutachtet werden muss. Falls nicht 
besondere günstige Umstände vorliegen, wird den 
Kreisarzt sein Amt nur selten mit Geisteskranken in 
Verbindung bringen. Und dennoch sollte er nach 
der Meinung des Justizministers der bessere Sachver¬ 
ständige sein? Das ist doch nicht anzunehmen. Viel¬ 
fach neigt man der Ansicht zu, dass man so das 
Einkommen der Kreisärzte erhöhen wollte. Mangels 
eines anderen Motivs erscheint diese Annahme vor¬ 
läufig auch berechtigt. Aber wenn die Regierung 
damit indirect zugiebt, dass der Kreisarzt financiell 
besser gestellt werden muss, war es dann nothwendig, 
zu diesem Mittel zu greifen? Wir sehen davon ab, 
dass der Stand der Irrenärzte, deren Los wirklich 
nicht das beste ist, damit unverdientermaassen vor 
den Kopf gestossen wird. Viel wichtiger erscheint 
die Erwägung, dass die neue Verfügung aus den oben 
kurz skizzirten Gründen dazu angethan erscheint, das 
Gefühl der Rechtsunsicherheit beim Publikum zu er¬ 
höhen. Und das bedauern wir in der Rheinprovinz 
um so lebhafter, als das Zutrauen zu den Irrenan¬ 
stalten und Irrenärzten sich zu bessern beginnt, nach¬ 
dem es im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahr¬ 
hunderts durch die sattsam bekannten Prozesse un¬ 
berechtigterweise aufs äusserste erschüttert war. Wir 
wollen hoffen, dass der Justizminister diesen allzusehr 
berechtigten Befürchtungen Rechnung trägt und recht 
bald die neue Verfügung wieder auf hebt.“ 

OU-rarzt Dr. J. Uresler, Kraschnitz (Schlesien). 


Für den redaktionellen Theü verantwortlich 


Erscheint iec\en Sonnaben 

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8 1 ' 


Schluss der Inseratenannahme 3 läge vor der Ausgabe. — Verlag von C 
Hevnemann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S. 

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rl Marhold in Halle a. S 

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Psychiatrisch ^Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. £. Mendel, Prof. Dr. Mingaszini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst Schultse, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marbold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 46. 14- Februar. 1903. 

Die Psychiatrisch -Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. • 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director 
Dr. Josef Krayatsch, Mauer-Oehling (Schluss) (S. 501). — Mittheilungen (S. 507). — Referate (S. 511). 


Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. 

Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich). 

(Schluss.) 


Skixxen xur Anlage einer neuen Erxiehungs - 
und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder in 
Niederösterreich. 

Die statistischen Erhebungen haben zur Genüge 
bewiesen, dass die dermaligen Einrichtungen hinsicht¬ 
lich der Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder 
in Niederösterreich den thatsächlichen Anforderungen 
an Erziehungs- und Pflegeplätzen nicht genügen und 
dringend zur Errichtung einer grossen Erziehungs¬ 
und Pflegeanstalt mit allen ärztlichen und pädago¬ 
gischen Hilfsmitteln mahnen. 

Die Anstalt würde durch Errichtung von Zahlplätzen 
I. und II. Klasse sich auch eine bedeutende Ein¬ 
nahme sichern, da bisher zumeist die schwachsinnigen 
Kinder bemittelter Eltern im Auslande untergebracht 

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werden und die Anstalt auch vielen Ansuchen aus 
anderen Provinzen und dem Auslande, besonders den 
Balkanstaaten, gerecht werden könnte. 

Die zu errichtende Erziehungs- und Pflegeanstalt 
für schwachsinnige Kinder sollte mindestens einen 
Belagraum von 1000 Betten besitzen und ausserdem 
noch erweiterungsfähig sein. 

Im Momente der Inbetriebsetzung der mit einer 
vollständigen Unterrichtsabtheilung ausgestatteten An¬ 
stalt werden sicher alle, die den Unterricht der öffent¬ 
lichen Volksschulen stören, die epileptischen und 
choreatischen Kindern dieser Specialanstalt zugeführt 
werden. 

Eine einschlägige Frage über die Verhältnisse im 
Königreiche Sachsen wurde dahin beantwortet, dass 
daselbst von 3 700 000 Einwohnern 3 800 Blödsinnige 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 







502 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46. 


und unter den Letzteren 782 Kinder im Alter von 
5 bis 15 Jahren gezählt wurden. 

Von diesen Kindern wurden 635 in öffentlichen 
Specialanstalten erzogen und verpflegt. Ausserdem 

werden von 705112 schulpflichtigen Kindern etwa 
3500 schwachsinnige Kinder gezählt, welche in den 
Hilfsschulen in Leipzig, Plauen, Zwickau etc. sepa¬ 
raten Unterricht erfahren; demnach eines Anstalts¬ 
unterrichtes entbehren. 

Nach dem Ergebnisse der Tabelle VII dürften 
sich unter 1000 jugendlichen Idioten und Schwach¬ 
sinnigen beiderlei Geschlechts 600 Knaben und 400 
Mädchen befinden, darunter: 

I. Pflegebedürftige 257 K. 120 M. = 367 

II. Bildungsfähige 102 „ 140 „ =2,52 

III. Unterrichtsfähige 241 „ 140 ,, = 381 

1000. 

Da die bildungsfähigen Kinder gleich den unter¬ 
richtsfähigen dieselbe Gruppencrzichung erfahren, so 
muss für 600 derlei Pfleglinge in eigenen Pavillons 
Rauin geschaffen werden, deren bauliche Anlage eine 
sorgfältige Gruppirung ermöglicht. 

Die 400 pflegebedürftigen Kinder werden in eigens 
konstruirten Pavillons untergebracht, welche eine be¬ 
sondere Pflege und Uebcrwachung gestatten. Auch 
der Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege¬ 
anstalt für Geistesschwache in Langenhagen bestätigt 
obiges annähernde Zahlenverhältniss der Knaben zu 
den Mädchen. In der Anstalt wurden nämlich im 
Jahre 1890 und 1900 417 Knaben und 280 Mäd¬ 
chen verpflegt. 

Der auf dem Gebiete der Idiotenpflege sehr er¬ 
fahrene Dr. Wildermuth verlangt: 

I. Gebäude für bildungsfähige idiotische Kinder 
auf der Vorschulstufe, 

II. Gebäude für schulpflichtige idiotische Kinder, 

III. Gebäude für halb erwachsene arbeitsfähige 
Idioten, 

IV. Gebäude für landwirthschaftlich thätige Idioten, 

V. Pflegehäuser für Bildungsfähige, 

VI. Lazareth, 

VII. Infectionskrankenhaus, 

VIII. Leichenhaus. 

Die neue Erziehungs- und Pflegeanstalt sollte nur 
bei Wien, wenn nicht in Wien gelegen sein, damit 
dieselbe die Vortheile der Grossstadt in Anspruch 
nehmen kann, da sowohl die Aerzte als auch die 
Pädagogen durch den innigen Contact mit der Uni¬ 
versität und Lehranstalten sich auf der erforderlichen, 
wissenschaftlichen Höhe erhalten und die Pfleglinge 
zur Forschung und Schulung der Aerzte und Lehrer 
herangezogen werden können. Eine grössere Ent- 

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fernung der Anstalt von einer Stadt erschwert den 
Besuch der Pfleglinge, die billige Deckung der An¬ 
staltsbedürfnisse macht das Leben in der Anstalt für 
die Bediensteten eintönig und wird für dieselben bei 
dem Mangel jeglicher, wenn auch noch so beschei¬ 
denen Zerstreuung auf die Dauer unerträglich. 

Für die Idiotenanstalt mit dem beantragten Um¬ 
fange sind an Aerzten nothwendig: I Director, 2 Ab¬ 
theilungsärzte, 1 Lazaretharzt. 

Es wird wohl heute kein Laie mehr daran zwei¬ 
feln, dass die verschiedensten Formen des angeborenen 
Schwachsinns und die Epilepsie Krankheiten des Ge¬ 
hirns sind und dass demnach Anstalten, welche sich 
mit der Pflege, Erziehung, Beschäftigung und dem 
Unterrichte solcher Kranken im jugendlichen Alter 
beschäftigen. unter Wahrung jener pädagogischen, 
sittlich religiösen Grundsätze, nac h welchen Geistliche 
und Lehrer bei ihrer Thätigkcit als Erzieher dieser 
Pfleglinge vorgehen müssen, nur unter der Leitung 
psychiatiisch geschulter Aerzte stehen können. 

Auch kann die Erziehung und der Unterricht der 
idiotischen und ncuropathischcn Kinder nur auf 
Grundlage der Erkenntniss der verschiedenen Krank- 
heitspr» u esse, auf welchen die Krankheitsformen be¬ 
ruhen, erfolgen. 

Nur der Psvchiater, der auch Kinderarzt sein 
muss, kann dieser Aufgabe gerecht werden; oft er¬ 
heischen plötzlich auftretende Erregungs- und Däm¬ 
merzustände, verschiedene Krampfanfälle, periodisch 
wiederkehrende Stiinmungsänderungen, das rasche Ein¬ 
schreiten eines Facharztes. Die Behandlung und 
Pflege der zahlreichen Leiden, von welchen die Kin¬ 
der im Allgemeinen, die zur Unsauberkeit neigenden 
Kinder besonders befallen werden, die häufigen Ver¬ 
letzungen, Gefahren durch Fremdkörper u. s. w. er¬ 
fordern schon allein einen ärztlichen Permanenzdienst, 
abgesehen davon, dass das Studium der Idiotie für 
die Hirnpathologie und für die Prophylaxis von be¬ 
sonderer Wichtigkeit ist. 

Der Nutzen einer fachärztlich gut geleiteten An¬ 
stalt wird für die Gesellschaft ein sehr greifbarer 
werden. 

Die mit pädagogischen und gewerblichen Hilfs¬ 
mitteln ausgestattete Erziehungsanstalt wird auch von 
vielen neuropathisch veranlagten, moralisch und gei¬ 
stig defecten Kindern aufgesucht werden, welche wegen 
ihres Verhaltens weder in der öffentlichen Schule, 
noch in der Familie beziehungsweise Gesellschaft, be¬ 
sonders wegen der geringen Aufsicht in grossen Städten, 
nicht haltbar sind. 

Die individualisirende Behandlung und Aufsicht, 
die sichere Abhaltung von schlechten Beispielen, Mei- 

Original fram 

HARVARD UNIVERSUM 




1903-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 503 


düng von Alkohol, eine entsprechende Anhaltung zur 
Arbeit werden für diese Minderwerthigen im Kindes¬ 
alter von grossem Nutzen sein und vielleicht verhüten, 
dass sie spater mit ihren rücksichtslosen Ansprüchen 
die Eltern und die Gesellschaft behelligen und durch 
unbeugsame Genusssucht zum Verbrechen oder zum 
dauernden Insassen einer Irrenanstalt werden. Für 
die Gesellschaft besonders gefährliche Schädlinge 
dieser Entarteten müssen Zeit ihres Lebens in An¬ 
stalten gehalten werden. Der verhütete Schaden und 
die Vermeidung krankhaft veranlagter Nachkommen 
wiegen die verausgabten Verpflegskosten unvs viel¬ 
fache auf. 

An Lehrkräften sind ausser dem Anstaltsseelsorger 
erforderlich: 3 Lehrer und 3 Lehrerinnen, darunter 
je eine Lehrkraft für den Taubstummenunterricht. 
Ein Lehrer ist der Leiter der Unterrichtsabtheilung 
und ist dem Director \ erantwortlich. Die Zahl der 
Lehrkräfte entspricht der Zahl der Lehrer, welche in 
ähnlichen Anstalten im Auslände benöthigt werden. 
Der Unterricht erfolgt nach erprobten Lehrmethoden, 
welche in der einschlägigen deutschen Litteratur sich 
vorfinden und dürfte sich erfahrungsgeinäss in VI 
Klassen gruppiren: 

I. Klasse Vorschule. Kindergarten. 

II. „ Beginn mit dem Lesen und Schreiben. 

Versuchsklasse. 

III. „ eigentliche Schule mit Religionsunter¬ 

richt. 

IV. „ Formenlehren. 

Beendigung des Unterrichtes. 

Die Verwaltung einer Idiotenanstalt gleicht der 
einer Irrenanstalt und soll mit Ausnahme der Rech- 
nungs- und Kasseführung, für welche der erste Ver¬ 
waltungsbeamte allein verantwortlich ist, dem Director 
untergeordnet sein. An Beamten sind ndthig: 1 Ver¬ 
walter, je ein Beamter für das Material, für die 
Kasse, für die Regie, 1 Kanzleibeamter und 1 
technischer Beamter. 

Kindergärtnerinnen und Pflegepersonen. 

Die Frage, ob zur Erziehung und Pflege schwach¬ 
sinniger Kinder die Kindergärtnerinnen und Pflege¬ 
rinnen aus den weiblichen Ordensverbindungen oder 
aus dem weltlichen Personale entnommen werden 
sollen, ist auf Grund der in der Pflege- und Be¬ 
schäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Gug- 
ging gesammelten Erfahrungen klar zu beantworten. 

Es wäre eine Verleugnung von Thatsachen, wenn 
nicht die grosse Opferwilligkeit und Leistungsfähigkeit 
der Kreuzschwestem auf dem Gebiete des Kinder- 

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gartens, der weiblichen Handarbeiten, der Vorschule 
und der Kinderpflege anerkannt würde. 

Wenn sich aber zu gewissen Zeiten, z. B. wäh¬ 
rend des Scharlachs im Frühjahre 1901, Schwierig¬ 
keiten ergaben, so waren diese meist darauf zurück¬ 
zuführen, dass die strenge Erfüllung der Congregations- 
pflichten mit der Erfüllung der ärztlichen Verfügungen 
kollidirten. 

Diese Schwierigkeiten lassen sich aber durch ge¬ 
naue Verträge und umfassende Instructionen ver¬ 
meiden. Die Schwestern unterstehen direct der Dis- 
ciplinargewalt einer vom Ordenshause ernannten Vor¬ 
steherin und mehr oder weniger indirect auch der 
des Anstaltsleiters, welchem vertragsmässig die Ent¬ 
scheidung über die geistige und körperliche Eignung 
der Ordensschwestern zur Krankenpflege Vorbehalten 
sein muss. Wie wichtig ein klarer Vertrag zwischen 
der Anstaltsleitung und der zur Pflege in Aussicht 
genommenen Congregation ist, geht aus der That- 
sache hervor, dass z. B. die Constitution eines in 
Oesterreich ausgebreiteten Ordens, den Schwestern, 
welche sich der Krankenpflege widmen, es verbietet, 
männlichen Kranken Dienste zu leisten, welche ohne 
Verletzung des Anstandes nicht verrichtet werden 
können. Daraus ist zu entnehmen, dass eine allzu¬ 
scharfe Auslegung dieser Constitutionsbestimmung 
durch eine Vorsteherin die Krankenpflege überhaupt, 
wie es vorgekommen ist, illusorisch macht. 

Vielen Ordensschwestern mangelt ferner die Kennt- 
niss der grossen Gefahren, welche aus dem Verkehre 
mit den an ansteckenden Krankheiten leidenden 
Pfleglingen erwachsen und sind deshalb wenig oder 
gar nicht mit den hygienischen Grundsätzen bei der 
Krankenpflege vertraut. 

Ist der klagelose Dienst durch Verträge und In¬ 
structionen gesichert, so sind die Ordensschwestern 
als Kindergärtnerinnen mul Pflegerinnen schon wegen 
ihrer berufsmässig anerzogenen Pflichten und des beschei¬ 
denen Wesens als recht brauchbar zu bezeichnen. 
Die relativ geringeren Löhne, die Disciplin, der Weg¬ 
fall der Verpflichtung einer Altersversorgung, der ge¬ 
ringe Wechsel im Personalstande sprechen auch aus 
wirtschaftlichen Gründen für ihre Verwendung in 
der Kinderpflege. 

Nur erscheint es, wegen sicherer Verhütung der 
Verschleppung von infectiösen Krankheiten, rathsam 
zu sein, die Ordensschwestern nur in der Erziehungs-, 
Unterrichts- und Pflegeanstalt zu verwenden, dagegen 
im Lazarethe und in der Infectionskrankenabtheilung 
nur weltliche Pflegepersonen. Auch ist es erfahrungs- 
gemäss zweckmässig, den Gruppen erwachsener 

Original frnm 

HARVARD UN1VERSITY 



5°4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 46. 


Knaben, gewöhnlich solche nach überschrittenem 12. 
Lebensjahre, männliche Pfleger zuzuweisen. 

Für jede Erziehungs-(Unterrichts-) Gruppe zu 16 
Kindern genügen 2 Personen, eine Kindergärtnerin 
und eine Pflegerin. Von den Ersteren sollen min¬ 
destens 2 auch mit dem Taubstummenunterricht ver¬ 
traut sein. 

Die Gruppe erwachsener Knaben könnte ja einem 
Ehepaare, von denen die Pfleger gewisse gewerbliche 
Fertigkeiten aufzuweisen hätten, unterstellt werden. 

In der Pflegegruppe, in welcher 
hauptsächlich hinfällige, unreine 
Kinder eingestellt sind, fällt eine 
Pflegeperson auf 5 Kinder. 

Die Art der Bekleidung und 
Verköstigung hätte nach den Grund¬ 
sätzen der n. ö. Landes-Pflege- und 
Beschäftigungsanstalt für schwach¬ 
sinnige Kinder zu erfolgen. 

Das ganze Anstaltsgetriebe wird 
durch ein Statut, durch eine Haus¬ 
ordnung und durch besondere In¬ 
structionen geregelt. 

Bauliche Anlage. 

Die hygienischen Anforderungen 
an Luft und Licht, die leichtere 
Gruppirung der Kinder nach dem 
Grade der Pflegebedürftigkeit und 
dem der Bildungs- und Unterrichts¬ 
fähigkeit, endlich die Isolirungsfähig- 
keit von inficirten Gruppen und die Einschränkung 
von Brandkatastrophen fordern entschieden den Pa¬ 
villon- oder Blockstyl, in welchem die Idiotenanstalt 
zu errichten ist. 

Die Lage der Pavillons zum Directionsgebäude, 
zur Kapelle, zu den Schulen, zur Küche, zum Laza- 
rethe und Infectionskrankenpavillon ist bis auf die 
Entfernung ziemlich belanglos, nur muss mit Rück¬ 
sicht auf den grossen Parteienverkehr das Directions¬ 
gebäude an der Stirnseite der Anstalt gelegen sein. 

Da die Idiotenanstalt schon infolge der grösseren 
Inanspruchnahme durch Wien in der Nähe der Gross¬ 
stadt situirt werden dürfte und daselbst aber nur 
wenige entsprechend grosse, aber theuere Baugründe 
zu erwarten sind, so dürften ca. 30 ha Bau-, Park- 
und Gartengrund, welcher nach Abzug desjenigen für 
Garten- und Weganlagen noch beiläufig 6 ha für Ge¬ 
müse und Obstkultur erübrigt, genügen. Die Kinderan¬ 
stalt in Kierling-Gugging verfügt in ihrem Gemüsebau 
über eine äusserst lucrative Einrichtung, welche 
mehreren Knaben eine anregende Beschäftigung bietet 
und nicht nur allein den ganzen Bedarf an Gemüse 


zu decken vermochte, sondern auch noch einen be¬ 
trächtlichen Ueberschuss an die Irrenanstalt abgab. 

Die Anstalt soll gegen die herrschende Windrich¬ 
tung geschützt, soll nach Thunlichkeit in der Mitte 
des Gebietes derart liegen; dass das Getriebe der 
Anstalt und das Verhalten der Kinder den Anrainern 
keine Veranlassung zu Beschwerden giebt 

Besonders ist darauf Bedacht zu nehmen, dass 
nicht auf dem Anstaltsgebiete Servituten, wie Strassen- 
benutzung oder wasserrechtliche Lasten haften, welche 

Planskizze A für 
4 Erziehungsgruppen 
ä 16—18 Kinder. 


Pavillon für bildungsfähige Kinder. 
Type A. 

Derselbe ist einstöckig . und enthält im Erdge¬ 
schosse und im ersten Stocke je 4 Wohngruppen für 
je 16 Kinder. Diese Zahl gestattet erfahrungsgemäss 




Depot. 

Bade und Waschzimmer. 

Pflegezimmer. 

Cabinet. 

■ = Fensteröffnungen. 

Maassstab 0,5 cm 


5 «= Schlafraum für 16— 18 Kinder. 

6 = Tagraum. 

7 = Veranda. 

8 = Aborte. 

|lj <= Thüröffuungen. 

2 m. 


das spätere Anstaltsleben zu beeinträchtigen vermögen. 
Auch soll die Lage der Anstalt den Besuch billig 
und leicht ermöglichen, den Bediensteten immer die 
nöthige Ausbildung und Zerstreuung gestatten, die 
Erziehung der Anstaltskinder nicht erschweren und 
die Beschaffung der Beleuchtung, des Trink- und 
Nutzwassers und die Abfuhr der Schmutzwässer er¬ 
leichtern. 

Zahl und Arten der Kinder-Pavillons. 

Zur Unterbringung der verschiedenen Kategorien 
von Kindern sind zwei Arten von Pavillons noth- 
w’endig und hat der Verfasser für die Erbauung dieser 
zwei Arten beiliegende Plantypen A und B ent¬ 
worfen, welche allen Anforderungen vom ärztlichen, 
administrativen und pädagogischen Standpunkte ent¬ 
sprechen. 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 505 


noch die individualisirende Erziehung wie in einer 
vielköpfigen Familie. 

Zwei Stiegenanlagen ermöglichen im Bedarfsfälle 
die Isolirung der Gruppen ohne Störung, wie solche 
z. B. beim Ausbruche von Infectionskrankheiten regel¬ 
mässig nothwendig werden. 

Jede Wohngruppe besteht aus: 

Nr. 8 . Abortanlage mit 2 Sitzen und einem kleinen 
Rumpelraum, 

Veranda, 9X 2 m > 

Tagraum, 7X9 
Schlafraum, 8 X *3 m, 

Einzelzimmer, 2,5X5 m (Krankenzimmer), 
Pflegerzimmer, 2,5X5 m, 

Bade- und Waschzimmer, 3X5 m > 

Depot, 3X5 m - 

Planskizze B. für 
2 Pflegegruppen 
ä 20 Kinder. 



1 = Depot. 

2 = Badezimmer. 

3 = Raum für schmutzige Wäsche 

und Rumpelkammer. 

4 = Aborte. 

5 = Cabinet. 

6 = Veranda. 

7 = Tagraum. 

8 = Wachsaal. 

■ = Fensteröffnungen. {; 

Maassstab: 0,5 cm 


9 = Aerzte-Zimmer. 

10 — Depot. 

11 = Stiegenhaus. 

12 = Verbindungsgang. 

13 = Schlafzimmer für Pfleger. 

14 = Speisezimmer für Pfleger. 

15 = Spülküche. 

16 = Abort für Pfleger. 

JlJ == Thüröflfnungen. 

2 m. 


Im Untergeschosse befinden sich die Zentral-Heiz- 
anlagen und die Kohlenkeller, Depots für Holzge¬ 
schirr und Schmutzwäsche. In der Mansarde sind 
Bodenräume und Arbeitszimmer mit Abortanlagen zu 
errichten. Die Verlegung von Wohnungen der Be¬ 
diensteten mit Familien in diese Pavillons sind grund¬ 
sätzlich zu vermeiden. 


Pavillon für pflegebedürftige Kinder. 

Type B. 

Der Pavillon ist einstöckig und enthält in jedem 
Geschosse 2 Abtheilungen. Jede dieser Abtheilungen 
ermöglicht die Unterbringung von 20 pflegebedürftigen 
Kindern in hell belichtetem Wachsaal’8. Ausser dem 
Wachsaal wird ein Tagraum 7 zum Aufenthalte für 
die sogenannten Sitzkinder während der kalten Jahres¬ 
zeit und eine Veranda während des Sommers be- 
nöthigt. Letztere ist überhaupt zur Dauerlagerung 
anämischer und besonders unreiner Kinder von un¬ 
schätzbarem Werthe. 

Jede Pflegegruppe besteht aus: 

Nr. 8 Wachsaal, ioX x 5 
„ 7 Tagraum, 5X 10 m > 

„ 6 Veranda, 3 X x 5 

Nr. 5 Einzelzimmer, 2,5X5 m > 

„ 4 Abort mit 4 Sitzen, 4X5 
„ 3 Rumpelkammer, 2X5 m > 

„ 2 Bade- u. Waschraum, 5 X 5 m > 

„ 1 Depot, 3X5 

Zwischen den beiden Pflege¬ 
gruppen liegt 

Nr. 11 das Stiegenhaus oder der 
Raum für eine Steigbahn, 

6X 11 

„ 14 Besuchszimmer, gleichzeitig 

das Speisezimmer der Pfleger, 

5X5 m . 

„ 15 Spülküche mit einer Abort- 

anlage, 3X5 m . 

„ 9 ärztliches Zimmer, 2,5X5 ni, 

im Erdgeschoss, 

„ 10 Depot, im I. Stock, 

„ 12 Verbindungsgang, 3X6 m, 

„ 13 Schlafzimmer für 8 Pfleger, 

6X<> m > 

„ 16 Abortanlage. 

Im Kellergeschoss Zentralheiz¬ 
anlage, Kohlenkeller, Raum für 

Schmutzwäsche, Depot für Holzgeschirr. 

Nach dieser Type B sind erforderlich : 

für 247 pflegebedürftige Knaben 3 Pavillons 

„ 120 „ Mädchen 2 


Nach dieser Type sind erforderlich: 
für 353 bildungs- u. unterrichtsfähige K. 


280 


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M. 


3 Pavillons 
2 


Summa: 5 Pavillons. 


Google 


Summa: 5 Pavillons. 

Für Pensionäre I. Klasse müssten 2 separate 
Villen errichtet werden. Die Pflegebedürftigen könn¬ 
ten die Wohnräume im Erdgeschosse, die Unterrichts¬ 
fähigen im I. Stocke erhalten. 

Für Pensionäre II. Klasse genügt die reichere 
Ausstattung einer Abtheilung in den Plänen A und 
B und die Einstellung von zehn Pensionärbetten. 


Original from 

HARVARD UNIVERSITY 






Oh PSYCHIATRISCH-NKUROLC 

L az a r e th. 

Bei einem Verpflegsstande einer Idiotenanstalt 
von 1000 Kindern ist die Errichtung eines Lazareths 
mit einem Belagraum von 30 Betten dringlich. 

In demselben sind ein Operationssaal, ein ärzt¬ 
liches Zimmer, ein Pflegerzimmer für 4 Pflegerinnen, 
eine Wohnung eines Tractpflegerpaares, ein kleiner 
Tagraum, zwei anstossende Krankenzimmer mit Ve¬ 
randen für Knaben und Mädchen, einige aus den 
Krankenzimmern zu erreichende Einzelzimmer, ein 
Bad, ein Depot, eine Abortanlage mit 4 Sitzen, eine 
Rumpelkammer für Schmutzwäsche unterzubringen. 

Ein mustergiltiges Lazareth besitzt die Landes- 
Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling. 

Infectionskrankenabt Heilung. 

Das häufige Vorkommen von infectiösen Krank¬ 
heiten unter den Kindern macht die Anlage eines 
Pavillons zur Unterbringung von inficirten Kindern 
— Grösse und Ausstattung nach dem Plane des 
Infectionskrankenhauses in Mauer-Oehling — nöthig. 

Kapelle — Festsaal. 

Die Bestrebungen, die schwachsinnigen Kinder 
einer sittlich religiösen Erziehung zuzuführen und den 
Bediensteten Gelegenheit zu geben, ihren religiösen 
Pflichten nachkommen zu können, macht die Errich¬ 
tung einer Anstaltskapclle mit einem Fassungsraum 
für 600 Personen nothwendig. Der Festsaal kann in 
das Schulgebäude verlegt werden. 

Küche — Wäscherei. 

Die Küche (eine moderne Dampfkochküche) mit 
einer Leistungsfähigkeit, Einrichtung, wie solche die 
Küche der Kaiser Franz Josef-Landes-Heil- und 
Pflegeanstalt in Mauer-Oehling besitzt, wird für die 
Idiotenanstalt mit 1000 Pfleglingen vollkommen ge¬ 
nügen. 

Nur wäre eine Aendcrung des Planes dahin in 
Vorschlag zu bringen, dass in das erste Stockwerk 
die Speisezimmer für 600 erziehungsfähige Zög¬ 
linge verlegt werden, um den Transport der Speisen 
aus der Küche in die Pavillons und das Reinigen des 
Essgeschirres in den Letzteren zu ersparen. Speise¬ 
aufzüge aus der Küche in das erste Stockwerk, halb¬ 
gedeckte Wandelgänge von den Pavillons zu der 
Küche, welche bei regnerischem Wetter auch sonst 
zum Spazieren der Kinder Verwendung finden könn¬ 
ten, wären dann allerdings nothwendig. Die Ausspei¬ 
sung der Kinder in den Pavillons für Pflegebedürftige, 
im Lazarethe und in der Infektionskrankenabthei¬ 
lung müsste auf den Abtheilungen erfolgen. Die 
Reinigung der oft sehr besudelten Wäsche erfolgt in 
einer Dampfwäscherei, welche mit Plätt- und Näh¬ 
stuben reichlich ausgestattet ist. 

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IISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4^. 

Schulgebäude — Werkstätte. 

Die Anzahl und Grösse der Schulzimmer hängt 
von der Zahl der Kinder ab, welche während einer 
bestimmten Unterrichtszeit ohne Schädigung der mehr 
individualisirenden Unterrichtsmethode von Fachleuten 
noch zugestanden wird. 

Gezählt werden 240 unterrichtsfähige Knaben und 
140 Mädchen. 

Gewöhnlich werden 20 Kinder, in reich ausge¬ 
statteten Anstalten auch weniger, in einem Schulzim¬ 
mer unterrichtet. 

Am zweckmässigsten empfiehlt sich ein separates 
Schulhaus mit Turnhalle und Spielplatz. 

Die Idiotenanstalt in Dalldorf verfügt zur Beendi¬ 
gung einer schulplanmässigen Erziehung über sechs 
Klassen. Ausserdem werden die Knaben zu Hand¬ 
werkern, als Buchbinder, Tischler, Schuster, Schneider, 
Korbflechter, Gärtner, Hausarbeiter, die Mädchen in 
allen weiblichen Hausarbeiten unterwiesen. Ein Werk¬ 
stättenhaus nach dem Plane eines solchen in Mauer- 
Oehling genügt. 

Wasserversorgung. 

Da der Wasserbedarf mit Rücksicht auf die be¬ 
sondere Körperpflege der schwachsinnigen Kinder ein 
sehr grosser sein wird, andererseits der Gemüsebau 
und die Strasscnbcspritzung, die Closetanlagen, viel 
Wasser beanspruchen, so ist der tägliche Bedarf auf 
4000 hl nicht zu hoch bemessen. 

Zur Sicherung der Pavillons vor Feuersgefahr 
müssen innerhalb und ausserhalb der Objecte gut 
functionirende Feuerhydranten angebracht und in der 
Anstalt selbst eine Löschabtheilung organisirt und die 
in der nächsten Nähe befindliche Feuerwehr jedes 
Jahr zu Ucbungen im Anstaltsgebiete herangezogen 
werden. 

Kanalisation und Abort an läge. 

Die Fäkalien- und Schmutzwasserabfuhr erfolgt 
nach dem behördlich genehmigten Muster in der 
Landes-Heil- und Pflcgeanstalt in Mauer-Oehling. 

Die Aborte daselbst sind ebenfalls mustergiltig. 

Bad- und W a s c h e i n r i c h t u n g. 

Muster in Mauer-Oehling. 

Turnhalle — Freibad. 

Ein gedeckter Spielplatz ausgestattet mit einfachen 
Turngeräthen ist in jeder Idiotenanstalt zu finden. 

Ein kleines Freibad macht den Kindern grosse 
Freude. 

Gartenanlagen — Warmhaus. 

Eigentliche mit Zäunen versehene Gärten sind 
überflüssig, weil sich die Kinder in ihren Gruppen 
bald daran gewöhnen, die Grenzen der für sie be¬ 
stimmten Gärten nicht zu überschreiten. 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 507 


iW-] 

Leichen haus mit Tod ten Wächter 
ist nach dem Muster in Mauer-Oehling zu errichten. 

Zahl der Obj ecte: 

Directionsgebäude i, 

Kapelle i, 

Schulgebäude mit Festsaal und Turnhalle i, 
Werkstättenhaus i, 

Küche mit Speisesaal i, 

Wäscherei mit Trockenboden i, 

Maschinenhaus mit Centralbad i, 

Warmhaus i, 

Pavillons für pflegebedürftige Knaben, nach Plan¬ 
skizze B 247 Knaben, 3, 

Pavillons für pflegebedürftige Mädchen, nach Plan¬ 
skizze B 120 Mädchen, 2, 


Pavillons für erziehungs- und unterrichtsfähige 
343 Knaben, nach Planskizze A, 3, 

Pavillons für erziehungs- und unterrichtsfähige 
280 Mädchen, nach Planskizze A, 2, 

Pensionärvilla für Knaben 1, 

„ „ Mädchen 1, 

Lazareth 1, 

Infectionskrankenabtheilung 1, 

Central- und Freibad 1, 

Leichenhaus 1, 

Schwestemheim 1. 

Anmerkung. 

Die Errichtung einer grossen Idiotenanstalt in Niederöster¬ 
reich ist geplant und wurde im Landtage durch den Landes- 
Ausschuss-Referenten Steiner, den verdienstvollsten Reformer 
auf dem Gebiete der Irrenfürsorge, eine einschlägige Vorlage 
eingebracht. 


M i t t h e i 

— II. Landes - Congress der ungarischen 
Irrenärzte in Budapest. (III. Sitzung. 27. October 
1902). Schluss. 

LudwigHajos: Die am besten entwickelten Zweige 
der normalen Menschenkenntniss sind diejenigen, welche 
sich auf solche Individuen beziehen, welche in zwangs¬ 
weiser socialer Isolirung oder in grosser Abhängigkeit 
von einander leben, so z. B. Soldaten, Seeleute, Sträflinge 
oder auch Völker, welche in einem primitiven Cultur- 
zustande leben. Doch auch diese Zweige der Menschen¬ 
kenntniss sind noch nicht zum Niveau der wissen¬ 
schaftlichen Psychoanthropologie erhoben. In den 
naturhistorischen Disciplinen wurde die Arbeit der 
Datensammlung auf diesem Gebiete nur ganz spora¬ 
disch unternommen. Und wo die wissenschaftliche 
Qualification der Forscher keinem Zweifel unterlag, 
wie z. B. bei den criminalpsychologischen Unter¬ 
suchungen, dort haben die erreichten Erfolge darum 
keinen genügend hohen anthropologischen Werth, weil 
sich diese Untersuchungen nicht auf den normalen, 
sondern auf den verworfenen Menschen beziehen. 
Trotzdem sich die Geschichtsschreiber und Biographen 
nicht mit Massenuntersuchungen, sondern mit der 
Analyse einzelner Individualitäten beschäftigen, wird 
der Werth ihrer Daten vom anthropologischen Stand¬ 
punkte aus darum sehr herabgesetzt, weil sie sich 
wieder nicht auf normale, sondern auf in gewissem 
Sinne hervorragende Individuen beziehen. 

Im Sammeln von normal psychologischen Kennt¬ 
nissen sind die Pädagogen und Psycho-Physiker — 
abgesehen von der Verallgemeinerung der Erfolge 
dieser subjectiven Introspection — am weitesten vor¬ 
aus. Die ersteren sammeln ihr Material allerdings 
nur in den einzelnen Stadien der Entwickelung und 
können so das ganze Gebiet der Psycho-Anthropologie 
nicht beleuchten. Das verringert jedoch den Werth 
ihrer Daten nicht in dem Maasse, als der Umstand, 

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1 u n g e n. 

dass die Gesichtspuncte ihrer Beobachtung einer 
naturwissenschaftlichen Basis im strengen Sinne des 
Wortes entbehren und nur berufen sind, der Er¬ 
ziehungkunst zu dienen. Die Untersuchungen der 
Psycho-Physiker besitzen in jeder Hinsicht vollen 
wissenschaftlichen Werth. Dass die Psycho-Anthro¬ 
pologie ihre Daten dennoch nicht genügend ver- 
werthet, findet seine Erklärung darin, dass diese Un¬ 
tersuchungen den Verhältnissen der grossen mensch¬ 
lichen Gesellschaft gegenüber bloss die Bedeutung 
microscopischer Forschung haben; sie sind kaum dazu 
geeignet, die Psychologie eines einzelnen Menschen 
in kleinen Bruchstücken erkennen zu lassen, wie 
könnten sie daher dazu berufen sein, zur Erkenntniss 
der psychischen Constitution und der psychischen 
Typen der ganzen Menschheit zu führen? 

Zur Erkenntniss der normalen psychischen Con¬ 
stitution und deren Typen können nur gross ange¬ 
legte Untersuchungen führen. Die Elemente dieses 
Bestrebens sind in der Erkenntniss der genauen 
Biographie sehr vieler normaler Durchschnittsmenschen 
zu suchen. Es sind also solche Biographien anzu¬ 
häufen, welche nur das objectiv Festzustellende ent¬ 
halten und auch das nur mit der gewohnten Gründ¬ 
lichkeit der psychiatrischen Untersuchungen, mit der 
eindringlichen Beachtung der psychischen Symptome 
und der Verhältnisse des Organismus aufzunehmen. 
Die Aufgabe dieser Untersuchungen ist folgende: 

1. Die Erkenntniss der psychischen Normaleigen¬ 
schaften, welche der ganzen Menschheit eigen sind. 

2. Die Erkenntniss der enger begrenzten Gattungs- 
Varietäten. 

3. Die Erkenntniss der psychischen Rasseneigen- 
thümlichkeiten bei den gemischten Rassen. 

4. Die Trennung der socialen Kunstproducte von 
den allgemein menschlichen und den Rassen-Eigen- 
heiten. 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 




508 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46. 


5. Die Trennung der individualen und Gattungs- 
Varietäten von der Degeneration. 

6. Die Unterscheidung der normalen und dege- 
nerirten Typen und der einzelnen Formen der Geistes¬ 
krankheiten. 

D iscussion: 

Ranschburg: Wir pflegen zu sagen, dass die 
Medicin eine exacte Wissenschaft ist. Doch sind 
wir in unseren Studien oft durchaus nicht exact. Wir 
kennen die pathologischen Erscheinungen, ohne von 
den normalen etwas zu wissen, die Beurtheilung der 
letzteren geschieht — besonders in der Psychiatrie 
— auf Grund individueller Anschauungen. Ich ver¬ 
misse im Vortrage die Anleitung dazu, auf welche 
Weise das normale psychische Leben studirt werden 
soll. Die Untersuchung an grossen Massen zu be¬ 
ginnen, während wir noch nicht einmal im Stande 
sind die Psyche eines einzelnen Individuums zu er¬ 
kennen, grenzt an Unmöglichkeit. 

Es wäre zu wünschen, dass die Psychophysik den 
Werth der Microscopie hätte (wie das der Vor¬ 
tragende erwähnte), wir besässen dann wenigstens ein 
werthvolles Untersuchungs-Instrument, um die Gehirn- 
und Seelenfunction eines einzelnen Individuums zu 
analysiren. Es soll betont werden, dass in erster 
Reihe das Psychicum des einzelnen Individuums 
untersucht und erkannt werden muss. 

Haj 6s: Er nannte die Psychophysik darum eine 
Microscopie, weil sie sich nur mit den einzelnen 
Functionen einzelner Individuen befasst und nicht 
mit der Gesammtheit; unter allen unseren gegen¬ 
wärtigen Untersuchungsmethoden ist sie demnach die 
exacteste. In der Untersuchung muss — wie allge¬ 
mein in der Sociologie — mit grossen allgemeinen 
Bildern begonnen werden. 

13. Stephan Hollos: Mittheilungen über 
die Paralysis progressiva in Ungarn. 

Der Vortragende constatirt die consternirende 
Thatsache, dass die Paralyse in Ungarn so verbreitet 
ist, wie nirgends anderswo im Auslande. In sämmt- 
lichen ungarischen Staats-Anstalten bildete die Para¬ 
lyse in den letzten fünf Jahren 33 w / 0 der Fälle, 
während im Auslande in mehr als hundert Instituten 
im Durchschnitte nur 15—20% von Paralyse unter¬ 
gebracht waren. Mit Hülfe verschiedener Methoden 
schliesst der Vortragende aus der Zahl der Fälle, 
welche in Instituten untergebracht sind, auf die Er¬ 
krankungsverhältnisse der ganzen Bevölkerung und 
kommt zu dem Schlüsse, dass die Erkrankung bei 
uns beiläufig doppelt so häufig auftritt als im Aus¬ 
lande. 

Im zweiten Theile des Vortrages forscht der 
Vortragende nach den specifisch ungarischen Verhält¬ 
nissen, welche die grosse Ausbreitung der Paralyse 
zu erklären im Stande wären. Der Lues und der 
Heredität kommt bloss eine seeundäre Bedeutung zu. 
Nach einem kurzen historischen Rückblicke führt H. 
aus, dass unsere Mittelklasse eine derartige geistige 
Arbeit verrichtet, dass sie einen besonders günstigen 
Boden zur Verbreitung der Paralyse abgiebt. Das be¬ 
zieht sich hauptsächlich auf die geistigen Arbeiter der 

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Provinzial-Städte, auf Richter, Ingenieure, Advokaten, 
Aerzte, Kaufleute. Diese Annahme unterstützt dor 
Vortragende durch statistische Tabellen, welche von 
14 040 Kranken aufgenommen wurden. 

Discussio n: 

v. Sarbo hat eine Reihe von Bedenken gegen¬ 
über den Schlüssen, zu welchen der Vortragende ge¬ 
langte; es muss zugegeben werden, dass die Zahl der 
Paralytiker zunimmt, aber ob das auch wirklich in 
dem Maasse geschieht, wie der Vortragende annimmt? 
Es ist eine Thatsache, dass bei uns die Zahl der 
Paralytiker in den Instituten im Verhältnisse zu 
anderen Kranken eine grössere ist als im Auslande, 
doch hat der Vortragende w'ohl nicht daran gedacht, 
wie viel Percent aller Geisteskranken bei uns, wie viel im 
Auslande in Anstalten untergebracht sind ? Dass bei uns 
78 °/ 0 der Fälle dem Richterstande angehörten, be¬ 
weist nur so viel, dass der Staatsbeamte leicht Auf¬ 
nahme in die Anstalt findet; gerade der Richter ver¬ 
fügt über eine Ferialzeit, die der Vortragende fordert. 
Dass der Vortragende bei Paralytikern 29 °/ 0 Lues 
fand, bei nicht Paralytikern nur 4 u /o> spricht dafür, 
dass der Lues bei der Paralysis eine aetiologische 
Rolle zukommt. 

Der Vortragende zählt zu den Ursachen der 
Paralyse auch den Kampf um die Existenz, das „hoch 
hinauswollen“. Diese Gebrechen der modernen Ge¬ 
sellschaft können w'ohl Neurasthenie, Wahnideen, 
Melancholie erzeugen, aber doch keine organischen 
Veränderungen. Uebrigens beweist ja schon die 
häufige Complication der Paralysis mit der Tabes, dass 
es sich nicht nur um geistige Ueberanstrengung handelt; 
jenes Agens, welches anatomische Veränderungen 
hervorruft, ist auch als Ursache der Demenz anzu¬ 
sehen. Und wenn wir bei anderen Erkrankungen 
zugeben, dass es toxische Agentien giebt, welche 
seeundäre Degenerationen zu verursachen im Stande 
sind, warum sollen wir das gerade bei der Lues 
leugnen. Die luetischen Veränderungen innerer 
Organe können wir manchmal nicht einmal am Se- 
cirtische als solche erkennen wenn w’ir unsere klinischen 
Erfahrungen nicht zu Hilfe nehmen. 

Saig 6 weist ebenfalls darauf hin, dass die Lues 
Paralyse und Tabes zu erzeugen im Stande ist Doch 
hat die Paralyse auch andere Ursachen. Wenn der 
Richterstand ein so grosses Contingent von Paraly¬ 
tikern liefert, so ist das sicherlich nicht der gewöhn¬ 
lichen richterlichen Thätigkeit zuzuschreiben. Es 
müssen andere, mit der richterlichen Thätigkeit nicht 
zusammenhängende Arbeiten sein, welche eine solche 
Neigung zur Erschöpfung erzeugen. Gegenüber den 
Ausführungen Sarbo’s muss erwähnt werden, dass 
auch Erschöpfung im Stande ist, tiefere Veränderungen 
in der Materie zu erzeugen. 

v. Ol ah versuchteeinst die Paralyse aus socialen 
und politischen Verhältnissen — wie sie bei uns 
nach dem Jahre 1848 zu finden waren — zu er¬ 
klären. Er hat seine Ansicht seither geändert und 
sich davon überzeugt, dass diese Verhältnisse bloss 
zur Neurasthenie führen; er hat gesehen, wie die 
Paralyse gesunde, sorglos lebende Individuen befällt, 

Original from 

HARVARD UN1VERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1903] 


5°9 


während der Neurastheniker kaum je zum Paralytiker 
wird. Der Neurastheniker wird gesund, wenn er aus¬ 
ruht, der Paralytiker niemals. 1—2 Percent aller 
Luetischen wird paralytisch. Darum kann die Para¬ 
lyse dennoch nicht ausschliesslich auf Rechnung der 
Lues geschrieben werden. Es ist anzunehmen, dass 
der Lues eine aetiologische Rolle zukommt, ausserdem 
giebt es jedoch noch eine ganze Reihe aetiologischer 
Momente, die nicht im individuellen Leben, sondern 
weit entfernt von demselben zu suchen sind. 

H ollos: Der Zusammenhang zwischen Lues und 
Paralyse ist ein sehr heikler Punct. Die Paralysis 
geht ihren Weg, sie läuft ab, sie macht Remissionen, 
ohne dass wir wüssten, warum ? Die Fälle, in welchen 
wir in der Anamnese Lues finden, sind häufig, noch 
häufiger sind jene Fälle, in welchen wir von psychischen 
Einflüssen hören. Es ist möglich, dass Lues mit Pa¬ 
ralyse einhergeht, manchmal finden wir auch den 
Alcoholismus neben der Paralyse, darum zu behaupten, 
dass diese Erkrankungen die Paralyse verursachen, 
wäre eine so weitgehende Schlussfolgerung, zu welcher 
wir nicht berechtigt sind. In vielen Fällen lässt sich 
die Lues absolut nicht nach weisen — hier müssen 
wir also eine andere gänzlich unbekannte Ursache 
annehmen. 

14. Emst Frey: Histologische Präparate 
eines Falles von Idiotie. 

Was immer die Ursache des Idiotismus auch sein 
mag, derselbe stellt immer ein einheitliches klinisches 
Bild dar. Die anatomischen Veränderungen im Ge¬ 
hirne sind jedoch je nach der verschiedenen Aetio- 
logie verschieden. Am häufigsten beobachten wir 
den Idiotismus, welcher sich der cerebralen Kindes¬ 
lähmung zugesellt und bei welchem wir die ausge- 
breitetsten anatomischen Veränderungen beobachten. 
Der macroscopische Character dieser Veränderungen 
ist der, dass das Gehirn in seiner Entwickelung zurück¬ 
bleibt, kleiner und leichter wird als beim normalen 
Menschen. Auch die äusserliche Configuration ändert 
sich, die Windungen werden schmäler und flacher, 
die Furchen tiefer und breiter. Die feineren histo¬ 
logischen Veränderungen zeigt der Vortragende in 
einer Serie von frontalen und horizontalen Schnitten. 
Als Ergebniss seiner Untersuchungen fand der Vor¬ 
tragende, dass das anatomische Substrat der Idiotie 
darin besteht, dass im Rindengebiete der Flechsig’- 
schen Associationscentren, sowohl die supraradiären, 
als auch die tangentialen Fasern verkümmert oder 
überhaupt nicht zur Entwickelung gelangt sind. 

★ * 

* 

Nachdem die Tagesordnung des Congresses hier¬ 
mit erschöpft ist, werden die gestellten Anträge ver¬ 
lesen , darunter derjenige des Secretärs Ladislaus 
Epstein, welcher die Schaffung eines ständigen 
Ausschusses beantragte. Dieser Antrag w'ird dem 
Vorbereitungs-Comite zugewiesen, damit dieses bis 
zum nächsten Congresse die Statuten dieser Com¬ 
mission ausarbeite. 

Hierauf würdigte der Vorsitzende Gedeon Raisz 
in schwungvollen Worten die Erfolge der Berathungen 
und schloss den Congress. Epstein (Budapest). 

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— Königsberg. Die psychiatrische Abtheilung 
an der städtischen Krankenanstalt hat bis jetzt unserer 
Universität als psychiatrische Klinik gedient. Es kam 
dieser Benutzung der Umstand zu gute, dass der 
zeitige Director des Krankenhauses, Herr Professor 
Dr. Meschede, einen ausgezeichneten Ruf als 
Psychiater genoss und dass infolgedessen die Ab¬ 
theilung stets sehr stark belegt war, während die 
Stadt eine Verpflichtung zur Aufnahme von 
Geisteskranken, namentlich aber zu ihrer Behandlung, 
nicht hat. Da Herr Professor Dr. Meschede zum 
1. April aus seiner Directorstellung scheidet, hat sich 
im Aufträge des Unterrichtsministeriums der Herr 
Oberpräsident als Kurator der Universität an die 
Stadt mit der Anfrage gewandt, ob auch fernerhin 
die psychiatrische Abtheilung der Anstalt für Unter¬ 
richtszwecke zur Verfügung stehe und ob auch bei 
der Ausschreibung der neu kreierten Stelle eines 
leitenden Arztes der inneren Abtheilung eine psychi¬ 
atrische Vorbildung verlangt worden sei. Das letztere 
ist nicht der Fall, wohl aber hat die Stadt ihre Ge¬ 
neigtheit ausgesprochen, im Interesse der Universität 
und um der medicinischen Fakultät den psychiatrischen 
Lehrstuhl zu erhalten, auch künftig bis zum Neubau 
einer psychiatrischen Universitätsklinik die psychiatrische 
Abtheilung des Krankenhauses zu Lehrzwecken zur 
Verfügung zu stellen und dem jeweiligen Inhaber 
des Lehrstuhles die Leitung der psychiatrischen Ab¬ 
theilung zu übertragen. Auf dieser Grundlage sollen 
nun weitere Unterhandlungen geführt werden. 

(Hartungsche Ztg.) 

— Occultismus in Schlesien. In einer der letz¬ 
ten Sitzungen der breslauer Gesellschaft für psychische 
Forschung gab der Vorsitzende, Rechtsanwalt Dr. 
Bohn, ein Bild der occultistischen Bewegung in 
Schlesien. „Er begann, wie die Schles. Ztg. vom 8. Nov. 
in ausführlichem Bericht mittheilte, seine Darstellung 
mit dem Jahre 1853, in welchem der americanische 
Spiritismus in Deutschland eindrang, während die 
Zeit vorher ohne Einfluss auf unsere jetzigen Zu¬ 
stände geblieben ist. 

Im Jahre 1848 brach in Hydesville (America) die 
Epidemie des Tischrückens aus. Dieses bestand da¬ 
rin, dass sich mehrere Personen an ein Tischchen 
setzten, es durch Auflegen der Hände zum Rücken 
brachten und dadurch mit Geistern in Verbindung 
zu treten glaubten. 1853 fand der Cult des Tisch¬ 
rückens in Deutschland und insbesondere in 
Schlesien Eingang. Den Mittelpunct der Bewegung 
bildete Nees von Esenbeck, der in der Presse dafür 
eintrat; und der mystische Sport wurde in zahlreichen 
Familienzirkeln betrieben. Zur Bildung eines Vereins 
kam es indess noch nicht. Bald ebbte die Fluth ab, 
und nur im Geheimen blieben einige Cirkel bestehen. 
Mit einem derselben wurde 1863 ein Maurermeister 
Laugwitz in Breslau bekannt, der dann ein gutes 
„Schreibmedium“ in einem Maurer namens Wagner 
entdeckte. Laugwitz selbst war Anhänger der Rein- 
carnationslehre, und sein Medium brachte selbstver¬ 
ständlich Geisterkundgebungen in diesem Sinne zu¬ 
stande. 1865 bekehrte Laugwitz den Arzt Dr. 
Grossmann zum Spiritismus und zu seinen Ansichten. 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 



5 io PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46 . 


Grossmanns Sohn sowie ein Tischler August Kleiner, 
entwickelten sich zu vorzüglichen Schreibmedien. 
Dieser Kreis eultivirte indess nicht den americanischen 
Spiritismus, sondern eine in Frankreich entstandene 
und von dort aus in Deutschland verbreitete Variation 
desselben, den Kardecismus — so benannt nach 
einem französischen Gelehrten und Spiritisten Allan 
Kardec, der Anhänger der Reincarnationslehre war 
und behauptete, in einem früheren Leben Allan Kardec 
geheissen zu haben. Ein Anhänger Kardecs, Con- 
stantin Delhez, hatte in Wien einen spiritistischen 
Verein gegründet, trat auch mit Dr. Grossmann in 
Verbindung, und wohl unter Delhez’s Einfluss kam 
1869 dis Gründung des „Spiritistischen Vereins in 
Breslau“ zu stände. Der Verein hatte bald 20 Mit¬ 
glieder, darunter einen Somnambulen, zwei Sprech¬ 
raedien, vier Schreibmedien und zwei Medien für 
Psychographie. Aber schon nach wenigen Monaten 
widerfuhr ihm das Schicksal, dass ein Geistlicher, der 
den Sitzungen beigewohnt hatte, sich in einem Ar¬ 
tikel in der „Gartenlaube“ dahin aussprach, dass in 
diesem Vereine „tollster Aberglauben“ getrieben werde. 
Diese öffentliche Blamage wirkte natürlich vernichtend 
auf den Verein. Aber 1871 constituirte er sich aufs 
neue und man beschloss, nunmehr „wissenschaftlich“ 
vorzugehen. Die Geister trieben indess dort nach 
wie vor ihr Wesen, und 1877 führte die Lehre eines 
americanischen Spiritisten Namens Davis zu so tief¬ 
gehenden Differenzen unter den Mitgliedern, dass 
der Verein endgültig einging. 

Aus dem noch vorhandenen und im Besitze des 
Vortragenden befindlichen Vereinsarchiv lässt sich er¬ 
kennen, dass der Verein eigentlich eine religiöse Secte 
bildete. An der Spitze des „Bundes* 4 stand ein 
„Führer 14 , dem ein Comitee von sechs Mitgliedern 
zur Seite gestellt war. Die Mitglieder nannten sich 
„Brüder* und „Schwestern 44 . Der Zweck des Bundes 
war: „alle Thatsachen aus spiritistischen Erfahrungen 
zu studiren und auf das moralische Seelenleben in prac- 
tische Anwendung zu bringen“. Zu diesem Zweck 
nahm man in wöchentlichen, für die profane Mitwelt 
mit dem Schleier des tiefsten Geheimnisses umgebenen 
Sitzungen durch Medien Rathschläge der „Geistigen 
Brüder“ entgegen. Dabei ging es sehr feierlich zu. 
Der „Führer“ rief bei Beginn Gott den Vater um 
Segen und Erleuchtung an. Vor ihm stand ein drei¬ 
beiniger Tisch, auf dessen Platte ein Papierbogen mit 
12 Kupferstiften befestigt war. Auf diesem Bogen 
standen das Alphabet, die Ziffern, eine Paraphrase 
des Vaterunsers und die Worte: „Heilig ist Gott der 
Vater, Amen“. In der Mitte befanden sich ein elfen¬ 
beinernes Crucifix und ein sogenannter Storch¬ 
schnabel. Das Medium setzte sich an den Tisch, 
legte die Hand auf den Storchschnabel, fiel in 
Krämpfe, und der Storchschnabel fuhr nun von einem 
Buchstaben zum andern. Daraus setzte man Wörter 
und Sätze zusammen, die man für Geisteroffenbarungen 
hielt. Es handelte sich offenbar um hysterische oder 
suggestible Personen, bei denen im Traumzustande 
sich Persönlichkeitsspaltung und der psychische Auto¬ 
matismus in seinen verschiedenen Formen entwickelten. 
Ihre characteristische Färbung erhielten die Mani- 

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festationen durch die Suggestionen Grossmanns, der 
der einzige Academiker des Zirkels 'war. Aber er 
und seine Anhänger verstanden von Psychologie nichts, 
und daher wurde den psychopathischen Zuständen 
eine spiritistische Deutung gegeben. 

Etwa zur selben Zeit, als in Breslau die franzö¬ 
sische Richtung des Spiritismus Boden gewann, ent¬ 
stand im bunzlauer Kreise eine mystische Bewegung, 
die durch ein einfaches Bauernmädchen hervorgerufen 
wurde. Hermine Schul, die Tochter des Erb- und 
Gerichtsschulzen Schul in Neuhammer, Kreis Bunzlau, 
war im Jahre 1867 erkrankt, gleichzeitig starb ihr 
Bruder, und diese beiden Ereignisse lösten in ihr 
einen eigenartigen psychopathischen Zustand aus, der 
wahrscheinlich hysterischer Somnambulismus war. 
Traumerscheinungen religiösen Characters versetzten sie 
in Exstasen, in denen sie sich für eine „Weckstimme“ 
aus dem Geisterreich erklärte, ihre Visionen ver¬ 
kündete und unter Mahnungen zur Buse eine nahende 
Schreckenszeit prophezeite. Von den Landleuten 
machte sich ein Theil über sie lustig, ein grosser 
Theil aber glaubte an sie, zumal auch ein Geistlicher 
sie für eine Abgesandte Gottes erklärte. Sie zog von 
Dorf zu Dorf und redete nachweisbar in zwölf ver¬ 
schiedenen Ortschaften. Der Andrang zu ihren Pre¬ 
digten war ungeheuer. Von 1869 bis 1872 fehlen 
Nachrichten von ihr. 1872 heirathete sie einen 
Hutmacher Schnelle. Sie prophezeite nun, man müsse 
nach dem Kaukasus ausziehen, wenn man der 
Schreckenszeit entrinnen w r olle. Ihre Gläubigen folgten 
ihr, und die ganze Gesellschaft wanderte wirklich nach 
dem Kaukasus — in Noth und Elend hinein. Ein 
Theil staib; einige wenige, darunter die Prophetin 
selbst, kehrten nach Schlesien zurück. Sie soll jetzt 
noch in Breslau leben und in einem Anhängerkreise 
besonders am Charfreitage Sitzungen geben. 

Bestimmend für die weitere Gestaltung des Occul- 
tismus in Schlesien wurde dann die Lehre eines 
americanischen Schusters Jackson Davis, der von 
Geistern erleuchtet zu sein behauptete. 1847 gab er 
ein Buch „The principles of nature“ heraus, von 1850 
bis i8öo ein sechsbändiges Werk „The great har- 
monia“. In diesem gab er ein vollständiges philoso¬ 
phisches System, in dem sich die warmherzige Ver¬ 
kündung socialer Ideen mit krassem Unsinn mischte. 
In Deutschland nahm sich der alte Naturphilosoph 
Nees von Esenbeck des americanischen Autodidacten 
an und begann 1869 gemeinsam mit Dr. Wittig eine 
Uebersetzung der Davis’schen Werke, ohne jedoch 
breitere Massen dafür interessieren zu können. Erst 
1881 brachte ein americanischer Wundermann Namens 
Cyriax, die Sache auch hier in Fluss. Als Apotheker¬ 
lehrling war er einst von Nordhausen ausgewandert; 
als Professor, Dr. med., Medium und Tranceredner 
kam er zurück. In America hatte er Davis und — 
den americanischen Humbug kennen gelernt, und 
beides verwerthete er hier mit ausbündiger Charlata- 
nerie. Er gründete sich ein Organ, „Neue spiritu- 
alistische Blätter“, das dreisten Schwindel und Blöd¬ 
sinn mit frömmelnder Tunke übergossen darbot, fand 
in gewissen Volkskreisen zahlreiche Anhänger, und 
die neue geistige Epidemie griff besonders in Sachsen 

Original fmm 

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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 511 


— dem Centruin der Bewegung — so um sich, dass 
die Obrigkeit einsehreiten musste. 

In Schlesien gab die neue Lehre den Anstoss zu 
einer umfangreichen Sectenbildung unter der Weber¬ 
und Bergmannsbevölkerung. Die Entwickelung dieser 
Sectenbildung ist allerdings schwer zu verfolgen, weil 
es an Quellen mangelt und natürlich alles geheim 
gehalten wird. Zunächst entstand in* Kunzendorf, 
Kreis Neurode, ein „Verein für harmonische Philo¬ 
sophie.*' Das Centrum dieser Bewegung aber liegt 
im waldenburger Gebirge. 1884 wurde dort in Seiten¬ 
dorf eine „Spiritualistische Vereinigung Himmelsbot¬ 
schaft“ gegründet, die erst im October 1895 an die 
Oeffentlichkeit trat. Der Verein begab sich dann 
unter die Aegidc des berliner spiritistischen Vereins 
„Psyche** und liess sich 1896 von Berlin einen spiri¬ 
tistischen Redner Karl Wald kommen, dessen Vorträge 
dem Verein so gewaltigen Zuwachs brachten, dass er 
in Altwasser, Waldenburg und Dittersbach Zweigvereine 
gründete, So wurde denn am 6. December 1896 
in Altwasser der „Spiritistische Verein Nächstenliebe“ 
gegründet, der in demselben Monat in Dittersbach 
gegründete Verein nannte sich „Spiritualistischer Ver¬ 
ein Treue Freundschaft“. 1897 entstand der „Verein 
für harmonische Philosophie“ zu Muskau-Weiss wasser, 
der es auf über 100 Mitglieder brachte. Im Laufe 
der letzten Jahre wurde schliesslich noch der Verein 
„Himmelsbotschaft“ in Niderhennsdorf, Kreis Wal¬ 
denburg, ins Leben gerufen. Auch Jägerndorf O.-S. 
besitzt seit 1897 eine „Harmonische Gesellschaft“. 

Es ist ein psychologisches und ein sociales Problem, 
das diese Vereine darbieten. Sie lassen sich im 
wesentlichen als Seelen characterisnen, deren Dogma 
der Glaube an G<»tt und einen Verkehr mit den Geistern 
ist, und die aus diesem Glauben die Forderung eines 
sittlichen und religiösen Lebenswandels herleiten. So 
bezeichnet das seitendmfer Statut es als Vereinszweck, 
„den wahren Glauben an ein Weiterleben nach dem 
Tode zu fördern und die gegenwärtige Schwester- und 
Bruderliebe zu pflegen**. Der Verein in Altwasser be¬ 
zweckt ausserdem, „die Erforschung der spiritistischen 
und verwandten Erscheinungen“ zu fördern. Sehr 
bezeichnend fürden Ursprung der Bewegung lautet § 1 des 
Statutes des Vereins Muskau-Weisswasser: „Der Verein 
bezweckt die Fortbildung und allseitige Veredelung, so¬ 
wie die Hebung und Verbreitung nützlicher Kennt¬ 
nisse zur Entfaltung wahrer Selbsterkenntnis nach 
den Grundpiincipien unumstösslicher Naturgesetze im 
Sinne der literarischen Schöpfungen der „Grossen 
Harmonie“ und der ihnen verwandten Zweige des 
reinen Spiritismus und Spiritualismus im allgemeinen 
anzubahnen und zu fördern“. Der jägerndorfer Verein 
hat auch die Förderung einer „naturgemässen Lebens- 
und Heilweise** in sein Programm aufgenommen. 

Die Mitglieder dieser Vereine gehören meistens 
den ärmeren Kreisen an. Man versammelt sich 
wöchentlich und begrüsst sich mit „Gelobt sei Jesus 
Christus“ oder „Gott grüsse dich Bruder (oder 
Schwester)“ oder „Gott zum Gruss“. Dann eröffnet 
der Vorsitzende die Sitzung „durch Gesang und Ge¬ 
bet, in frömmster Harmonie nach besten Kräften“. 

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Unterdessen verfällt eine und die andere Person in 
einen krampfartigen (Trance-)Zustand, wird scheinbar 
leblos, und angebliche Geister beginnen durch sie mit 
fremder Sprache zu predigen und Offenbarungen zu 
geben. Mit Gesang und Gebet schliesst man die 
Sitzung. 

Das Ganze wirkt auf den Neuling ungemein ver¬ 
blüffend. Die Medien reden in einer von ihrer gewöhn¬ 
lichen Ausdrucksweise ganz verschiedenen Sprache, und 
auch der Inhalt ihrer Reden scheint über die Fähigkeiten 
gewöhnlicher Leute hinauszugehen. Auf Grund seiner 
mit drei waldenburger Medien angestellten eingehenden 
Untersuchungen erläuterte der Vortragende den psy¬ 
chischen Zustand der Medien dahin, dass es sugge- 
stibel veranlagte Personen und meistens auch ausge¬ 
sprochene Hysteiiker sind. Durch Lectüre oder den 
Einfluss der Umgebung wird leicht in ihnen der 
Glaube erzeugt, dass sie zu Medien berufen seien, 
besonders wenn sie von Hause aus hallucinatorisch 
veranlagt sind. Sie beginnen dann „hellsehend“ zu 
werden, und allmählich stellt sich der sogenannte 
Trancezustand ein, der ein Mittelding zwischen hyp¬ 
notischem und hysterischem Anfall zu sein scheint. 
In diesem Zustande bilden die Medien sich ein, von 
Geistern besessen zu sein, und personificiren dieselben. 
Wie der unwissende Wilde glaubt, im Traume mit 
Geistern zu verkehren, so hält der kritiklose Spiritist 
seine im Dämmerzustände des Traumes gehaltenen 
Reden für Geisteroffenbarungen. Diese Medien sind 
also unglückliche Kranke, welche die Unwissenheit zu 
Propheten gestempelt hat. 

So bedauernswerth solche Zustände sind, so lässt 
sich doch diesen Secten eine segensreiche sociale Wirk¬ 
samkeit nicht absprechen. Sie haben sich in Gegenden 
entwickelt, in denen ein zahlreiches Proletariat zum 
Theil unter sehr ungünstigen Existenzbedingungen 
lebt, wo der Alcoholismus und starke Criminalität 
herrschen, und dort wirken sie als Vereinigungen, 
deren Statuten den Mitgliedern einen sittlichen und 
religiösen Lebenswandel, Einfachheit, Zufriedenheit 
und Gemeinsam zur Pflicht machen.“ 


Referate. 

— Bloch: Beiträge zur Aetiologie der 
Psychopathia sexualis. II. Band. Dresden, 
Dobru, 1903. 400 Seiten, 10 M. 

In glänzender Diction, bei ungeheurer Belesenheit, 
schildert Verf. in diesem 2. Bande des Näheren zu¬ 
nächst den Sadismus und Masochismus, weist deren 
Wurzeln im Verhältniss von Mann zu Weib auf, zählt 
die verschiedenen Aetiologien und Arten her und 
weist vor allem auf ihr ubiquitäres Vorkommen hin. 
Ein interessantes Kapitel wird speciell dem Flagellan¬ 
tismus gewidmet. Die 2. Hälfte des Werkes bespricht 
die „komplicirten Perversitäten und Perversionen“. 
Hier werden in ähnlicher Weise wie oben, unter 
Anderem die „voyeurs“, die Mixoskopie, die Aphra- 
dosiaca, der Cunuilingus, fellatio, der Fetischismus, 
die Scatologie, der Incest, der Lustmord, die Nekro¬ 
philie, die Statuenliebe etc. abgehandelt. Zuletzt giebt 
Verf. noch ein Resume des Ganzen. Nach ihm darf 

Original fram 

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512 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46. 


die Degeneration nicht „als heuristisches Princip in 
der Erforschung, Erkenntniss und Beurtheilung der 
geschlechtlichen Verirrungen und Perversionen verwen¬ 
det werden“. Als letzte Ursache derselben sieht er 
vielmehr „das dem genus homo eigenthümliche ge¬ 
schlechtliche Bedürfniss, welches als eine physiologische 
Erscheinung aufzufassen ist und dessen Steigerung zum 
geschlechtlichen Reizhunger die schwersten sexuellen 
Perversionen erzeugen kann“. So erklärt sich die 
Prostitution, als „Erfolg der ursprünglich aus letzterem 
(das Variationsbedürfniss) hervorgegangenen Promi¬ 
skuität“. Die 2. wichtige Thatsache für Verf. ist die 
leichte Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes durch 
äussere Einflüsse. Alle Perversionen etc. sind häufig 
erworben oder künstlich gezüchtet. Die häufige 
Wiederholung derselben geschlechtlichen Verirrung 
ist ferner sehr wichtig, wie auch Suggestion und Nach¬ 
ahmung; ebenso der Unterschied zwischen Mann 
und Frau bez. der Geschlechtsempfindung. Die 
sexuellen Anomalien sind also nicht klinisch-patho¬ 
logisch zu betrachten, da sie sammt und sonders sehr 
häufig bei Gesunden Vorkommen. Verf. verlangt 
weiter die Einführung der „verminderten“ Zurechnungs¬ 
fähigkeit bei sexuellen Vergehen. Er meint, dass es 
sich stets (? Ref.) feststellen lässt, ob ein Delikt allein 
durch starken geschlechtlichen Affekt erzeugt ist, oder 
durch andere Motive. Die Hauptprophylaxe gegen 
die geschlechtlichen Verirrungen sieht Verf. endlich 
in möglichster Abhaltung der äusseren Reize. — 

Soweit der anregende Verf. Genau so, wie im 
1. Band, Hessen sich auch hier aber viele Einwen¬ 
dungen gegen Einzelnes erheben. Bloch ist mit sei¬ 
nen Beweisen nur zu leicht zufrieden, vor allem scheint 
ihm aber besonders bez. der Homosexualität, eine 
eigene grosse Erfahrung abzugehen. Hier will ich 
nur einige principiell wichtige Punkte andeuten. 
Bloch verwechselt immer Perversion mit Perversität. 
Ersteres Wort sollte am besten nur für angeborene, 
letzteres nur für erworbene Zustände gebraucht werden. 
Wohl die meisten erfahrenen Autoren stimmen jetzt 
darin überein, dass die wahre Homosexualität, der 
Sadismus, Masochismus, Fetischismus etc. angeboren 
sind, auch die sog. tardiven Fälle. Selbst wenn man 
der psychologischen Theorie anhängt, kommt man 
ohne ein angeborenes Moment nicht weg; das also 
ist stets die Hauptsache! Allen diesen angeborenen 
Anomalien gegenüber — die Homosexualiät möchte 
Ref. sogar als natürliche Varietät und Geschlechtstrieb 
hinstellen — sind nun dieselben äusseren Hand¬ 
lungen auch erworben, oder durch Gewohnheit, Nach¬ 
ahmung geradezu ethnologisch, wie besonders Bloch 
aufzeigt. Hier aber ist die Psyche eine total 
andere! Der echte Homosexuelle bleibt stets so, 
ab ovo, und wechselt nicht mit heterosex. Sadismus 
etc. Der „angeborene“ Sadist, Masochist empfindet 
nur geschlechtliche Befriedigung in den betreffenden 
Handlungen, ohne zum Actus zu schreiten, also 
nicht als Reizantrieb! Wie ganz anders dagegen 
der erworbene Sadist etc. Ganz dasselbe gilt vom Feti¬ 


schismus etc. Bloch dagegen leugnet ganz oder meist 
das Angeborensein dieserGeschlechstriebsbethätigungen. 

Medicinalrath Dr. P. Näck e - Hubertusburg. 

— Psychiatrische en neurologische Bla¬ 
den. 1901. No. 6. 

Kolk, Pathologisch-anatomisch onderzoek van 
den Thalamus opticus in verband met haardverschi- 
juselen in cerebro, eene bijdrage tot de Studie der 
secundaire veranderingen. 

Verfasser studierte die secundären Veränderungen 
von einem Fall von Apoplexie. Es bestand eine 
primäre Läsion fast des ganzen Ammonshorns, des 
Subiculum cornu ammonis, des Lobus lingualis und 
fusiformis. Dabei war zerstört das Tuberculum ante- 
rius und der vorderste Theil des medialen Kerns des 
Thalamus. Da andere Läsionen, die diese Atrophie 
hätten zustande bringen können, fehlten, so darf man 
schliessen, dass diese Ganglien des Thalamus mit 
jenen Theilen in Verbindung stehen. 

Mit Sicherheit ist nicht zu entscheiden, inwiefern 
das Tuberculum anterius von einem jener Theile ab¬ 
hängt. Am wahrscheinlichsten ist, dass es mit dem 
Ammonshom in Beziehung steht, da das Tub. ant. zu 
den Riechcentren gehört, gerade wie das Ammons¬ 
horn. Vermutlich stehen die medialen Kerne mit 
dem Lobus fusiformis und lingualis und der Nucleus 
anterior mit dem Ammonshorn im Zusammenhang. 

Wie ist nun die Verbindung zwischen Tub. ant. 
und Ammonshom? Der Fall löst diese Frage nicht 
vollständig. Es war das breite Stratum zonale, das 
vom Nucleus ant. nach der innem Kapsel läuft, atro- 
phirt. Vielleicht ist das die Verbindung. Diese 
Bahn liess sich nicht weiter durch die innere Kapsel 
verfolgen. 

Rütte, Onderzoek, van J. B., van beroep veed- 
rijver, beschuldigt van het feit strafbaar volgens Art. 
247 W. v. S. 

Der 1867 geborene Viehtreiber B. hatte kleinen 
Mädchen unter die Röcke gegriffen und die Ge- 
schlechtstheile betastet. Nach dem Gutachten des 
Vf. handelte es sich um einen Imbecillen. Frei¬ 
sprechung und Einweisung in die Irrenanstalt. 

Schermers, Eenige anthropologische maten by 
krankzinnigen en niet krankzinnigen onderling ver- 
geleken. 

Verfasser hat nach der Methode von Manouvrier 
von 200 Geisteskranken und 100 Normalen die 
Schädelmaske genommen. Die Geisteskranken gehörten 
den verschiedensten Kategorien an, 20 Epileptiker 
und 30 Idioten w'aren darunter. In zahllosen, Unge¬ 
heuern Zahlenreihen und in den verwickelsten Kurven 
hat Verfasser seine Resultate niedergelegt Sie lassen 
sich nicht in einem Referat zusamraenfassen. 

Meij ers, Ferri’s cursus over Crimineele Sociologie. 

Eine Inhaltsangabe von Ferri’s Vorträgen. Ferri 
behandelt die Physiologie und Psychologie des Ver¬ 
brechers , bespricht den Einfluss des Milieus, die An¬ 
schauungen über Bestrafung und Erziehung und der¬ 
gleichen. Ganter. 


Für den redactioncllen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Jj. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice i Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesiern. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.- Adresse : Marbold Verlag. Hallesaale Fernsprecher 2}|. 

Nr. 47 . 21. Februar. 1903 . 

Die Psiatrisch- Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Ouartai 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Xr. 6 >05), sowie die. Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ^sp.iltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), ru richten. 

Inhalt. Originale: Volksheikstättcn für Nervenkranke. Von Dr. Max Neumann, Nervenarzt in Karlsruhe (Baden) (S. 513). 
— Mittheilungen (S. 521). — Bibliographie (S. 523). 


Volksheilstätten für Nervenkranke. 

Referat, erstattet auf der 33. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte zu Stuttgart, am 1. November 1902. 

Von Dr. Max Neumann, Nervenarzt in Karlsruhe (Baden). 


Meine Herren ! 

^rotzdem ich zu der Minorität gehörte, die auf der 
letztjährigen Versammlung gegen die Wahl un¬ 
seres heutigen Discussionsthemas gestimmt hat, fühle 
ich mich doch gewissermassen dafür verantwortlich, 
weil ich durch meinen damaligen Vortrag*) den An- 
stnss dazu gegeben habe. Dieses Verantwortungsge¬ 
fühl entstammt der Befürchtung, dass wir die schwierige 
Frage einem practischen Ende nicht näher bringen 
werden durch eine Wiederholung dessen, was vor 
3 Jahren schon unsere Sohwcstcrvcrsainmlung in der 
Rheinprovinz und im letzten Jahre unsere südwest¬ 
deutsche Versammlung selbst in langer Discussion 


*) Neumann, ,,Volksheilstätten fiir Nervenkranke 4 
Aerztliche Mitthedgggen aus unc| für Baden, December 1901 


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und I 

S 1 ' 


berathen hat. Hoffen wir, dass meine Befürchtung 
sich als unbegründet erweisen möge! 

Mit der historischen Entwicklung der Heilstätten¬ 
frage will ich Sie nicht noch einmal behelligen. Sie 
dürfte Ihnen nachgerade genugsam bekannt sein. 

Zur Bedii r f nissf r age hat sich diese Ver¬ 
sammlung bereits in der letztjährigen Disc ussion inso¬ 
fern bejahend geäussert, als kein einziger Redner das 
Beciürfniss nach Volksnervenhcilstälten bestritt! Den 
zah Ic n mässigen Nachweis zu erbringen, dass für 
eine bestimmte Art von Nervenkranken eine besondere 
Fürsorge in Gestalt von Specialhcilstälten nothwendig 
ist, fällt nicht leicht. Das statistische Material, das 
wir darüber besitzen, ist noch zu spärlich und vor 
allem sind die Gesichtspunkte, von denen die ein¬ 
zelnen Statistiken ausgehen, zu verschieden. 

Original from 

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514 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47 . 


Ich will, um Zeit zu sparen, das in der Litteratur 
niedergelegte Zahlenmaterial hier nicht im Einzelnen 
wiedeigeben. Auf Wunsch bin ich bereit, dies im 
Verlauf der Discussion zu thun. Ich selbst habe 
versucht, aus den Berichten der L a n d c s Versicher¬ 
ungsanstalten Anhaltspunkte für die Zahl der 
minderbemittelten Nervenkranken im Reiche zu ge¬ 
winnen. Die Ausbeute war zwar keine grosse, da 
viele Jahresberichte eine Aufstellung über die einzelnen 
Krankheitsformen überhaupt nicht enthalten und eine 
gesonderte Aufführung der an functioneilen Nerven¬ 
krankheiten Leidenden in keinem der Berichte zu 
finden war. Eine interessante Thatsachc lehrte mich 
aber das Studium der Jahresberichte kennen: Dass 
nämlich die Zahl der Rentenempfänger unter den 
Nervenkranken unverhältnissmässig viel grösser zu sein 
pflegt als die Zahl der Fälle, in denen ein Heilver¬ 
fahren eingeleitet wurde. Für die Landesversicher¬ 
ungsanstalt Baden gestaltet sich das Verhältnis 
zwischen Heilverfahren und Invalidisierung in toto 
wie 2:3, für die Nervenkranken *) wie 2 : 7. Hingegen 
für die Lungentuberculose wie 2:1! Und weiterhin: 
Während bei den Heilverfahren erst auf 10 Tuber- 
culöse I Nervenkranker kommt, entfällt bei den 
Rentenempfängern bereits auf jeden 2. Tuberculösen 
ein Nervenkranker! Das spricht erstlich für die grosse 
absolute Zahl der Nervenkranken, zweitens aber ist 
es geradezu verblüffend, daraus zu ersehen, wie leicht 
die Landesversicherungsanstalt sich bei Nervenkrank¬ 
heiten zur Renten bewi lligung enlschliesst und 
wie selten zur Einleitung eines Heilverfahrens! Ich 
kann mir dieses gewiss befremdliche Missverhältnis 
nur erklären durch den Mangel an geeigneten Heil¬ 
stätten für Nervenkranke. Einen Beleg für die Rich¬ 
tigkeit dieser Ansicht sehe ich in den Verhältnissen 
der Landesversicherungsanstalt Berlin. Dort kamen 
im letzten Jahre die Heilverfahrenfälle den Renten¬ 
fällen nicht nur gleich, sondern waren sogar in der 
LTcberzahl. Dass diese Erscheinung zum guten Theil 
auf die Existenz der Ncrvenheilstätte „Haus 
Schönow“ zurückzuführen ist, geht deutlich hervor aus 
zwei Thatsachen: Einmal hat von den im letzten 
Jahre in „Schönow“ verpflegten Nervenkranken die 
Stadt Berlin genau die Hälfte gestellt. Und zweitens 
sind — eine Thatsache, die meines Erachtens am 
meisten Beweiskraft hat, — bei der Landes Ver¬ 
sicherungsanstalt Berlin die Heilverfahrenfälle wegen 
Nervenkrankheiten in den letzten 4 Jahren um das 

*) Unter Einschluss jemals der Hälfte der Anämisch-Chlo- 
rotischen und der an „Muskelrheumatismus“ Leidenden, da 
man mindestens 50 °/ 0 dieser beiden Krankenyattungcn zu den 
„Nervösen“ rechnen kann. 

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4 fache und darüber gestiegen. Sie beliefen sich im Jahre 
1897 auf 53, im Jahre 1901 auf 235! Die Gründung 
des Hauses Schönow fällt in das Jahr 1899. — 

Die Stellungnahme der Krankenkassen, Berufsge¬ 
nossenschaften und Landesversicherungsanstalten ist 
für die Beantwortung der Bedürfnissfrage von grosser 
Bedeutung. Denn diese Institute treten, nächst den 
Aerzten, am frühesten und am häufigsten in Be¬ 
ziehung zu den Kranken, für welche die supponirten 
Anstalten mit in erster Linie bestimmt sein sollen. 
Am meisten interessieren uns hiervon wiederum die 
Landesversicherungsanstalten, da sie Instanz für die 
Heilverfahren sind. 

Zwecks genauer Orientierung habe ich an sämmt- 
liche Versicherungsanstalten des Reichs einen Frage- 
b< >gen geschickt nach dem Muster des hier herumge¬ 
reichten. Die Antworten sind nach verschiedener 
Richtung hin interessant. (Ich sehe dabei ab von 
dem Curiosum, das die Landesversicherungsanstalt 
Oberbayern dadurch lieferte, dass sie als Zahl der 
Heilvcrfahrenfälle 176 angab mit dem Bemerken, dass 
darin auch die Fälle von Gelenkrheumatismus inbe¬ 
griffen seien !) Zuvörderst muss bei Vergleichung der 
Fragebogen auffallen, dass die Antworten auf die 
Frage nach der Zahl der Heilverfahren wegen Krank¬ 
heiten des Nervensystems im Jahre 1901 bei den 
einzelnen Anstalten so ungemein differieren. Diese 
Zahl bewegt sich nämlich zwischen o und 235 Fällen. 
Dabei kann man 2 Hauptgruppen gegeneinander ab¬ 
sondern, eine kleinere mit sehr vielen und eine bei 
weitem grössere mit auffallend wenigen Heil verfahr en- 
fällcn. 4 Anstalten gaben mehr als 100 Fälle an, 
15 erreichten nicht einmal die Zahl von 20 Fällen. 
Diese auffallende Differenz kommt zweifellos nicht 
allein von der verschiedengrossen Zahl der Ver¬ 
sieh erungspflichtigen bei den einzelnen Anstalten. 
Sonst könnte nicht die Landesversicherungsanstalt 
Baden über 100 Fälle aufweisen, während die — 
sicher grössere — von Elsass-Lothringen mit ganzen 
18 Fällen figuriert. Der Grund liegt vielmehr in der 
verschieden weiten Fassung des Begriffs „Krankheiten 
des Nervensystems.“ Wenn man darunter nur die 
Erkrankungen „einzelner Nerven und Nervenbezirke“ 
versteht, wie dies bei vielen Anstalten der Fall ist, 
dann ist es nur natürlich, wenn hohe Zahlen nicht 
erreicht werden. Wie zu erwarten, gehören zu den 
Anstalten, welche die Bedürfnissfrage bejahen, vor 
allein die mit hoher Fällczahl. Im ganzen kann 
man sagen, dass diejenigen Anstalten, aus deren Ant¬ 
worten ein richtiges Verständniss für die nervösen 
Erschöpfungskrankheiten spricht, der Errichtung von 
Nervenheilstätten im Princip auch wohlwollend oder 

Original fram 

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1903] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


515 


entschieden befürwortend gegenüberstehen. Es sind 
dies die Anstalten von Thüringen, Hannover, Rhein¬ 
provinz, Baden, Kgr. Sachsen und Schwaben. Diese 
Anstalten, mit Ausnahme der Badischen, sagen auch 
eventuelle pecuniäre Unterstützung zu. Die Anstalt 
Berlin äussert sich reserviert, hat aber vor einigen 
Jahren bereits die Zehlendorfer Heilstätte hypo¬ 
thekarisch reichlich belieben. 

Herr Sanitätsrath Wildermuth hat schon des 
Näheren ausgeführt, für welche Art von Kranken die 
Heilstätten gedacht sind. Ich kann mich ihm daran 
nur vollständig anschliessen. Als leitender Gesichts¬ 
punkt muss m. E. stets gelten, dass die Nervenheil - 
Stätten Heilstätten für nervös Erschöpfte sein 
sollen. So einfach und so trivial das vielleicht klingt, 
so ist es doch von der grössten Wichtigkeit, sich diesen 
Satz allezeit gegenwärtig zu halten. Denn dadurch 
allein lassen sich die endlosen und schliesslich doch 
unfruchtbaren Erörterungen über die inbetracht¬ 
kommenden Krankheitsformen vermeiden. Und weiter¬ 
hin entscheidet dieser Satz auch die Frage nach dem 
Character der zu errichtenden Anstalten, sowohl hin¬ 
sichtlich der Geschlechter wie auch des therapeutischen 
Betriebs. 

Unter „nervös Erschöpften“ verstehe ich alle die¬ 
jenigen, welche durch erschöpfende Thätigkeit, er¬ 
schöpfende Krankheit oder erschöpfende Erlebnisse 
an der Widerstandsfähigkeit ihres Nervensystems ge¬ 
schädigt worden sind. Ich rechne hierzu sämmtliche 
Formen erworbener Neurasthenie, gleichviel, ob es 
sich um vorher intacte oder von Hause aus schon 
minderwerthige Individuen handelt. Vor allem schliesse 
ich aber auch diejenigen Personen ein, bei denen sich 
als die Folge oder Begleiterscheinung passagerer 
körpe rlicher Schwächezustände Störungen functioneil 
nervöser Natur entwickelt haben, in erster Linie die 
nervös geschwächten Reconvalescenten und das Heer 
der Anaemisch-Chlorotischen. Diese werden sogar 
ein sehr bedeutendes Contingent zur Füllung der 
Heilstätten stellen. Ich kann Pohl darin nur bei¬ 
pflichten, wenn er die Chlorose mit leichten nervösen 
Symptomen den „Spitzenkatarrh“ Nervenkranker nennt. 
Und leichte nervöse Symptome haben wohl alle 
Chlorotischen. — Wenn ich vorhin zu den nervös 
Erschöpften auch die psychopathisch Minderwerthigen 
mit erworbener Neurasthenie rechnete, so that ich 
das im Gegensatz zu den rein constitutionell Ner¬ 
vösen. Diese halte ich bei der schlechten Prognose, 
die ihr Zustand giebt, entschieden für nicht geeignet, 
in den supponierten Anstalten behandelt zu werden. 

Hinsichtlich der Psychosen und der orga¬ 
nischen Nervenkrankheiten habe ich dem von 
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Herrn Sanitätsrath Wildermuth Gesagten nichts 
hinzuzufügen. Ich kann auch darin nur wieder auf 
meine letztjährigen Ausführungen *) zurückkommen: 
Geisteskranke und schwere Epileptiker sind auszu- 
schliessen, desgleichen solche an organischen Ner¬ 
venkrankheiten Leidende, die völlig und dauernd 
fremder Hilfe und Wartung bedürfen. Bezüglich 
leichter Fälle von Epilepsie und der leichteren De¬ 
pressionszustände ist es wohl am ratsamsten, dem je¬ 
weiligen Ermessen des dirigirenden Arztes einigen 
Spielraum zu lassen. 

Eine leidige, immer wieder zu Controversen An¬ 
lass gebende Frage ist die nach der Stellung den 
Alcoholisten gegenüber. Ich bekenne, dass ich 
die Smith’sehe Auffassung von der alcoholo- 
genen Natur der meisten functionellen Neurosen 
nicht theilen kann. Diese würde uns hier auch 
practisch wenig fördern. Unter Bciseitelassung aller 
pathogenetischer Theorien haben wir hier die Frage 
zu entscheiden, ob sich zur Aufnahme in die suppo¬ 
nierten Nervenheilanstalten auch chronisch Alcohol- 
tüchtige, vulgo Säufer eignen, mit anderen Worten, 
ob die Nervenheilstätten gleichzeitig auch Trinker- 
asyle sein sollen. 

Meiner Ansicht nach sollen die Fragen: Volks- 
nervenheilstätten und Trinkerheilstätten vollständig ge¬ 
trennt von einander behandelt werden und zwar 
aus verschiedenen Gründen. Trinkerasyle sind eine 
unumgängliche Nothwendigkeit, die Menge der An- 
stalts-, aber nicht Irrenanstaltsbedürftigen Trinker ist 
so gross, dass eine besondere Fürsorge für dieselben 
von ärztlich-humanem und von social-hygienischem 
Standpunkte aus absolut erforderlich ist. Würden 
nun die Volksnervenheilstätten ausdrücklich gleich¬ 
zeitig auch Trinkerasyle werden, so w'ürden sie, zu¬ 
mal in Ländern ohne, oder mit unzulänglicher 
Trinkerfürsorge, unter ihren Pfleglingen bald ein ganz 
beträchtliches Contingent reiner Potatoren aufw'eisen. 
Das würde bald gesonderte Abtheilungen für die 
Trinker nothwendig machen, da habituell Alcohol- 
süchtige, auch wenn sie nicht ausgesprochen geistes¬ 
krank sind, nun doch einmal einer strammeren Haus¬ 
ordnung etc. bedürfen, als einfach nervös Erschöpfte. 
Von rein öconomischen Gesichtspunkten aus böte die 
Combination von Trinker- und Nervenheilstätten 
vielleicht gewisse Vortheile. Aber es würde sich dann 
dieselbe Schwierigkeit wiederholen, die sich bereits 
bei der Erwägung, die Nervenheilstätten an die 
Irrenanstalten anzugliedern, herausgestellt hat: Die 
Anstalten würden beim Publicum sehr bald als An¬ 
stalten für Säufer gelten und als solche verrufen 
*) 1. c. 

Original from 

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5« 

werden. Ausserdem habe ich aus rein ärztlichen 
Rücksichten meine Bedenkengegen eine Verschmelzung 
zweier in ihrer therapeutischen Tendenz doch natur- 
gemäss so verschiedenen Heilinstitute. Kein Theil 
würde vom anderen etwas profitieren können. Be¬ 
sonders ^erwarte ich mir von einem etwaigen günstigen 
moralischen Einfluss der nicht alcoholistischen 
Nervösen auf die Trinker, den man vielleicht zu 
Gunsten kombinierter Anstalten ins Feld führen 
könnte, gar nichts. Im Gegcntheil. Die Nervösen 
würden die Trinker in der Regel einfach als Menschen 
zweiter Klasse betrachten und danach behandeln. 

Aus all diesen Gründen bin ich, wie gesagt, für 
eine Trennung der Nerven- und Trinkerheilstätten¬ 
frage. Ganz etwas anderes ist die Erwägung, ob man 
die zu errichtenden Nervenheilstätten nicht von vorn¬ 
herein grundsätzlich alcoholfrci halten soll. Dafür 
trete ich entschieden ein, obgleich ich mir bewusst 
bin, dass — besonders in den weintrinkenden Gegen¬ 
den Süddeutschlands — das Abstinenzprincip bei dem 
die Anstalten frequentierenden Publicum keineswegs 
Gegenliebe finden wird. 

Nicht ganz leicht ist es, sich zu einem Stand¬ 
punkte den U n f a 11 s n c r v e n k r a n k e n gegenüber zu 
entscheiden. Da werden bis zu einem gewissen 
Grade pecuniäre Rücksichten mitzusprechen haben. 
Will man die Unfallskranken ausschliessen, so muss 
man von vornherein auf eine Subventionirung von 
Seiten der Berufsgenossenschaften verzichten. Dies 
wird man freilich umso eher thun können, als eine 
nennenswerthe Unterstützung von dieser Seite nur 
dann zu erwarten wäre, wenn die Heilanstalten als 
eine ihrer Hau p t aufgaben die Behandlung von Unfalls¬ 
nervenkranken betrachten würden. Dies ist aber 
ihrer ganzen Tendenz nach ausgeschlossen. Der 
kleinste Theil der Unfallsneurosen gehört zu den 
nervösen Erschöpfungszuständen. Meist handelt es 
sich um krankhafte Suggestionen, wobei der bewusste 
oder unbewusste Wunsch nach Rente oft eine nicht 
geringe Rolle spielt. Hier müssen ganz andere Be- 
handlungsprincipien Platz greifen als bei den er¬ 
schöpften Nervösen. Wenn hier überhaupt Anstalts¬ 
behandlung indiciert erscheint, — mit der meiner 
Ueberzeugung nach bei Unfallskranken gar viel¬ 
fach gesündigt wird, — so kann hier nur das 
„Arbeitssanatorium“ in Betracht kommen, das ich im 
übrigen als Panacee für Nervenkrankheiten über¬ 
haupt keineswegs anerkennen kann. Entschieden am 
rationellsten sind specielle Sanatorien für Unfall¬ 
nervenkranke in der Art, wie die von den sächsischen 
Berufsgenossenschaften gegründete „Unfallnervenklinik 
Lössnitz“. Dieses Institut scheint sich bis jetzt gut 
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[Nr. 47 . 

zu bewähren. — Alles in allem glaube ich, dass man 
Unfallskranke nicht grundsätzlich und rigoros von der 
Aufnahme ausschliessen soll, dass aber von dieser 
Kategorie von Kranken nur frische Fälle, bei denen 
es sich um wirklich Ruhe- und Erholungsbedürftige 
handelt, zuzulassen sind und dass vor allem solche 
Kranke lediglich zur Behandlung und niemals zur 
blossen Beobachtung zwecks Erstattung eines Gut¬ 
achtens aufgenommen werden dürfen. — 

Es ist oft darüber discutiert worden, ob Anstalten 
in gleichem Maasse für beide Geschlechter erforderlich 
sind, und ob — zutreffendenfalls — gemischten oder 
geschlechtlich getrennten Anstalten der Vorzug zu 
geben ist. Vielfach herrscht die Ansicht, dass Heil¬ 
stätten für männliche Kranke ein entschieden grösseres 
Bedürfniss sind als solche für weibliche. Diese An¬ 
sicht wird vertreten von Moebius, ferner von den 
Directorcn der badischen Irrenanstalten in deren 
Denkschrift über die Irrenfürsorge in Baden, desgleichen 
von Fuchs in seiner Broehürc über „staatliche Pro¬ 
phylaxe in der Psychiatrie“. Immerhin mehren sich 
auch die Stimmen, die ein grösseres Bedürfniss auf 
Seiten des weiblichen Geschlechts erblicken, oder 
zum mindesten für beide Geschlechter in gleicher¬ 
weise eintreten. Pohl ist ein eifriger Verfechter 
der Anstalten für weibliche Kranke, und ich selbst 
bin der Ansicht, dass nach Zahl der Kranken und 
nach dem Grade der Pflegebedürftigkeit, vom rein 
humanen wie vom wirtschaftlichen Standpunkte aus, 
das weibliche Geschlecht dem männlichen sicherlich 
gleichstehen, voraussichtlich dasselbe noch überwiegen 
wird. Eine grosse Anzahl von Krankenhausdirectoren, 
Bezirksärzten und Ortskrankenkassen in Baden haben 
sich auf eine Anfrage der Landesregierung hin eben¬ 
falls in dem Sinne geäussert, dass das Bedürfniss 
nach Nervenheilstätten für beide Geschlechter in 
gleicher Weise vorhanden sei. Schliesslich wird 
die Entscheidung dieser Frage ganz davon abhängen, 
welche Principien man in der Begrenzung der Krank¬ 
heitsformen verfolgt. Schliesst man die nervös er¬ 
schöpften Chlorotischen mit ein, so wird sich ein 
grösseres Bedürfniss auf Seiten des weiblichen Ge¬ 
schlechts ergeben, während sich z. B. bei Ausschluss 
der Chlorotischen und bei Einschluss der Unfalls¬ 
nervenkranken aller Wahrscheinlichkeit nach das 
Verhältnis umkehren würde. Und wenn auch die 
bereits gemachte practische Erfahrung ein Wort mit¬ 
reden soll, so spricht diese für eine gleichmässige 
Verkeilung des Bedürfnisses auf beide Geschlechter: 
Haus Schönow hat im letzten Berichtsjahre ziemlich 
gleichviel männliche und w-eibliche Patienten verpflegt. 

Ob man gemeinschaftliche oder geschlechtlich ge- 

Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 



1903] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


517 


trennte Anstalten ins Leben rufen soll, das ist m. E. 
in erster Linie eine Geldfrage: Reichen die Mittel 
für mehr als eine Anstalt, dann ist einer Trennung 
der Geschlechter unbedingt der Vorzug zu geben. 

Wenn ich Ihnen nun in Kürze den jetzigen Stand 
der Heilstättenbewegung skizzieren werde, will ich bei 
der drängenden Zeit gar nicht eingehen auf die schon 
recht ansehnliche Litteratur über unseren Gegenstand, 
und nur über das Thatsachenmaterial berichten. 
Im Grossherzogthum Baden hat sich die Landes¬ 
regierungselbst der Sache angenommen und mittelst einer 
sehrgründlichen und vielseitigen Enquete die Bedürfniss- 
frage klarzustellen versucht. Diesbezügliche Aeusserungen 
wurden eingeholt von den Verwaltungen der grösseren 
Städte, den Krankenhausdirectoren, den Bezirksärzten. 
Ferner aber auch von den Organen der socialen Ge¬ 
setzgebung, den Vorständen der Landes Versicherungsan¬ 
stalten, der meisten Orts- und Betriebskrankenkassen und 
einzelner Berufsgenossenschaften. Es wäre ungemein 
interessant, des Näheren die eingegangenen Antworten 
hier zu erörtern. Aber es warten andere Redner, und 
so muss ich mir versagen, die vielen Pro’s und Con- 
tra’s, die theils mit, theils ohne besondere Motivierung 
dem -Ministerium unterbreitet wurden, im Einzelnen 
Ihnen vorzutragen. Manches Beherzigensw r erthe findet 
sich darunter, zum Theil werthvolles statistisches 
Material. Aber auch mancher Beweis mangelnden 
Verständnisses und einseitiger Beurtheilung und manche 
unfreiwillige Comik liegt da bei den Acten. — Eine 
Thatsache hat mich an der Enquete der badischen 
Regierung befremdet: dass zwar die Directoren der 
internen, nicht aber die der psychiatrischen Universi¬ 
tätskliniken um ihre Meinung befragt worden sind, 
noch auch die Leiter der Landesirrenanstalten. Letz¬ 
teren wurde freilich Gelegenheit geboten, ihre Ansicht 
darzuthun in der von ihnen gemeinsam verfassten, 
oben erwähnten Denkschrift, die im Aufträge der Re¬ 
gierung ausgearbeitet und dem Landtage gelegentlich 
der Irrenanstaltsdebatte vorgelegt wurde. In dieser 
Denkschrift treten die Verfasser sehr warm für die 
Errichtung einer Volksnervenheilstätte ein und 
kommen zu dem Ergebniss, dass die Angliederung 
derselben an die Landesirrenanstalt Illenau am ge¬ 
botensten erscheine. 

Das practische Ergebniss der Vorarbeiten im 
Grossherzogthum Baden ist noch kein sehr aussichts¬ 
reiches. In der Commissionsberathung des Landtags 
erklärte der Minister des Innern es als zweifelhaft, 
ob der Staat in nächster Zeit in der Frage der Er¬ 
richtung einer staatlichen Nervenheilanstalt Vorgehen 
könne. — 

Auch im G^sherzogthum Sachsen-Weimar 

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befasste sich die Landesregierung mit der Heilstätten¬ 
frage und zwar bis jetzt mit ebenso „dilatorischem“ 
Resultate wie in Baden! Den Anstoss gab ein Vorschlag 
von Professor Binswanger an die thüringische Landes¬ 
versicherungsanstalt, durch ein Darlehen von 40000 
Mark die Gründung einer Nervenabtheilung der psy¬ 
chiatrischen Klinik zu ermöglichen. Da die Regierung 
es ablehnte, diese Summe für den gedachten Zweck 
in den Etat der Landesversicherungsanstalt einzustellen, 
schlug Prof. Binswanger vor, die Landesversicherungs¬ 
anstalt solle sich eine eigene Nervenheilstätte gründen, 
deren ärztliche Leitung von der Klinik aus, gleichsam 
durch Personalunion, besorgt werden solle. Ein (aus¬ 
führlicher) Bauplan liegt bereits vor, doch scheiterte 
die Realisierung bis jetzt an den der Landesver¬ 
sicherungsanstalt zu hohen Baukosten, die sich im 
Voranschlag auf 155000 Mk. belaufen. In aller¬ 
jüngster Zeit habe ich erfahren, dass die Carl Zeiss- 
Stiftung in Jena sich für die Errichtung einer Volks¬ 
nervenheilstätte auf thüringischem Gebiet lebhaft in¬ 
teressiert. Herr Dr. Czapski, der sich als Vertreter 
der Stiftung mit mir in Verbindung gesetzt hat, theilt 
mir mit, dass, wenn sich eine geeignete Organisation 
für die Verwaltung und den Betrieb der Anstalt 
herausbilde, die Stiftung das Capital zur Errichtung 
der Anstaltsgebäude oder doch einen erheblichen 
Beitrag dazu stellen würde. Leider liegt auch hier 
die Verwirklichung des Planes noch sehr im Weiten. 
Dr. Czapski selbst meint, dass es dazu noch mehrerer 
Jahre bedürfe. Es soll nämlich vor Errichtung einer 
Nervenheilstätte erst eine Badeanstalt mit Schwimm¬ 
halle gegründet werden, da es, wie es in dem be¬ 
treffenden Briefe heisst, „eine richtigere Politik sei, 
in erster Linie den Erkrankungen vorzubeugen, als 
nur daran zu denken, für die bereits Erkrankten zu 
sorgen.“ 

Meine Herren! Diese Aeusserung ist ungemein 
bezeichnend für die Stellung vieler Laien- und auch 
mancher Aerztekreise der Heilstättenfrage gegenüber. 
Immer und immer wieder bin ich der irrthümlichen 
Auffassung begegnet, dass in der Erstellung ambu¬ 
latorischer hydrotherapeutischer Einrichtungen ein 
zweckmässiges und dabei viel weniger kostspieliges 
Aequivalent für complete Nervenheilanstalten gegeben 
sei. So finden sich z. B. in der badischen Enquete 
mehrfach Aeusserungen von Krankenhausdirectoren 
dahingehend, dass von besonderen Nervenheilstätten 
getrost abgesehen werden könne, sofern nur ihr 
eigenes Institut mit einer genügenden hydrotherapeu¬ 
tischen Abtheilung versehen würde. Ich denke 
natürlich nicht daran, dass hierbei jemals Interessen 

pro domo die Triebfeder waren! Aber es handelt 

Original trom 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 47. 


5 *° 


sich doch um eine recht beträchtliche Ueberschätzung 
der Hydrotherapie und eine bedenkliche Verkennung 
der thatsächlichen Verhältnisse, wenn man glaubt, 
eine Bädereinrichtung könne eine Nervenheilstätte er¬ 
setzen, oder ein Schwimmbad besitze so bedeutenden 
prophylactischen Werth, dass es in vielen Fällen den 
Ausbruch von Nervenkrankheiten hintanhalten könne. 
Die Nervenheilstätten sollen doch wahrlich auch 
keine Siechenhäuser, sondern Vorbeugungsinstitute im 
eigentlichen Sinne des Wortes sein! 

Im Grossherzogthum Hessen hat sich unter 
Ludwigs rühriger Initiative der werkthätige Irren¬ 
hilfsverein längst auch der nicht geisteskranken Ner¬ 
vösen aus den unbemittelten und gering bemittelten 
Ständen angenommen. Dieser Verein, der von vorn¬ 
herein den Grundsatz verfolgt hat, aus sich selbst 
heraus, ohne primäre Betheiligung des Staates, seiner 
humanen Aufgabe gerecht zu werden, veröffentlicht 
in seinem jüngsten Jahresbericht einen Entwurf zur 
planmässigen Fürsorge für unbemittelte Nervöse und 
geistesgesunde Epileptiker. Der Entwurf stammt aus 
der Feder Ludwigs. Vorläufig sollen vom Verein 
aus in geeigneten Fällen auf Antrag Heilverfahren 
eingeleitet werden unter Zuhilfenahme der schon be- 
stehendeh Sanatorien etc. Das Endziel ist die Er¬ 
richtung einer eigenen Anstalt nach dem Vorbilde 
des Hauses Schönow. Zur Beschaffung der nöthigen 
Mittel ist der Verein bestrebt, die private Wohl- 
thätigkeit zu ausgiebiger Betheiligung anzuregen. Dies 
geschieht durch einen in der Tagespresse publicierten 
Aufruf. Für das laufende Jahr hat der Verein ver¬ 
suchsweise eine Summe von 9000 Mk. zur Verwen¬ 
dung für solche bedürftigen Nervenkranke ausge¬ 
worfen, die nach ärztlichem Ermessen als heilbar 
oder doch erheblich besserungsfähig erscheinen. 

Gleichfalls durch Vereinsthätigkeit hat die Heil¬ 
stättenbewegung Förderung erfahren in der Rhein¬ 
provinz. Nachdem der dortige psychiatrische Ver¬ 
ein sich im Jahre 1899 in gleicher Weise wie wir 
heute mit der Frage beschäftigt und die Bedürfniss- 
frage einstimmig bejaht hatte, nahm sich der ber- 
gische Verein für Gemeinwohl mit grosser 
Energie der Sache an. In seiner letztjährigen General¬ 
versammlung verhandelte er fast ausschliesslich über 
das Thema „Volksnervenheilstätten“. Die Gründung 
einer Anstalt wurde im Princip beschlossen, Re¬ 
gierung und Landesversicherungsanstalt sagten ihre Hilfe, 
letztere in Gestalt einer Capitalüberweisung, zu. Leider 
haben nun die Vorarbeiten eine unliebsame Unter¬ 
brechung erfahren durch die Düsseldorfer Ausstellung. 
Inzwischen aber ist der bergische Verein in ähnlicher 
Weise wie der hessische Hilfsverein mit bestem Er- 

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folg bestrebt, möglichst vielen bedürftigen Nerven¬ 
kranken Gelegenheit zur Erholung zu bieten in ver¬ 
schiedenen Anstalten des Landes, vorzüglich aber in 
den eigenen Reconvalescentenhäusem des Vereins. 

Dem Ziele schon näher als alle bisher genannten 
Landesbezirke ist die Stadt Frankfurt a. M. Diese 
hat die Errichtung einer Viliencolonie für Nerven¬ 
kranke beschlossen und als Bausumme für die ersten 
6 Villen 400000 Mk. bewilligt Die Vorarbeiten für 
den Bau sind bereits im Gange. Die Colonie ist 
sowohl für Communal- und Kassenkranke, als auch 
für selbstzahlende Patienten des Mittelstandes be¬ 
stimmt — 

Der einzige Ort, der sich rühmen kann, das pro¬ 
phetische Wort von Moebius, „Nervenheilstätten 
werden entstehen“, verwirklicht zu haben, ist Berlin. 
Von der Zehlendorfer Anstalt Haus Schönow brauche 
ich Ihnen Einzelheiten nicht zu berichten; Sie alle 
haben ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt 
So ist Ihnen auch allen bekannt, dass es sich hier 
um ein Werk privater Wohlthätigkeit handelt. Dass 
die Anstalt einem dringenden Bedürfniss entsprach, 
beweist ihre Krankenfrequenz. Diese belief sich im 
Jahre 1901 auf 445 Kranke. Der Durchschnittsver¬ 
pflegungssatz von 4 Mk. pro Tag characterisirt die 
Anstalt zunächst als Mittelstands-Sanatorium. Die 
Erfahrung lehrt, dass sich das Bedürfniss nach 
solchen Anstalten oft noch empfindlicher fühlbar 
macht als Heilstätten für die ganz Unbemittelten. 

Höchst beachtenswerth sind die Bestrebungen zu 
Gunsten der Erholungsbedürftigen aus den arbeitenden 
Klassen in der Schweiz. Dort geht die Nerven- 
heilstättenbewegung Hand in Hand mit der Abstinenz¬ 
bewegung. Der „Züricher Frauenverein für 
Mässigkeit und Volkswohl“, der seit dem 
Jahre 1893 in Zürich bereits sieben alcoholfreie 
Wirthschaften gegründet hat, eröffnete im Jahre 
1900 ein eigenes, ad hoc gebautes, ansehnliches 
Curhaus mit 60 Betten. Der ausdrückliche Zweck 
desselben ist, Erholungsbedürftigen aller Bevölkerungs¬ 
klassen, in erster Linie „schwächlichen, nervenleidenden 
Personen“ einen zweckmässigen und billigen Cur- 
aufenthalt zu bieten. Der Pensionspreis beträgt 3 bis 
3,50 Frs. Die Anstalt steht nicht unter ärztlicher 
Leitung. Wie der oflidelle Name „alcoholfreies Cur¬ 
haus“ besagt, herrscht das Princip völliger Abstinenz. 
Ueber die Finanzierung der Gründung werde ich 
nachher kurz berichten. Das von Moebius und 
G rohmann inaugurierte Unternehmen „Colonie 
Friedau“ hat Herr Sanitätsrath Wildermuth bereits 
eingehend gewürdigt. Wenn sich das dort Ange¬ 
strebte auch nicht ganz mit dem deckt, was mir als 

Original from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


5i9 


1903.] 


nächste Aufgabe der Volksheilstätten vorschwebt, so 
würde ich eine Verwirklichung des Projects doch mit 
Freude begrüssen. — 

Damit glaube ich Ihnen im Grossen und Ganzen 
ein Bild vom heutigen Stand der Heilstättenbewegung 
gegeben zu haben. 

Wie hat sie sich nun in der Zukunft zu ge¬ 
stalten ? 

Da stehen wir vor den beiden Cardinalfragen des 
Wo und Wie. Diese Fragen sind nicht gelöst da¬ 
durch, dass wir uns zu einer Resolution einigen des 
Inhalts etwa: Es ist zu wünschen, dass in jedem 
Bundesstaate so und so viele Nerven hei Istätten nach 
Maassgabe seiner Grösse etc. in waldreicher Gegend 
von Staatswegen errichtet werden! Denn: Die wald¬ 
reiche Gegend wird zwar nicht schwer zu finden sein, 
wohl aber der dazu gehörige anstaltenerrichtende 
Staat! Das lehrt die Praxis, wie wir es an den Bei¬ 
spielen von Baden und Sachsen-Weimar gesehen 
haben. Wenn wir nun selbständige Neugründungen 
von Staatswegen nicht erwarten dürfen, so lassen sich 
vielleicht schon bestehende staatliche Einrichtungen 
in zweckmässiger Weise zu Nervenheilstätten erweitern, 
bezw. mit solchen verbinden. Man wird da zunächst 
denken an die Landesirrenanstalten, des weiteren an 
die Universitätskliniken. Beide Anstaltsgattungen 
sind schon zu dem gedachten Zwecke ins Auge ge¬ 
fasst worden; das Resultat war bis jetzt in jedem 
Falle ein negatives. Dies wird sich in der Zukunft 
vielleicht ändern. Die Bedenken, die sich gegen die 
Angliederung der Nervenheilstätten an die staatlichen 
Irrenanstalten erheben, sind zu oft discutiert worden, 
als dass ich sie hier noch einmal zu wiederholen 
brauchte. Ich möchte meinen Standpunkt gegenüber 
den sog. „offenen Abtheilungen“ dahin fixieren, dass 
ich in einer offenen Abtheilung einer Irrenanstalt 
und in einer Nervenheilslätte zwei grundsätzlich ver¬ 
schiedene Dinge erblicke: Beides Einrichtungen von 
grösstem therapeutischem Werthe, von denen aber die 
eine die andere nicht ersetzen kann und — eben 
im Interesse ihres therapeutischen Werthes — auch 
nicht ersetzen soll. Die offene Abtheilung den 
Irrenreconvalescenten, die Nervenheil¬ 
stätten den nervös Erschöpften und Erhol¬ 
ungsbedürftigen! 

Gegen die Verbindung der Nervenheilstätten mit 
den Universitätskliniken ist im Principe nichts einzu¬ 
wenden, sofern die localen Verhältnisse nicht dagegen 
sprechen. Dass aber durch gesonderte Nervenheil¬ 
stätten den Kliniken das Lehrmaterial verkürzt würde, 
wie Erb es befürchtet, ist kaum anzunehmen. Die 
Pfleglinge der Anstalten grösserem Umfange zu 


klinischen Demonstrationszwecken heranzuziehen, 
halte ich im Interesse der Kranken nicht für 
wünschenswerth. 

Die städtischen Krankenhäuser kommen als 
Mutterinstitute für unsere Heilstätten wohl kaum ernst¬ 
lich in Frage. 

Sollen sich diese überhaupt an bereits be¬ 
stehende Krankenanstalten anlehnen, so sind dafür 
m. E. nur die ländlichen Reconvalescenten- 
häuser ins Auge zu fassen. Dahin ging auch im 
letzten Jahre mein Vorschlag. Diese Institute eignen 
sich schon ihrer Tendenz nach am besten für den 
gedachten Zweck. Meist befinden sie sich in 
wenigstens einigermassen günstigem landschaftlichem 
Terrain und werden jetzt schon vielfach — faut de 
mieux — als Erholungsstätten für nervös Erkrankte 
benutzt, so z. B. von den Land es Versicherungsanstalten, 
von denen manche im Besitze eigener Reconvales- 
centenhäuser sind. Freilich bieten von diesen Häusern 
bis Jetzt nur die allerwenigsten einigermassen einen 
Ersatz für Nervenheilstätten. Vor allem fehlt den 
meisten jede ärztliche Leitung, von specialistischer 
gar nicht zu sprechen. Und specialärztliche Leitung 
muss für die Nervenheilstätten natürlich unbedingt 
verlangt werden. Schwierig bei einer event. Umwand¬ 
lung schon bestehender Genesungshäuser in Nerven¬ 
heilstätten wird nur häufig sein, die jeweiligen Be¬ 
sitzer der Reconvalescentenhäuser zu dieser Um¬ 
wandlung zu veranlassen. Die Besitzer sind sehr 
heterogen: Theils gemeinnützige Vereine und Stiftungen, 
theils Versicherungsanstalten, theils Gemeinden und 
Staat Vor allem aber: Wer wird hier das treibende 
Element sein? Diese Frage, meine Herren, ist der 
Angelpunkt der ganzen Heilstättenfrage. Und diese 
spitzt sich zu zur Deckungs-, zur Geldfrage: Wer 
sorgt für die Beschaffung der nöthigen Mittel? Wenn 
dieses Problem erst gelöst ist, dann ist es ganz 
einerlei, ob die Heilstätten an schon bestehende 
Einrichtungen, etwa an Reconvalescentenhäuser ange¬ 
gliedert werden, oder ob gesonderte Anstalten ad hoc 
gegründet werden, was ich — nebenbei bemerkt, — 
immer noch für das wünschenswerteste halte. 

Theoretisch betrachtet, können die Kosten zur 
Errichtung von Volksheilstätten getragen werden vom 
Staat, von den Organen der socialen Gesetzgebung, 
von Gemeinden und schliesslich von Privaten. Ein 
Zusammenarbeiten mehrerer der genannten Factoren 
ist natürlich ebenfalls denkbar. 

Vom Staat ist erfahrungsgemäss nicht viel zu er¬ 
warten. Füglich kann man auch nicht alles von 
ihm verlangen. 

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520 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47 


Was die Institute der socialen Gesetzgebung be- boten hält, Volksheilstätten für Nervenkranke zu 


trifft, so ist von mehreren Landesversicherungs¬ 
anstalten und — je nach der Stellung zur Unfall¬ 
krankenfrage — auch von einer Reihe von Berufs¬ 
genossenschaften, financielle Unterstützung wohl zu 
erwarten. Auf die Krankenkassen wird vorläufig 
wenig zu rechnen sein. Klar sein müssen wir uns 
aber über eine sehr wesentliche Thatsaohe: Mögen 
Landesversicherungsanstalten, Berufsgenossenschaften 
u. s. w. zu financieller Unterstützung immerhin be¬ 
reit sein, eine Initiative ist von dieser Seite nicht 
zu erwarten. Eher schon von Seiten einzelner Ge¬ 
meinden, wie das Beispiel von Frankfurt a. M. lehrt. 
Ob diesem Beispiele aber in absehbarer Zeit andere 
und zumal weniger gut situierte Stadtgemeinden fol¬ 
gen werden, ist sehr zweifelhaft. Keinesfalls darf 
man sich mit dieser unsicheren Erwartung bescheiden. 

Per exclusionem kommen wir auf die Beschaffung 
der Mittel durch Private. Um zwei Wege kann 
es sich dabei handeln: Einmal um reine private 
Wohlthätigkeit, wobei also der, bezw'. die Geber einen 
materiellen Nutzen von ihrer Geldleistung nicht haben, 
und dann um Unternehmungen privater Natur, bei 
denen die aufgebrachten Geldmittel einen Nutzen 
für den Geber abwerfen, zunächst in Gestalt von 
Verzinsung. Für eine Combination dieser beiden 
Arten privater Leistung haben wir ein Beispiel in der 
Zehlendorfer Anstalt. Sie ist fundiert auf eine milde 
Stiftung von 230000 Mk. und ein Darlehen von 
200000 Mk. Eine ähnliche Combination liegt der 
Finanzierung des Curhauses auf dem Zürichberge zu 
Grunde. Dort wurde der grössere Theil des nöthigen 
Capitals durch Emission 3 % iger Obligationen auf¬ 
gebracht, der kleinere wurde durch Schenkungen ge¬ 
deckt. (Dort liegt freilich noch das besondere Ver- 
hältniss vor, dass der Unternehmer, der Züricher 
Frauenverein, in der günstigen Lage ist, aus den Ein¬ 
nahmen seiner sehr Iucrativen alcoholfreien Wirt¬ 
schaften eine beträchtliche Summe zuschiessen zu 
können.) 

Eine weitere Form des privaten Unternehmens ist 
die A cti enges e Ilse ha ft. LTm eine solche handelt 
es sich bis zu einem gewissen Sinne bei der „Colonic 
Friedau“. Wie mir Prof. Moebius mittheilt, sind 
für diese bis jetzt 75000 Frcs. gezeichnet worden. 

Sie sehen, m. H., Beispiele, wie aus privater Ini¬ 
tiative ohne primäre Mitarbeit von Staat und staat¬ 
lichen Institutionen, Unternehmungen in unserm 
Sinne entriert werden können, sind vorhanden. Diese 
Beispiele sollen uns zur Lehre dienen. Nicht un- 
thätig abwarten wollen wir, bis der Staat cs für ge- 

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gründen. An uns Aerzten ist es, unsere längst ge¬ 
wonnene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit 
solcher Anstalten aus unserm Kreise hinaus in die 
breite Oeffentlichkeit zu tragen. Verständniss werden 
wir dort sicher finden, und das ist die unerlässliche 
Vorbedingung zu werkthätiger Hilfe. Verständniss 
werden wir aber nur dann finden, w-enn wir unter¬ 
einander dem grossen Publicum gegenüber einig 
sind. Ueber Einzelfragen streiten, heisst die Haupt¬ 
frage verkennen. Auf zw'ei Dinge kommt es doch 
nur an: Das Bedürfniss nach Volksheilstätten als ab¬ 
solut vorhanden anzuerkennen und die Geldfrage zu 
lösen! Wenn auch keine Einigung erzielt ist über die 
Fragen, ob die Anstalten alcoholfrei sein sollen oder 
nicht, ob Unfallkranke aufgenommen werden sollen 
oder nicht, ob die Anstalten Arbeitssanatorien sein 
sollen oder nicht: Lassen Sie übeihaupt erst eine 
Anstalt erstehen, — gefüllt, ja überfüllt wird sie nur 
zu bald sein. Nur lau sein dürfen wir nicht Wir 
Aerzte dürfen keinen Augenblick nachlassen jn der 
Propaganda und müssen, jeder so w'eit er kann, auch 
Geldopfer bringen. Eine gewisse Begeisterung 
muss da sein; ohne die kommen wir nicht zum 
Ziele. Man muss — und dies gilt vor allem den 
beatis possidentibus gegenüber! — dem grossen 

Publicum die Ueberzeugung beibringen, dass ein nam¬ 
haftes Opfer für eine gute Sache viel mehr werth 
ist, als eine unentschlossene und polypragmatische 
Zersplitterung der Wohlthätigkeit! Und es soll sich 
auch gar nicht allein nur um selbstlos gebende Mild- 
thätigkeit handeln: Gar viele, die ein Unternehmen 
zur Errichtung einer Volksnervenheilstätte unterstützen, 
werden damit direct ihr eigenstes Interesse wahren. 
Ich denke dabei an den ganzen breiten Mittel¬ 
stand. Denn, wie ich im letzten Jahre besonders 
betont habe, sollen die angestrebten Sanatorien nicht 
nur für die ganz Armen, sondern auch für die 
Minderbemittelten der gebildeten Klassen 
bestimmt sein, in der Art, wie wir es im Haus 
Schönow verwirklicht sehen. Man wird also beim 
Sammeln von Geldmitteln einem grossen Theile derer, 
die als Geber in Betracht kommen, mit gutem Ge¬ 
wissen zurufen können: Tua res agitur! 

Meine Herren! Glauben Sie nicht etwa, dass ich 
mir denke, die Mitglieder der heutigen Versammlung 
sollten nun nach Art der Bettelmönche im Lande um¬ 
herziehen und Beiträge für die Errichtung einer 
Volksnervenheilstätte sammeln! Die Mobilisierung der 
privaten Wohlthätigkeit muss natürlich nach sorgfältig 
erw ogenem Plane geschehen. Ich halte die Gründung 
von H ei lstätten verein cn für den gangbarsten 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 




1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIET. 



Weg. — Es gehört dies aber nicht mehr in den 
Rahmen unserer heutigen Aufgabe. 

Für heute haben Herr Sanitätsrath W il d e rm u th 
und ich uns entschlossen, Ihnen folgende Thesen zur 
Abstimmung vorzulegen: 

1) Die Versammlung südwestdeutschcr Irrenärzte 
erachtet die Errichtung von Volksnervenheilstätten 
als eine Nothwcndigkeit. 

2) Es ist die Errichtung von selbständigen 
Instituten zu dem genannten Zwecke anzustreben. 


M i t t h e i 

— Der Rheinische Prov.-Landtag hat in voriger 
Woche die nachfolgende Vorlage genehmigt. 
„Bericht und Antrag des 'Pro vin zialaus- 

Schusses, betreffend Verbe s s c r 11 n g 
der Verhältnisse der Irrenärzte. 

Seit einer Reihe von Jahren ist die Wahrnehmung 
gemacht worden dass sich zu den Stellen der Assi¬ 
stenz- und Volontaiiärzte an den Provinzial-IIeil- und 
Pflegeanstalten trotz aller Ausschreibungen in den 
Fachblättern auflallend wenig, zuweilen auch gar keine 
Bewerber meldeten. Dieselbe Erscheinung zeigte sieh, 
wie die ungestellten Ermittelungen ergeben haben, 
in allen anderen Provinzen. Es konnte somit ge¬ 
schlossen werden, dass Umstände vorliegen mussten, 
welche den jungen Medicinern den Eintritt in die 
psychiatrische Laufbahn als nicht erstrebensweith er¬ 
scheinen Hessen, zumal nach den inzwischen gemachten 
Erfahrungen anzunehmen ist, dass es sich hierbei 
nicht um zufälligen und vorübergehenden Mangel an ge¬ 
eignetem Nachwuchs, sondern um tiefer begründete und 
weit verbreitete Anschauungen über den irrenärztlichen 
Beruf und die den Anstaltsärzten unter den gegen¬ 
wärtigen Verhältnissen gebotenen Aussichten handelt. 

Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, 
dass die Sicherung eines durchaus tüchtigen, für die 
ihm gestellten schwierigen und hohen Aufgaben von 
innerem Interesse beseelten und begeisterten Acrzte- 
personals eine der vornehmsten Aufgaben der Ver¬ 
waltung auf dem Gebiete des Irrenwesens sein muss, 
wenn nicht die ausserordentlichen Opfer, welche grade 
zur Hebung dieses Verwaltungszweiges gebracht worden 
sind und noch weiter gebracht werden müssen, mehr 
oder weniger verloren sein sollen. 

Zur Erreichung dieses Zieles ist es nothwendig, 

1. zunächst die Ursachen klar zu erkennen, 
welche zur Zeit der Gewinnung eines aus¬ 
reichenden Angebots befähigter Aerzte ent¬ 
gegenstehen und 

2. ferner, so weit als möglich diejenigen Mittel 
zu ergreifen, welche zur A b h iil fe des jetzigen 
Uebclstandes geeignet erscheinen. 

I. 

Als Ursachen der Abneigung gegen den Eintritt 
in den Dienst als Irrenanstaltsarzt sind im Wesent¬ 
lichen folgende anausehen: t 

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3) Die Versammlung erwählt aus ihrer Mitte eine 
Commission, deren Aufgabe es ist, die Bewegung zur 
Errichtung von Volksnervenheilstätten im geographi¬ 
schen Bereiche der Versammlung zu fördern. Die 
Commission hat über ihre Thätigkeit nach Ablauf 
von zwei Jahren an die Versammlung zu berichten. *) 

*) Nach der dem Referate folgenden längeren Discussion 
wurden alle drei Thesen einstimmig angenommen. In die 
Commission wurden gewählt: Bieberbach-Heppenheim, 
H ecke r - Wiesbaden , N eutn a n n - Karlsruhe, Vorster- 
Stephansfcld und W ildermut h-Stuttgart. 

«— - - 

1 u n g e n. 

1. die im Publicum noch immer weit verbreitete 
ungünstige Meinung über Irrenanstalten im Allge¬ 
meinen und über Irrenärzte im Besonderen. Dieses 
unheilvolle, oft bekämpfte und bei den vorzüglichen 
Einrichtungen unserer modernen Irrenanstalten gänz¬ 
lich unbegründete Vnrurthcil findet leider immer wieder 
neue Nahrung durch die Angriffe vorzugsweise solcher 
Personen, die dem heutigen Irrcnwcsen persönlich 
ganz fremd gegenüber stehen, und verleidet naturge- 
inäss dem angehenden Mcdicincr leicht den Gedanken, 
grade diese Specialwissenschaft zu seinem Lebensbe¬ 
ruf zu machen. 

2. Die eigenartige Thätigkeit des Irrenarztes in 
dem engeren Bereiche des Anstaltslcbens, welches 
nicht jedem zusagt und jedenfalls ein so lebendiges 
Interesse an der Psychiatrie voraussetzt, dass dagegen 
manche Beschwerlichkeiten, ja Gefahren des Dienstes 
und manche Entbehrungen gern in den Kauf ge¬ 
nommen werden. 

3. Vor allem die ungünstigen Aussichten auf 
Avancement und materielle Verbesserung. Die Stellen 
der Direktoren sind w enige; sie zu erreichen, ist nur 
Einzelnen beschicden. In den Rheinischen Anstalten 
ist zwar manches geschehen, um die Lage der älteren 
Anstaltsärzte unter dem Direktor zu heben; es sind 
in jeder Anstalt ausserdem Direktor an beamteten 
Aerzten mit Familienwohnung und Pensionsberechtig¬ 
ung auf Lebenszeit eingestellt: ein () b c r a rz t mit 4200 
bis 5400 Mk. und ein sogenannter 3. Arzt mit 2700 bis 
3900 Mk. Gehalt. Die weiteren ärztlichen Kräfte, deren 
je eine auf 100 Kranke gerechnet wird, werden durch 
Assistenz- und V o 1 o n t a i r ä r z t e gestellt. Auch 
deren Stellung ist (Haushaltsplan für 1901/1902) ver¬ 
bessert w orden, indem sie jetzt mit 1500 Mk. anfangen 
und alle 2 Jahre um 200 Mk. bis 2500 Mk. steigen. 

Aber auch diese Regelung gewährt dem jungen 
Psychiater nicht die gewünschte Aussicht. An einer 
Anstalt von 700 Betten — der durchschnittlichen 
Rheinischen Belegung — befinden sich jetzt 3 be¬ 
amtete Aerzte und 4 Assistenzärzte. Letztere werden 
bei einem normalen Anfangsalter von 25-—20 Jahren 
ihr Höchstgehalt als Assistenzärzte mit 33—3ö Jahren 
erreichen. Sie sind auch dann nicht im Stande, sich 
einen eigenen Haushalt zu gründen, da sie keine Fa- 
milienw'ohnung erhalten; sie stehen wesentlich 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47. 


ungünstiger, als beispielsweise der Rendant oder Ver¬ 
walter derselben Anstalt, die in diesem Lebensalter 
in der Regel längst fest angestellt und im Genuss 
einei Familienwohnung mit Garten, Brand, Licht und 
Arznei sind. 

4. In den von dem Landeshauptmann berufenen 
regelmässigen Directoren-Conferenzen, wie auch in ver¬ 
schiedenen Zeitschriften, ist endlich darüber Klage er¬ 
hoben, dass z. Zt. den Anstaltsärzten nicht ausreichende 
Mittel zu Gebote stehen, um sich wissenschaftlich 
fortzubilden durch gelegentlichen Besuch von Fort¬ 
bildungskursen, psychiatrischen Vorträgen, Beschaffung 
von Lehrmitteln und dergl. 

II. 

Vorstehende Gesichtspunkte können nach den zahl¬ 
reichen Auslassungen der Fachlitteratur als die ent¬ 
scheidenden und maassgebenden für die Beurtheilung 
des geringen Andranges zur Psychiatrie angesehen 
werden. 

Hinsichtlich der Mittel zur Abhülfe ist im Ein¬ 
zelnen Folgendes zu bemerken und vorzuschlagen: 

1. Das Misstrauen des Publikums gegen die Irren¬ 
anstalten und die Irrenärzte kann nicht besser be¬ 
kämpft werden, als durch die Fortsetzung des einge¬ 
schlagenen Weges: Verbesserung aller Einrichtungen 
und Hebung des Aerzte- und Pflegepersonals. 

2. Es muss danach gestrebt werden, nur tüchtige 
Kräfte, die aus Liebe zur Sache in den Anstaltsdienst 
eintreten, zu gewinnen. Zu diesem Zwecke müssen 
allerdings zunächst 

3. die materiellen Verhältnisse der Anstaltsärzte 
günstiger gestaltet werden. 

Dies wird sich am sichersten dadurch erreichen 
lassen, dass die Anzahl der beamteten Aerzte ver¬ 
mehrt und dafür diejenige der Assistenzärzte ver¬ 
ringert wird. Es wird deshalb in Vorschlag gebracht, 
in den grösseren Anstalten von mehr als 600 Kranken 
(mithin unter Ausschluss von Andernach) zu dem 
vorhandenen Oberarzt noch einen zweiten Oberarzt 
mit den im Besoldungsplan vorgesehenen gleichen 
Bezügen (4200—5400 Mk.) nebst Familienwohnung 
einzustellen. Da hierfür ein Assistenzarzt mit durch¬ 
schnittlich 2000 Mk. fortfällt, so ist die financielle 
Mehrbelastung nicht so schwerwiegend, während dafür 
der erzielte dauernde Gewinn an guter ärztlicher Ver¬ 
sorgung ein ausserordentlich bedeutender sein wird. 

An einmaliger Ausgabe würde die Gestellung einer 
Familienwohnung erforderlich werden, für welche die 
nöthigen Mittel in der vorgesehenen 2. Anleihe für 
die Zwecke des Irrenwesens aufgeführt sind. (Druck¬ 
sachen. Nr. 29.) Es ist selbstverständlich, dass das 
Auf rücken der jüngeren Aerzte in die Stellen der 
beamteten Aerzte nur dann stattfindet, wenn es sich 
um wirklich tüchtige und bewährte Kräfte handelt. 

4. Zur Förderung der wissenschaftlichen Aus¬ 
bildung der Psychiater wird die Einstellung kleinerer 
Summen in die Anstaltshaushaltspläne (von 500 Mk. 
bei den grösseren Anstalten, 400 Mk. bei Andernach) 
behufs Verwendung nach besonderer Anordnung des 
Landeshauptmanns vorgeschlagen. 

Wenn diese Maassnahmen getroffen sind, so wird 
mit Sicherheit ajlqi berechtigten Anforderungen Ge- 

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nüge gethan sein und auch der erwünschte Erfolg 
nicht ausbleiben. 

Es wird hiernach beantragt: 

,,Der Provinziallandtag wolle beschliessen: 

Zur Verbesserung der Verhältnisse der Irrenärzte 

an den Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflege¬ 
anstalten 

1. die Einrichtung der Stelle eines zweiten 
Oberarztes bei den Provinzial - Heil- und 
Pflegeanstalten zu Bonn, Düren, Galkhausen, 
Grafenberg und Merzig zu genehmigen; 

2. der Einstellung der erforderlichen Mittel zur 
Herstellung von Familienw'ohnungen für diese 
Beamten in die vorgesehene 2. Anleihe für 
die Zwecke des Irrenwesens u. s. w. (Druck¬ 
sachen. Nr. 29) zuzustimmen; 

3. die in den Haushaltsplänen der einzelnen 
Provinzial - Heil- und Pflegeanstalten unter 
Titel II am Schluss vorgesehenen Ausgaben 
von 500 bezw. 400 Mk. zur wissenschaft¬ 
lichen Fortbildung der Anstaltsärzte zu be¬ 
willigen.“ 

D üsseldorf, den 1. October 1002. 

Der Pr o vi n z ia 1 a us s c h u s s: 

O. Graf Beissel von Gymnich, Dr. Klein, 

V orsitzender. Landeshauptmann.“ 

— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 12. Januar 1903. 
Vorsitzender: Jolly. Schriftführer: Bernhardt. 

1) Jacobsohn: Demonstration eines Gips¬ 
modelles der menschlichen Grosshimhemisphäre. 

Vortr. demonstrirt Gipsmodelle, die nach folgender 
Methode angefertigt sind. Nach Entfernung der 
Pia werden sämmtliche Furchen mit flüssigem Paraffin 
(50—6o°), nachdem ihre Wände auseinandergebogen 
sind, ausgegossen ; dasselbe erstarrt momentan und 
giebt so einen getreuen Abdruck. Alsdann wird ver¬ 
flüssigter König’scher Lack über die ganze Fläche 
gegossen, der einen festen Mantel der Oberfläche 
bildet. Aus diesem Negativ wird die Hemisphäre, 
was leicht gelingt, entfernt. Das Positiv wird dann 
mit kalt angerührtem Gipsbrei hergestellt. Ist der 
Gips völlig erstarrt, bringt man ihn mit dem Negativ 
in heisses Wasser, in dem sich Paraffin und Lack 
wiederum lösen. Die dann noch nöthigen kleinen 
Reparaturen werden an dem Positiv am besten an 
der Hand des inzwischen conservirten Objects vor¬ 
genommen. Vortr. glaubt, dass eine grössere Anzahl 
so hergcstellter Modelle am natuigetreuesten eine 
vergleichende Betrachtung der Furchen Verhältnisse 
des menschlichen Hirns ermöglicht, besser als con- 
servirte Präparate das gestatten. Auch wird hier¬ 
durch eine einigermassen exacte Messung der Ober¬ 
fläche der Hemisphäre möglich. 

2) Benda: Markscheidenfärbung der peripheri¬ 
schen Nerven. 

Vortr. empfiehlt eine schon vor I 1 / 2 Jahren von 
ihm in der physiologischen Gesellschaft für das Cen¬ 
tralnervensystem beschriebene Färbung als besonders 
geeignet für peripherische Nerven. Gefrierschnitte 

von in io 0 ^ Formalin gehärtetem Material (das nicht 

' Origiralfrom 

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1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


mit Alcohol vorbehandelt sein darf) werden mit 
Böhmer’schem Haematoxylin überfärbt (mindestens 
2 4 Std.), dann mit einer oxydirenden Flüssigkeit, am 
besten Weigert’schem Gemisch von Borax blutlaugen- 
salzlösung differencirt. Alsdann Entwässerung in 
steigendem Alcohol, Aufhellung mit Creosot, Abtrock¬ 
nung, Ueberspülung mit Xylol, Einschliessung in Bal¬ 
sam. Nachfärbungen der Kerne und der Ganglien¬ 
zellkömungen gelingen mit Anilinfarben, denen sich 
dann die Entwässerung u. s. w. anschliesst. Zerfal¬ 
lene Markscheiden können mit Fettfarben (Scharlach, 
Sudan) dargestellt werden, alsdann ist Einschliessung 
in Glycerin erforderlich. Mit dieser Methode kann 
man schon 2—3 Tage nach Gewinnung des Materials 
Markscheidenfärbung erzielen. Die Methode ist für 
periph. Material besser und sicherer als für centrales. 
Die Differencirung kann fortgesetzt werden, bis der 
ganze Schnitt fast farblos resp. gelb erscheint. Man 
thut gut vor Abschluss der Differencirung den Schnitt 
noch in Wasser unter dem Microscop zu controlliren. 
Vortr. demonstrirt eine Reihe von normalen und 
pathologischen Präparaten, die das Verfahren illu- 
striren. 

3) Discussion über den Vortrag der Herren von 
Leyden und Grunmach (vgl. Sitzung vom December 
1902). 

Lewy-Don demonstrirt eine grössere Reihe 
von Röntgenbildern, an denen er zeigt, dass auch bei 
gesunden Individuen die Wirbelsäule sehr verschieden 
schattirt erscheint, und dass die verschiedensten Mo¬ 
mente am aufgenommenen Object und ebenso eine 
Reihe von technischen Momenten Verschiedenheiten 
bedingen, die von Grunmach nicht genügend gewür¬ 
digt erscheinen. Er hält daher die Bilder des letz¬ 
teren nicht für hinreichend beweisend, um Schlüsse 
auf Osteoporose zu ziehen. Redner demonstrirt die 
verschiedenen Entwicklungsphasen, das Aussehen der 
erwachsenen Wirbelsäule bei wechselnden Arten der 
Aufnahmen, besonders Bilder der Lcndenwirbelsäule, 
zeigt, dass der Rückenmarkskanal sich gamicht selten 
deutlich ausprägt und demonstrirt schliesslich ver¬ 
schiedene pathologische Bilder (Erweiterung der Len¬ 
denwirbelsäule bei Hydromyelus, Spina bifida, halb¬ 
seitige Kreuzbeindefecte), ausserdem Osteoporose bei 
tabischen Fussgelenken, an den Hautknochen u. a. 

Grunmach bemerkt, dass er Bilder, wie die 
eben demonstrirten bei normalen Individuen zwischen 
dem 20. und 60. Lebensjahre (vor- und nachher 
kommen normalerweise Aufhellungen vor) nicht gesehen 
habe und glaubt, dass Herrn Lewy-Don technische 
Fehler untergelaufen seien. Er habe bei der Deutung 
seiner Bilder mit allen Cautelen gearbeitet, stets mit 
gleichen Röhren gearbeitet und sich nie auf eine 
Aufnahme beschränkt, sondern der Controlle halber 
stets mehrere gemacht. 

4) Reich: Zur feineren Anatomie der Nervenzelle. 

Vortr. spricht über die feinere Anatomie der 

Zellen der Schwann’schen Scheide der peripherischen 
Nerven. Er demonstrirt an den Kernen derselben 
(Ranvier’sche, Remak’sche Kerne) Kernmembran-, 
Kerngerüst- und Kernkörperchen, ferner den Zellen 
eigcnthümliche, mit basischen Farbstoffen sich inten- 

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siv färbende Granulationen, die, wie sich aus ihren 
färberischen und chemischen Eigenthümlichkeiten er¬ 
weist, aus einem dem Protogon der Nerven nahe¬ 
stehenden Stoffe bestehen. Eine andere Art von 
Körnern (schon von Aisholz näher beschrieben) 
dieser Zellgebilde haben die Eigenschaft, sich mit 
sauren Anilinfarbstoffen zu färben. Zusammengehalten 
werden diese unter pathologischen Verhältnissen ver¬ 
mehrten Körnchen durch ein einfaches wabiges Netz, 
das an der Peripherie der Zelle unmittelbar in die 
innerste Nervenscheide übergeht und durch Aufspal¬ 
tung der sonst structurlosen Membran entstanden zu 
denken ist. 

Die basiphilen Granula wie auch das Netzwerk 
treten bald nach der Pubertätszeit in den Nerven auf 
und finden sich auch bei Thieren, sind also wohl 
physiologische Bildungen. 

Die Befunde des Vortr. sprechen dafür, dass es 
sich bei den Zellen der Schwann’schen Scheide nicht 
um bindegewebige, sondern um specifische nervöse 
Gebilde handelt. Martin Bloch (Berlin). 

Bibliographie über Kriminal-Anthropologie 
und Verwandtes. 4. Quartal 1902. 

Von Medizinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 
Michels: Begriff und Aufgabe der „Masse“. Das 
freie Wort, 5. Oct. 1902. 

Woltmann: Die physische Entartung des modernen 
Weibes. Politisch - anthropologische Revue 1902, 
Nr. 7. 

R e i b m a n n: Zur Naturgeschichte des Herrscher-Ta¬ 
lents und Genies. Ibidem. 

Naumann: Die psychologischen Bedingungen des 
Socialismus. Ibidem. 

Colin: Les alienes criminels. Revue de psychiatrie 
1902, p. 385. 

Rossi: I Suggestionatori e la folla. II Manicomio, 
1902, Nr. 2. 

42. annual Report of the medical Superintendent of 
the Matteawan State Hospital. For the year en- 
ding, Sept. 30, 1901. 

Braun sc hweig: Das dritte Geschlecht (gleichge¬ 
schlechtliche Liebe). Marhold, Halle 1902. 58 S. 

Vaschide et Vurpas: Qu’est ce qu’un degenere? 

Archives d’anthropologie criminelle etc. 1902, p. 478. 
Högel: Die Straffälligkeit der Jugendlichen. Archiv 
f. Kriminalanthropol. etc. 10. Bd., p. 1. 

A m s c h 1 : Ein Mord am eigenen Kinde unter mil¬ 
dernden Umständen. Ibidem, p. 70. 

Rosenberg: Der Fall Marty. Ibidem, p. 83, 
Rotering: Kriminalität im Hof- und Dorfsystem. 
Ibidem, p. 99. 

II. G ross: Corrigirte Vorstellungen. Ibidem, p. 109. 
H. Gross: Das Erkennungsamt der k. k. Polizei¬ 
direktion in Wien. Ibidem, p. 115. 
Binet-Sangle: Physio-psychologie des religieuses 
(suite et fin). Archives d’anthropol. crim. etc. 
1902, p. 607. 

Z u c c a r e 11 i: La donna, madre e lottatrice nella 
societa odierna al lume dell’ Antropo-Sociologia. 
Napoli 1902. 

Original from 

HARVARD UNIVERS1TY 



524 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47. 


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Ol live: Le medecin legiste. Nantes 1902. 


Erscheint Wdi 




ictionellrn I heil verantwortlich: Oberarzt i )r, J . ürcsler, Kraschnitz (Scb*f^|et^J|. 

Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag yoruCarl M^rhold in Halle a. S 

HD 1 -J vEKblTr 


Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 




Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Moerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazsrini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Emst Schultse, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice ^Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 48 . 28. Februar. __ 1903 , 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), su richten. 

Inhalt. Originale: Ueber Behandlung der Epilepsie nach der Methode Toulouse-Richet. Von den Assistenzärzten Dr. Jenö 
Halmi und Dr. And. Bagarus (S. 525). — Mittheilungen (S. 530). — Referate (S. 532). — Personalnacliricht (S. 532). 


Ueber Behandlung der Epilepsie nach der Methode Toulouse-Richet. 

Auf Grund von Versuchen an der Irrenabtheilung des allgemeinen Krankenhauses des Bekeser Comitats 

(Primararzt Dr. K. Pandy). 

Von den Assistenzärzten Dr. Jenö Halmi und Dr. And. Bagarus. 


r\ie auf die Heilung der Epilepsie gerichteten Ver- 
suche bestätigen in den letzteren Jahren immer 
mehr jene hundertjährige Erfahrung, dass wir die 
Epilepsie nur lindem, jedoch nicht heilen können. 

Die von Jahr zu Jahr als wirkungsvoll gepriesenen 
Heilmethoden haben sich der Reihe nach als wirkungs¬ 
los, bezw. nicht besser als die alten, ja sogar des 
öfteren als gefährlich erwiesen. Insbesondere gelangte 
man zu traurigen Erfahrungen mit einer der letzten, 
der Flechsig’schen, mit Opium combinirten Brom- 
Behandlung, welche seit 1893 seitens mehrerer Au¬ 
toren für eine werthvolle Medication erklärt wurde. 
Im Jahre 1897 mahnte Flechsig*) selbst, den Werth 
der Cur nicht zu überschätzen, erklärte sogar, dass 
sein Schüler Salzburg, welcher zu allererst ein- 
*) Ncurol. Central-Blatt. 


gehendere Mittheilungen gemacht hatte, seinen Artikel 
mit einem etwas jugendlichen Enthusiasmus geschrie¬ 
ben habe. Linke, der vordem das Verfahren an¬ 
empfohlen, sah später ebenfalls seine Täuschung ein 
und als später mehrere rasch aufeinander folgende 
Todesfälle als Resultat der neuen Heilmethode ver¬ 
zeichnet wurden, wurde es zweifellos, dass man sich 
getäuscht habe. 

Diese in der Geschichte der Heilung der Epilepsie 
seit Galenus sozusagen gesetzmässig sich wiederholen¬ 
den Täuschungen ermuthigten, in Anbetracht auch 
noch der allemeuesten Daten Sinkler’s, nach wel¬ 
chen die epileptischen Krämpfe auf verschiedene 
Veranlassungen 2 bis 29 Jahre ausbleiben können, 
um dann wieder zurückzukehren, ferner des Um¬ 
standes, dass die Anempfehler der neueren Mittel 


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Original fram 

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526 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4S. 


nur von 3—4 monatlichen, höchstens von einjährigen 
Erfahrungen Rechnung geben können, nicht sehr 
zum Versuche des allerneucstcn Heilverfahrens. 
Näcke empfahl jedoch auf Grund der an Ort und 
Stelle gewonnenen Eindrücke die sogenannte Tou¬ 
louse-Richet’sche Cur der Epilepsie so warm an, 
dass wir, eben mit Rücksicht darauf, dass „Epilcpsia 
casus tristissimus“, mit derselben dennoch Versuche 
anstellten. 

Die Methode besteht bekanntlich darin, durch 
Entziehungen des Kochsalzes aus der Nahrung für 
die Wirkung des Brom in dem Organismus günstigere 
chemische Verhältnisse zu erzielen; das Brom nimmt 
in gewissem Maasse die Stelle des in den Geweben 
befindlichen Chlors ein und wirkt es so bei dieser 
Diät nicht nur stärker, sondern verbindet es sich mit 
dem Organismus auch inniger und wirkt hierdurch 
zugleich beständiger. 

Wir glaubten den Werth des zu untersuchenden 
Heilverfahrens in folgenden Criterien zu erkennen: 

1. wenn wir mittelst desselben Leidende mit 
öfteren Anfällen und Kranke in grösserer Anzahl 
heilen können; 

2. wenn die allfällige Besserung die zweifellose 
Folge der Behandlung ist, unabhängig von spontanen 
Remissionen und von anderen mit der Cur indirect 
zusammenhängenden Heilfactoren; endlich 

3. wenn die Wirkung des Heilverfahrens längere 
Zeit dauert und die bisher erzielten Erfolge über¬ 
trifft. 

Bei unseren Versuchen bedienten wir uns jener 
Anfallsverzeichnisse, welche in unserer, Ende 1809 
eröffneten Irrenanstalt (Präsenzstand 358) seit 1. Mai 
1 c )öo über durchschnittlich 03 Epileptiker systematisch 
geführt werden. — Wir begannen mit der Heilme¬ 
thode am 1. Mai 1901; 15 Kranke unterwarfen sich 
der Cur, worunter 9 mit mehr als 12 und 6 mit 
3 — 6 Anfällen monatlich. Bei den ersteren kam bei 
regelmässiger Bromtherapie jeden zweiten bis dritten 
Tag ein Anfall vor, bei den Letzteren jeden fünften 
bis sechsten Tag ein Anfall. 

Aus unserer Tabelle ist ersichtlich, dass bei diesen 
15 Kranken bei regelmässiger Bromtherapie, bezw. 
auch ohne jede Veränderung derselben, hochgradige 
spontane Schwankungen vorkamen. So variirt z. B. 
bei unserem Kranken 1. A. S., der zum Versuche 
am zweckmässigstcn erschien, während 6 Monaten 
die Zahl der monatlichen Anfälle zwischen iq und 
31, ja es blieben sogar einmal die Anfälle einen 
Monat lang gänzlich aus, bald wieder hatte er monat¬ 
lich nur 3 Anfälle. — Aehnlich ist der Fall IV; 
ja es sind mehr-weniger alle unsere Fälle ähnlicher 


Art, indem bei einzelnen Kranken die Zahl der An¬ 
fälle monatlich zwischen. 1 bis 7 und zwischen 3 Bis 
104 variirt. — Unsere Tabelle mahnt uns natürlich 
daran, dass die unter der Toulouse-Richet’schen CTir 
sich ergebende Besserung, bezw. die Verminderung 
der Zahl der Anfälle nur in dem Falle der Cur bei¬ 
gemessen werden kann, wenn die Besserung bei der 
überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Fälle sich 
ergiebt. Und dass wir selbst in diesem Falle nicht 
unbedingt sicher sind, beweist dieselbe Tabelle, welche 
zeigt, dass die Gesainmtzahl der Anfälle in einzelnen 
Monaten ohne jede Veränderung der Therapie zwi¬ 
schen 164 und 365 variirt, ja es haben sich sogar 
im Januar unter 15 Fällen 9 spontan gebessert. 

Die II. Abtheilung unserer Tabelle bezieht sich 
auf die durch Entziehung des Brom erfolgten Ver¬ 
änderungen. Wir haben bei unseren Kranken näm¬ 
lich zwei Monate vor Beginn der Toulouse-Richet- 
schen Cur die Verabreichung des Brom eingestellt, 
theils um uns von dem Werthe der bisher befolgten 
Bromtherapie zu überzeugen, theils auch deshalb, da¬ 
mit das im Organismus sich angehäufte Brom mög¬ 
lichst entfernt werde und auf diese Weise ein solches 
Verhältnis» zu Stande komme, als wenn man die 
neue Methode bei solchen Kranken versuchen würde, 
die bisher kein Breun genommen-haben. - 

Aus den derart erhaltenen Daten ergiebt sich 
ohne Zweifel, dass in Folge Entziehung des Brom die 
Zahl der Anfälle anstieg; bei 15 Kranken ist die 
Zahl auf 483 bezw\ 521 angestiegen, während früher 
im Laufe von 10 Monaten die grösste monatliche 
Zahl der Anfälle 365 betrug. 

Es darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, 
dass in Folge der Entziehung des Brom die Zahl 
der Anfälle bei 3 Kranken sich verminderte und bei 
7 (1. A. S., 2. B. J., 6. L. M., 7. P. M., 9. St. J., 
14. P. Zs, 15. St. E.) sich bloss bedeutend steigerte. 
Hingegen sind bei dem Kranken Nr. 4 in Folge 
Entziehung des Brom die Anfälle von 70 auf 157 
bezw*. 198 gestiegen; als w ? ir aber bei diesem Kranken 
das die Haut zu durchbrechen beginnende necro- 
tische, einer spontanen Schenkelfraktur entstammende 
Knochenstück resecirten, fiel die Zahl der Anfälle 
bei gänzlicher Entziehung von Brom monatlich auf 

3—6. 

Dieser Theil unserer Tabelle bezeugt, dass es 
sich bloss bei Epileptikern mit sehr zahlreichen An¬ 
fällen und auch bei diesen nicht immer der Mühe 
lohnt, die bis jetzt übliche Bromtherapie anzuw r enden. 
Sydney-Short und Völker sind jüngst zu glei¬ 
chen Resultaten gelangt. 

Was nun eigentlich unsere auf die Toulouse- 


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152 | 121 













5^8 


Richet’sche Cur bezughabenden Erfahrungen anbe¬ 
langt, so schicken wir voraus, dass wir den Kranken 
täglich 2 1 Milch, 2 Eier, den Männern 750, den 
Frauen 500 g ungesalzenes Brot verabreichen Hessen, 
ausserdem bekam jeder Kranke 2 Wochen hindurch 
täglich 2 Löffel der bei uns üblichen 10 °/ 0 Erlen- 
mayer’schen Bromsolution, was beiläufig 3 g Brom 
entspricht. 

Nach zwei Wochen verminderten wir diese Brom¬ 
portion auf die Hälfte. 

Aus der III. Abtheilung unserer Tabelle ist zwei¬ 
fellos zu ersehen, dass während der auf diese Weise 
durchgeführten neuen Heilmethode die Anfälle bei 
7 Kranken sich verminderten und bei 6 sich ver¬ 
mehrten ; 2 Kranke sind gestorben. — Die Gesammt- 
summe der Anfälle während des ganzen Versuchs¬ 
monats betrug 273, somit in der That beinahe die 
Hälfte als während der Zeit, in welcher das Brom 
entzogen wurde; ein ausschlaggebender Werth darf 
indessen dieser Veränderung, unserer Meinung nach, 
nicht zugeschrieben werden, da die I. Abtheilung der 
Tabelle zeigt, dass die Zahl der gesammten Anfälle 
bei regelmässiger Diät und Bromtherapie unter 10 
Monaten sechsmal eine geringere war, als während 
dieser Zeit. — Wenn man aber die einzelnen, schein¬ 
bar gebesserten Fälle näher untersucht, so findet man 
auch unter diesen keinen einzigen, bei dem die Re¬ 
missionen auch spontan nicht ebenso gross oder noch 
bedeutender gewesen wären. 

Als wir zur gewöhnlichen Bromtherapie zurück¬ 
kehrten, stieg die Zahl der sämmtlichen Anfälle bei 
den verbliebenen 13 Kranken auf 324, fiel aber 
später, trotzdem wir bei 5 Kranken das Brom gänz¬ 
lich wegliessen, auf 219, sogar auf 209. 

Aus der III. Abtheilung der Tabelle ist zu sehen, 
dass bei unserem Kranken Nr. 4, welcher früher 
während der Entziehung von Brom monatlich 198 
Anfälle hatte, bei der olygochlorischen Therapie die 
Zahl der Anfälle in einem halben Monate sich auf 
48 verminderte, in der zweiten Hälfte des Monats 
blieben die Anfälle gänzlich aus; aus der I. Abthei¬ 
lung der Tabelle indessen ergiebt sich, dass die Zahl 
der monatlichen Anfälle des Kranken zwischen 3 und 
106 schwankte. Bei demselben Kranken blieben die 
Anfälle in der 3. und 4. Woche gänzlich aus. Man 
muss indessen hier berücksichtigen, dass dieser Kranke 
in Anbetracht der während der abromischen Zeit an¬ 
gestiegenen Anfälle dreimal grössere Bromportionen 
bekam als die anderen Kranken, anderestheils, dass, 
wie bereits erwähnt, nach der Resection des necro- 
tischen Knochens, trotz der Entziehung des Brom 


[Nr. 48. 


und der gewöhnlichen Diät sich die Zahl der Anfälle 
monatlich auf 6 — 3 verminderte. 

Das Körpergewicht der Kranken hat sich laut 
den systematisch geführten Verzeichnissen nicht we¬ 
sentlich verändert; bei einigen Kranken ist es un¬ 
bedeutend gestiegen, bei anderen unbedeutend ge¬ 
sunken. 

Abgesehen von der, wie bereits bemerkt, nicht 
besonders bedeutenden Abnahme der Zahl der An¬ 
fälle bei der olygochlorischen Bromtherapie beobachteten 
wir eine zweifellos gesteigerte Wirkung auf das Ner¬ 
vensystem. Unsere Versuchskranken wurden ruhiger, 
unempfindlicher; auch früher muntere Patienten sassen 
unthätig und niedergeschlagen zwischen den Anderen, 
es kam die Verlangsamung der psychischen Processe 
bei einzelnen sogar in Gestalt von wahren Stupor 
und Delirien zum Ausdruck. 

Wir haben bereits oben erwähnt, dass diese, alle 
Functionen des Nervensystems herabsetzende und 
auch durch Thierversuche erwiesene Wirkung des 
Brom bei 2 unserer Kranken eine letale Intoxication 
herbeiführte. 

Aus der Geschichte eines dieser Patienten (Nr. 10 
G. R., 40 J. a., ledig) erwähnen wir Folgendes: An¬ 
geblich litt bereits ein Onkel an Epilepsie, Patientin 
selbst hat seit ihrem ersten Lebensjahre epileptische 
Anfälle, welche seit ihrem 35. Jahre sich so ver¬ 
mehrten, dass sie arbeitsunfähig wurde und nahmen 
in Verbindung damit auch ihre geistigen Fähigkeiten 
bedeutend ab. — Vom 1. Jan. 1894 bis 25. Jan. 
1895 hatte Patientin manchmal täglich auch mehrere 
Anfälle, wonach sie 2 — 3 Tage lang ganz verwirrt 
war, lachte, weinte, allerlei unsinniges Zeug verübte 
und endlich in eine Stunden lang andauernde Apa¬ 
thie verfiel, während welcher Zeit sie mit cyanotischem 
Gesichte zu Bette lag. — Seit 1896 hatte sie monat¬ 
lich 3 — 34 Anfälle, einmal lag sie zwei Tage hin¬ 
durch ganz bewusstlos. Wir pflegen sie in unserer 
Anstalt seit 13. November 1899; bei uns hatte sie 
bei der erwähnten Bromtherapie monatlich 1 — 11 
Anfälle. — Am 23. Februar 1901 stellten wir die 
Bromtherapie ein, trotzdem vermehrten sich ihre An¬ 
fälle nicht. — Am 1. Mai begannen wir die Tou¬ 
louse-Richet’sche Cur mit 3 g Brom. — Bis zum 7. 
desselben Monats befand sich die Patientin ziemUch 
wohl und hatte keine Anfälle. Am 17. stellten wir 
in Folge der eingetretenen Schwäche, Apathie und 
stuporösen Zustandes die Verabreichung des Brom 
ein, Hessen jedoch die Diät auch weiterhin einhalten, 
ergänzten dieselbe sogar um 6 Decil. weissen Kaffee. 
Am 24. Mai trat hochgradige motorische Unruhe 
auf, Patientin wurde ganz verwirrt, aufgeregt, absti- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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nirt. Von diesem Tage an bekam Patientin täglich 
2 Esslöffel einer 10% Kochsalzsolution, was 9 g 
Kochsalz entspricht. — Trotz dieser Behandlung 
wurde Pat. am ganzen Körper cyanotisch, der Puls 
wurde immer frequenter, sehr schwach und trat trotz 
der Verabreichung von Digitalis der Exitus ein. Als 
Todesursache mussten w*ir eine infolge von Brom¬ 
in toxication eingetretene Herzschwäche annehmen. 

Der zweite letal geendete Fall (Nr. 13. B. J.) be¬ 
traf eine 42 Jahre alte Frau. — Dieselbe litt an 
Epilepsie seit ihrem 18. Lebensjahre, die Anfälle er¬ 
schienen während ihres Aufenthaltes in der Anstalt 
monatlich 10—14 mal. Im Januar 1901 hatte sie 
11 Anfälle. — Ende Februar trat in Folge der Ent¬ 
ziehung des Brom ihre Bromacne zurück, Pat. ver¬ 
hielt sich ruhig und vernünftig, sie ist orientirt, strickt 
den ganzen Tag. Bis 1. Mai vermehrte sich wäh¬ 
rend der Entziehung des Brom die Zahl ihrer An¬ 
fälle nicht beträchtlich, bis 6. Mai fühlte sie sich 
ziemlich wohl, am 13. Mai beklagte sie sich über 
peinliche Halsschmerzen, wurde dann stuporös, der 
Puls wurde klein und immer frequenter, pro Minute 
96, weshalb wir auch das Brom einstellten und die 
Kranke in’s Bett legten. Am 20. Mai wurde Pat. 
trotz Entziehung des Brom immer schwächer, ganz 
stuporös, sie delirirt, iiess Urin und Stuhl unter sich, 
zeitweise erscheint eine hochgradige motorische Un¬ 
ruhe. — Mit Verdacht darauf, dass diese schweren 
Erscheinungen nicht nur von der gesteigerten Brom¬ 
wirkung, sondern auch von der Entziehung des Koch¬ 
salzes herrühren könnten, gaben wir der Kranken 
täglich auf 3 Dosen vertheilt insgesammt q g Koch¬ 
salz in Wasser aufgelöst und stellten ihre gewöhn¬ 
liche, mit Kaffee, Braten und Compot verbesserte 
Kost zurück. Trotzdem wurde die Kranke immer 
schwächer, bekam tiefen Decubitus, im Urin erschien 
in geringer Menge Eiweiss. — Trotz Digitalis waren 
wir nicht im Stande, die immer fortschreitende 
Schwäche aufzuhalten; an den Extremitäten der Kran¬ 
ken erschienen Oedeme, es trat mässige Cyanosis 
auf und am 18. Juni verschied die Kranke. — Als 
Todesursache wurde ebenfalls durch Bromin toxication 
verursachte und durch Entziehung von Kochsalz be¬ 
schleunigte Herzschwäche angenommen. 


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Mit der auffallenden Verschlimmerung des Zu¬ 
standes dieser Kranken hielten wir es für nothwendig, 
uns davon zu überzeugen, ob die Bromintoxication 
oder die Entziehung des Kochsalzes, bezw. beide zu¬ 
sammen es seien, die die Erscheinungen verursachten 
und versuchten wir infolgedessen die olygochlorische 
Milchdiät ohne Verabreichung von Brom bei zwei 
nicht epileptischen unserer Kranken. — Bei diesen 
Kranken traten nach zwei Tagen allgemeines Un¬ 
wohlsein und Erscheinungen von allgemeiner Schwäche 
ein, so dass wir auch auf entschiedenen Wunsch der 
Kranken von der Fortsetzung der Versuche abstehen 
mussten. 

Wir finden es für nothwendig, ausser dem Obigen 
noch zu erwähnen, dass wir bei einem unserer Kran¬ 
ken, bei welchem von Zeit zu Zeit 8— 10 Tage 
dauernde, ausserordentlich starke, mit Brom durch¬ 
aus nicht zu besiegende psychische Aufregungen er¬ 
scheinen, auch mit der Verabreichung von olygochlo- 
rischen Bromdosen keinen Erfolg erzielten. — 

Ende Mai 1901 stellten wir die olygochlorische 
Therapie bei unseren sämmtlichen Kranken ein, nicht 
nur deshalb, weil wir keine objective Besserung be¬ 
obachteten, sondern auch deshalb, weil die Kranken 
die Fortsetzung der Cur entschieden verweigerten. 

Nach alldem können wir unsere Resultate darin 
zusammenfassen, dass die Toulouse-Richet’sche Heil¬ 
methode die Epilepsie weder heilt, noch bessert. 
Wohl gelangt die Wirkung des Brom bei künstlicher 
Entziehung des Chlor besser zur Entfaltung, doch ist 
die stärkere Wirkung mit der Gefahr einer verschie¬ 
den schweren Brom Vergiftung verbunden und somit 
kann die Methode nicht nur nicht empfohlen werden, 
sondern ist dieselbe entschieden gefährlich. 

Abgesehen hiervon scheitert eine längere Zeit 
hindurch währende Anwendung auch an der Weige¬ 
rung der Patienten und ist die Methode schon aus 
diesem Grunde illusorisch. 


Nachtrag bei der Correctur. 
Selbstverständlich haben wir bei unseren Versuchen sowie 
bei der Beurtheilung unserer Versuchsresultate uns bemüht, 
womöglich jede Art von Suggestion zu vermeiden. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


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5.V> PSYCH IATRISCH- NEUKOL()GISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 48 


Mittheilungen. 


— Der Preuss. Justiz-Ministerial-Erlass vom 

1. October 1902 im preussischen Abgeordneten¬ 
haus. Sitzung vom 12. II. 1903. 

Abgeordneter Dr. Kirsch (Düsseldorf, ('entrinn): 

„Meine Herren, ich möchte, eine Verfügung des 
Herrn Justizministers aus dem vorigen fahre einer 
Critik unterziehen. Dieselbe hat die Gerichte, be¬ 
sonders also die Amtsgerichte, angewiesen, in Ent¬ 
mündigungssachen hauptsächlich den Kreisarzt als 
Sachverständigen zuzuziehen. Sie hat sich dabei auf 
Bestimmungen der Civilprocessordnung bezogen, in¬ 
dem es im $ 404 heisse, dass, wenn für gewisse 
Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt 
seien, andere Personen nur dann gewählt werden sollen, 
wenn besondere Umstände es erfordern — und cs 
wird davon ausgegangen, dass ein derartiger Sachver¬ 
ständiger der Kreisarzt sei. Meine Herren, ich weiss 
nicht, ob diese Heranziehung des § 404 ganz gerecht¬ 
fertigt ist bezüglich des Kreisarztes, der ja nicht Sach¬ 
verständiger für eine bestimmte medicinische Frage 
ist, sondern der eigentlich für alle derartigen Fragen, 
die in seinem Kreise Vorkommen, als Sachverständiger 
aufzutreten hat. 

Ich habe mir, als ich die Verfügung zunächst zu Ge¬ 
sicht bekam, gedacht: es solle damit ein gewisses Aus- 
kunftsmiltel geschaffen werden, um die Einnahmen des 
Kreisarztes zu vermehren, der ja eine, wenn auch 
jetzt erhöhte, doch immer noch nicht genügende Be¬ 
soldung aus der Staatskasse erhält. Andererseits muss 
ich aber doch darauf aufmerksam machen, dass durch 
die Zuziehung der Kreisärzte vielfach recht erhebliche 
Mehrkosten der Staatskasse und auch den Parteien 
erwachsen. In sehr vielen Fällen — ich glaube es 
ist die Mehrzahl der Fälle — werden die zu Ent¬ 
mündigenden in Irrenanstalten untergebracht sein, und 
dort sind die Irrenärzte meines Erachtens die be¬ 
rufenen Sachverständigen, die zuzuziehen sind. Mir 
sind Fälle bekannt, in denen regelmäßig in der Irren¬ 
anstalt der betreffende Irrenarzt als Sachverständiger 
zugezogen wird, der seine Vorbesuche macht, sein 
Gutachten abgiebt und dafür 20 bis 30 Mk. liquidirt, 
während, wenn aus der benachbarten Stadt der Kreis¬ 
arzt kommen sollte, dieser Betrag, sobald der Kreis¬ 
arzt Reisen unternehmen muss, um die Vorbesuehe 
zu machen, sich verdoppeln, ja verdreifachen würde. 

Nun ist ja in der Verfügung hervorgehoben : w enn 
besondere Umstände es erforderlich erscheinen lassen, 
könne der Richter auch andere Sachverständige er¬ 
nennen. Ich denke, dass eine möglichst weite Aus¬ 
legung dieser Vorschrift zulässig ist, und dass die 
Gerichte, wenn eine erhebliche Kostenersparniss in 
Frage steht, namentlich für die Staatskasse — indem 
sie an die Oberrechnungskammer denken! — dann 
ohne wx-itercs nicht den Kreisarzt, sondern den ge- 
wissermaassen auch beamteten Arzt der Irrenanstalt 
als Sachverständigen zuziehen. Ich hoffe, dass der 
Herr Justizminister mit einer weitgehenden Auslegung 
dieser Verfügung einverstanden sein wird.* 4 

Der preuss. Justizminister, Dr. Schönstedt er¬ 
widerte hierzu: 


„.. . Der Herr Abgeordnete Kirsch hat dann eine von 
mir im September vorigen Jahres erlassene Verfügung 
zur Sprache gebracht, die in ärztlichen Kreisen und 
in der Presse vielfach angefochten worden ist, und 
die sich auf die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger 
in Entmündigungssachen bezog. Ich muss noth- 
wendigerweise da ein bischen ausholen, um den 
Herren klar zu machen, worum es sich eigentlich 
handelt, und, wie ich hoffe, sie zu überzeugen, dass 
die Justiz Verwaltung in dieser Sache ein berechtigter 
Vorwurf nicht trifft. 

Es war im Jahre 1899 aus Anlass der durch das 
Bürgerliche Gesetzbuch und die Novelle zur Civil- 
prozessordnung eingeführten Aenderung im Ent¬ 
mündigungsverfahren eine allgemeine Verfügung er¬ 
lassen worden, die den Amtsgerichten eine Weisung 
und Winke bezl. des Verfahrens in diesen Sachen gab. 
Der § 14 dieser Verfügung begann mit den Worten : 
Bei den Ermittelungen in Entmündigungssachen 
wird den Amtsrichtern die Beachtung nachstehender 
Punkte empfohlen. 

Unter diesen empfohlenen Punkten lautet dann 
der zweite: 

Die Wahl der Sachverständigen ist in erster Linie 
auf solche Personen zu richten, welche auf dem 
Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer 
Erfahrung besitzen. Sind solche Personen nicht 
zu erreichen, so ist die Wahl wenn möglich auf 
einen Kreisphvsikus (Kreisarzt) oder wenigstens 
auf einen zu diesem Amte geprüften Arzt zu 
richten. 

Diese Verfügung enthielt an sich nichts Neues, sie 
stimmte fast wörtlich mit einer älteren Verfügung vom 
Jahre 1887 überein. 

Nachdem am 1. April 1001 das Gesetz über die 
Kreisärzte in Kraft getreten w r ar, wandte sich der 
Vorstand des preussischen MedicinalbeamtenVereins 
mit einer Beschwerde an den Herrn Minister der 
Medi( inalangclegenheiten, in welcher er unter Berufung 
auf die Bestimmungen des Kreisarztgesetzes den An¬ 
spruch erhob, dass nach den Vorschriften der Civil- 
prozessordnung auch in Entmündigungssachen an 
erster Stelle der Kreisarzt als Sachverständiger zuzu¬ 
ziehen sei. Nach diesem Gesetz ist der Kreis¬ 
arzt Gcriehtsarzt seines Bezirks, und in der Be¬ 
gründung zu dem Gesetze ist der Begriff „Gerichts¬ 
arzt“ ausdrücklich dahin erläutert: „also der öffentlich 
bestellte ärztliche Sachverständige seines Bezirks“. 
Darauf stützte sich der Medicinalbeamtenvcrein. 

Der § 404 der Civilprozessordnung bestimmt nun: 
Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen 
und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch 
das Prozessgericht. Sind für gewisse Arten von 
Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so 
sollen andere Personen nur dann gewählt werden, 
wenn besondere Umstände cs erfordern. 

Der Herr Minister der Mcdicinalangelegenheiten 
theilte mir diese Eingabe des Medicinalbeamtenvereins 
mit. Es haben darüber Verhandlungen zwischen 
unseren beiderseitigen Ressorts stattgefunden, die zu 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 531 


dem Ergebniss geführt haben, dass wir den Anspruch 
des Vereins als einen berechtigten anerkennen mussten. 
Denn in des That liegt die Sache so, dass nach dem 
Kreisarztgesetz, wie ich eben schon gesagt habe, der 
Gerichtsarzt in ärztlichen Angelegenheiten Sachver¬ 
ständiger für seinen Bezirk ist, und dass deshalb der 
$ 404 der Civilprozessordnung auf ihn Anwendung 
findet. Diese Ueberzeugung hat mich bestimmt, im 
Einverständniss mit dem Herrn Cultusminister, die 
angefochtene Verfügung zu erlassen. 

Nun ist in dieser Verfügung irrtümlicherweise 
eine Weisung an die Richter erblickt worden. Das 
erklärt sich nur dadurch, dass die ursprünglic he Ver¬ 
fügung, in die dieser neue Satz eingeschoben wurde, 
den Lesern selbstverständlich nicht bekannt war. Wenn 
sie den Eingang des Satzes, in den dieser Untersatz 
einbezogen wird, gekannt hätten, wenn ihnen bewusst 
gewesen wäre, dass darin nur stand: es wird den 
Gerichten empfohlen —, dann hätte die Meinung 
gar nicht aufkommen können, dass es sich um An¬ 
weisungen gehandelt habe. Eine Anweisung an die 
Gerichte ist niemals beabsichtigt, und ich habe dies 
sogar in einem Schreiben an den Herrn Cultusminister 
ausdrücklich zum Ausdruck gebrac ht, indem ich dem¬ 
selben unter dem 18. August v. Js. schrieb: 

Die Auswahl der Sachverständigen sei lediglich 
Sache des richterlichen Ermessens, und dem 
Justizminister stehe nicht zu, durch Weisungen 
irgend welcher Art einzugreifen; es solle daher 
durch Anführung des § 404 Absatz 2 der Civil¬ 
prozessordnung klargestellt werden, dass nur ein 
Hinweis auf dieses Gesetz, nicht aber eine da¬ 
rüber hinausgehende Empfehlung beabsichtigt 
worden ist. 

Das ist also der Sinn und die Bedeutung dieser an¬ 
gefochtenen Verfügung. Ich glaube, dass man das 
im Laufe der Zeit in ärztlichen Kreisen erkannt hat. 
Wenigstens ist in einer ordentlichen Generalversammlung 
des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz, die am 
15. November v. J. stattgefunden hat, nach einem 
mir von dem Verein selbst zugesandten Protokoll von 
den Aerzten, die dort zu Worte gekommen sind — 
dieser Punkt stand nämlich auf der Tagesordnung — 
von einem ausdrücklich anerkannt worden: der Justiz¬ 
minister habe nicht anders handeln können. Ein 
anderer Arzt hat gesagt: der Erlass sei aus dem Kreisarzt¬ 
gesetz und der Civilprozessordnung zu erklären. Ein 
dritter Arzt, der wahrscheinlich Medicinalbeamter war, 
hat erklärt: die frühere, von mir aufgehobene Ver¬ 
fügung sei ein Misstrauensvotum gegen die Medicinal- 
beamten gewesen und sei von diesen als ein solches 
sehr schwer empfunden. Der hat sich also vollständig 
auf den Standpunkt der Justizverwaltung und der 
Medicinalverwaltung gestellt. Die Generalversammlung 
ist schliesslich zu dem Beschluss gekommen, die Sache 
zunächst nicht weiter zu verfolgen, sondern sie dem 
Verein deutscher Irrenärzte zur eventuellen weiteren 
Veranlassung zu überweisen. Was daraufhin weiter 
erfolgt ist, habe ich bisher nicht erfahren; aber ich 
glaube, dass wir gut thun werden, abzuwarten, ob der 
Verein der deutschen Irrenärzte sich noch veranlasst 
sehen wird, die Verfügung noch weiter anzufechten. 

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Mir hat der Gedanke vollständig fcrngelegen, die 
Einnahmen der Medicinalbeamten auf diesem Wege 
irgendwie zu erhöhen; ich habe aber den Einspruch 
gegen den Wortlaut der früheren Verfügung als einen 
nach dem Gesetz berechtigten anerkennen müssen, 
und deshalb allein habe ich mich für verpflichtet ge¬ 
halten, die Verfügung so, wie sie lautet, zu erlassen.“ 
(Abdruck aus dem stenogr. Protokolle.) 

— Der Heilwerth der Hypnose. Die auf 

Veranlassung des preuss. Cultus-Ministers von der 
Acrztekammer eingesetzte Hypnose-Commission, die 
sich über den Heilwerth der Hypnose und über den 
Umfang und den Erfolg ihrer Verwendung in der 
ärztlichen Praxis äussern sollte, hat der Kammer ihren 
Bericht vorgelegt. 

Die Commission, der Professor Mendel, der Di- 
rcctor Dr. Gock-Landsberg a. W., Dr. Munter und 
Sanitätsrath Aschenhorn angehören, bestreitet im all¬ 
gemeinen die Bedeutung des Hypnotismus für die 
Heilung von Krankheiten. Es sei von vornherein 
ausgeschlossen, dass der Hypnotismus im stände sein 
könne, Krankheiten zu heilen, durch welche eine or¬ 
ganische Veränderung eines Organs bedingt werde. 
Auch die Möglichkeit der Heilung der Epilepsie 
durch Hypnotismus wird u. a. auch auf Grund früherer 
Versuche eines Commissionsmitgliedes bestritten. An¬ 
gebliche Heilerfolge werden auf falsche Diagnose zu¬ 
rückgeführt. Ebenso wird in Abrede gestellt, dass 
die Hypnose Heilerfolge bei hysterischen Störungen, 
bei denen sie bekanntlich eine sehr grosse Rolle 
spielen soll, hervorbringen könne. Hysterie sei nur 
zu heilen, wenn es gelinge, den Kranken gegen die 
erhöhte Suggestibilität widerstandsfähig zu machen, 
und bei einer solchen Krankheit könne natürlich ein 
Mittel, das Suggestion auf Suggestion häufe, nichts 
nutzen. Da endlich auch die functioncllen Geistes¬ 
krankheiten der hypnotischen Behandlung in der Regel 
überhaupt unzugänglich seien, könne auch da von 
einem Heilerfolge keine Rede sein. 

Etwas anderes sei es mit der Anwendung des 
Hypnotismus zur Beseitigung einzelner Symptome einer 
Krankheit. Kein verständiger Arzt werde am Kran¬ 
kenbett auf eine suggestive Wirkung verzichten; dass 
die Wachsuggestion und die Hypnose im stände seien, 
die verschiedensten Kiankheitssymptome zum Ver¬ 
schwinden zu bringen — ohne aber die Krankheit 
zu heilen — sei nicht zweifelhaft. Der Erfolg werde 
bestimmt durch das grössere oder geringere Geschick 
des Suggerirenden, durch äussere Umstände und durch 
die Suggestibilität des Kranken. Gestehe man aber 
der Ilypnotisierung einen Platz in der symptomatischen. 
Therapie zu, so dürfe man doch nicht ausser Acht 
lassen, dass sie im Gegensatz zu anderen Mitteln der 
Suggestion nicht ohne Gefahren sei, theils könnten 
geistige Störungen eintreten, theils würden zwar ein¬ 
zelne Symptome wegsuggerirt, die Krankheit selbst 
aber gesteigert. Die Gefahr wachse, wenn der Hyp¬ 
notismus von Laien angewendet werde, die nicht in 
der Lage seien, ungeeignete Fälle von vornherein 
auszuschliessen oder begonnene Hypnotisirung im er¬ 
forderlichen Falle abzubrechen. 

Je bekannter übrigens die Methode im Publicum 

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532 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 48. 


werde, desto geringer seien die Erfolge geworden, da 
gerade hier ja eben das Unbekannte, anscheinend 
Wunderbare und Uebematürliche wirke, während der 
Erfolg mit dem mangelnden Glauben natürlich aus- 
bleiben müsse. Nach der allgemeinen Erfahrung sei 
es daher ganz unzweifelhaft, dass in letzter Zeit der 
Umfang des Hypnotismus sehr erheblich abgenommen 
habe. 

— Die American Medico-Psychological Asso¬ 
ciation, welche sich der Vereinigung amerikanischer 
Aerzte und Chirurgen angcgliedcrt hat, wird ihre dies¬ 
jährige Sitzung gleichzeitig mit dieser Vereinigung in 
Washington abhalten, deren Congrcss vom 12. bis 
15. Mai stattfindet. Nähere Auskunft ertheilt Dr. C. B. 
Burr, Secretür der Am. Med.-Psych. Gesellschaft in 
Flint, Mich. 


Referate. 

— Möbius, Ueber die Ekstase. Die Zeit. 
32. B. H. 406. Wien, 1902. 

Die ekstatischen Erscheinungen haben zu allen 
Zeiten und an allen Orten eine wichtige Rolle gespielt, 
sie sind eine Wirkung allgemein menschlicher Eigen¬ 
schaften , unentbehrlich, und haben trotz mancher 
Nachtheile die Cultur gefördert. Ekstase heisst: in 
einem von dem gewöhnlichen abweichenden Bewusst¬ 
seinszustande sein. Bewusstsein bedeutet schlechthin 
Erinnerungsfähigkeit. Unter Bewusstlosigkeit versteht 
man den Zustand, in dem die seelische Fähigkeit auf¬ 
gehört hat, und andererseits den Zustand, zu dem 
keine Gedächtnissbrücke führt. M. meint, eine Zeit, 
von der keine Erinnerungen geblieben sind, sei für 
uns der gleich, in der sich nichts ereignet hat. (Dem 
kann Referent nicht ganz beistimmen.) Unbewusst 
nennen wir vorausgesetzte seelische Vorgänge, von 
denen wir keine Erinnerung haben. Von Bewusst¬ 
seinsstörung spricht man, wenn Erinnerungslosigkeit 
in irgend einem Grade vorhanden ist. Es handelt 
sich dabei um eine Verminderung oder um eine Ein¬ 
engung des Bewusstseins. Bei Ekstase besteht Ein¬ 
engung des Bewusstseins, welches an Breite verliert. 
Je energischer die Thätigkeit ist, umso stärker ist die 
Einengung. So sehr auch die Einengung durch Wider¬ 
standsunfähigkeit, Suggcstibilität von der durch die Stärke, 
durch die Uebermacht von Trieben, durch Leiden¬ 
schaft oder Genialität verschieden sein mag, der Aus¬ 
druck Ekstase wird hier mit Recht gebraucht. Der 
ekstatische Zustand eingeengten Bewusstseins wird 
durch ein starkes Lustgefühl gekennzeichnet. Das 
Lustgefühl kann mit verschiedenen Vorstellungen ver¬ 
bunden sein, aber nur dann darf man von Ekstase 
reden, wenn das Lustgefühl überwiegt. Demnach haben 
wir zwei Bestandtheile der Ekstase, Einengung des 
Bewusstseins und starkes Lustgefühl. ZurNoth könnte 
man für die Ekstase mit Bewegungslosigkeit den Aus¬ 
druck Verzückung gebrauchen, während für die active 
Ekstase Begeisterung anzuwenden wäre. Doch geht 


eins in das andere über. Das Wesen bei beiden ist 
dasselbe. Nach oben hin lässt sich das Lustgefühl 
nicht eingrenzen, wohl aber nach unten, wenn auch 
die Grenzbildung immer willkürlich ist. Vielleicht 
mag man von Ekstase reden, wenn die Freude mit 
einem Rauschgefühle verbunden ist. Das Verhältnis 
der Einengung des Bewusstseins zum Lustgefühl ist 
schwer zu bestimmen. Die Einengung kann ohne stärkere 
Gefühle verlaufen, doch jede grosse Lust geht mit 
Einengung des Bewusstseins einher. Aber bei dei 
Ekstase darf die Lust nicht als Ursache der Eineng¬ 
ung angesehen werden. In vielen Fällen führt die 
Thätigkeit erst zur Einengung und dann zur Lust. 
Weit häufiger entsteht die Ekstase durch fremde 
Thätigkeit. Mag es auch gelingen, die Beziehungen 
zwischen Einengung und Lust in eine einfache Formel 
zu bringen, so sind doch bei der echten Ekstase 
immer beide Bestandtheile psychisch vermittelt. Das 
ist wichtig. Ein beträchtlicher Theil der ekstatischen 
Zustände gehört zur Hysterie. Es fehlt aber nie die 
psychische Vermittlung, welche gleichfalls organisch 
bedingt, für uns aber nur von innen her fassbar ist. 
Darin besteht der Gegensatz von psychisch vermittelt 
und organisch. Von der echten, psychisch vermittelten 
Ekstase sind ähnliche Zustände zu scheiden, die 
durch nichtpsychische Einwirkungen auf das Gehirn, 
Gifte, verursacht werden. „Diese organisch vermittelten 
Zustände mögen der Ekstase so ähnlich sein, wie sie 
wollen, sie sind doch principiell etwas anderes. Mag 
man sie Pseudo-Ekstasen nennen, nur vergesse man 
den Unterschied nicht. In der That kommen be¬ 
sonders bei der Vergiftung durch narkotische Stoffe, 
Alkohol, Opium, Haschisch und ähnliche Stoffe Pseudo- 
Ekstasen vor, aber bei ihnen ist das Lustgefühl 
mit Verminderungdes Bewusstseins verknüpft, 
nicht mit einer einfachen Einengung, die ver¬ 
mehrte Arbeit liefern kann. Wenigstens ist hier die 
Einengung mit paralytischen Zuständen vereinigt, die 
eine ernstliche Störung darstellen und vermöge deren 
nichts Brauchbares herauskommen kann. Die Ekstase 
des Hysterischen kann mit der des Künstlers wesens¬ 
gleich sein, nur der verschiedene Werth der Persön¬ 
lichkeiten giebt den Unterschied. Aber die Pseud o - 
Ekstase des Betrunkenen hat nichts dabei zu 
suchen, sie gehört einfach zuden Gehirnkrank¬ 
heiten und sie mag mit den ekstaseähnlichen Zu¬ 
ständen, die man bei den Maniakalischen und bei 
Verrückten beobachtet, zusammengestellt werden.“ 

J. S. Mas eher-Hubertusburg. 


Personalnachrichten. 

— Der Director der psychiatrischen und Nerven- 
klinik und Poliklinik in Halle, ord. Professor Geh. 
Medicinalrath Dr. E. Hitzig hat wegen eines Augen¬ 
leidens einen Urlaub bis Ende September erbeten, 
um alsdann definitiv in den Ruhestand zu treten. 
Geh. Rath Hitzig wirkt seit 1879 in Halle. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schieden). 

F■scheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnornann’sche Buchdruckerei (Gebr. WolfT) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 

Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meereiiberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice ^Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marho ld Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 49 . 7. März. 1903 . 

Die Psychiatrisch-Ne ur olo g is che Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro (Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltigc Petitzeiie mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erniässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), 2u richten. 

Inhalt. Originale: Ueber einige forensisch-psychiatrische Fragen. Von Regierungs- und Sanitätsrath Dr. A. Tilkowsky, Direk¬ 
tor in Wien (S. 534C — Aus der Geschichte der Epilepsie. Von Privatdocent Dr. Weygandt in Würzburg (S. 539b — 
Internationaler Aufruf an die Irren- und Nerveuärzte (S. 542). — Italienische Irrenanstalten (S. 542) — Mittheilungen 
(S. 543): Die erste Prov.-Heilanstalt für Nervenkranke. 


Abonnements -Erneuerung. 

Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift (bei den Postämtern unter Nr. 6495 
des Zeitungs-Kataloges) baldigst zu erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen 
kann. 

Diejenigen unserer verehrl. Abonnenten, welche die Wochenschrift unter 
Kreuzband empfangen, erhalten dieselbe weiter geliefert, sofern eine Abbestellung 
nicht erfolgt. 

Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ tritt demnächst in ihren V. Jahr¬ 
gang. Die Zahl der Mitarbeiter ist erheblich gewachsen. Der Umfang der Wochenschrift ist 
gegenüber demjenigen des I. Jahrgangs um hist den vierten Theil vermehrt. Gleichwohl ist der 
Abonnementspreis derselbe geblieben. 

Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“ 

Carl Marhold in Halle a. S. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40. 


Ueber einige forensisch-psychiatrische Fragen*.) 

Von Regiemngs- und Sanitätsrath Dr. A. Tilkowsky , Director in Wien. 


Meine Herren! 

enn ich in dieser geehrten Versammlung das 
Wort zu nehmen mir gestatte, so thuc ich es 
nicht deshalb, weil ich mir anmaassen würde, über 
sämmtlichc psychiatrische Fragen, welche den Experten 
in dem Frageschema über die Voruntersuchung im 
Strafverfahren vorgelegt worden sind, Auskunft geben 
zu können. Der grössere Theil der Fragen ist eigent¬ 
lich an die Adresse der Gcrichtspsvchiater geric htet, 
und ich bin kein Gcrichtspsvchiater. 

Indessen sind manche dieser Fragen von princi- 
picllcr Bedeutung und streifen durch ihren Zusammen¬ 
hang mit wissenschaftlichen Problemen so sehr das 
allgemeine Gebiet der Psychiatric, dass, wohl auch 
der Anstaltsarzt gehört zu werden verdient. 

In dieser Beziehung ist namentlich die letzte 
Frage des Schemas von weitgehendem Interesse, welche, 
indem sie einen notorischen Ucbelstand der heutigen 
Rechtspflege bloslegt, zu einer Fülle von Betrachtungen 
Anlass giebt. 

Es ist die Frage XXV: „Wie erklärt es sich, 
dass auf dem Gebiete einzelner geistiger Erkrankungen, 
insbesondere auf dem Gebiete der psychopathischen 
Minderwertigkeit so häufig ein Zwiespalt in den Mein¬ 
ungen der sachverständigen Psychiater zu Tage tritt ?“ 
„Sind cs Umstände wissenschaftlicher oder auch prac- 
tischer Natur, welche einen Erklärungsgrund für diese 
Erscheinung geben? Wie ist dieser Dissonanz der 
Meinungen abzuhelfen ?“ 

Ich werde mich zunächst mit dieser Frage etwas 
eingehender befassen. 

Nach meiner Ansicht liegt der Hauptgrund des 
so häufigen Zwiespaltes in den Meinungen der sach¬ 
verständigen Psychiater in der durch das Strafgesetz 
streng gebundenen Form, in welcher die Sachverstän¬ 
digen ihr Endgutachten abzugeben haben. Mögen 
diese noch so zweifeln und schwanken, sie stehen 
schliesslich doch vor der entscheidenden Frage: War 
der Thäter zur Zeit der Verübung des Deliktes des 
Gebrauches der Vernunft ganz beraubt, oder war er 
es nicht? Das heisst ins Juristische übersetzt: 

War er zurechnungsfähig, oder war er es nicht? 

Das Strafgesetz hat es wohlweislich vermieden, 
in das Moment der Zurechnungsfähigkeit einen medi- 
cinischen Begriff hineinzutragen, und überlässt cs im 

*) Vortrag, gehalten in der Kulturpolitischen Gesellschaft 
am 16. Januar 1903 


Uebrigen den Sachverständigen, sich mit der Franc 
abzufinden, ob und in welcher Weise das Beraubtsein 
der Vernunft von einer etwa vorhandenen Geistes¬ 
störung abhängig zu machen sei. 

Der Vorsitzende, Herr Hofrath Pelser, hat bei 
seiner Expertise in der vorigen Sitzung unter Anderem 
auch die Frage der psychiatrischen Sachverständige:! 
gestreift und gemeint, der Sachverständige möge sich 
auf die Begutachtung des Falles und die Hervorheb¬ 
ung eventueller krankhafter Momente beschränken, 
die Frage der Zurechnungsfähigkeit aber dem Richter 
überlassen. Man kann ja dieser Auffassung zustimmen, 
obwohl sie nicht von allen Psychiatern getheilt werden 
dürfte. Ich meinerseits möchte meinen, die Sach¬ 
verständigen hätten allen Grund, damit zufrieden zu 
sein, dass sie der oft schwierigen Frage der Zurech¬ 
nungsfähigkeit überhoben sind. 

Wird aber ihre Aufgabe dadurch auch nur im ge¬ 
ringsten erleichtert, dass nicht sie, sondern die Richter 
über das Moment der Zurechnungsfähigkeit entscheiden? 
Bleibt die Schwierigkeit auf Seite der Sachverständigen 
nicht Fortbestehen, wenn das SubstratJ welches sie 
dem Richter zur Fällung seines Urthciles liefern, an 
das durch das Gesetz geforderte Alternativvotum ge¬ 
bunden ist? Was nützen ihre subtilsten Analysen der 
Seelenthätigkeit, was nützen ihre feinsten Nuancimngen 
in der Schilderung der geistigen Individualität des Be¬ 
schuldigten, endlich müssen sie doch Farbe bekennen, 
unter Umständen eine schwere Wahl, denn es giebt 
nur grelle Contrastfarben, schwarz oder weiss, krank 
oder gesund, ein Mittelding giebt es nicht! 

Hierin liegt die Hauptquelle des Uebel's, und 
das ist auch nach meiner Meinung, ich will nicht 
sagen, der einzige, wohl aber der Hauptgrund des 
Zwiespaltes der Meinungen der Sachverständigen. 

Betrachten wir die Dinge, wie sie in Wirklichkeit 
sind. In der ganzen Natur, wohin Sie blicken, giebt 
es keine scharfe Grenzen, sondern nur Uebergänge. 
So wenig man den Tag von der Nacht, so wenig 
man die heisse von der kalten Zone scharf sondern kann, 
so wenig lässt sich die Grenze zwischen geistiger Ge¬ 
sundheit und Krankheit bestimmen. 

Wenn man auch den Standpunkt jener nicht ward 
theilen können, welche die Annahme einer partiellen 
Geistesstörung und einer partiellen Verantwortlichkeit 
befürworten, so ist es doch eine ausgemachte That- 
sache, dass sich zwischen geistige Gesundheit und 
Krankheit ein weites Grenzgebiet hineinschiebt, w r el- 



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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 535 


ehes alle möglichen Formen von Uebergangszuständen der Minderwerthigkeit aufgestellt haben, nur in den 


umfasst. Es werden also einerseits' Fälle zur Beob¬ 
achtung kommen, in denen dauernd gewisse Störungen 
im Geistesleben, gewisse Unvollkommenheiten, krank¬ 
hafte Schwächen und Willenstriebe zu Tage treten. 
Koch hat diese Fälle mit einemsehr bezeichnenden 
Namen belegt. Er nennt sie die psychopathisch 
AIinderw ? erthigen. Andererseits wird sich an die eben 
erwähnte Kategorie jene grosse Gruppe von Fällen 
schliessen, welche zeitweilig sehr schwere psychische 
Störungen aufweisen, bei denen aber die Beurtheilung 
der Zurechnungsfähigkeit in der krankheitsfreien 
Zwischenzeit eben wegen der interkurrenten Geistes¬ 
störung grosse Schwierigkeiten machen kann. Hier¬ 
her gehören vor allem die Epileptiker und die Hyste¬ 
rischen. Ferner kommen dazu die Alkoholiker, die 
Morphinisten, Cocainisten u. s. w., kurz alle diejenigen, 
welche auf dem Wege einer Giftwirkung eine krank¬ 
hafte Störung ihrer Geistesthätigkeit erlitten haben. 

Mit der Aufzählung der genannten Formen ist 
aber das Grenzgebiet noch lange nicht erschöpft. 
Ohne mich hierbei langer aufhalten zu wollen, möchte 
ich nur das grosse Heer der Neurastheniker, der Sexuell- 
Perversen, gewisser Querulanten, Hypochonder, Fana¬ 
tiker, Schwärmer, Sonderlinge u. s. w. erwähnen, bei 
welchen die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit im 
concreten Falle ebenfalls # schwer beantwortbar sein kann. 

Da es nun bei der Beurtheilung dieser Grenzfälle 
in der Wesenheit stets auf eine taxative Abschätzung 
der krankhaften Momente ankommt, so ist nicht zu 
verwundern, wenn diese Abschätzung bei verschiedenen 
Begutachtern verschieden ausfiillt, je nachdem die 
einen den krankhaften Zügen einen überwiegenden 
Einfluss auf das Delikt einräumen, die anderen nicht. 
Ja es ist noch weniger zu verwundern, wenn der psy¬ 
chiatrische Sachverständige mit seinem eigenen Gut¬ 
achten dadurch gewissermaassen in Widerspruch ge- 
räth, dass er trotz Zulassung krankhafter Momente 
sich für einen Zustand ausspricht, aus welchem der 
Richter die Zurechnungsfähigkeit glaubt ableiten zu 
müssen. 

Wie ist nun diesem Uebel abzuhelfen? 

Hierin gipfelt die practische Bedeutung dieser 
Frage. 

Die Antwort ist höchst einfach, sie fliesst aus der 
Natur der Sache. Man könnte sie sozusagen mathe¬ 
matisch formuliren. Wenn geistige Gesundheit der 
Zurechnungsfähigkeit und Geistesstörung der Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit entspricht, so folgt daraus, dass die 
verminderte Gesundheit das Correlat der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit ist. Man braucht daher die 
Zwischenstufe, welche die Psychiater mit dem Begriffe 

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juristischen Sinn der verminderten Zurechnungsfähig¬ 
keit umzuwerthen, und die Hauptschwierigkeit ist be¬ 
seitigt. 

Ich erinnere mich an eine Gerichtsverhandlung, 
welche vor nicht langer Zeit — ich glaube, es war 
im Frühjahr oder Sommer vorigen Jahres — statt¬ 
fand. Es handelte sich da ebenfalls um einen soge¬ 
nannten Grenzfall. Als der psychiatrische Sachver¬ 
ständige sein Gutachten über den Beschuldigten recht 
verklausulirt und mit allerhand Vorbehalten abgab, 
forderte ihn der Präsident auf, sich in bestimmterer 
Weise zu äussem, denn mit 5 O°/ 0 Zurechnungsfähig¬ 
keit und 50°/ 0 Unzurechnungsfähigkeit könne er nichts 
an fangen. 

Nun, meine Herren, der Fall giebt viel zu denken. 
Ich führe ihn hauptsächlich gegen die Aeusserung des 
Herrn Hofrathes Pelser an, welcher in der Loslös¬ 
ung der Frage der Zurechnungsfähigkeit von der Com- 
petenz der psychiatrischen Sachverständigen die Be¬ 
seitigung aller Schwierigkeiten zu sehen scheint. In 
diesem Falle haben die Sachverständigen die ihnen 
vorgezeichnete Grenzlinie gewiss eingehalten, sie haben 
sich auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht 
eingelassen, sondern haben nur ihrer wissenschaftlichen 
Ueberzeugung nach getreu geschildert. Aber dem 
Gerichtspräsidenten genügte das Gutachten nicht. 
Seine Aeusserung, die wohl eines ironischen Beige¬ 
schmackes nicht entbehrt, er könne mit 50% Zurech¬ 
nungsfähigkeit nichts anfangen, ist ein ungemein werth¬ 
volles Eingeständniss. Sehen Sie, meine Herren, 
der Präsident kann mit 50 Procent Zurechnungs¬ 
fähigkeit nichts anfangen, weil von dieser ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit nichts im Gesetze steht; 
damit aber ein dem bestehenden Gesetze gemässes 
•Urtheil erfliessen könne, blieb nichts anderes übrig, 
als der Appell an die Sachverständigen, ihr Gutachten 
der Altemativbestimmung des Gesetzes anzupassen. 

Wem springt da nicht eine klaffende Lücke in die 
Augen, zwar nicht in der Psychiatrie, denn diese hat 
die Lücke mit der Einschiebung der psychopathisch 
Minderwerthigen längst ausgefüllt, wohl aber im Straf¬ 
gesetz, welches mit dieser Zwischenstufe nichts an¬ 
deres anzufangen weiss, als sie entweder in die Cate- 
gorie der Zurechnungsfähigen oder in die der Unzu¬ 
rechnungsfähigen einzureihen ? Und doch verlangen 
sowohl theoretische als auch practische Gründe immer 
dringender eine zeitgemässe Reform der Strafgesetz¬ 
pflege bezüglich dieser Gruppe; sie verlangen, dass 
jener grossen Zahl von Minderwerthigen, welche sich 
in dem Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit 
und Krankheit befinden, eine besondere, auf der Basis 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 49. 


der verminderten Zurechnungsfähigkeit gegründete 
Rechtsprechung zutheil werde. 

Es giebt in der That nur ein Mittel, um aus dem 
Gewissenszwange herauszukommen und ein der wissen¬ 
schaftlichen Ueberzeugung entsprechendes Gutachten 
abzugeben, d. i. die Annahme der verminderten Zu¬ 
rechnungsfähigkeit. Es wird dann wenigstens nicht 
so leicht Vorkommen können, dass geistig minder- 
werthige Personen des Gebrauches der Vernunft für 
ganz beraubt erklärt und wegen ihrer Gemeingefähr¬ 
lichkeit in die Irrenanstalt gesperrt werden, wie das 
jetzt so häufig geschieht. 

Dieses Mittel der verminderten Zurechnungsfähig¬ 
keit ist gewiss kein utopistisches. Wie Sie ja wissen, 
hat es bereits in die Strafgesetzbücher einiger Länder 
thatsächlich Eingang gefunden. Ich erwähne nur das 
Bayerische Partikular-Strafgesetzbuch vom Jahre 1861 
und das Italienische Strafgesetzbuch. In anderen 
Ländern, wie in der Schweiz, wurden Entwürfe vor¬ 
bereitet, in welchen die verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit ebenfalls ihren gebührenden Platz einnimmt. 

Ich möchte hier die Kriterien der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit beiläufig einschalten, welche die 
genannten Länder je nach ihrer individuellen An¬ 
schauung aufgestellt haben. 

Das Bayerische Strafgesetzbuch verlangt zur 
Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit eine er¬ 
hebliche Minderung der Urtheilskraft oder der 
Freiheit der Willensbestimmung. Das Italienische 
Strafgesetzbuch fordert einen Geisteszustand, welcher 
die Zurechnungsfähigkeit wesentlich beeinflusst. 
Dem Schweizerischen Entwurf genügt jede Be¬ 
einträchtigung der geistigen Gesundheit oder des Be¬ 
wusstseins des Thäters.*) 

Trotz alledem ist diese Frage noch eine stark um¬ 
strittene. Während die grosse Mehrzahl der Psychi¬ 
ater stets warm für die geminderte Zurechnungsfähig¬ 
keit eintrat und deren Aufnahme in das Strafgesetz 
verlangte, wurden von juristischer Seite mannigfache 
Bedenken dagegen erhoben und zwar in gänzlich ent¬ 
gegengesetzter Richtung: 

Die einen befürchten eine gewisse Sentimentalitäts¬ 
praxis, welche dem Ernste der Strafjustiz Eintrag 
thun könnte. 

Andere wieder sehen Vcrurtheilung zur Strafe und 
damit eine ungerechtfertigte Härte in Fällen voraus, 
wo jede Bestrafung als unzulässig erscheint, weil selbst 
in jenen Grenzfällen das Individuum als unzurech¬ 
nungsfähig behandelt werden müsse. 

*) Dr. Gr et en er: Die Zurechnungsfähigkeit als Gesetz¬ 
gebungsfrage mit besonderer Rücksicht auf den Schweizerischen 
und Russischen Strafgesetzentwurf, Berlin 1897. 

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Auch wurde auf die Gefahr hingewiesen, dass 
Richter und Ärzte den Begriff der verminderten Zu¬ 
rechnungsfähigkeit als einen bequemen Ausweg be¬ 
nützen werden, um die Schwierigkeiten des Beweises 
zu umgehen. Namentlich wurde der Befürchtung 
Ausdruck gegeben, dass die verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit nicht nur in den eigentlichen Grenzfällen 
von zweifelhafter Geistesstörung, sondern 
auch als bequemes Auskunftsmittel in allen Fällen 
zw eifelhafter Diagnose benutzt werden könnte, 
so dass also auch in solchen Fällen, welche de jure 
als unzurechnungsfähig zu erkennen wären, von 
schwachen Sachverständigen nur geminderte Zurech¬ 
nungsfähigkeit angenommen werden würde. 

Weiter wurde noch das Bedenken geltend ge¬ 
macht, dass man nicht wüsste, was man mit den ver¬ 
mindert Zurechnungsfähigen nach verbüsster Strafe zu 
thun hätte. 

Von allen diesen geäusserten Bedenken scheint 
mir wohl das dritte das am schwersten wiegende zu 
sein, weil die Gefahr eines Missbrauches in der That 
nicht ausgeschlossen ist. Trotzdem bin ich der An¬ 
schauung, dass die Rücksicht auf unsichere Sachver¬ 
ständige von der Befürwortung einer Reform, wenn 
sie sachlich begründet ist, nicht abhalten darf. Man 
wähle eben nur sichere und verlässliche Sachverständige. 

Alle anderen Bedenken aber werden hinfällig, wenn 
folgendes erwogen wird. Damit komme ich zu dem 
ebenso wichtigen praktischen Theil der Frage. 

Meine Herren! Mit der blossen Annahme der 
verminderten Zurechnungsfähigkeit ist die Sache nicht 
erledigt. Es müsste sich ihr als eine unabweisliche 
conditio sine qua non eine qualitative Änderung 
des Strafvollzuges beigesellen. An eine blos quanti¬ 
tative Herabminderung der Strafe in Fällen vermin¬ 
derter Zurechnungsfähigkeit zu denken, hiesse die 
Natur der Minderwertigen und deren Rückwirkung 
auf die Gesellschaft verkennen. 

Allerdings giebt es eine Reihe von Grenzfällen 
mit ganz geringen Abweichungen vom sogenannten 
Normalmenschen, willensschwache, leicht beeinfluss¬ 
bare, excentrische, reizbare Charaktere, leichtere 
Schw'achsinnsformen, denen zufolge ihrer verminderten 
Zurechnungsfähigkeit eine mildere Strafe im Sinne des 
heutigen Strafgesetzes ohne Weiteres wird zuerkannt 
werden können. 

Anders verhält es sich mit dem Gros jener psycho¬ 
pathisch Minderwertigen, deren Defekt hauptsächlich 
auf ethischem Gebiete liegt, der Defektmenschen mit 
verbrecherischen Neigungen, mancher unverbesserlicher 
Gewohnheitssäufer, der moralisch Imbecillen, kurz der 
Antisocialen aller Art, welche bisweilen eine erheb- 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


537 


1903-] 


lichere Minderung ihrer Geisteskräfte aufweisen, ohne 
dass ihre Zurechnungsfähigkeit ganz ausgeschlossen 
erscheint Es wäre total verfehlt, bei den Fällen letz¬ 
terer Art aus dem Grunde der verminderten Zurech¬ 
nungsfähigkeit auf eine mildere Strafe zu erkennen 
und sie bald wieder in die Freiheit zu versetzen, wo 
sie ihr altes Spiel von Neuem wieder beginnen 
würden. Da mit der verminderten Schuldfähigkeit 
in solchen Fällen sehr häufig eine gesteigerte sociale 
Gefährlichkeit verbunden ist, so ist es nothwendig, 
den Strafvollzug zu ändern und Massregeln anzu¬ 
streben, durch welche weniger der Begriff der Strafe, 
als der der Verwahrung und Besserung, soweit diese 
möglich ist, zum Ausdrucke gelangt, also Schutz- und 
Besserungsanstalten für psychopathisch Minderwertige. 

Meine Herren! Die Ideen, die hier zum Aus¬ 
drucke gebracht werden, sind nicht neu. Es wurde 
hierin bereits von vielen bedeutenden psychiatrischen 
Autoren vorgearbeitet, so von Koch und Anderen*). 
Wiederholt stand die Frage der geminderten Zurech¬ 
nungsfähigkeit und der damit im Zusammenhänge 
stehenden Maassnahmen an der Tagesordnung psy¬ 
chiatrischer Vereine. Aber auch in den Kreisen der 
Juristen haben sich diese Ideen durchgerungen. Die 
„forensisch-psychiatrische Vereinigung in 
Dresden“ ist in ihren Verhandlungen zu dem Schlüsse 
gelangt, dass den gemindert Zurechnungsfähigen gegen¬ 
über eine besondere Art von Strafvollzug anzuwenden 
sei, und hat daher als Ergänzung zum § 51 des 
deutschen Strafgesetzbuches unter anderem vorge¬ 
schlagen, dass die Strafe an solchen Minderwertigen 
in besonderen, zur Vollstreckung von 
Strafen an Personen verminderter Zurech¬ 
nungsfähigkeit bestimmten Anstalten oder 
Räumen zu vollziehen sei. Weiters wurde hin¬ 
sichtlich der unverbesserlichen Minderwertigen folgender 
Zusatzantrag gestellt: „Ist der Zustand der vermin¬ 
derten Zurechnungsfähigkeit ein andauernder oder 
seiner Natur nach wiederkehrender, und hat der 
Thäter durch wiederholte Bestrafungen Anlass zu der 
Befürchtung gegeben, dass er nach Verbüssung der 
erkannten Strafe weitere Strafthaten begehen werde, 
so kann neben einer Freiheitsstrafe zugleich erkannt 
werden, dass der Verurtheilte nach Verbüssung der 
erkannten Strafe dem Vormundschaftsgerichte zu über¬ 
weisen sei. Durch die Ueberweisung erhält das Vor¬ 
mundschaftsgericht die Befugniss, ihn solange in einer 
besonderen, zur Aufnahme von Personen verminderter 
Zurechnungsfähigkeit bestimmten Anstalt unterzu- 


*) Koch. Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 
Ravensburg 1891. 

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bringen, als die Befürchtung, dass er wieder Straf¬ 
thaten begehen werde, fortbesteht. <l 

Eine ähnliche Idee schwebte Professor Benedikt 
vor, welcher in der vorjährigen psychiatrischen Enquete 
betreffend die Reform des Irrenwesens in seinem 
Referate: „Die Irrengesetzgebung und die Menschen 
mit anormaler Lebensführung 1 * lebhaft für die Errich¬ 
tung solcher Verwahrungsanstalten für unter Vormund¬ 
schaft zu stellende psychopathisch Minderwertige plai- 
dirte und eine Zweitheilung dieser Anstalten in der 
Art verlangte, dass die eine Kategorie für minder 
gefährliche, noch nicht oder noch nicht schwer ge¬ 
richtlich compromittirte und nicht besonders gemein¬ 
gefährliche, die andere für sehr compromittirte und 
besonders gemeingefährliche Individuen bestimmt wäre. 

Die Frage der Organisation dieser Detentionsan- 
stalten für psychopathisch Minderwertige, mag man 
sie nun Strafabsonderungshäuser, oder Schutz- und 
Besserungsanstalten, oder Verwahrungsanstalten, oder 
wie sonst immer nennen, ist hier nicht zu erörtern, 
da es sich vor Allem um die Prinzipienfrage handelt. 
So viel muss indessen schon jetzt bemerkt werden, 
dass eine gedeihliche Lösung nur dann zu erwarten 
ist, wenn diese Anstalten unter staatliche Verwaltung 
gestellt werden. Der Staat, welcher die Justizgewalt 
ausübt, muss folgerichtig auch jene Institutionen in 
Händen haben, welche mit der Strafjustiz im Zu¬ 
sammenhänge stehen. 

Wie schon erwähnt, fand im vorigen Jahre eine 
von der Regierung ein berufene psychiatrische Enquete 
statt, in welcher nebst anderen organisatorisch wich¬ 
tigen Fragen auch die Frage der Errichtung von 
staatlichen Anstalten für geisteskranke Verbrecher 
einer lebhaften Discussion unterzogen worden ist. 
Die Enquete sprach sich einhellig für die Noth- 
wendigkeit solcher Spezialanstalten aus, seien sie nun 
als Adnexe an die Strafanstalten, oder als selbststän¬ 
dige Anstalten gedacht. Unter allen Umständen 
müsse aber der staatliche Charakter derselben gewahrt 
bleiben. Genau dieselben Gründe, welche dort für 
den staatlichen Charakter der genannten Anstalten 
geltend gemacht wurden, wären auch für die Ver¬ 
wahrungsanstalten für psychopathisch Minderwertige 
maassgebend. 

Die Unterbringung von psychopathisch Minder¬ 
wertigen in Irrenanstalten ist die denkbar unglück¬ 
lichste Massregel, obwohl sie als ultima ratio unter 
den gegebenen Verhältnissen begreiflich erscheint. 
Primararzt B e r z e*) hat diese Frage sehr sachlich er- 

*) Dr. Josef Berze: „Gehören gemeingefährliche Minder¬ 
wertige in die Irrenanstalt?“ Wiener Medicinische Wochen¬ 
schrift Nr. 26, 1901. 

Original fram 

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538 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 49 * 


örtert und den von gewisser Seite erhobenen lächer¬ 
lichen Einwand, als ob die Irrenärzte die unange¬ 
nehmen Gäste aus Bequemlichkeit femhalten wollten, 
treffend widerlegt. 

Nicht kleinliche, nicht persönliche Gründe sind 
es, welche für die erwähnte Behandlung der gemein¬ 
gefährlichen Minderwerthigen sprechen; die Gründe 
liegen in der Sache, sie sind so schwerwiegend und 
berühren so sehr die Interessen der Gesellschaft, ja 
die eigenen Interessen der Betroffenen selbst, dass 
nur eine Reform der Strafgesetzpflege in der ange¬ 
deuteten Richtung eine befriedigende Lösung des 
fraglichen Problems herbeiführen kann. 

Ich gehe nun an die Beantwortung der übrigen 
Fragen, bezüglich welcher ich mich so kurz als mög¬ 
lich fassen will. 

Frage XIX. „Sind die gesetzlichen Anforder¬ 
ungen, betreffend die psychiatrische Vorbildung des 
Candidaten der Physikatsprüfung, ausreichend?“ 

Diese Frage muss mit Nein beantwortet werden. 
Zur Qualification eines Gerichtspsychiaters genügt di« 
Ablegung der Physikatsprüfung allein nicht. Derselbe 
muss vielmehr über ein ausreichendes Maass von 
praktischer Erfahrung in psychiatrischen Dingen ver¬ 
fügen, die er sich nur in längerem Anstaltsdienstc 
(wohl nicht unter einem Jahre) sei es in einer Irren¬ 
anstalt oder in einer Irrenklinik erwerben kann. Ge¬ 
rade die Vielgestaltigkeit der Psychosen, die vielen 
Abstufungen und Varianten, die Unmöglichkeit ge¬ 
wisse Misch- und Uebergangsformen in ein doktri¬ 
näres Krankheitsschema zu zwängen, machen ein 
lebendiges Erfassen der psychiatrischen Disciplin zur 
unabweisbaren Nothwendigkeit. Das kann aber durch 
ein blos theoretisches Studium niemals erreicht 
werden. 

Frage XX. „Durch welche Maassnahmen ist 
bei den Kreisgerichten und bei den ländlichen Be¬ 
zirksgerichten für die Beschaffung psychiatrischer 
Gutachten Vorkehrung getroffen? Werden auf dem 
Lande auch solche Aerzte zur Abgabe psychiatrischer 
Gutachten zugelassen, welche vermöge der alten Stu¬ 
dienordnung psychiatrische Studien gar nicht absolvirt 
haben ?“ 

Hiezu ist zu bemerken, dass in Ermangelung von 
Fachpsychiatem bei den ländlichen Bezirksgerichten 
auch Aerzte zur Abgabe psychiatrischer Gutachten 
zugelassen werden, welche keine psychiatrischen Stu¬ 
dien aufzuw'eisen haben. Dass ein solches Gutachten 
häufig nicht sachgemäss und den Thatsachen ent¬ 
sprechend ist, liegt ja auf der Hand. Da aber zur 
Abgabe eines psychiatrischen Gutachtens in gleicher 


Weise wie bei Vornahme von gerichtsärztlichen Unter¬ 
suchungen spezialärztliche Kenntnisse und Erfahrungen 
nothwendig sind, so würde es sich empfehlen, alle 
wichtigeren Untersuchungen nur von Fachpsychiatem 
vornehmen zu lassen. Man müsste demnach ent¬ 
weder einen Kliniker einer etwa nahe gelegenen Uni¬ 
versitätsstadt oder einen Anstaltsarzt einer nahe ge¬ 
legenen Irrenanstalt zuziehen. 

Frage XXL „Wie lange ist die regelmässige 
Dauer der psychiatrischen Untersuchungen durch ge¬ 
richtsärztliche Sachverständige? Welches sind die Ur¬ 
sachen der hierbei zu Tage tretenden Verlangsamung 
solcher Untersuchungen? Wie sind diese Mängel zu 
beseitigen ?“ 

Frage XXII. „Welche Mittel stehen dem psy¬ 
chiatrischen Sachverständigen zur Feststellung der 
Anamnese im Strafverfahren zur Verfügung? Soll die 
Vernehmung der Auskunftspersonen dem Psychiater 
ausschliesslich überlassen bleiben und ist hierbei der 
Psychiater an die gesetzlichen Beschränkungen der 
Strafprozessordnung bei Vernehmung des Beschul¬ 
digten und seiner nahen Verwandten gebunden ? 
Wird die in der Strafprozessordnung verordnete Zu¬ 
ziehung des Vertheidigers geübt?“ 

Die Beantwortung dieser beiden Fragen steht aus¬ 
schliesslich den Gerichtspsychiatern zu, welche be¬ 
züglich der Voraussetzungen und des Vorganges der 
psychiatrischen Untersuchungen wohl am besten in- 
formirt sind. 

Frage XXIII. „Empfiehlt sich zur Herbeiführung 
einer sachgemässen Beobachtung des zu unter¬ 
suchenden Beschuldigten die lediglich zu Beobach¬ 
tungszwecken erfolgende Uebergabe desselben an 
eine psychiatrische Klinik oder Anstalt, und ist dies¬ 
bezüglich bei dem jetzigen Stande der Gesetzgebung 
eine Handhabe hiefür bereits gegeben?“ 

Bei der Beantwortung dieser Frage mag sich eine 
Divergenz der Anschauungen dahin geltend machen^ 
dass manche Psychiater die Uebergabe des zu unter¬ 
suchenden Beschuldigten an eine psychiatrische Klinik 
oder Irrenanstalt für empfehlenswerth halten, andere 
nicht. Es wurde auch im Anschlüsse an den Vor¬ 
trag des Professor Wagner auf einen ähnlichen 
Vorgang in Deutschland hingewiesen, wo es gestattet 
ist, einen Beschuldigten zur Prüfung seines Geistes¬ 
zustandes bis zu sechs Wochen in der Irrenanstalt 
festzuhalten. Ich muss gestehen, dass ich mich für 
diesen Modus nicht erwärmen kann. Wenn auch die 
Untersuchung an der psychiatrischen Klinik, sofern 
diese zugleich Beobachtungsstation ist, ohne Nachtheil 
wird vorgenommen werden können, so stehen doch 
einer solchen in der Irrenanstalt sehr wichtige Be- 




1903] 


denken entgegen. Vorerst das Statut, nach welchem 
die Aufnahme von nur constatirt Geisteskranken zu¬ 
lässig ist. Aber man könnte ja das Statut ändern. 
Es frägt sich nur, ob dies zweckentsprechend wäre. 
Ich sage, nein. Es ist auf keinen Fall empfehlens- 
werth, geistesgesunde oder zweifelhafte Elemente mit 
notorisch Geisteskranken in de» Irrenanstalt zu ver¬ 
mischen und dadurch die Gefahr einer unbeab¬ 
sichtigten oder beabsichtigten Aneignung von Krank¬ 
heitssymptomen heräufzubeschwören. Wir wissen ja 
zur Genüge, dass gerade die Irrenanstalt einen sehr 
guten Nährboden für Simulanten abgibt. Es sprechen 
aber auch andere Gründe dagegen. Der richtige 
Ausweg wäre die Errichtung einer besonderen Beob¬ 
achtungsabtheilung in einem Adnexe für geisteskranke 
Verbrecher an die Strafanstalt. 


539 


Frage XXIV. „Bei welchen Delikten und De¬ 
liktsformen ist eine obligatorische Untersuchung des 
Geisteszustandes des Beschuldigten zu empfehlen? 
Bei welchen Krankheitsformen ist eine solche obliga¬ 
torische Untersuchung gleichfalls in jedem Falle zu 
empfehlen ?“ 

Der erste Theil der Frage ist nicht zu beant¬ 
worten, weil alle Arten von Delikten und Delikts¬ 
formen ebenso von Geistesgesunden, wie von Geistes¬ 
kranken verübt werden. Hinsichtlich des zweiten 
Theiles der Frage wird es sich empfehlen, in allen 
sowohl manifesten als auch zweifelhaften Fällen den 
Geisteszustand zu untersuchen, -und namentlich auf 
die Delikte der Epileptiker, der schweren Alkoholiker, 
der sexuell Perversen und der senilen Personen sein 
besonderes Augenmerk zu richten. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Aus der Geschichte der Epilepsie. 

Von Privatdozent Dr. mcd. et phil. Weygandt in Würzburg: 


]hs i st fraglos, dass kaum eine medicinische Disciplin 
den Ucbcrgriffen von Seiten der Laien derart 
ausgesetzt ist, wie die Psychiatrie. Von den verschie¬ 
densten Seiten her, von Juristen, Theologen u. s. w. 
werden alltäglich psychiatrische Dinge beurtheilt, als 
ob der sogenannte gesunde Menschenverstand in 
diesen Fragen dieselbe Competenz verleihe, wie wir 
sic erst durch langjähriges Specialstudium zu erringen 
suchen. Vor kurzem traf ich z. B. in der Vorbereit¬ 
ung eines Gutachtens beim Actenstudium die Aeusser- 
ung eines Anwalts, der die Wahrnehmung eines als 
Zeugen vorgeladenen Geistlichen ganz besonders be- 
werthet wissen wollte, da dem Pfarrer „doch gewisse 
psychologische und psychiatrische Kenntnisse nicht 
abgesprochen werden können.“ 

Besonders aber die Behandlung der Geisteskranken 
liegt immer noch zu einem guten Theil in Laien¬ 
händen, so dass mit Recht noch von einer Pastoral- 
psychiatric gesprochen werden kann. Ein wichtiger 
Zweig der Psychiatrie, die Idiotenforschung, leidet be¬ 
sonders unter diesen Verhältnissen. Von den 75—80 
Idiotenanstalten Deutschlands stehen mindestens ein 
Drittel, und darunter grade die grössten und besuch¬ 
testen, unter der Herrschaft confessioneller Gesell¬ 
schaften und unter der Direction von Geistlichen. 
Zu den Auswüchsen dieser Pastoralpsychiatrie gehören 
weiterhin die Epileptikeranstalten unter geistlicher 
Leitung, die von psychisch Abnormen vielfach frequen- 
tirten Gebetshcilanstalten u. m. a. 

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In der Regel suchen sich die Irrenärzte beim 
Hinblick auf jene Missstände durch die Ausrede 
zu trösten, es sei in der kurzen Entwicklungszeit der 
Psychopathologie und des modernen Anstaltswesens 
begründet, dass das Laienelement sich derart vordränge, 
dem ja grosse Verdienste um die Beschaffung von 
Mitteln zur Irrenfürsorge nicht abgesprochen werden 
dürfen. Dem gegenüber lohnt es sich gerade in un¬ 
serer, historischen Betrachtungen abholden Zeit, doc h 
ab und zu wieder einmal einen Blick auf die Ge¬ 
schichte unseres Fachs zu werfen. 

Vor mir liegt das Buch des Hippokrates über die 
uqu voao$ y das im 2. Band der Uebersctzung von 
Robert Fuchs*) seit den letzten Jahren bequem zu¬ 
gänglich ist. 

Es ist allgemein bekannt, wie genau die Alten 
mit den Symptomen der Epilepsie vertraut waren. 
Hippokrates beschreibt treffend die Anfälle mit der 
Aura, dem Hinstürzen, oft unter einem Schrei, der 
Bewusstlosigkeit und den Erstickungsanfällen, mit den 
Zuckungen aller Art, Augcnvcrzcrren, Zähneaufein- 
anderbeissen, Händezusammenkrampfcn, Umeinander¬ 
schlagen mit den Füssen, nicht selten unter Urin- und 
Kothabgang. Die Migräncanfälle waren dem grossen 

*) Hippokrates sämmtiiehe Werke, 2. Band. München, 
Verlag von Lüneburg 1897. 

NB. Die Autorschaft des H. selbst wurde von einer Seite 
bestritten, die Zugehörigkeit zur koischen Schule des H. ist je¬ 
doch durchaus zugestandeu. 

Original from 

HARVARD UNiVERSITY 





540 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 49 


Arzt bekannt, ebenso die psychischen Aequivalente der 
Epilepsie, ängstliche Visionen, nächtliche Schreckbilder, 
Entsetzen, Aufspringen vom Lager, Flucht in das Freie. 
Halbseitige Reizerscheinungen wurden beobachtet, 
plötzliche Todesfälle im Anfall kamen vor. Die Kin¬ 
derepilepsie wird besprochen, mögen dabei auch Fälle 
von hysterischen Krämpfen mit untergelaufen sein; 
Schreckepilepsie wird erwähnt. Auch die Heredität 
wird berücksichtigt. Als prognostische Regel wird 
betont, dass bei längerer Dauer keine Aussicht auf 
Heilung besteht; die Anfälle werden allmählich häufiger 
und treten rascher ein. Aehnlich treffend ist die 
Symptomatologie bei Aretäus von Kappadocien im 
i. Buch über Ursachen und Zeichen der acuten Krank¬ 
heiten geschildert*). 

Hinsichtlich der Beurtheilung der Krankheit betont 
Hippokrates, Entstehung und Veranlassung seien in 
derselben Richtung zu suchen, wie bei den übrigen 
Krankheiten, die Frage der Heilbarkeit verhalte sich 
ebenso. Freilich konnte er in Bezug auf die Patho¬ 
logie des Leidens keinen anderen Standpunkt ein¬ 
nehmen, als den seiner Zeit, der ja zum guten Theil 
von ihm selbst präzisirt worden war, also den der 
Humoralpathologie. Klar spricht er zunächst aus, 
Schuld an der Krankheit sei das Gehirn. Die sym¬ 
metrische Anlage des Hirns bringt er mit dem halb¬ 
seitigen Kopfweh in Zusammenhang. Er nimmt nun 
ferner an, dass Leute von schleimiger Constitution, nicht 
solche von galliger, an Epilepsie erkranken. Der alten 
Lehre entsprechend wird weiterhin eine Versorgung 
des Hirns durch zwei Aderzüge angenommen, die von 
Leber und Milz zum Hirn gehen und das Pneuma 
befördern sollen. Die Anfälle wurden hervorgerufen 
durch das Eindringen des kalten Schleims in das warme 
Blut, das dadurch stillstehe. Vor allem bei Südwind 
kämen Anfälle vor. 

Geradezu actuell muthen uns nun die Ausführ¬ 
ungen an, in denen sich Hippokrates gegen die un¬ 
wissenschaftliche Auffassung der Epilepsie und gegen 
die Aftertherapie jener Zeit richtet. Er betont nach¬ 
drücklich, dass die Fallsucht, der Morbus sacer, in 
keiner Beziehung einen mehr göttlichen Ursprung 
habe, als die übrigen Krankheiten, auch nicht heiliger 
sei. Infolge ihrer Unerfahrenheit haben die Menschen 
geglaubt, die Beschaffenheit und Veranlassung der 
Epilepsie seien etwas Göttliches, indess, wenn sie wegen 
des Wunderbaren für etwas Göttliches gehalten werden 
sollte, so werde es viele heilige Krankheiten geben 
und nicht eine einzige. 

*) Medicorum graecorum opera quae exstant. Editio Kühn. 
Fol. XXIV. Leipzig 1828, S. 1 f. 

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Lebhaft polemisirt er gegen das Laienelement in 
der Behandlung. „Mir will es scheinen“, drückt er 
sich aus, „als wenn diejenigen Leute, welche diese 
Krankheit zuerst für eine heilige ausgaben, solche ge¬ 
wesen wären, wie auch heutigen Tages die Magier, 
Sühnepriester, Marktschreier und Aufschneider sind, 
welche so thun, als wenn sie sehr gottesfürchtig wären 
und mehr wüssten. Diese also haben als Deckmantel 
und Vorwand für ihre Hilflosigkeit den göttlichen Ur¬ 
sprung angegeben, dafür, dass sie nichts hatten, durch 
dessen Anwendung sie Hilfe bringen konnten, und 
so sind sie, um nicht offenkundig werden zu lassen, 
dass sie nichts verstehen, zu dem Glauben gekommen, 
dieses Leiden sei ein göttliches, und indem sie ge¬ 
eignete Gründe dazu aussuchten, haben sie die Be¬ 
handlung desselben zu einer für sie gesicherten ge- 
gemacht, indem sie Sühneopfer darbrachten, Beschwör¬ 
ungsformeln sprachen und befahlen, sich der Bäder 
und vielerlei Speisen zu enthalten, deren Genuss für 
kranke Menschen unzuträglich ist.“ Unter den ver¬ 
botenen Speisen finden sich einige, wie Hirsch- und 
Schweinefleisch, scharfe Gemüse wie Zwiebel, Knob¬ 
lauch, Minze, die man auch heute bei Epileptikerdiät 
verbieten würde. Dann geisselt Hippokrates mit Recht 
Rathschläge wie die, man solle nicht auf einem Ziegen¬ 
fell liegen, dürfe nicht die Füsse oder die Hände 
übereinanderschlagen, dürfe keine schwarze Kleidung 
tragen, denn das seien Hindernisse für die Beschwör¬ 
ung. Es wird vom Uebersetzer auf den Homöopathen 
v. Bönninghausen verwiesen, der hierzu bemerkte: 
„Die schnelle Beschwichtigung der Fallsuchtanfälle 
durch Bedeckung des Gesichts mit einem schwarz¬ 
seidenen Tuche, die in neuerer Zeit entdeckt und 
vielfach erprobt ist, erinnert an das alte Verbot für 
Fallsüchtige, schwarze Kleidung zu tragen.“ 

Hippokrates fährt hinsichtlich jener Recepte der 
Kurpfuscher fort: „Dieses alles aber setzen sie nur 
um des Göttlichen willen hinzu, um den Anschein 
zu erwecken, als wenn sie mehr wüssten, und andere 
Vorwände anführend, damit, wenn der Betreffende 
gesund wird, das ihrem Ruhme diente und ihrer Ge¬ 
schicklichkeit zugeschrieben wurde. “ Schliesslich 
schildert Hippokrates lebhaft, wie nach der Lehre 
dieser Sühnepriester die einzelnen Gottheiten betheiligt 
sind, je nachdem der Kranke dies oder jenes Symp¬ 
tom äussert: Poseidon beim Schrei, Hermes Enodios 
beim Kothabgang, Ares beim Schäumen und Umsich - 
schlagen, Hekate bei den Delirien und nächtlichen 
Attacken. — 

Wie wenig unzeitgemäss diese polemischen Erör¬ 
terungen des grossen Mediciners heute, nach mehr 
als 23 Jahrhunderten geworden sind, ergiebt sich am 

Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


54 i 


1903] 


besten, wenn wir eine Schrift aus unserer Zeit da¬ 
neben halten, die in manchen Punkten jenen Anschau¬ 
ungen entspricht, die Hippokrates bekämpfte. 

Der „Christliche Rathgeber für Epileptische“ von 
Pastor v. Bodelschwingh schwankt in der Auffassung 
der Epilepsie als Krankheit und als Besessenheit. 
Durch die Krankheitsschilderungen im neuen Testa¬ 
ment, die der jetzigen Fallsucht entsprechen, sei noch 
keineswegs gesagt, dass wir in jedem Fall von Fall¬ 
sucht dämonische Einwirkungen oder Besessenheit zu 
erkennen haben. Also manche Fälle mit dämonischer 
Einwirkung giebt’s demnach doch? Es sei wahr, 
fährt das Heft fort, „dass auch heutzutage Fälle von 
Epilepsie Vorkommen, bei welchen man sich des Ein¬ 
drucks dämonischer Einwirkungen kaum erwehren 
kann.“ Als weiteres Argument wird angeführt, dass 
manche Kranke den Eindruck haben und es geradezu 
aussprachen, dass es ihnen zu Muthe sei, als ob sie 
von einer feindlichen Macht plötzlich ergriffen und 
hingerissen würden. Doch wird betont, dass in den 
Tagen Christi dämonische Erscheinungen häufiger 
waren, wir aber kein Recht hätten, in allen Fällen die 
Epilepsie auf eine directe Einwirkung des Satans zu¬ 
rückzuführen. Dass es solche dämonische Antastungen 
des Leibes gebe, stehe freilich ebenso gewiss fest, als 
es feststeht, dass es dämonische Anfechtungen der Seele 
gebe. „Die letzteren sind viel häufiger und gefähr¬ 
licher als die ersteren, und man kann auch wohl 
sagen, dass viel häufiger eine persönliche Verschuld¬ 
ung vorliegt, wenn die Seele von solchen Anfecht¬ 
ungen überwältigt wird, als wenn dies dem armen 
Leib geschieht, der sich gegen dieselbe gar nicht 
wehren kann.“ 

Man habe kein Recht zu schliessen, dass Epilep¬ 
tische oder ihre Vorfahren in besonderer Weise vor 
anderen Menschen einer Sünde gefröhnt hätten, — indess 
„ein Christ weiss, dass alle Krankheit eine Folge der 
Sünde ist . . . .“ 

Falsch ist die Angabe, dass die fallende Krankheit 
in bei weitem den meisten Fällen durch einen plötz¬ 
lichen Stoss auf das Nervensystem hervorgerufen sei, 
an dem der Betroffene zunächst keine Schuld hat; 
„meistentheils ist es ein Schrecken, also zunächst eine 
Erschütterung der Seele, welche dann auf den Leib 
übertragen wird, in welchem die Erschütterungen als 
Krämpfe nachzittern.“ Psychische Einflüsse lösen viel¬ 
mehr selten epileptische Störungen aus, manche Autoren 
leugnen sie vollständig. 

Vor Geheimmitteln wird zwar gewarnt, gleichzeitig 
aber werden „Familienmittel“ erwähnt, „welche im Be¬ 
sitz bestimmter, sehr angesehener und wohlthätiger 
Familien sind“ und laut Familienchroniken „eine nicht 

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unbedeutende Zahl dauernder Heilungen“ bewirkt 
haben sollen. Der Gebrauch solcher Mittel sei, wenn 
sie nicht offenbar schädliche Bestandteile enthalten, 
gern erlaubt. Als eins dieser Familienmittel, die an¬ 
geblich keine Geheimmittel und nicht mit Aberglauben 
verbunden sind, wird Eselsblut, ferner auch Elstemasche 
erwähnt! Dass Brompräparate von Bethel in Massen ver¬ 
sandt werden, ist bekannt. Bis 1888 waren es nicht weniger 
als 48000 Epileptiker, die sich dorthin um Rath ge¬ 
wandt hatten. „Wie lange es Gott gefallen wird“, 
sagt das Heft hinsichtlich der Bromsalze, „gerade auf 
diese Mittel einen Segen zu legen, wissen wir nicht. 
Es kann sein, dass sie über ein kleines ganz verworfen 
werden und statt dessen wiederum andere aufkommen.“ 
Von der eminent wichtigen Alkoholenthaltung ist nicht 
die Rede. 

Es kann jedem Leser getrost überlassen bleiben, 
die Parallelen zwischen dieser Schrift unserer Tage 
und jenen Missständen, die Hippokrates bekämpft, 
selbst zu ziehen. 

Die wesentlichste Hoffnung, dass wir jemals aus 
dieser misslichen Vermengung der Irrenheilkunde mit 
der Laienbehandlung herauskommen, ruht auf der 
Einführung eines durchgreifenden Reichsirrengesetzes, 
das z. B. in Preussen die bisher zum guten Theil nur 
auf dem Papier stehenden Bestimmungen des Gesetzes 
vom 11. VII. 1891 auch ausnahmslos durchsetzt, 
dass Provinzial - und Stadtverbände die hilfsbe¬ 
dürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten 
in eigenen, unter ärztlicher Leitung und Verantwort¬ 
ung stehenden Anstalten zu bewahren haben. Es 
entspricht dem Wesen des modernen Staats, für seine 
auf Grund geistiger Abnormität dauernd oder zeit¬ 
weise nicht geschäftsfähigen Glieder selbst die Für¬ 
sorge in die Hand zu nehmen. Ueber all die zahl¬ 
reichen Anstalten für Geisteskranke, Idioten, Epilep¬ 
tische, die heutzutage noch geistlicher und anderer 
nichtärztlicher Leitung unterstellt sind, muss die Säku¬ 
larisation herein brechen. Selbst in unseren Tagen be¬ 
steht noch die Gefahr, dass in Landestheilen mit über¬ 
füllten Irrenanstalten sich unternehmende Geistliche 
zur Uebemahme von Kranken, insbesondere Epilep¬ 
tischen erbieten und dass ihnen aus finanziellen 
Gründen nachgegeben wird. Die erhoffte Erleichterung 
für das Irren wesen des betreffenden Landes ist nur 
scheinbar und rasch vorübergehend, dauernd aber wird 
ein beträchtlicher Schaden für die Organisation eines 
ungemein wichtigen Zweiges staatlicher Fürsorge. 

Bei den Idiotenanstalten könnte noch ein Schein 
von Berechtigung gefunden werden für ihre Unter¬ 
stellung unter pädagogische Leitung, wie man sie in 
Deutschland, im Gegensatz zu den französischen Idio- 

Original from 

HARVARD UNIVERSUM 




54 2 

tenanstalten, gewöhnlich antrifft. Aber auch auf 
diesem Gebiet ist ärztliche Leitung und Eingliederung 
der Idiotenanstalt in das ganze System der staatlichen 
Einrichtungen für geistig Abnorme weitaus vorzuziehen, 
wie ich an anderer Stelle*) mehrfach betont und 
mit weiteren Gründen belegt habe. Vor allem die 
bisher allzu üppig gedeihende Privatinitiative in Bezug 
auf die Errichtung von Idiotenanstalten ist abzustellen. 

*) Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in 
ärztlicher und pädagogischer Beziehung, Wiirzburg 1900, S. 8b 
und 90. 

• Ueber die Leitung der Idiotcnanstaltcn, in einem der 
nächsten Hefte der Zeitschrift für die Behandlung Schwach¬ 
sinniger und Epileptischer. 


[Nr. 4" 

Neben den gut 30° () solcher Anstalten unter geist¬ 
licher Leitung befinden sich noch etwa 40 ° ; ( , der 
deutschen Idiotenanstalten in Händen von Privatunter¬ 
nehmern. 

( Dass auch eine Erweiterung des § 174 Abs. 3 
D. Str. G. B. auf Privatanstalten am Platz ist, wurde 
anderweitig mehrfach hervorgehoben.) 

Erst wenn jedem geistig Abnormen die Unter¬ 
kunft in einer öffentlichen Anstalt als sein Recht, 
nicht als ein Gnadengeschenk daigeboten wird, brauchen 
wir uns beim Vergleich mit den erwähnten Verhält¬ 
nissen zur Zeit des Hippokratcs nicht mehr zu schämen 
und dann erst nimmt das Irrenwesen den ihm gebühr¬ 
enden Platz im modernen Staat ein. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Internationaler Aufruf an die Irren- und Nervenärzte. 


Jn der Zeit vom 14. bis 19. April d. Js. tagt in 
Bremen der IX. Internationale Congress gegen 
den Alkoholismus, der erste derartige Congress auf 
dem Boden des deutschen Reichs. Es handelt sich 
um eine Vereinigung von Vertretern aller Culturstaaten, 
Stände und Berufe zur Bekämpfung der gesundheit¬ 
lichen und socialen Schäden, welche der Alkohol er¬ 
zeugt. J^der Irren- und Nervenarzt, dem es ge¬ 
nügend deutlich vorschwebt, welch' grosser Procent¬ 
satz von Gehirn- und Nervenkranken der Unheilbar¬ 
keit verfallen ist, bei wie wenigen Krankheiten des 
Nervensystems die Ursache bekannt und zugleich greif¬ 
bar, die Verhütung möglich ist, wird cs freudig be- 
grüssen, dass sich gegen den gefährlichsten und offen¬ 
kundigsten Feind der geistigen Gesundheit, den Al¬ 
kohol, ein neuer Feldzug vorbereitet. Möge auch 
Jeder, der irgendwie abkömmlich ist, durch sein per¬ 
sönliches Erscheinen bei dem Congress und seine 
Betheiligung an den Diskussionen zeigen helfen, dass 
wir in der Erfassung und Würdigung der Prophvlaxe 
der Geistes- und Nervenkrankheiten nicht nur nicht 


hinter Anderen zurückstehen, sondern an erster Stelle 
marschiren. Für diejenigen Collegen, welche der 
Antialkoholbewegung bisher noch nicht activ und per¬ 
sönlich näher getreten sind, bietet sich in Bremen 
eine vorzügliche Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, 
welchen grossartigen Umfang diese Bewegung bei den 
CulUirvölkern angenommen hat und wie der Kampf 
gegen den Alkofu ilismus eine k u 11 u rnothwendige 
und k u 11 u r f o r t s c h r i 111 i c h e Erscheinung von der 
allergrössten Bedeutung darstellt. 

Prof. Dr. G. A n t o n - Graz. Prof. Dr. G. Asc h a f - 
f e n b u r g - Halle a. S. Prof. Bleuler- Zürich. Dr. 
B r e s le r - Kraschnitz. A. C r am er-Güttingen. Dr. 
De 1 b r iick - Bremen. Prof. Dr. Edingcr-Frankfurt 
a. M. Prof. Dr. Er b - Heidelberg. Dr. A. Forel- 
Chignv bei Morgucs. Dr. G a n se r - Dresden. E. 
K r a e p e 1 i n - H ci<leiberg. Dr. M ü b i u s - Leipzig. 
Prof. Modi- Berlin. Dr. P a e t z - Alt-Scherbitz. P i c k- 
Prag. Pn»f. O p p en h e i m - Berlin. Dr. Schl ö s s - 
Kierling-Gugging. Prof. Dr. Som 111er-Giessen. 


Italienische Irrenanstalten. 

A n s t a 1 1 S. L a z a r o in R e g g i o - E m i 1 i a. 
(Siehe beiliegende Tafel.) 


E etwa 1 km von Reggio entfernt, liegt an der von 
Alters bekannten Via Aemilia eine der sehens- 
werthesten Irrenanstalten Italiens. Der Italien 
bereisende Psychiater, welcher die Strecke Mailand- 
Bologna wählte, hat wenig Umstände, in Reggio auf 
eüiige Stunden auszusteigen und die Anstalt in Augen¬ 
schein zu nehmen. Die grosse Gastfreundschaft der 
U< »liegen trägt dazu bei, den Besuch der Anstalt nicht 
nur zu einem lehrreichen, sondern auch zu einem 
sehr angenehmen zu machen. 

Als Leprahaus hat das Hospital des S. Lazarus 

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schon im XII. Jahrhundert bestanden. Im XVI. 
diente cs auch zur Bewahrung von Siechen, Gelähmten, 
Taubstummen und Epileptikern und seit 1 536 wurden 
Geisteskranke aufgenommen, seit 1754 ausschliesslich 
solche. 1810 ei folgte eine neue Organisation unter 
Gal Ioni: ärztliche Direktion, Aufnahmenormen etc.: 
auch was in baulicher Beziehung damals geleistet 
wurde, hat noch für die heutigen Verhältnisse in der 
Anstalt S. Lazaro dauernden Werth. Einen bedeuten¬ 
den Aufschwung nahm die Anstalt unter Livi (1873 
bis 1877), besonders in wissenschaftlicher Beziehung; 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 543 


Livi begründete auch eine psychiatrische Zeitschrift, 
die „Revista spcrimentale di Frcniatria e Medicina 
legale delle aliena/ioni mentali“; für die Studirendcn 
der Universität Modena wird seitdem die psychiatri¬ 
sche Klinik in der Anstalt S. Lazarus abgehalten; 
Laboratorien und Sammlungen wurden angelegt. Gegen¬ 
wärtig besitzt die Anstalt ein bakteriologisches, histo¬ 
logisches (Dr. Ccni), chemisches und psychologisches 
(Dr. Guicciardi und Dr. Ferrari) Laboratorium, eine 
Schädelsammlung von über 1200 Exemplaren, ein 
diagnostisches und ein elektrothcrapeutisches Zimmer, 
Räume für Massage, Gymnastik und Hydrotherapie; 
eine stattliche Bibliothek, ein Zimmer für Photographie 
und Mikrophotographie. Untersuchungen an Thieren 
werden auch häufig gemacht; der Bedarf an Thieren 
wird aus einem besonderen hierfür angelegten Stall 
gedeckt. Die wissenschaftlichen Arbeiten werden in 
oben genannter Zeitschrift, die von Tamburini und 
Ferrari herausgegeben wird, veröffentlicht und jahr¬ 
weise in den „Memorie delf Istituto psichiatrico di 
Reggio“ gesammelt. Dass ein reges wissenschaftliches 
Leben in der Anstalt Reggio herrscht, ist bekannt. 

Die maschinellen und wirtschaftlichen Einrich¬ 
tungen sind ganz modern: elektrische Beleuchtung, 
Dampfwaschanstalt, Dampfmühle, Bäckerei, Schläch¬ 
terei. Die Wasserleitung von Reggio, sowie die eigenen 
artesischen Brunnen liefern zusammen täglich 150 
cbm Wasser. 

An Werkstätten aller Art ist kein Mangel; selbst 
Spinnerei und Weberei sind vorhanden; die von den 
weiblichen Kranken gefertigten Gewebe verdienen alle 
Anerkennung. — Eine landwirtschaftliche Colonic 
ist ebenfalls vorhanden. Für jugendliche Kranke ist 
eine Schule eingerichtet; ausserdem wird auch an Er¬ 
wachsene regelmässig Unterricht erteilt; namentlich 
wird der Zeichenunterricht sehr gepflegt. Der Ele¬ 
mentarunterricht wird auch im Interesse des Pflege- 
personales äbgehaltcn und nehmen Mitglieder des 
letzteren turnusweise daran Theil. 

Die Anstalt hat drei Verpflegungsklassen. — Bei 
der Beköstigung ist bemerkenswert, dass auch jeder 
Kranke der dritten Klasse zum Mittag- und 
Abendessen Wein erhält. — Die Zahl der Beschäf¬ 
tigten beträgt etwa 5O°/ 0 ; es besteht facultative Aus¬ 
zahlung von Arbeitslohn. — Bei der Behandlung wird 
von Bettliegen und prolongirten Bädern ausgiebig Ge¬ 
brauch gemacht. Zwangsjacke und Isolirung findet 
nur ausnahmsweise Anwendung. — Bei Entlassung 
Ungeheilter wird eventuell von den Angehörigen ein 
Revers eingefordert. — Es besteht ein Verein für ent- 

-• — i" 1 

M i t t h e i 

— Die erste Provinzialanstalt für Nerven¬ 
kranke. In der Sitzung des hannoverschen Pro¬ 
vinziallandtages vom 24. Febr. d. J. wurde Beschluss 
gefasst über den Antrag des Provinzialausschusses, be¬ 
treffend den Ankauf der „Rasemühle“*) bei Göttingen 
behufs Einrichtung einer Heilanstalt für Nervenkranke 
daselbst. 

*) Änm. d. Red.: 5 Kilometer von Güttingen idyllisch ge¬ 
legen, bisher beliebter Ausflugsort der Einwohner der Stadt. 


lassene arme Geisteskranke mit dem Sitze in Reggio und 
mit einem Vermögen von über 30000 L. Letzteres 
ergänzt sich durch Beiträge von Vereinen und Com- 
munen, aus dem Ertrag von Lotterien und Wohl- 
thätigkeitsvorstellungcn, die in der Anstalt stattfinden, 
ferner aus dem Erlös für Eintrittskarten in die letzteren. 
Wer nämlich die Anstalt besichtigen will, hat beim 
Portier für 1 L. eine Eintrittskarte zu kaufen und 
wird erst dann hcrumgeführt. — Bei Pflegerfamilien und 
bei pensionirten Pflegern, auch Pflegerinnen, im Nach¬ 
bardorfe sind Kranke untergebracht; eine weitere 
Ausdehnung der Familien pflege wird angestrebt. — 
Ca. 100 ruhige chronische Kranke sind der Congre- 
gazione di Carita di S. Giovanni in Pcrsiceto über¬ 
wiesen ; sie werden von Zeit zu Zeit von den Aerzten der 
Anstalt in Reggio besucht. — Ein Asyl für chronisch 
Kranke will die Prov.-Vcrwaltung noch errichten. — Auf 
die Initiative Prof. Tamburini’s wurde 1898 im S. 
Giovanni in Persiccto auch ein medicinisch-pädago- 
gisehes Institut für schwachsinnige Kinder errichtet. 
Es steht unter der Oberaufsicht Tamburini’s. 

An der Anstalt in Reggio wirken unter dem Di- 
rector, der zugleich Arzt ist (gegenwärtig Prof. Dr. 
Tamburini), 3 Primarärzte, deren jedem eine der drei 
Abtheilungen der Anstalt verantwortlich zugewiesen 
und ein Assistenzarzt beigegeben ist. Ausserdem giebt 
es an der Anstalt noch Practikanten, d. h. Aerzte, 
die sich in das Studium der Psychiatrie etwas weiter 
einführen lassen wollen. Auch ein Prosector und 
ein Pharmaceut ist angestellt. 

Das Oberpflegepersonal legt täglich seinen Rapport 

vor. 

Das Verhältnis der männlichen Pflegcpersonen 
zu den männlichen Kranken ist 1:7 (10b), das der 
weiblichen zu ihren Kranken 1 : 10 (40). Von den 
Pflegern werden nur 80 zum eigentlichen Krankendienst 
verwendet, 20 zu Werkstätten, Landwirtschaft etc. 
Ausserdem sind viele Personen für Tagelohn in der 
Anstalt beschäftigt. 

Beim Pflegepersonal sind Prämien eingeführt; es 
besteht eine gemeinsame Unterstützungskasse (ca. 
40000 L.), ausserdem Anschluss an die Arbeiter-In- 
validitätsversicherung. Mit dem Personal, das sich aus 
der landwirthschafttreibenden Bevölkerung der Um¬ 
gegend rekrutiert, ist man zufrieden. 

Krankenbestand; 1.Januar 1900: 961 (586männl., 
375 wcibl.). Zugang in den letzten Jahren ca. 400 
pro Jahr, Abgang ca. 250, Sterbefälle ca. 130. Bilanz 
ca. 850000 Lire. 


1 u n g e n. 

Der Antrag lautete: 

1. Die Rasemühle bei Göttingen mit allen dazu 
gehörigen Grundstücken in Grösse von 28,8751 Hektar 
Gebäuden und Gerechtigkeiten zu einem Preise von 
290000 M. anzukaufen, daselbst eine N crvcnheil- 
anstalt für minder bemittelte Nervenkranke 
unter Aufwendung eines Kostenbetrages von 99 200 
M. einzurichten und behufs Versorgung der Provin¬ 
zial-Heil- und Pllcgeanstalt Göttingen mit Wasser det 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



544 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 1902.] 


Rasequellen eine Wasserleitung von diesen Quellen 
zur Anstalt unter Aufwendung eines Kostenbetrages 
von 60800 M. anzulegen; 2. zur Bestreitung der 
entstehenden Kosten eine Anleihe im Betrage von 
450000 M. aufzunehmen. Dieselbe soll mit 3 Proc., 
höchstens mit 3% Proc. verzinst und bei 3procentiger 
Verzinsung mit 1 l j t Proc., bei höherer Verzinsung 
aber mit einem so viel niedrigeren Procentsatze getilgt 
werden, dass an Zinsen und Tilgungsraten nicht mehr 
als 4 ’/ 2 Proc. zu zahlen ist; 3. für den Betrieb der 
Nervenheilanstalt für das Halbjahr 1. October 1903 
bis 31. März 1904 den in der Anlage III der Er¬ 
läuterungen des Landesdirectoriums enthaltenen Haus¬ 
haltsplan zu genehmigen. 

Landesdirector Lichtenberg führte hierzu aus, 
dass seit Bestehen der Heil- und Pflegeanstalt Gött¬ 
ingen dort stets Wasser-Kalamität gewesen sei. Die 
Gewinnung des einwandfreien Wassers der Rase¬ 
quellen auf den Grundstücken der Rasemühle sei 
deshalb schon lange in Erwägung gezogen worden. 
Zur endgültigen Beseitigung der Kalamität sei die 
Erwerbung der Rasequellen erforderlich. Diese sei 
aber nur möglich, wenn zugleich der ganze, zur Rase¬ 
mühle gehörige Besitz angekauft wird. Der Besitzer 
fordere dafür 310000 M. Aus den Quellen solle 
das zur Versorgung der Anstalt erforderliche Wasser 
entnommen und in den Gebäuden der Rasemühle 
eine Nervenheilanstalt eingerichtet werden. Die Ge¬ 
bäude seien dazu sehr gut geeignet Die zur Her¬ 
richtung einer solchen Anstalt erforderlichen baulichen 
Einrichtungen würden mit einem Kostenauf wände von 
40000 M. zu beschaffen sein. Es würden dann 75 
Patienten, und zwar 15 der oberen Klasse und 60 der 
unteren Klasse, angemessen untergebracht werden 
können. Die Kosten für die sonstigen Anschaffungen 
beliefen sich auf rund 53 000 M. Die Wassermengen 
der Rasequellen seien so beträchtlich, dass die Pro¬ 
vinz in der Lage sein werde, nicht nur den Wasser¬ 
bedarf der Anstalt zu decken, sondern auch von dem 
werthvollen Rasewasser an andere abzugeben. 

Nach diesem Referat begründete Prof, Dr. Cramer- 
Göttingen eingehend die Nothwendigkeit der Erricht¬ 
ung der Nervenheilanstalt vom ärztlichen Standpuncte 
mit ungefähr folgenden Ausführungen: 

Man hat versucht, das verflossene Jahrhundert als 
das nervöse zu bezeichnen; wenn auch mit einer der¬ 
artigen Bezeichnung entschieden zu weit gegangen ist, 
so lässt sich doch nicht leugnen, dass die Nervosität 
im allgemeinen immer mehr um sich greift und all¬ 
mählich zu einer socialen Gefahr sich entwickelt. 
Denn gerade die Kopfarbeiter unterliegen je nach 
ihrer individuellen Disposition und unter dem Einfluss 
zufälliger Schädlichkeiten, welche auf sie einwirken, 
früher oder später der Ueberanstrengung und versagen 
an ihrer Leistungsfähigkeit; sie zeigen alsdann die 
verschiedenartigsten Erscheinungen der nervösen Er¬ 
schöpfung. Dazu kommt das grosse, täglich -sich 
mehrende Heer von Unfallkranken aus den verschie¬ 
denartigsten industriellen Betrieben. Es drängt sich 
jedem Nerven- und Irrenarzt täglich die Erfahrung 
in immer neuen Gestalten entgegen, dass es schwer 
ist oder meistens ganz unmöglich, diesen Kranken 


die Pflege und Behandlung angedeihen zu lassen, 
welcher sie bedürfen. Nur ein ganz geringer Theil, 
und zwar diejenigen, welche der besitzenden Klasse 
angehören, sind in der Lage, eine geeignete Anstalt 
oder ein Sanatorium aufsuchen zu können, und doch 
ist erste Bedingung für eine geeignete Behandlung 
dieser Zustände Entfernung aus der gewohnten Um¬ 
gebung, vollständige Ausspannung bei geeigneter, in¬ 
dividuell angefasster Behandlung. — Ein Unterkom¬ 
men in einem modernen, auf der Höhe der Zeit 
stehenden und sachgemäss geleiteten Sanatorium zu 
finden, ist heute unmöglich, wenn man nicht 6—10 M. in 
den Sanatorien von geringem Rufe, 12—20 M. und mehr 
in den Sanatorien von gutem Rufe, unvermeidliche Neben- 
ausgaben noch nicht mitgerechnet, pro Tag zahlen will. 
— Es ist unsere feste Ueberzeugung, dass in nicht 
zu ferner Zukunft die meisten Communen und Pro¬ 
vinzen vorgehen müssen, um diesem Uebelstande ab¬ 
zuhelfen. Es muss Gelegenheit geschaffen werden, 
auch den nicht Bemittelten einen Aufenthalt in einein 
zweckmässig eingerichteten und geleiteten Sanatorium 
zu ermöglichen. Auf diese Weise wird in nicht we¬ 
nigen Fällen dem vorgebeugt werden, dass die un¬ 
terstützungsverpflichteten Gemein wiesen dauernd arbeits¬ 
unfähige und chronische Geisteskranke zur dauernden 
Fürsorge erhalten. Es handelt sich also nicht nur 
umeinewohlthätige Einrichtung an sich, sondern um eine 
Vorbeugungsmaassregel im wahrsten Sinne des 
Wortes, wenn öffentliche Nerven an st al t en 
geschaffen werden. Die Provinz Hannover wird, 
wenn sie sich entschliesst, die Rasemühle zu dem 
mehrfach gedachten Zwecke anzukaufen, auf diesem 
Gebiete der Wohlfahrtsbestrebungen an die Spitze 
von ganz Deutschland treten und, wie sie früher mit 
der Einrichtung der Ackerbaukolonie in Einum und 
der Einrichtung der freien Behandlung in Göttingen 
in der Irrenpflege ganz Deutschland die Wege wies, 
auch auf diesem neuesten Felde der socialen Für¬ 
sorge die führende Stellung einnehmen. Wie die ver¬ 
schiedenen, von uns beigelegten Etats beweisen, würde 
der Ankauf der Rasemühle den Betrieb einer der¬ 
artigen Nervenheilanstalt ohne grosse dauernde und 
regelmässige financielle Ausgaben ermöglichen lassen. 
Da die Anstalt nur dem Mittelstand und den Unbe¬ 
mittelten zur Heilung und Pflege dienen soll, kommt 
bei den Verpflegungssätzen eine 1. Klasse in Weg¬ 
fall. Die höchste Klasse der Rasemühle wird zu 
einem Satze von 3 M., die 2. Klasse zu einem Ver- 
pflegssatze von 2 M. in Anschlag zu bringen sein. 

Nach kurzer Debatte, in welcher u. A. behauptet 
wmrde, dass die Errichtung von Nervenheilstätten nicht 
zu den Aufgaben der Provinzialverwaltung gehöre, 
erfolgte Ueberweisung des Antrags an eine Commission 
von 12 Mitgliedern. — 

Wir beglückwünschen die hannoversche Prov.- 
Verwaltung (Herrn Landesdirector Dr. Lichtenberg 
ebenso wie Herrn Prof. Dr. Cram er, den intellektuellen 
Urheber jenes Antrags) auf’s Freudigste zu dieser zeit- 
gemässen Initiative. 

Der Antrag des Provinzialausschusses wurde in der 
Plenarsitzung vom 27. Febr. mit grosser Majorität ange¬ 
nommen. Die Anstalt wird bereits am 1. Okt. d J. eröffnet. 


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Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lireslcr, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann'sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 

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ge zur „Psychiatrisch - Neurologischen Wochenschrift“ 
IV. Jahrgang, Heft 49. 

Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger, 
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M, 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraachnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 50. 14 . März. 1903. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1 — 2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Zur Familienverpflegung der Irren in Holland. Mitgetheilt von Walter Berger (S. 545). — Bemerkungen 
zur Genese der Tetanie. Von Dr. G. von Voss, St. Petersburg (S. 549). — Mittheilungen (S. 551). — Personalnach- 
richten (S. 552). 


Zur Familienverpflegung der Irren in Holland. 

Mitgetheilt von Walter Berger. 


ie Familien Verpflegung der Geisteskranken, di.: 
nach dem einstimmigen Urtheile der hollän¬ 
dischen Autoren als integrirender Theil der Irren¬ 
pflege und als ein therapeutisches Agens betrachtet 
werden muss, steht in Holland in engem Zusammen¬ 
hänge mit Irrenanstalten; sie geht von der Anstalt 
aus und liegt in den Händen des dirigirenden Arztes 
und der übrigen Aerzte der Anstalt. In der Regel 
werden die Kranken aus der Anstalt in Familien im 
Bereiche dieser in Pflege gegeben, es kann aber auch 
Vorkommen, dass Kranke aus einer andern Anstalt, 
die keine Pflegecolonic besitzt, in eine fremde Colonie 
überführt werden. Als Leiter der einzelnen Familien¬ 
oder Hauswesen (Hospes) kommen in erster Reihe 
verheirathete Pfleger oder Pflegerinnen in Betracht, 
die noch in der Anstalt Dienst thun oder gethan 
haben, oder Familien, in denen sich eine unverhei- 
rathete Pflegerin befindet. Der Hospes und die 


Glieder des Haushaltes sind als Pfleger und Pflege¬ 
rinnen zu betrachten. Durch den Umgang und das 
Zusammenleben mit Irren breitet sich übrigens das 
(losch ick und die Befähigung zu diesem Umgänge 
unter der Bevölkerung der Colonicn aus und es 
können auch andere Personen, die vorher in keiner 
Beziehung zur Irrenpflege gestanden haben, als Pfleger 
in Berücksichtigung kommen, doch müssen sie für 
diesen Beruf besonders vorbereitet werden, wie auch 
die Personen, die mit der Controlle betraut sind. 
Als Beweis, wie sehr sich das Geschick für die Irren- 
pflege ausbreiten und vererben kann, dienen die Be¬ 
wohner der Umgegend von Glied, die geborene 
Pfleger genannt werden; auch in den Umgegenden 
von Ermelo und Meerenberg, wo die Familienpflege 
der Irren bisher die meiste Ausbreitung in Holland 
gefunden hat, wachsen Geschlechter auf, die von Jugend 
auf an den Anblick von Geisteskranken gewöhnt, zum 


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Original fram 

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54 6 . PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50. 


Theil auch mit dem Umgang mit ihnen vertraut 
sind. 

Der Zweck der Familien Verpflegung ist ein ver¬ 
schiedener. In manchen Fällen soll sie den Ueber- 
gang zur Rückkehr in die Gesellschaft bilden und es 
ist dies selbst in Fällen möglich geworden, in denen 
die Kranken nach früheren Ansichten lebenslang in 
der Anstalt hätten bleiben müssen. In andern Fällen 
hält man den Aufenthalt in tler Familie für vortheil- 
haft, nicht sowohl in Hinsicht auf die Herstellung 
der Kranken, als vielmehr als ein Mittel, ihnen das 
Leben angenehm zu machen; der Erfolg ist gewöhn¬ 
lich gut und übertrilTt manchmal die Erwartung. In 
manchen Fällen soll die Familienpflegc nur eine 
Probe sein, um zu sehen, ob Pat., die in der ge¬ 
schlossenen Anstalt schwierig und unbequem zu ver¬ 
sorgen und unzufrieden sind, sich in andern Ver¬ 
hältnissen besser befinden und zufrieden sind; die 
Pflege in der Familie bietet mehr Gelegenheit zu in- 
dividualisiren, die Person des Kranken kann mehr zur 
Geltung und zu ihrem Rechte kommen, der Kranke 
hat mehr Gelegenheit, sich nach seinem Geschmack 
und seiner Neigung zu beschäftigen, Liebhabereien 
zu treiben, wozu sich in der Anstalt nicht so leicht 
die Gelegenheit findet. In vielen Fällen ist der 
Zweck der, Kranken, die ihr eigenes Heim vermissen, 
einen Ersatz dafür zu bieten ; für solche Kranke ist 
das Mögliche erreicht, wenn sie sich in der Familie, 
die sie aufgenommen hat, heimisch fühlen, und dieses 
Ziel wird oft erreicht; die Kranken schliessen sich 
oft innig an die Familie an; einen besonders gün¬ 
stigen Einfluss übt dabei die Gegenwart von Kindern 
aus, mit denen sich die Kranken meist gern be¬ 
schäftigen und für die sie oft in rührender Anhäng¬ 
lichkeit besorgt sind. 

Der Kranke geniesst dabei so viel Freiheit als 
möglich, lebt inmitten von Gesunden, die sich mehr 
und eingehender mit ihm beschäftigen können, als 
es die Wärter in der Anstalt thun können; infolge¬ 
dessen fühlt er seine Hülfsbedürftig- und Abhängigkeit so 
wenig als möglich; er kann ungehindert ein und ausgehen, 
kann sich an der Unterhaltung und der Arbeit be¬ 
theiligen, steht in lebhafterem Verkehr und empfängt 
mehr Anregung als im einförmigen Anstaltsleben; 
nicht ohne Bedeutung ist dabei auch der Umstand, 
dass der Kranke sich in einer ihm vorher ganz fremden 
Familie befindet. Aber nicht blos für den Kranken 
hat die freie Verpflegung Vortheile, sondern auch für 
die Anstalt und das Pflegepersonal, sowie auch für 
die Bewohner der Colonien. Die Anstalt wird ent¬ 
lastet, der L T eberfüllung wird vorgebeugt und Platz 
für acute Fälle geschafft. Den Pflegern, namentlich 


dem männlichen Theile derselben, wird Gelegenheit 
geboten, sich zu verheirathen und einen eigenen Haus¬ 
stand zu gründen; sie können den Dienst in der An¬ 
stalt aufgeben und doch fortfahren, ihr nützlich zu 
sein, können aber auch ihren Dienst in der Anstalt 
beibehalten und auf diese Weise können gute Kräfte 
der Anstalt länger erhalten und an sie gebunden 
werden, wenn ihre Zukunft gesichert ist. Aus finan- 
ciellem Gesichtspuncte entspringen Vortheile sowohl 
daraus, dass die Aussichten für die Kranken, in die 
Gesellschaft zurückzukehren, grösser werden, als auch 
daraus, dass die productive Arbeit der Kranken besser 
zur Geltung kommt. Für die Bewohner der Colonie 
ist die mit der Pflege verbundene Einnahme eine 
Hülfe, den Wohlstand zu befördern. Als ein nicht 
geringer Vortheil kann es auch betrachtet werden, 
wenn dadurch bessere Begriffe über die Irrenfürsorge 
in das Publicum dringen und die Angehörigen der 
Kranken sich leichter und eher entschHessen, die 
Aufnahme in eine Anstalt zu bewirken. 

Als ein Nachtheil für die Anstalt ist es betrachtet 
worden, dass gerade die ruhigen, verträglichen, ordent¬ 
lichen und arbeitsamen Kranken durch die Ueber- 
gabe in Familienpflege der Anstalt entzogen werden, die 
für die Anstaltsbevölkerung einen guten Kern bilden 
und für die Erhaltung des Friedens und der Gesellig¬ 
keit unentbehrlich sind. Das ist aber nur zum Theil 
und bedingt richtig und nicht von ausschlaggebender 
Bedeutung, denn es werden ja die ruhigen und thätigen 
Kranken nicht alle und nicht zugleich der Anstalt 
entzogen, es bleiben immer noch genug derartige 
Kranke zurück, die aus irgend einem Grunde nicht 
zur Familienpflege geeignet sind; es werden aber 
auch manche entfernt, die in einer Anstalt mit fest 
gebundener Organisation störend wirken können, in 
der Familie aber sich besser an ihrem Platze fühlen 
und es in der That auch sind. Wenn die grosse 
Gruppe derjenigen Kranken, die ohne jede Störung 
durch ein besonderes Ereigniss in der Anstalt ihr 
Leben ruhig verbringen und der Anstalt mehr den 
Character eines Versorgungshauscs aufprägen, in 
Familienpflege gegeben wird und nur die Kranken 
in der Anstalt bleiben, die specielle Pflege und Be¬ 
handlung verlangen, nimmt die Anstalt mehr den 
Character . eines Krankenhauses an, in das die in 
Familienpflege Untergebrachten zurückkehren, wenn 
sie an einer intercurrenten Krankheit erkranken oder 
bedenkliche Symptome auftreten, die specielle Beob¬ 
achtung und Behandlung erfordern. 

Keine Form der Geistesstörung schliesst die 
Familienverpflegung aus. Bei der Auswahl der Kranken 
kommt es nur auf ihre Art und Individualität und 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



igo.}.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 547 


ihren Zustand an. Gefährliche, widersetzliche, zer¬ 
störende Kranke, solche Kranke, die eine fort¬ 
währende strenge Ueberwachung brauchen, sind na¬ 
türlich nicht für die Familienpflege geeignet. Dagegen 
eignen sich in erster Reihe dazu ruhige, chronische 
Kranke, solche mit primären und secundären 
Schwächezuständen und Reconvalescenten, arbeits- 
same Kranke, die durch Beschäftigung vortheilhaft 
erweckt werden können, solche, die eine Anregung 
brauchen, die sie in der geschlossenen Anstalt weniger 
haben können. Es kommt übrigens vor, dass sich 
Patienten als geeignet für die Familienpflege erweisen, 
von denen man es nicht erwartet hätte. Van 
Dev ent er theilt aus der Familienpflege der Anstalt 
Meerenberg 16 Fälle mit, die nach seiner Meinung 
den Schluss gestatten, dass die freie Verpflegung selbst 
in scheinbar hoffnungslosen Fällen, bei äusserst un- 
lenkbaren und gefährlichen Individuen mit Erfolg an¬ 
gewendet werden kann. Es war merkwürdig, wie 
diese Verpflegung bei Patienten einwirken konnte, die 
Neigung hatten, zu excediren, wenn nur Sorge ge¬ 
tragen wurde, dass sie in eine für sie geeignete Um¬ 
gebung kamen. Jeder Patient stellt seine besonderen 
Anforderungen und es liegt auf der Hand, dass die 
Anstaltsärzte, die den Kranken genau beobachtet 
haben, am besten geeignet sind, ihren Einfluss auch 
in der Familienpflege auf ihn auszudehnen. Auch 
die Wahl der Pflegefamilie kann manche Schwierig¬ 
keiten bieten und am besten ist es, wenn auch diese 
dem Arzte genau bekannt ist. Trotzdem gelingt es 
nicht immer beim ersten Male gleich, das richtige 
zu treffen, sondern manchmal erst nach öfterem 
Wechsel. Es kann durchaus nicht als ein Fehler des 
Anordnenden bezeichnet werden, wenn Kranker und 
Familie nicht für einander passen, denn dabei kommen 
Eigenthümlichkeiten in Frage, die sich leicht der Be¬ 
rechnung entziehen. Besonders dann ist die Auswahl 
einer Familie für einen Kranken mit Schwierigkeiten 
verbunden, wenn dieser aus einer fremden Anstalt 
kommt. Am besten ist es auf jeden Fall, wenn der 
Kranke auch in der Familienpflege den Arzt behält, der 
ihn in der Anstalt behandelt hat. 

In solchen Anstalten, in denen vorwiegend arme 
Kranke auf Kosten des Staates oder der Gemeinden 
untergebracht sind, haben sich bis vor kurzer Zeit 
der Einführung der Familien Verpflegung Schwierig¬ 
keiten in den Weg gestellt, die auf gesetzlichen Be¬ 
stimmungen beruhen ; während in denjenigen Anstalten, 
deren Insassen vorwiegend den mehr begüterten 
Klassen angehören, derartige Rücksichten nicht zu 
nehmen sind, so dass sich die Einführung schon vor 
längerer Zeit ohne Schwierigkeit vollziehen liess. 


Durch einen Erlass der holländischen Regierung vom 
24. Nov. 1900 aber, nach dem Staatsbeiträge auch 
für solche Kranke gewährt werden, die nicht in der 
Anstalt selbst verpflegt werden, ist dieses Hindemiss 
beseitigt werden. Es wird dadurch auch für die 
armen Kranken die Abgabe in Familienpflege ermög¬ 
licht und diese Art der Verpflegung wird durchaus 
nicht kostspieliger als die in der Anstalt selbst. Für 
auf Staatskosten verpflegte Kranke besteht indessen 
die Vorschrift, dass sie vorher mindestens 3 Monate 
in einer Staatsanstalt verpflegt w’orden sein müssen, 
ehe sie in Familienpflege gegeben werden können. 
Kranke, die auf Gemeindekosten verpflegt werden, 
müssen, wenn für sie ein Staatsbeitrag gewährt werden 
soll, mindestens ein halbes Jahr lang in einer Irren¬ 
oder Idiotenanstalt gewesen sein. Ferner soll nicht 
mehr als der 10. Theil der in einer Anstalt befind¬ 
lichen Kranken in Familienpflege gegeben werden, 
und für den 10. Theil der in Familien untergebrachten 
Kranken müssen in der Anstalt Plätze frei gehalten 
werden, damit eine eventuell nothw’endig werdende 
Rück Versetzung in die Anstalt ohne Verzug statt¬ 
finden kann. Die Kosten der Familienverpflegung 
sind übrigens nach den bisherigen Erfahrungen be¬ 
deutend geringer als die der Verpflegung in der An¬ 
stalt selbst 

Am ausgedehntesten und zugleich am ältesten in 
Holland ist die Familien pflege der Anstalt Vekhvijk 
zu Emielo, wo die. Kranken meist den mehr be¬ 
güterten Klassen angehören, so dass auf gesetzlichen 
Bestimmungen beruhende Rücksichten der Einführung 
nicht hindernd im Wege standen. Neuerdings wurde 
es in Folge der erwähnten Verordnung, dass Kranke, 
zu deren Verpflegung Staatsbeiträge gewährt werden, 
nicht in der Anstalt selbst verpflegt zu werden 
brauchen, auch in Meerenberg, w-o die meisten 
Kranken den ärmeren Klassen angehören, möglich, 
vom Dezember [901 an, solche Kranke in Familien¬ 
pflege zu geben, während dies bei den den mehr be¬ 
güterten Klassen angehörenden Kranken schon seit 
189.2, unabhängig von der Anstalt, geschehen ist. 
Mehr oder weniger in Gebrauch ist die Familienver¬ 
pflegung auch in den Anstalten Grave, Medernblik, 
Dennenoord und Bloemendaal. Ein genauer Bericht 
liegt nur aus Veldwijk von J. H. A. van Dale vor. 

In Veldwijk wurde schon im Jahre 1886 mit der 
Familienpflege begonnen, aber erst neuerdings hat sie 
grössere Ausdehnung gewonnen. Von 1895 an, wo 
17 Personen sich in Fainilicnpflege im Dorfe be¬ 
fanden, ist die Anzahl der in dieser Weise Verpflegten 
langsam gestiegen; im Jahre 1896 wurden 31, im J. 
1897 37, im J. 1898 33, im j. 1899 37 und im 


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54ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50. 


J. 1900 44 Kranke in Familien verpflegt. Von den 
37 Familien, in denen die Kranken untergebracht 
sind, sind 19 die Familien von Beamten der Anstalt, 
8 haben keine Beamten der Anstalt zum Familien¬ 
haupt, stehen aber in enger Beziehung zur Anstalt. 
Als Anleitung für den Umgang mit den Kranken 
dient eine von Dr. Schermers bearbeitete Schrift. 

Die Verpflegung, wie sie in Veldwijk eingerichtet 
ist, findet in verschiedener Weise statt. i. In zwei 
Villen, die die Anstalt gekauft und eingerichtet hat, 
sind von Beamten der Anstalt geleitete Haushaltungen 
eingesetzt, die direct von der Anstalt abhüngen. 
2. In der Mehrzahl der Fälle sind die Kranken , in 
bestehenden Haushaltungen aufgenommen und leben 
ganz in den Familien. 3. In einigen Fällen sind 
die Kranken bei Familien in Pension, haben aber 
ihr eigenes Zimmer und leben für sich. 4. In ein¬ 
zelnen Fällen haben sich die Familien der Kranken 
in der Umgegend niedergelassen, so dass die Patienten 
in ihren eigenen Familien leben. Der Kranke wird 
stets als ein Glied der Familie betrachtet und als 
ein Kranker behandelt, er wird täglich, zu verschie¬ 
denen Zeiten, von einem Beamten der Anstalt be¬ 
sucht, wöchentlich einmal vom dirigirenden Arzte oder 
von einem anderen Arzte der Anstalt und über die 
Besuche wird Protokoll geführt. 

Von den Kranken konnten 2, die an Melancholie 
gelitten und die Zeit ihrer Reconvalescenz in der 
Familienpflege zugebracht hatten, in die Gesellschaft 
und ihre frühere Stellung zurückkehren, eine schon 
lange an Insania neurotica leidende Kranke konnte 
wesentlich gebessert aus der Pflege entlassen werden. 

Acht Kranke, vier männliche und vier weibliche, 
kehrten in die Anstalt zurück, zum Theil auf ihren 
eigenen Wunsch, zum Theil, weil ihre Pflege in der 
Familie zu beschwerlich war. Ein an Paranoia 
leidender Kranker, der seit Jahren abwechselnd in 
der Anstalt und in Familie, nach eigener Wahl und 
in Zusammenhang mit seinen krankhaften Vorstellungen 
verpflegt wurde, kehrte in die Anstalt zurück, traf 
aber zur Zeit der Mittheiiung schon wieder vorbe¬ 
reitende Anstalten, sich wieder in Familien pflege zu 
begeben. Ein anderer an Paranoia leidender, der 
seit Ende October 1897 in einer Familie verpflegt 


wurde, bekam Verfolgungswahnideen, die sich auf 
seinen Hospes bezogen , und verlangte selbst, wieder 
in die Anstalt aufgenommen zu werden. Ein an 
Dementia senilis Leidender wurde zu lästig und 
musste deshalb wieder internirt werden. Ein jugend¬ 
licher Imbeciller musste wegen seines ungehörigen und 
unleidlichen Betragens wieder in die Anstalt zurück¬ 
versetzt werden. Eine unzufriedene und schwer zu 
befriedigende, an Insania neurotica Leidende wurde 
versuchsweise in Familienpflege gegeben, konnte cs 
aber auch da nicht aushalten. Eine Kranke, die aus 
Familienpflege in ihre eigene Familie entlassen worden 
war, verfiel in einen Zustand von Stupor und wurde, 
als es sich gezeigt hatte, dass ihre Pflege in der 
Familie zu beschwerlich war, wieder in der Anstalt 
aufgenommen. Eine an Dementia moralis Leidende, 
bei der die Familienpflege als Mittel, sie wieder in 
die Gesellschaft zurückzuführen, angewendet worden 
war, konnte keine passende Stellung finden, verlor 
den Muth und kehrte nach einigen Wochen selbst¬ 
ständiger Führung in die Anstalt zurück. Eine an¬ 
dere musste in die Anstalt zurückgenommen werden, 
weil sie durch fortwährendes Klagen zu lästig w r ar. 
Unfille kamen mit den Patienten nicht vor und ihre 
Rückkehr in die Anstalt ging stets ohne Beschwerde 
vor sich. 

Ende 1900 waren noch 33 Kranke (14 männl., 
19 weibl.) in Familienpflege, je 1 seit 1891, 1893 
und 1895, 8 seit 1897, 4 seit 1898, 7 seit 1899 
und 11 seit 1900. Von den 14 männl. Kranken 
waren 8 als Handwerker in den Werkstätten der 
Anstalt thätig, 2 zu Hause mit schriftlichen Arbeiten, 
die übrigen 4 verrichteten keine bestimmte Arbeit. 
Die weiblichen Kranken waren ohne Ausnahme im 
Haushalte thätig oder verrichteten weibliche Hand¬ 
arbeiten, eine w'ar in der Wäschekammer der Anstalt 
thätig. 

van Deventer, Vrije verpleging. Psych. en. 
neurol. Bladen. 1901. blz. 48. — D. Schermers. 
Gezinsverpleging. Ibid. blz. 93. — J. H. A. van 
Dale. Veldwijksgezinsverpleging. Ibid. blz. 189. — 
van De venter, van Dale en Vos. Rapport in- 
zake de gezinsverpleging von krankzinnigen. Ibid. 
1902. blz. 240. — van Dev enter, Gezinsverpleging. 
Ibid. blz. 273. 


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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


549 


Bemerkungen zur Genese der Tetanie. 

Von Dr. G. von Poss (St. Petersburg). 


|~^ie eigentümliche Erkrankungsform der Tetanie 
und ihre vielfachen Beziehungen zu anderen 
Krankheiten haben zu sehr verschiedenen Erklärungs¬ 
versuchen ihrer Entstehung Veranlassung gegeben. 
In der 18g6 erschienenen Monographie von Frankl- 
H oc hwart *) werden etwa 5 diesbezügliche Hypo¬ 
thesen erwähnt und discutirt, wobei der Autor sich 
für die Wahrscheinlichkeit einer infectiösen Ursache 
ausspricht. In einer fiüheren Arbeit **) habe ich 
mich dieser Auffassung angeschlossen und die Ueber- 
einstimmung in dem Auftreten der Tetanie in Peters¬ 
burg und Wien betont. Trotz der Annahme eines 
infectiösen Agens als Erreger dieser eigentümlichen 
Krampfkrankheit bleiben aber Formen derselben 
übrig, für welche diese Erklärung gezwungen oder 
gar unmöglich erscheint. Das Zusammenvorkommen 
der Tetanie mit anderweitigen motorischen Erkran¬ 
kungsformen und Erscheinungen (Myotonie, Beschäfti¬ 
gungskrämpfe, Epilepsie) haben mich veranlasst, nach 
neuen genetischen Erklärungen zu suchen. Zunächst 
möchte ich darauf hinweisen, dass die wenigen patho¬ 
logisch-anatomischen Befunde auf eine Localisation 
der Erkrankung im Rückenmark hinzuweisen scheinen; 
für diese Möglichkeit sprechen sich Frankl- 
Hochwart und N e u s s e r aus. Die häufigen 
Rückfälle der Krankheit, das Fehlen von Lähmungs¬ 
erscheinungen dürfte wohl gegen einen destruirenden 
entzündlichen Process sprechen, es handelt sich 
also eher um einen Reizzustand in den Vorder- 
hörnern und besonders in den Ganglienzellen der¬ 
selben. Die Schmerzhaftigkeit der Krämpfe braucht 
nicht auf eine Wurzelaffection hinzuweisen, die 
tonische Muskelcontraction ist an sich schmerzaus- 
lösend. Wenden wir uns der Betrachtung eines an¬ 
deren motorischen Symptomencomplexes, der Epilepsie, 
zu, die gleichfalls mehr oder weniger typische Krampf¬ 
anfälle als Haupterscheinungen hervorruft, so sehen 
wir, dass in letzter Zeit ihre Abhängigkeit von mo¬ 
torischen Centren höherer Ordnung w r ohl so ziemlich 
als bewiesen erachtet werden kann (Binswanger ***). 
Zur Entstehung der Epilepsie ist eine bestimmte 
Veränderung der Hirnrinde nothwendig, die man 

*) Nothnagel^ Handbuch Band IX. 

**) Monatsschrift für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 
Bd. VIII. H. 2. 1900. 

***) Nothnagei’s Handbuch Bd. VII. 


kurzweg als Spasmophilie (Fere) bezeichnet hat. Eine 
Auslösung dei Krämpfe findet durch secundäre Ur¬ 
sachen statt, unter denen die verschiedensten Factoren 
zu nennen sind, der Hauptsache nach mechanische, 
chemische, thermische, infectiöse Noxen. Da wir 
das pathologisch-anatomische Substrat der Epilepsie 
nur in der Minderzahl aller Fälle zu finden vermögen, 
wo nämlich grobe anatomische Laesionen vorliegen, 
für die Mehrzahl aber i. e. die sog. idiopathischen 
Fälle der anatomische Process uns verborgen ist, be¬ 
gnügen wir uns damit, die Epilepsie als Neurose zu 
bezeichnen. Fassen wir nun die Epilepsie als 
Krampfneurose der höheren motorischen Centren auf, 
so scheint es mir berechtigt, die Tetanie als Krampf¬ 
neurose der niederen motorischen (Rückenmarks-) 
Centren zu bezeichnen. Der nähere Zusammenhang 
der genannten Krankheiten wird nicht nur durch 
diese hypothetischen Localisationen bewiesen. Ich 
stütze mich hierbei zunächst auf die Autorität von 
Frankl-Hoch wart’s und dann auf unzweifelhafte 
klinische Thatsachen. Zu den vom ebengenannten 
Autor citirten Fällen von Fried mann, Gottstein, 
Chvostek, von Jak sch u. a. sind neuere wuchtige 
Beobachtungen hinzugekommen. Kürzlich hatte ich 
Gelegenheit ein zehnjähriges Mädchen zu sehen, das 
vor einem halben Jahre an typischen Tetanieanfällen 
erkrankt w'ar, die Krämpfe traten aber nur vereinzelt 
auf, meist Nachts. Nach Ablauf einiger Monate 
stellten sich echte epileptische Krampfanfälle mit 
Zungenbiss und Bewusstlosigkeit ein. Bei der ein¬ 
maligen Untersuchung konnte ich nur das Vorhanden¬ 
sein des Trousseau’schen und Chvostek’schen Phäno¬ 
mens nachw'eisen; leider entzog sich die Kranke der 
weitem Beobachtung. Der von Jaksch *) beobach¬ 
tete Fall schwerer cerebraler Erkrankung (Tumor?) 
zeigte typische Tetanieanfälle mit Trousseau, Chvostek 
und gesteigerter galvanischer Erregbarkeit. Im Laufe 
der Behandlung beobachtete v. Jaksch einen typi¬ 
schen epileptiformen Anfall; er hält das Zusammen¬ 
treffen beider Krampfformen nicht für Zufall, sondern 
spricht von der Möglichkeit einer Localisation der ge¬ 
meinsamen Krankheitsursache im Ependym des III. 
Ventrikels. Von besonderem Interesse ist ferner der 
Fall von E h rhard t**): 3 Tage nach fast totaler 

*) Zeitschrift für klin. Medicin Bd. 17. Supl. Heft S. 144. 

**) Mittheilung aus den Grenzgebieten ftlr innere Medicin 
und Chirurgie. Bd. X. Heft 1 und 2. S. 225. 


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550 


Exstirpation der malign entarteten Schilddrüse traten 
unter ziehenden Schmerzen Krämpfe in den Vorder¬ 
armen auf, wobei das Sensorium frei blieb. Chvostek 
und Trousseau vorhanden, galvanische Erregbarkeit 
gesteigert. Daneben traten bald Anfälle allgemein 
clonisch-tonischer Krämpfe mit Bewusstseinsverlust, 
typisch epileptischer Art, auf. Andere Anfälle trugen 
den Character von Mischformen der Epilepsie und 
Tetanie. Die hierher gehörige Arbeit von Clark 
„Tetanoid seizures in Epilepsia“ *) war mir leider 
nicht zugänglich. Ganz übereinstimmend mit der 
Ehrhardt’sehen Schilderung ist der erste von 2 
Tetaniefällen, die neuerdings W es t p ha 1 beschrieben. 
Auch hier hatten sich nach der Strumektomie typische 
Tetanieanfälle eingestellt, zu denen sich nach Ablauf 
eines halben Jahres einerseits epileptiformc Krampf¬ 
anfälle mit Bewusstseinsverlust, andererseits „eigenthüm- 
liche Misch- und Uebergangsformen“ beider Krampf¬ 
bilder gesellten. Mit Recht betont Westphal das 
wahrscheinliche Vorhandensein von Toxinen, als ge¬ 
meinsame Ursache der Tetanie und Epilepsie, die 
meines Erachtens hier gewiss nur als verschiedene 
Symptome eines Krankheitsprocesses angesehen 
werden dürfen. 

Neben der Epilepsie zeigt noch eine andere Er¬ 
krankung des motorischen Systems eine Verwandt¬ 
schaft zur Tetanie, nämlich die Myotonie im weiteren 
Sinne, wie ich in meiner oben citirten Arbeit betont 
habe [man vgl. auch die Arbeiten von J o 1 1 y **) und 
J acobi ***)]. Es kommen auch nicht allzuselten Com- 
binationen beider Krankheiten vor. G owers t) macht 
für die Entstehung myotonischer Erscheinungen, wie 
mir scheint, mit Recht eine Erkrankung de* Vorder- 
hömer des Rückenmarks verantwortlich; ich nehme 
für die Tetanie eine ähnliche Localisation in Anspruch, 
eine Combination beider Störungen wäre auf diese Weise 
erklärlich. Endlich möchte ich noch an die Chorea 
minor (infectiosa-W o 11 e n b e r g) erinnern, die in ihrer 
Abhängigkeit von infectiösen Processen, der Neigung 
zu Recidiven und der Form der bei derselben beob¬ 
achteten Geistesstörung gewisse Analogien mit der 
Tetanie zeigt. 

In allerletzter Zeit hat Peters ff) bei Kindern, 
die intra vitam an Tetanie gelitten, eine Pachymenin- 
gitis haemorrhagica acuta mit einer Neuritis intersti- 
tialis der Wurzeln und Entzündung der Spinalgang- 
licnzcllen gefunden. Er vermuthet hierin den der 

*) Amer. Journal of insanity April 1899. 

**) Neurol. Centralbl. 1896. S. 140. 

***) >jew Yorker med. Monatsschr. 1898. Nr. 8. 

j) Centralblatt für Nervenheilkunde. 1892, Februar. 

ff) Petersburger med. Wochenschrift. 1902 S. 411. 


[Nr. ^30. 

Tetanie zu Grunde liegenden Process gefunden zu 
haben. Ohne auf die genaue Besprechung dieser 
Befunde eingehen zu wollen, will ich nur bemerken, 
dass dieselben sich mit den früheien Sectionsresuitaten 
bei Erwachsenen und Kindern kaum in Ueberein- 
Stimmung bringen lassen;*) auch lässt die Peters'sehe 
Annahme keine Erklärung für die Symptome von 
Seiten der Himnerven zu, noch weniger aber ist sie 
auf alle Fälle von Tetanie anwendbar (z. B. nach 
Strumektomie!). Viel wahrscheinlicher ist es, dass 
ineningitische Erscheinungen im Bereiche des Rücken¬ 
marks zu directer oder reflectorischer Reizung der 
Wurzeln und Vorderhörner und dadurch zur Te¬ 
tanie führen können. 

Ich brauche nicht besonders hervorzuheben, dass 
die Annahme einer spasmophilen Diathese der Vor¬ 
derhörner des Rückenmarks als Entstehungsursache 
der Tetanie eigentlich nur eine Praecisierung der 
früheren Annahme von einer reflectorischen Ent¬ 
stehung dieser Krankheit ist. Dass die Tetanie bei 
Kindern verhältnissmässig häufig ist, stimmt einerseits 
mit dem von Sol tmann festgestellten erhöhten Tonus 
der kindlichen Musculatur und dem häufigen Vor¬ 
kommen von epileptischen und epileptiformen i. e. 
eclamptischen Krämpfen überein, andererseits scheint 
die bei Kindern so häufige Rhachitis eine Entstehung 
der Tetanie zu begünstigen. Andauernde, ange¬ 
strengte Arbeit mit den oberen Extremitäten, wie sie 
bei vielen Handwerkern die Regel ist, mag die Dia¬ 
these entstehen lassen; tritt eine Infection sui generis 
(die eventuell an gewisse Städte gebunden ist und 
eine Abhängigkeit von den Jahreszeiten zeigt) hinzu, 
so werden die Tetanieanfälle ausgelöst. Verschiedene 
toxische Substanzen (besonders das Blei) scheinen 
ähnlich praedisponierend zu wirken. Andere Toxine 
(in der Gravidität, die an und für sich zu gewissen 
Krampfformen zu disponieren scheint, ich erinnere 
nur an die Chorea und Eclampsia gravidarum, ferner 
bei Magendarmstörungen) rufen offenbar ebenfalls 
die Tetaniediathese hervor, wobei dann durch das 
Hinzutreten eines mechanischen Reizes (Einführen 
der Magensonde z. B.) der Anfall entsteht. In be¬ 
sonders specifischer Weise scheint die Kropfexstir¬ 
pation zu wirken, die hierbei entstehenden Toxine 
müssen in electiver Weise die motorischen Centren 
reizen. 

Die obigen Erwägungen scheinen mir erstens 
den nahen Zusammenhang der Tetanie mit der Epi- 

*) Eine leichte Andeutung der von Peters erhobenen Be¬ 
funde findet sich in den Fällen von Berger. In dem von 
mir geschilderten Fall fand sich ebenfalls eine Pachymehingitis 
haemorrhagica, doch war das Krankheitsbild sehr complicierU 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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« 9 ° 3 -] 


lepsie zu beweisen, zweitens aber die Annahme 
einer Diathese zur Erklärung des Entstehens der 
Tetanie wahrscheinlich zu machen. Als Localisation 
des Krankheitsprocesses, der nach dem Stande unserer 
heutigen Kenntnisse als Krampfneurose zu bezeichnen 


55 i 


ist, müssen die Vorderhörner des Rückenmarks und 
die Kerne der motorischen H imnerven angesehen 
werden. 

(Nach einem am 5. März 1902 im Verein St. 
Petersburger Aerzte gehaltenen Vortrage). 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


M i t t h e i 

— Aus dem Provinziallandtag der Provinz 
Brandenburg. (Februar/März 1903). Der Verwal¬ 
tungsbericht des Provinzialausschusses pro 1902 zeigt, 
dass am Schlüsse des Jahres 1901 in den Anstalten 
der Provinz 4037 Geisteskranke und erwachsene Idi¬ 
oten und 617 jugendliche Idioten und Epileptiker 
sich befanden, gegen 1900 eine Steigerung um ö,oi 
resp. 6,19°/ 0 . Von den Kranken befanden sich 73 
resp. 55 in Privatanstalten. 

Im September 1902 w>ar der Kranken bestand auf 
4939 angewachsen. 

Bei der Discussion bemerkte der Abg. Prof. Dr. 
Mendel, dass er es freudig begrüsse, dass zum ersten 
Mal in dem Verw'altungsbericht die practisch eingeführte 
„Familienpflege“ erscheine. Wenn auch die Zahl (Be¬ 
stand am 31. 12. 02: 19 M. 8 Fr.) im Ganzen noch 
klein erscheine, so verspreche er sich doch von der 
Weiterentwicklung Segen für die Kranken und finan¬ 
zielle Vortheile für die Provinz. 

Er erkenne ferner das Bestreben der Verwaltung 
an, die Kranken der Provinz in ihren eigenen An¬ 
stalten zu behandeln, w-ie es sich in dem Satze aus¬ 
drückt, dass die „schwierige und verantwortungs¬ 
reiche, öffentlich-rechtliche Pflichtder eigent¬ 
lichen Irrenfürsorge grundsätzlich nicht durch 
Ueberweisung Kranker an Privatanstalten 
erfüllt werden darf.“ 

Die Anstalten der Provinz seien jetzt voll, zum 
Theil überfüllt. Die projectirten Bauten von Pavillons 
im Anschluss an die bestehenden Anstalten würden 
nur noch für kurze Zeit genügen, um die Durch¬ 
führung jenes Grundsatzes zu ermöglichen. Es ist 
demnach die Errichtung einer neuen Irrenanstalt er¬ 
forderlich, von welcher bereits in den Verw'altungsbe- 
richten 1900 und 1901 die Rede war. 

Wenn man in Betracht zieht, dass bis zur Eröff¬ 
nung der neuen Anstalt eine Reihe von Jahren ver¬ 
läuft, so wird man nicht fehl gehen, wenn man die 
Bevölkerung der Vororte von Berlin zu dieser Zeit 
auf ca. 700000 schätzt. Für diese Vororte mit ihrem 
grossstädtischen Character hat man zum Mindesten 
aber auf je 500 Einwohner einen Platz in der Irren¬ 
anstalt bereit zu halten [jetzt ist das Verhältnis in 
der Provinz Brandenburg 5000 Kranke auf 3 100000 
Einwohner (ausser Berlin) = 1 : 610]; es würden 
demnach die Vororte allein schon eine Anstalt für 
1400 Kranke füllen. 

Unter diesen Umständen erscheint es billig, dass 
die neue Anstalt in einen der Vororte oder deren 
Nähe kommt, um so die Möglichkeit einer leichten 


1 u n g e n. 

Ueberführung der Kranken, der Besuche der Ange¬ 
hörigen, der leichten Beurlaubung und Entlassung der 
Kranken zu geben. In seiner Erwiederung erklärte 
der Landesdirektor Frhr. v. Man teuf fei, dass er die 
Eröffnung einer neuen Anstalt für 1909 in Aus¬ 
sicht genommen, dass er die Bauzeit auf 3 Jahre 
schätze und dass er der Ansicht sei, dass die neue 
Anstalt in das Centrum der Provinz kommen solle 
d. h. also in die Nähe von Berlin. Die Schwierigkeit 
geeignetes und nicht zu theures Terrain zu schaffen, 
sei hier allerdings nicht zu unterschätzen. — 

Die Vororte, besonders die starkbevölkerten um 
Charlottenburg mit über 100000 Einw'ohner, haben 
ein erhebliches Interesse an der Beschleunigung der 
Angelegenheit und werden dieselbe möglichst zu för¬ 
dern suchen. 

— Elberfeld. Vom bergischen Verein für Ge¬ 
meinwohl w’ird die Errichtung einer Heilstätte 
für unbemittelte Nervenkranke angestrebt. 
Der Plan ist seiner Verwirklichung nahe. Zu den auf 
600000 M. veranschlagten Kosten wird die Landes¬ 
versicherungsanstalt Rheinprovinz, wie der Vorsitzende 
derselben, Geheimrath Klausener, gestern bekannt gab, 
480000 M. zu mässigem- Zinssatz darleihen. Der 
Rest von 120000 M. soll durch Zeichnungen aufge¬ 
bracht werden. Da bereits beträchtliche Summen in 
Aussicht gestellt worden sind, dürfte der ganze Be¬ 
trag bald aufgebracht sein. Die konstituirende Ver¬ 
sammlung soll bereits am 21. März in Düsseldorf 
stattfinden. Inzwischen wird eine Kommission mit 
den Landräthen des bergischen Landes wiegen der 
Platzfrage verhandeln. Wie gross das Bedürfniss für 
die Anstalt ist, erhellt daraus, dass allein von der 
Landesversicherungsanstaltder Rheinprovinz im vorigen 
Jahre 333 nervenkranke Frauen und 163 derartige 
Männer in verschiedenen Heilstätten untergebracht 
werden sind. [Zweckmässiger wäre es freilich ge¬ 
wesen , wenn die Landesversicherungsanstalt selber 
diese Anstalt erbauen würde, darin dem Beispiel der 
Provinz Hannover (s. vorige Nr.) folgend]. 

— Das endgültige Programm des IX. Intern. 
Congresses gegen den Alkoholismus. Bremen, 
14.—19. April, ist soeben in deutscher, englischer und 
französischer Sprache herausgegeben worden und wird 
vom Bureau des Kongresses, Bremen, Bahnhofstrasse 
1, bereitwilligst an jede aufgegebene Adresse versandt. 
Nach den bisherigen Anmeldungen zu schliessen, wird 
dieser zum ersten Male in Deutschland tagende Con- 
gress der besuchteste seiner Art werden. Nicht zum 


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552 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50 


wenigsten dürfte das hochbedeutsame Congresspro- 
gramm dazu beitragen, das 22 hervorragende Redner 
und Rednerinnen, zur Hälfte aus dem Auslande, zählt. 
Auf dem Bremer Congresse wird nicht mehr die ganze 
Alkoholfrage, wie auf früheren Congressen behandelt 
werden, sondern elf hervorragende Capitol derselben 
sind ausgewählt worden, um Raum für eine ausge¬ 
dehnte Besprechung zu behalten. Eine reichhaltig 
beschickte Ausstellung wird ebenfalls dazu beitragen, 
den diesjährigen Congress besonders interessant zu 
gestalten. Erwähnen wollen wir noch, dass der Hohe 
Senat Bremens die Congresstheilnehmer zu einem 
Frühstück im Rathhause einladen wird und dass die 
Direction des Norddeutschen IJovd eine Fahrt in Sec 
auf einem seiner Schnelldampfer vorgesehen hat. 
Der Preis der Mitgliedskarte des Congivssrs betlägt 
5 Mark; sie berechtigt zur Theilnalnne an den Ver¬ 
anstaltungen des Congresses und zum Bezüge des 
später zu veröffentlichenden stenographischen Verhand¬ 
lungsberichtes. 

— Les Alienäs en libertä. La question des 
alienes en liberte et des dangers qu’ils peuvent courir 
a 1’ordre public et a la securite des personn es, con- 
tinue, plus que jamais, d’etre a l'ordre du jour. Les 
A n n a 1 e s m e d i c o - ps y c h o 1 og i q u e s se confe »nnant 
ä un usage etabli, il y a plus de trente ans, par Bail- 
larger et Lunier, collectionnent les faits divers racon- 
•ant les exploits des alienes qu’on laisse vaguer sans 
surveillance, et en donnent un resume statistique dans 
le demier numero de l’annee. Voici celui qui vient 
de paraitre dans lc numero de novembre 1002: 

Resume. — Nous avons recueilli dans les Anna- 
les de l’annec iqo2, qo cas d'alienes en liberte, pub- 
hes dans divers joumaux de Paris et de la province. 
Ces alienes avaient commis, les uns de simples exceu- 
tricites ou des actes delictueux, le plus grand nombre 
de veritables crimcs: homicides, tentatives d'homicide, 
menaces de inort, incendies, etc.: enfin, les suicides 
simples, ainsi, que les suicides preeedes d'homicides, 
fournissent un fort contingent. 

Tentatives d’homicide, aggressions 


violentes, menaces de mort . . 31 

Suicides et tentatives de suicide . iq 

Homicides.14 

Homicides et suicides.10 

Excentricites et actes delictueux . 9 

Incendies. 7 

Total.00 


Ainsi sur 90 cas, il y eu 24 homicides, dont 10 
ont etc suivis du suicide de l’aliene apres la per- 
pretation du meurtre. Nous ne parlerons que ]>our 
memoire des nombreuses tentatives d'homicide, des 
aggressions violentes, des actes delictueux, ainsi (jue 
des sept incendies. Ce qui nous parait plus impor¬ 
tant, c’est de compter le nombre de victimcs faites 
par ces 90 alienes en liberte. Il y a eu 


Blesses grievement.34 

Morts.32 

Suicides.1 q 

Total.85 

Ainsi notre statistique — qui est loin d’etre com- 
plete — donne 34 personnes qui ont etc bl esse es 

grievement par des alienes en liberte, et un grand 
nombre d’entre eil es ont succombe a leurs blessures; 
32 ont ete tuees; enfin iq alienes se sont tues, dont 
plusieurs apres avoir tue soit leur femine ou leur man, 
soit leurs enfants. 

Comme les annees precedentes, nous avons a sig- 
naler de veritables hecatombes faites par certains de 
ces alienes; ainsi il en est qui ont fait, l'un 3 victi- 
mes, un autre 5, un troisieme 12 dont 7 tues et 5 
blesses. 

Comme tous les ans aussi, nous devons faire re- 
marquer que la plupart de ces crimes et de ces delits 
ont ete commis par des alienes dont la plupart 
etaient malades depuis longtemps et que la prudence 
la plus elementaire aurait du faire sequestrer. Beau- 
coup avaient deja ete traites dans les asiles; quelques- 
uns venaient meine d’en sortir. 

Ant. R i 11 i. 


Personalnachrichten. 

— Dr. Ra ecke, I. Ass.-Arzt der Psychiatrischen 
Klinik in Kiel ist als Nachfolger Dr. Alzheimers an 
die städtische Irrenanstalt in Frankfurt a. M. berufen 
worden. Er hatte sich vor Kurzem in Kiel habi- 
litirt mit einer umfangreichen Schrift: „Ueber die 
transitorischen Bewusstseinsstörungen der 
Epileptiker“ (erschienen bei C. Mar hold in 
Halle a. S., Preis M. 3,80). 

— In Moskau habilitirte sich Dr. Bajenow für 
Psychiatrie und Neurologie, in Modena für dieselben 
Fächer Dr. Brisgia. 

Dr. Tantzen, bisher 4. Arzt der Provinzial- 
Heil- und Pflege-Anstalt zu Lüneburg, ist zum 3. 
Arzt derselben Anstalt ernannt. 

— Dr. Bchr, bisher Assistenzarzt an der Pro- 
vinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Lüneburg, ist 
zum 4. Arzt derselben Anstalt ernannt. 

— Den 80. Geburtstag feierte am 5. d. Mts. der 
P s y c h i a t e r D r. J essen, Privatdozent an der Uni¬ 
versität Kiel. Auch wir senden dem verehrten Ju¬ 
bilar die herzlichsten Glückwünsche. 

Der heutigen Nummer liegen drei Beilagen 

bei: 

1. Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning, 

Höchst a. M., 

2. Konstanzer Hof - Sanatorium für Nerven- 

und innere Krankheiten zu Konstanz. 

3. Einladung zum Treizieme Congres des Medecins 

Alienistes et Neurologistes, Bruxelles, 
die wir zur Beachtung empfohlen halten. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J . Biesier, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheiat ledeti Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgalx'. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevneniann’sche nuchdruckerei (Gehr. WoifTl in ITalb' a S. 


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Psychiatrisch - Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I*. Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 51. 21. März. _ 1903. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (KatalogNr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate w'erden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Ueber zwei schwere Fälle von Hysterie. Von Dr. Carl Decsi in Budapest (S. 553). — Mittheilungen 
(S. 558). — Referate (S. 559). — Personalnachrichten (S. 560). 


Aus der psychiatrischen Universitäts-Klinik des Prof. Dr. Emil Moravcsik in Budapest 
(Beobachtungs-Abtheilung des St. Johann-Spitals). 

Ueber zwei schwerere Fälle von Hysterie. 

Von Dr. Carl D^csi^ I. Assistenten der Klinik. 


Tch hatte auf unserer Klinik oft Gelegenheit, Fälle 
von Hysterie zu sehen und zu behandeln, welche 
mit schweren Symptomen einhergingen. Kranke dieser 
Art — wenn wir von den kürzeren oder mehr pro- 
trahirten Zuständen von hysterischer Geistesstörung 
absehen, von welchen ich einige im Jahrbuche der 
hauptstädtischen Spitäler vom Jahre 1898 mitzutheilen 
Gelegenheit hatte, und nur diejenigen hierher rechnen, 
bei welchen überhaupt keine Psychose festzustellen 
war — gelangten zumeist aus anderen Spitälern auf 
die psychiatrische Klinik, besonders in Folge von 
schweren, stürmischen Krankheitserscheinungen, welche 
die Behandlung auf einer gewöhnlichen Spitalsabthei- 
Iung (internen oder Nervenabtheilung) unmöglich 
machten. Ausserordentlich heftige und sich sehr oft 
erneuernde hysterische Anfälle, die psychische Reiz¬ 


barkeit und das unverträgliche, oft schonungslose Be¬ 
nehmen solcher Kranken, lärmender, und beinahe 
constanter, die Ruhe der Krankengenossen störender 
Singultus hystericus, hartnäckige Nahrungsverweigerung, 
enorme Reizbarkeit mit heftigen Wuthausbrüchen: 
diese waren in den meisten Fällen die unmittelbaren 
Ursachen der Ueberführung auf die psychiatrische 
Abtheilung. 

Die systematische, zielbewusste Behandlung von 
Kranken dieser Art, besonders, wenn viele auf der¬ 
selben Abtheilung Zusammentreffen, verursacht dem 
Arzte so manche sorgenvolle Stunde und erfordert 
einen Aufwand von Geduld, welchen nur derjenige 
begreifen kann, der die Gewohnheiten, den schonungs¬ 
losen Egoismus, das sozusagen dissociale Benehmen 
dieses ganz eigenartigen Krankenmaterials aus näoh- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51. 


554 


ster Nähe kennen gelernt hat. Noch in viel grösserem 
Maasse aber wird die Geduld solcher Patienten durch 
die geschlossene Anstalt und deren Bewohner, durch 
die Anstalts-Ordnung und Gewohnheiten in Anspruch 
genommen, da diese Kranken — trotzdem sie an 
keiner Geistesstörung leiden und nach eigenem Gut¬ 
dünken in der Anstalt verbleiben oder dieselbe ver¬ 
lassen können — auf Anrathen des Arztes sämmt- 
liche Unannehmlichkeiten dieser Umgebung freiwillig 
ertragen und — die Besserung ihrer Krankheit er¬ 
hoffend — durch Monate in der Anstalt verbleiben. 
Diese gegenseitige Geduld aber hat ihre guten Folgen, 
da die Behandlung in der geschlossenen Anstalt, 
wenn sie durch eine gewisse Zöit und mit der nöthi- 
gen Energie durchgeführt uird, — bei gewissen Kran¬ 
ken sehr schwere Krankheitserscheinungen zu besei¬ 
tigen und dadurch den Zustand des Kranken be¬ 
deutend zu verbessern im Stande ist. Nachstehend 
theile ich die Krankengeschichten zweier Kranken 
dieser Art mit, welche in der Anstalt mit besonders 
günstigem Resultate behandelt wurden. 

Fall I. Die 26jährige N. N. kam am 12. März 
1898 auf unsere Abtheilung; vor 12 Tagen fand die¬ 
selbe im St. Stefans-Spitale Aufnahme, konnte aber 
hier w-egen ihres lärmenden Singultus und heftigen 
Nervenanfällen im gemeinsamen Krankenzimmer nicht 
weiter gehalten werden. Sie schluchzte so laut, dass 
sämmtliche Krankengenossinnen im Schlafe gestört 
wurden, auch hatte sie während der letzten Nacht 
19, besonders vehemente Krampfanfälle und beinahe 
unausgesetzten, krampfhaften Singultus, demzufolge 
die Kranke in einem Isolirzimmer untergebracht 
wurde. 

Nach Aussage der Kranken ist Heredität nicht 
zu ermitteln; ihr Vater starb an Darmverwicklung, 
die Mutter lebt und ist gesund. Als Kind litt sie 
an Masern und Lungenentzündung, sowie wiederholt 
an Wechselfieber. Ihr jetziges Leiden begann vor 
10 Jahren, die eminenten Symptome der Krankheit 
waren: Singultus, Lach- und Weinkrämpfe; Haupt¬ 
klage der Kranken ist der qualvolle, erschöpfende 
Singultus, welcher durch 10 Jahre' beinahe unausge¬ 
setzt andauert. Im Anfänge wurde Brombehandlung 
angewendet, sodann applicirte ihr Arzt Morphium- 
Einspritzungen, und seit dieser Zeit benützt sie un¬ 
ausgesetzt diese Einspritzungen, welche die Patientin 
nicht mehr entbehren kann, da sie sich nur auf diese 
Art einige Stunden Ruhe zu verschaffen im Stande 
ist. — 

Patientin ist klein, schwach gebaut, kvphoscolio- 
tisch, sehr stark abgemagert, blutarm. Pupillen gleich¬ 
weit, Reaction auf Licht und Accomodation prompt. 


Zunge und Hände zittern, die Reflexe sind stark er¬ 
höht. Die Empfindlichkeit gegen tactile Reize ist normal. 
Der Arm ist mit kleinen Stichnarben bedeckt, welche 
von den eigenhändig angewendeten Morphium-Ein¬ 
spritzungen herstammen. Patientin fordert gegen 
ihre oft wiederkehrenden, heftigen Krampf- und 
Singultus-Anfälle Morphium - Einspritzungen , welche 
für sie unentbehrlich sind, und von denen sie stufen¬ 
weise abgewöhnt wird. Sämmtliche Krankheits-Symp¬ 
tome zeigen eine grosse Beeinflussbarkeit durch Sug¬ 
gestion , Hypnose gelingt leicht und wird bei der 
Patientin täglich angewendet (dieselbe wurde ausser¬ 
dem noch durch Bäder, Elektrizität und durch Medi- 
camente von rein suggestiver Wirkung behandelt) — 
worauf das Allgemeinbefinden sich schnell bessert, 
die Krampfanfälle seltener und milder werden; die 
Abgewöhnung der Morphium-Einspritzungen findet 
leicht statt, der Singultus ist nicht mehr andauernd. 
(Während der ärztlichen Visite erscheint der Singultus 
ganz regelmässig!) — Schon im Monate Mai treten 
Intervalle von 1—2 Wochen auf, während welcher 
überhaupt kein Singultus erscheint; anfangs Juni end¬ 
lich bleibt derselbe ganz aus, sodann verschwinden 
auch die Krampfanfälle und die Kranke verlässt 
Mitte Juni 1898 im besten Wohlbefinden, von ihren 
Singultus- und Krampfanfällen befreit, und von ihrer 
Morphiumsucht entwöhnt, das Institut, wo sie wäh¬ 
rend einem Aufenthalte von 4 Monaten an Körper¬ 
gewicht bedeutend zugenommen hat. 

Seit dieser Zeit stand die Kranke sowohl in 
unserer Anstalt, als auch in anderen Spitälern wieder¬ 
holt in Behandlung und immer waren es die Krampf¬ 
anfälle, welche den Kern der Krankheitserscheinungen 
bildeten, zu denen nachträglich noch starker Tremor, 
Meteorismus, Anfälle von Dyspnoe, Ohnmächten hin¬ 
zutraten, jedoch der quälende Singultus, welcher die 
Hauptursache ihrer ersten Anstaltsbehandlung war, 
erschien überhaupt nicht mehr, Patientin blieb von 
diesem überaus unangenehmen Symptome der Krank¬ 
heit ganz befreit. 

Die wiederholte Anstaltsbchandlung war auch auf 
die anderen Krankheitserscheinungen von günstigem 
Einflüsse, und so oft die Kranke in unserer Anstalt 
behandelt wurde, gelang es immer, die prägnanteren 
Symptome zu unterdrücken und Patientin — wenn 
auch nur auf beschränkte Zeit — von denselben zu 
befreien. 

Im beschriebenen Falle hat sich demnach die 
Internirung und Behandlung der Patientin in einer 
geschlossenen Anstalt sehr gut bewährt und stets zu 
gutem Resultate geführt. Betrachten wir nun das 
Wie dieses günstigen Einflusses etwas eingehender. 


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555 


iQo.v] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Wenn wir die psychogene Natur der Krankheit in 
Betracht ziehen, kann hier nur von suggestiver Wirk¬ 
ung die Rede sein, und zwar — nach meinem Er¬ 
achten — hauptsächlich und in erster Linie von der 
suggestiven Einwirkung der Anstaltsordnung, der un¬ 
gewohnten Umgebung, der ständigen, strengen Auf¬ 
sicht in der Anstalt. Es ist ganz bezeichnend, wie 
sich die aufgeregteste Hysterikerin, welche inmitten 
ununterbrochener Anfälle im Spitale anlangt, wie auf 
einen Schlag verändert, als dieselbe auf einige Tage 
im Wachzimmer (zwischen den unruhigeren Geistes¬ 
kranken) untergebracht wird, wo durch die geringste 
Begünstigung (Transferirung auf eine ruhigere Abthei¬ 
lung, Gewähren von Handarbeit, Lesen von Büchern, 
etc.) schon bedeutende Besserung hervorgerufen werden 
kann, ja sogar oft die Anfälle sofort eingestellt werden. 

Das regelmässige Leben und die Disciplin in der 
Anstalt rufen Autosuggestionen hervor, welche den 
Krankheitszustand in günstigem Sinne beeinflussen; 
die fortwährende Gegenwart des Arztes, seine ge¬ 
wissenhafte Beschäftigung mit den Patienten erweckt 
in den willenlosen und zur Selbstbeherrschung un¬ 
fähigen Kranken Vorstellungen, welche für die Ge¬ 
nesung günstig sind; die Patienten bemerken, dass 
man sich mit ihren Leiden befasst, ihre Klagen an¬ 
hört, und in Folge dessen unterwerfen sich dieselben 
gerne der etwas militärischen Disciplin der Anstalt; 
und als die stürmischeren Symptome, welche die Be¬ 
handlung in einer gewöhnlichen Spitalsabtheilung un¬ 
möglich machten, vergangen sind, verbleiben die 
Patienten gerne auch für längere Zeit in der ge¬ 
schlossenen Anstalt, so lange, bis eine Spitalsbehand¬ 
lung überhaupt nothwendig ist 

In leichteren Fällen genügen schon die verschie¬ 
denen suggestiven Behandlungsmethoden im wachen 
Zustande; aber bei hartnäckigen Patienten — wie 
z. B. im obigen Falle, welcher io Jahre hindurch 
erfolglos behandelt wurde — kann die Hypnose 
sehr gute Dienste leisten, indem durch dieselbe die 
psychische Beeinflussbarkeit der Patienten bedeutend 
erhöht werden kann, und dadurch die Genesung be¬ 
fördernde Vorstellungen in das Bewusstsein der Kran¬ 
ken eingeführt werden. Es ist zweckmässig bei der 
Hypnose — mit Ausnahme von Fällen, w'o dieselbe 
schädliche Erscheinungen verursacht, was individuell 
Vorkommen kann — dauernd zu beharren; bei der 
erwähnten Patientin wandte ich dieses Verfahren durch 
3 Monate unausgesetzt und stets mit sehr gutem Er¬ 
folge an. 

Aber auf welche Art wir auch die hysterischen 
Kranken behandeln mögen, das am meisten suggestiv 
wirkende Moment in solchem Falle ist nicht die Be¬ 


handlung, das Verfahren selbst, sondern stets die 
Anstalt, Die schweren Hysterieen bessern sich in 
der gewohnten, familiären Umgebung nicht und es 
ist eine Erfahrungsthatsache, dass die Entfernung der 
Patienten von dieser normalen, gewohnten Umgebung 
einen hauptsächlichen, weil am meisten wirkungsvollen 
Faktor der Behandlung bildet. Die Entfernung be¬ 
wirkt das Aufhören sämmtlicher schädlichen Ein¬ 
flüsse, welche der Verkehr mit der täglichen Um¬ 
gebung, die fortwährende Wiederholung der gewohn¬ 
ten Reize auf das Seelenleben der Kranken ausüben; 
und diese Wirkung entsteht dadurch, dass durch die 
Entfernung die gesammten äusseren Lebensverhält¬ 
nisse der Patienten wie auf einen Schlag umgeändert 
werden. Die radikalste Art dieser Veränderung be¬ 
steht in der Unterbringung in einer Anstalt, wodurch 
die vollkommene Ruhe und Isolirung der Kranken 
von der Aussenw f elt erreicht wird. 

Das Princip der Isolirung wurde zuerst von 
Charcot, dem Altmeister der modernen Neuro¬ 
logie nach Gebühr beachtet, und in seinen Vorträgen 
stets besonders hervorgehoben: „Je ne saurais trop 
insister devant vous“ — sagte er zu seinen Hörern *) 
— „sur l’importance capitale que j’attache ä l’isole- 
ment dans le traitement de l’hysterie, ou, sans con- 
testation possible, l’element psychique joue dans la 
plupart des cas un röle considerable quand il n’est 
pas predominant. — II y a pres de 15 ans que je 
suis fermement attache a cette doctrine, et, tout ce 
que j’ai vu depuis 15 ans, tout ce que je vois jour- 
nellement, ne fait que me confirmer de plus en plus 
dans mon opinion.“ 

Dem Beispiele Ch areot’s folgend, betonen Weir, 
Mitchel und Play fair die Bedeutung der Isoli¬ 
rung und betrachten dieselbe als ein Haupterforder- 
niss zur erfolgreichen Durchführung der durch sie 
empfohlenen Mastkur. Nach Burkart**) ist die 
Isolirung unumgänglich nothwendig und ist immer 

nach Möglichkeit durchzuführen:.„sogar 

jeder Besuch von Bekannten und selbst jeder aus¬ 
führliche Briefwechsel mit den Angehörigen über die 
Art und Weise und über das Gelingen der einge¬ 
schlagenen Behandlung bleibt während des grössten 
Theiles der eigentlichen Kurzeit streng untersagt, da¬ 
mit die einmal in Scene gesetzte Isolirung so voll¬ 
ständig als irgend möglich durchgesetzt werde“. 
Burkart erwähnt noch den Umstand, dass in den 
Fällen, wo er den Bitten der Kranken und Ange- 

*) J. M. Charcot: Le<;ons sur les maladies du Systeme 
nerveux, tome III. p. 238. 

**) Burkart: Zur Behandlung schwerer Formen von 
Hysterie und Neurasthenie. 


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55 b PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51. 


hörigen nachgebend, die Mastkur zuhause, in der Jahre wollte sie sich von ihrem Manne gerichtlich scheiden 


Wohnung der Kranken begonnen hat, dieselbe immer 
erfolglos blieb. — 

Die Isolirung der Kranken und die Ausschliessung 
der äusseren, schädlichen Einflüsse auf dieselben ist 
in der geschlossenen Anstalt jedenfalls vollkommener 
als in einer offenen Spitals-Abtheilung (Inneren oder 
Nerven-Abtheilung), wo der Kranke täglich Besuche 
empfangen, brieflichen Verkehr pflegen kann und be¬ 
züglich des Verkehrs mit anderen Personen ganz sich 
selbst überlassen ist. Und dies ist nach meiner An¬ 
sicht die eine Ursache der günstigen Wirkung der 
Anstalt; ausserdem bilden die eigenthümliche Um¬ 
gebung in der Anstalt, die Disciplin und die dadurch 
geschaffene Zwangslage der Patienten, die suggestive 
Kraft der Person des Arztes und das Vertrauen in 
dieselbe ein Gemisch von Einwirkungen, welche zu¬ 
sammen — wie ich schon oben erwähnte — die¬ 
jenige Veränderung in der Psyche, im geistigen Leben 
der Kranken schaffen, welche günstige Autosugge¬ 
stionen hervorruft und dadurch auch die hysterischen 
Krankheitserscheinungen günstig zu beeinflussen im 
Stande ist. — 

Dem nächstfolgenden Fall verleiht nicht nur das 
erreichte günstige Resultat, sondern auch die Selten¬ 
heit der Krankheitserscheinungen besonderes Interesse. 

Fal 1 II. X. Y., 28 Jahre alt, verheirathet, Schneide¬ 
rin, wurde am 23. Januar 1900 von der I. chirur¬ 
gischen Klinik auf die psychiatrische Abtheilung trans- 
ferirt. Auf die chirurgische Klinik wurde dieselbe 
wegen habitueller Luxation des Unterkiefers, behufs 
operativen Eingriffes aufgenommen, aber die wieder¬ 
holten hysterisdien Anfälle und das unruhige Be¬ 
nehmen der Kranken vereitelten die geplante Ope¬ 
ration und ergaben die Nothwendigkeit der Transfe- 
rirung auf die psychiatrische Abtheilung. 

Patientin entstammt einer Familie ohne nachweis¬ 
bare hereditäre Belastung; ihr Vater starb vor i 1 / 2 
Jahren an Herzlähmung, die Mutter vor 25 Jahren 
an Lungenschwindsucht; 8 Geschwister leben und sind 
gesund. — Patientin wurde im Eltemhause erzogen 
und war stets gesund. Die Menstruation stellte sich 
mit 12 Jahren ein und erschien regelmässig, nur seit 
einigen Jahren ist dieselbe von krampfhaften Schmerzen 
begleitet und unregelmässig. — Patientin ist seit 13 
Jahren verheirathet; diese Ehe war keine glückliche. 
Gleich im ersten Jahre der Ehe erbte sie eine Krank¬ 
heit (Lues ?) von ihrem Manne; nach einer Schwanger¬ 
schaft von 8 Monaten kam ein Kind zur Welt, welches 
nach 14 Tagen starb. Die Geburt war normal, er¬ 
folgte aber erst nach langem Kreissen und Patientin 
erlitt dabei bedeutenden Blutverlust. — Nach einem 


lassen, denn sowohl ihr Mann, als auch ihre Schwieger¬ 
mutter verursachten ihr durch schlechte Behandlung 
sehr viel Kummer; auch die Geburt griff ihre Nerven 
sehr an: es traten Ohnmächten, Herzklopfen, Kopf¬ 
schmerzen auf. Ungefähr 1 Jahr lebte sie getrennt 
von ihrem Manne, sodann kehrte sie zu ihm zurück, 
wurde aber nochmals grob behandelt und da wurde 
sie noch nervöser, bekam starke „Nervenkrämpfe“, 
Krampfanfälle, und hütete manchmal monatelang das 
Bett. — iVj Jahre vor ihrer Aufnahme in unsere 
Anstalt starb ihr Vater und Patientin reiste zum Be- 
gräbniss; nach der Rückkunft traten nach 4 jähriger 
Pause abermals Krampfanfälle auf, welche sich nun 
oft wiederholten; Patientin war immer sehr erregt, 
zornig, konnte nicht schlafen. In Folge dieses Zu¬ 
standes nahm sie ihr Mann nach N. Set. Nicklos und 
unterbrachte sie im dortigen Spitale. Hier erfolgte 
zum ersten Male (im Febr. 1899) die Luxation des 
Unterkiefers während eines Krampfanfalles (Patientin 
behauptet, eine Wärterin hätte ihren Mund mittelst 
einem zwischen den Zähnen applicirten Instrumentes 
gewaltsam geöffnet). Durch 20 Stunden konnte sie 
den Mund nicht schliessen, bis es endlich gelang, 
den Unterkiefer zu reponiren; nun aber erneuerte 
sich die Luxation bei jeder Gelegenheit, auch öfter 
des Tages und auch unabhängig von den Krampf¬ 
anfällen, beim Kauen von festen Speisen (Fleisch, 
Brod) bei Brechreiz u. s. w. — Vom Spital kehrte 
sie zu ihrem Manne zurück, aber auch hier erneuerten 
sich die Luxationen und Patientin musste bei jeder 
Gelegenheit in die nächste Stadt reisen, um ihren 
Unterkiefer reponiren zu lassen, weil dem Dorfarzte 
die Reposition überhaupt nicht gelingen wollte. Ende 
Juli 1899 kam die Kranke auf die chirurgische Klinik; 
hier wurde ihr Unterkiefer einige Wochen in einem 
Gypsverband gehalten und sie konnte nur flüssige 
Speisen zu sich nehmen; seit dieser Zeit suchte sie 
wiederholt in verschiedenen Spitälern Hilfe gegen ihr 
Leiden, bis sie endlich im Januar 1900 beschloss, 
ihren Unterkiefer operiren zu lassen; Patientin fand 
abermals in der chirurgischen Klinik Aufnahme, und 
wurde von hier in folgendem Zustande auf unsere 
Abtheilung gebracht: 

Patientin ist von mittlerer Körperhöhe, schwach 
entwickelt, sehr abgemagert, hat bläuliche Sclerae, 
angewachsene Ohrläppchen, schwülstige, dicke Lippen. 
Pupillen sind gleichweit, reagiren lebhaft; feiner Tre¬ 
mor in der Zungenmusculatur und in den Händen. 
Reflexe stark erhöht; beim Auslösen des Patellarre- 
flexes erfolgt ein Zusammenfahren am ganzen Körper. 
Das Gefühl für tactile Reize ist überall erhalten. Das 


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I 9 ° 3 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


557 


Gesichtsfeld zeigt eine concentrische Einengung massi¬ 
geren Grades; der Farbensinn ist normal. Patientin 
ist sehr suggestibler Natur, Hypnose erfolgt leicht 
durch verbale Suggestion; nach der Dehypnotisirung 
treten Schläfrigkeit, Schwindel, Autohypnosen auf. 

Stimmung sehr deprimirt, Pat. klagt unaufhörlich; oft 
treten heftige Krampfanfälle auf (mit dem gewohnten 
Typus der „grossen hysterischen Convulsionen“), wo¬ 
bei jedesmal die Luxation des Unterkiefers erfolgt, 
das Kinn sinkt, der Mund bleibt weit geöffnet, die 
untere Zahnreihe schiebt sich vor die obere, die 
Mundschleimhaut trocknet aus und verursacht der 
Patientin, welche gelegentlich jeder derartigen Luxation 
unbeschreibliche Schmerzen im Gesichte empfindet, 
grosse Qualen. Die Reposition ist nur durch Auf¬ 
wand grosser Muskelkraft möglich, wobei eine sehr 
kräftige tonische Contraction der Kiefemiusculatur 
fühlbar wird. Der Widerstand dieser Musculatur ist 
bis zur Zeit der vollständigen Lösung des Krampf¬ 
anfalles so stark, dass die Reposition des Unterkiefers 
gänzlich unmöglich wird. — Sogar nach der Repo¬ 
sition, zumal ein neuer hysterischer Anfall im Anzug 
ist, treten im Unterkiefer eigenartige, seitliche Beweg¬ 
ungen auf, und nur durch die kraftvolle Unterstützung 
des Kiefers und durch das forcirle Zuhalten der Zahn¬ 
reihen ist eine neuerliche Luxation zu verhüten. 

Die benannten Krämpfe und Luxationen des 
Unterkiefers wiederholen sich mehrmals täglich; dieser 
Zustand besteht bei der Kranken Monate hindurch 
unverändert; es werden Bäder, Electricität, Hypnose 
und Eisen - Arsenpräparate in Anwendung gebracht. 
Oft treten nächtliche Anfälle mit der unausbleiblichen 
Luxation auf; und die ständige Schlaflosigkeit, die 
unaufhörlichen Krampfanfälle und die mit der Repo¬ 
sition einhergehenden Schmerzen erschöpfen die Kranke 
vollständig. Noch im Monate Juli ist die Luxation 
eine fast tägliche, Patientin schlaflos, oft von Krämpfen 
befallen, weint unaufhörlich, geht mit Selbstmordge¬ 
danken herum und begeht einige Male auch Versuche 
von Suicidium. Anfangs August schliesslich tritt eine 
auffallende Besserung ein, Patientin nährt sich besser, 
nimmt zu, die Krampfanfälle und die damit verbun¬ 
denen Luxationen bleiben aus. Am i October 1900 
verlässt Patientin in bestem Wohlbefinden die Anstalt, 
wo sie während ihres 8 monatlichen Aufenthaltes 13 kg 
an Körpergewicht zugenommen hat. — 

Seitdem verging mehr als 1 7 2 Jahr, ohne dass 
sich — wie ich mich zu überzeugen Gelegenheit 
hatte — die Unterkieferluxation wiederholt hätte. 
Zwar besteht die Nervosität noch weiter und verur¬ 
sacht der Kranken besonders zur Zeit der Menses 
Unannehmlichkeiten (Ohnmächten, unbedeutendere 


Krampfanfälle), dieselben sind aber bei Weitem nicht 
so hochgradig, wie vormals; die Luxationen aber blieben 
gänzlich aus. — 

Der beschriebene Fall, in welchem die ausdauernde 
Behandlung in der geschlossenen Anstalt von wahrlich 
eclatantem Erfolge war, erhält hauptsächlich durch 
die Unterkieferluxationen Interesse. Diese bilaterale 
Kiefergelenks-Luxation erfolgte bei der Kranken zum 
ersten Male anlässlich eines hysterischen Krampfan¬ 
falles, angeblich dadurch, dass der Mund der Patientin 
behufs Verhütung des Lippen- und Zungenbisses über¬ 
mässig geöffnet wurde. In der That kann die ex- 
cessive Entfernung der beiden Zahnreihen (übermässiges 
Oeffnen des Mundes, Kauen grosser Bissen, Gähnen, 
etc.) die Luxation des Unterkiefers herbeiführen und 
bekanntlich neigen solche Luxationen zu Wiederhol¬ 
ungen. Ferner ist erwiesen, dass das Kiefergelenk 
eines jener Gelenke ist, bei denen forcirte Muskel¬ 
bewegung ebenfalls eine Luxation zu verursachen im 
Stande ist; und derartige Muskelbewegungen sind in 
Betracht zu ziehen, wenn wir die oben beschriebenen 
Luxationen mit den hysterischen Anfällen der 
Patientin in Zusammenhang bringen wollen. Und 
dieser Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich, wenn 
wir den Verlauf der Krankheit betrachten, welchem 
zu entnehmen ist, dass die Luxationen gewöhnlich 
mit diesen Anfällen einhergingen (nur selten und aus¬ 
nahmsweise auch ohne diesen) und dass dieselben parallel 
mit den Anfällen und successive ausgeblieben sind. Wäh¬ 
rend der Anfälle hatte ich öfter Gelegenheit, die Me¬ 
chanik der Luxation zu beobachten, wobei der soeben 
reponirte Unterkiefer inmitten eigenthümlicher Seitenbe¬ 
wegungen erst auf der einen, dann schnell auf der 
anderen Seite aus dem Gelenke sprang, eine Wirkung, 
welche durch die altemirende Contraction der Kiefer- 
musculatur zu erklären wäre, wobei besonders durch 
die Action des Muse, pterygoid. extern, das Gelenks¬ 
ende des Kiefers über dem tuberculum articulare 
nach vorne springt und wenn dies auf der einen 
Seite schon ei folgt ist, springt der processus condy- 
loideus der anderen Seite infolge der schnellen Con¬ 
traction der betreffenden Musculatur noch leichter 
und beinahe in demselben Augenblicke aus dem Gelenk. 

In der Symptomatologie der Hysterie sind sehr 
viele Analogieen solcher localen Muscelcontractionen 
aufzufinden und bekanntlich gehören solche isolirten 
Muscelcontractionen, entweder vorbeigehende Spasmen, 
oder anhaltende Contracturen zu den öfter vorkom¬ 
menden Symptomen der Hysterie. Ich fand in der 
mir zur Verfügung stehenden Litteratur über die bei 
hysterischen Kranken vorkommenden Kieferluxationen 
nur in Zusammenhang mit dem hysterischen Gähnen 


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Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51- 


558 


Aufzeichnungen in dem Sinne, dass das übermässige 
Oeffnen des Mundes beim hysterischen, krampfhaften 
Gähnen manchmal die Unterkiefer-Luxation erwirken 
kann*): „Ce qui estexagere, par exemple, c’est l’am- 
plitude de l’ecartement des mächoires porte a son 
maximum, au point qu’il part se produire une luxation 
des mächoires et des phenomenes inflammatoires du 
cote des articulations temporo-maxillaires“. 

Später wiederholten sich die Luxationen schon 
öfter und zuweilen auch unabhängig von den Krampf¬ 
anfällen (übermassiges Oeffnen des Mundes, Kauen 
grösserer Bissen), welcher Umstand durch die Re¬ 
laxation der Gelenkkapsel und durch die Neigung 
solcher Luxationen zu Wiederholungen erklärlich wird; 
immer aber waren es die hysterischen Anfälle, welche 
die Luxationen in erster Linie herbeiführten. Dies 
war die Ursache, dass auch die therapeutischen Ein¬ 
griffe besonders die Behandlung des Nervensystems 
der Kranken zum Ziele hatten, und dieser Umstand 
drängte die chirurgischen Indicationen (Resection der 
Kieferenden) gänzlich in den Hintergrund; der Er¬ 
folg zeigt, dass ein chirurgischer Eingriff in diesem 
Falle überhaupt nicht angezeigt war. 

Ich wäre geneigt, auch das in diesem zweiten 
Falle erreichte, gute Resultat in erster Linie der An¬ 
stalt zuzuschreiben. Alles, was ich oben von der 

*) Gilles de la Tourette: Trait£ pratique et th£ra- 
peutiquc de l’hysterie, torae III. 


suggestiven Wirkung der Anstalt sagte, erwies sich 
in noch höherem Maasse in diesem besonders hart' 
näckigen Falle, welcher mehr als 1 Jahr jeder 
Behandlung trotzte, und ich könnte über die Art 
dieser Wirkung nur wiederholen, was ich diesbezüglich 
schon in Zusammenhang mit dem ersten Falle gesagt 
habe. 

Es wäre aber ein grosser Fehler, diesem Princip 
der Behandlung ein zu weites Feld einzuräumen, denn 
auch unter den schweren Fällen von Hysterie giebt 
es nur eine gewisse Zahl, wo die geschlossene Anstalt 
von guter Wirkung ist, Fälle, bei welchen die Fern¬ 
haltung schädlicher psychischer Einflüsse, die strenge 
ärztliche Controlle, die ständige Leitung und Führung 
der willensschwachen Hysterischen die unausgesetzte 
Gegenwart des Arztes nothwendig machen. Hierbei 
ist strenge Individualisirung Aufgabe des Arztes, denn 
es giebt Hysterische, bei welchen die geschlossene 
Anstalt von schlechter Wirkung ist; in diesen Fällen 
ist schnelle Entlassung am Platze, solche Kranke sollen 
je nach Bedarf in eine ihrem Zustande entsprechende 
Umgebung befördert werden. Es ist interessant, dass 
unter den Hysterischen, welche auf unserer Abtheilung 
behandelt wurden, besonders bei den weniger intelli¬ 
genten Elementen ein günstiger Erfolg zu erreichen 
war, ein Umstand, welchen ich ebenfalls auf Ursachen, 
suggestiver Natur zurtickzuführen geneigt wäre. — 


M i t t h e i 

— Ländliche Kranken- und Armenpflege. 

(Landgericht Augsburg.) Im September v. Js. hatte 
ein Artikel der „M. N. N.“, der sich mit der Miss¬ 
handlung des geisteskranken Armenhäuslers Leix in 
Weiden befasste, eine ziemlich heftige Zeitungsfehde 
südbayerischer Blätter erregt. Der Fall kam vor 
der Strafkammer in Augsbuig zur Verhandlung. 
Angeklagt ist der 17 jährige Tagelöhnerssohn und 
Schuhmachergeselle Gg. Kraus von Weiden, der am 
6. September, früh nach 6 Uhr, beim Vorübergehen 
am Armenhaus bemerkt hatte, dass sich der dort 
untergebrachte Geisteskranke Leix bei offenen Fen¬ 
stern, nur mit einer Schultern, Brust und den oberen 
Theil des Rückens bedeckenden Zwangsjacke beklei¬ 
det, ausserhalb seines Bettes herumtrieb. Kraus trat 
in das Haus, um den Geisteskranken zu Bett zu 
schaffen. Beim Eintritte rüstete er sich, angeblich 
nur zum eigenen Schutze, mit einem etwa 60—70 cm 
langen kantigen Prügel aus, mit dem er nach dem 
Eröffnungsbeschluss dem Leix, um ihn fügsam zu 
machen, mehrere Schläge über den nackten linken 
Oberschenkel versetzt haben soll. Der Angeklagte 
leugnet das, wird aber durch die bestimmten Aus¬ 
sagen eines Hauptmanns des damals in der Gegend 
übenden 1. Feld-Art.-Regiments und verschiedene 

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1 u n g e n. 

andere Zeugen überführt. Die Zeugen stellen fest,, 
dass das Zimmer, in dem Leix untergebracht war, 
sich in einem wahrhaft scheusslichen Zustande be¬ 
funden habe. Die ganze Einrichtung habe aus einer 
Bettstelle mit einer Lage Häcksel und einer Decke 
bestanden. Für den Kranken war eine Pflegerin be¬ 
stimmt, die sich aber nicht allzuviel um ihn sorgte. 
Die übrigen Dorfbewohner bekümmerten sich wenig 
um ihn, und wenn einmal, dann in nicht gerade 
liebevoller Weise. Ein als Zeuge vernommener Ar¬ 
tillerieleutnant erhielt auf seine entrüstete Frage, wie 
man denn dazu komme, den Geisteskranken so zu 
behandeln, von einer Frau die Antwort: „Ja, dös Ls 
a Varrückta, dem g’hörin alle Tag Prügel!“ Bezeich¬ 
nend ist es, dass der Bürgermeister eigens aus¬ 
schellen lassen musste, niemand dürfe den „Var- 
rückt’n“ schlagen und der Geistliche dies Verbot in 
der Predigt wiederholen musste. Als Milderungs¬ 
grund Hess die Strafkammer gelten, dass Kraus den 
Leix nur deshalb mit Gewalt ins Bett bringen wollte, 
um den zahlreich herumstehenden Kindern den An¬ 
blick des nackten Mannes zu entziehen, und ver- 
urtheilte deshalb den Angeklagten zu der immerhin 
geHnden Geldstrafe von 30 M. event 6 Tagen Ge- 
fängniss. (Münch. N. Nachr.) 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


559 


*903] 


— Der Berliner Verein zur Besserung entlasse¬ 
ner Strafgefangener hielt am Montag unter dem Vor¬ 
sitz des Oberstaatsanwalts am Kammergericht , Geh. 
Rath Wachler, seine Monatssitzung und daran an¬ 
schliessend eine Directorialsitzung ab, in welch letz¬ 
terer Polizeipräsident v. Borries in das Directorium 
des Vereins gewählt wurde. Den Hauptgegenstand 
<ier Tagesordnung bildete die Antwort des Medicinal- 
raths Dr. Leppmann über die in der letzten Versamm¬ 
lung angeregte Frage, ob der Verein gewisse geistes¬ 
kranke Strafentlassene in Arbeit auf das Land schicken 
darf. Der Vortragende leitete seine Ausführungen 
mit einem historischen Rückblick auf die Entwickelung 
der Behandlung des Irrenwesens ein. Es seien bei 
diesen Kranken drei Gruppen zu unterscheiden, solche 
welche ganz gesund geworden, ferner defect Geheilte, 
welche man mit einem gewissen Fragezeichen aufs 
Land in Arbeit bringen dürfe, und drittens solche, 
welche unter keinen Umständen verschickt werden 
dürfen. Für die zweite Gruppe, die sogenannten 
Schwachsinnigen, erweist sich eine geregelte Armen¬ 
pflege, wie sie Berlin besitzt, und die noch nicht ge¬ 
nügend anerkannt worden, als besonders segensreich; 
die erzielten Resultate seien als ganz ausgezeichnete 
zu nennen. Leider habe man auf dem platten Lande 
für die armen Geisteskranken bisher noch keine Spur 
von Verständniss. Es frage sich nun, ob hier nicht 
der Verein unter Erweiterung seines Wirkungskreises 
die Hand bieten möchte. Es sei zweifellos, dass sich 
unter Gewährung eines Zuschusses Bauern finden 
würden, die solche Schwachsinnigen in Pflege und 
Arbeit nehmen würden. Besonders empfehlenswerth 
wäre eine solche Behandlung der Irrenfrage für unsere 
Vororte, namentlich für Rixdorf, das den grössten 
Procentsatz geistig Minderwerthiger aufweist. Für 
die dritte Gruppe von Kranken, welche meist aus 
Trinkern hervorgeht, fehlt noch die nöthige Organi¬ 
sation unserer Trinkerheilanstalten. Für Berlin und 
Charlottenburg sind seit Inkrafttreten des Gesetzes nur 
ca. 20 Entmündigungen ausgesprochen worden. 
Referent empfiehlt dem Verein, geisteskranke Straf¬ 
entlassene vor ihrer Verschickung ärztlich untersuchen 
zu lassen, und erklärte sich Medicinalrath Dr. Lepp- 
Tnann zu solchen Untersuchungen bereit, wie er an¬ 
dererseits auch noch Specialkollegen hierzu veran¬ 
lassen will. 

— Krankenhausbauten in Chemnitz. Zur Be¬ 
arbeitung der genaueren Pläne für die von den städti¬ 
schen Collegien beschlossene psychiatrische An¬ 
stalt ist die dauernde Fühlung des Hochbauamtes mit 
dem künftigen Leiter dieser Anstalt, sowie die ge¬ 
meinsame Besichtigung verschiedener Musteranstalten 
dieser Art dringend erwünscht. Der Rath beschloss 
deshalb, schon jetzt dieser Frage näher zu treten 
und designirt auf Vorschlag des Krankenpflegeaus¬ 
schusses für die Stelle des Oberarztes der psychia¬ 
trischen Anstalt vorbehaltlich der Bestimmung des 
Termins der Anstellung Herrn Dr. med. Hüfler hier- 
selbst. 

— Baden. Nach einer Mittheilung des Grossh. 
Ministeriums des Innern werden die Kosten für die 
Erwerbung des Geländes zur Erbauung einer Landes- 

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Irrenanstalt bei der Station Reichenau ih den 
Staatsvoranschlag für das Jahr 1904 eingestellt werden. 


Referate. 

— Alt. Die familiäre Verpflegung der 
Kranksinnigen*) in Deutschland. Halle a. S. 
Carl Marhold. 1903. Pr. 1,50 Mk. 

Zu diesem auf dem internationalen Congress zu 
Antwerpen am 1. September 1902 gehaltenen Vortrag 
hat A. das Unterlagematerial den speciell hierfür ge¬ 
gebenen amtlichen Berichten aus den einzelnen 
deutschen Ländern und Provinzen entnommen. 

Das bekannte Gesetz vom Jahre 1891, welches 
den preussischen Landarmenverbänden die Fürsorge 
für die geistig Gebrechlichen auflegte, liess eine plötz¬ 
liche Vermehrung der Anstaltsplätze verlangen und 
führte, um die Anstalten etwas zu entlasten, in der 
Folge dort zu einer intensiveren Einführung der 
Familienpflege als im übrigen Deutschland. Allein in 
Preussen wurden in den letzten 2—3 Jahren von 14 
Anstalten Versuche mit dieser gemacht; sie führten im 
Allgemeinen, von einzelnen Misserfolgen abgesehen, 
wobei zweifellos äussere Factoren ausschlaggebend 
waren, zu guten Erfofgen, gaben die Gewähr, dass 
die Familienpflege auch im modernen Wirthschafts- 
leben bei uns eine Zukunft hat, und zwingen anderer¬ 
seits gemäss dem Griesingerischen Ausspruch, dass 
selbst die best organisirte und geleitete Anstalt jene 
nicht zu ersetzen vermag, w r o immer es die örtlichen 
Verhältnisse gestatten, zu deren Einrichtung. Die 
Familienpflege ist billiger, erhält und eiweckt das 
Interesse zur Beschäftigung, bewahrt eine gewisse per¬ 
sönliche Selbständigkeit, welche im uniformen An¬ 
staltsleben leicht verloren geht, in ihr fühlen sich die 
Kranken w'ohler und freier; jedenfalls entzieht sie 
auch der Anstalt nicht Arbeitskräfte, sondern trägt 
vielmehr zur „Heranbildung neuen Nachwuchses“ bei. 
— Abweichend von den bisherigen Versuchen hat 
Alt-Uchtspringe die Einführung der Familienpflege 
unterstützt durch Erbauung von Doppelhäusern für 
je zwei Pflegerfamilien mit gleichzeitigem Platz für 
je 3 Kranke. Die Familien zahlen nur relativ wenig 
Miethe unter der Voraussetzung, dass sie Kranke zu 
sich nehmen, für welche sie pro Tag 60 Pfg. Pfleg¬ 
geld erhalten. So ist allmählich 1,5 Kilometer von 
der Anstalt entfernt ein kleines Dörfchen entstanden, 
in welchem 39 Pfleglinge untergeb rächt sind, und 
der Erfolg war ein derartiger, dass sowohl zahlreiche 
Wünsche um Ueberlassung von Pfleglingen aus der 
Umgegend laut wurden, als auch die Provinz 
Sachsen 1900 nach Alt’s Vorschlägen die Errichtung 
zweier Landesasyle mit je 150 Betten zur Ein¬ 
führung der Familienpflege beschloss, deren eines 
(Jerichow’) etw'a nach Jahresfrist schon 80 Pfleglinge 
in Familien untergebracht hatte. — Vielfach haben 
sich nach den bisherigen Erfahrungen die Familien 
früherer Wärter und Wärterinnen als besonders ge- 

*) Da man längst bestrebt ist, die vielen Menschen 
peinlichen Worte „geisteskrank“ „Irre“ dnreh eine andere Be¬ 
zeichnung zu ersetzen, wäre Alt’s Vorschlag zu erwägen, hier¬ 
für das früher bei uns und noch jetzt in Belgien und Holland 
gebräuchliche Wort „Kranksinnig“ zu wählen, dessen Bildung 
uns durchaus nicht fremd ist (tief-, schwach-, wahnsinnig). 

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560 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. ,si. 


eignet erwiesen. Eine grössere Zahl Kranker in einer 
Familie wird man vermeiden, da sonst derCharacter 
der Familienpflege verloren geht. Aus den ver¬ 
schiedensten Gründen wird man auch eine grössere 
Entfernung von Grossstädten wählen. Sommer glaubt, 
dass man die Familienpflege recht wohl einer psych. 
Poliklinik angliedern könne. Jedenfalls müssen die 
Pfleglinge unter ärztlicher Aufsicht bleiben und des¬ 
halb ist die organische Beziehung zu einer ärztlichen 
Controlle (Anstalt oder Asyl) dringend zu empfehlen, 
welcher sowohl die Begutachtung bei Auswahl der 
Pfleglinge und Pflegerfamilien, wie auch deren Unter¬ 
weisung, Hilfe in vorkommenden Fällen und die 
leitende Controlle obliegt. Wichtig für eine gedeih¬ 
liche Entwickelung der Familienpflege ist, dass das 
Pflegegeld den örtlichen Verhältnissen entsprechend 
so bemessen ist, dass die Pflegerfamilien auch ein 
reales Interesse daran gewinnen, Kranke bei sich 
aufzunehmen. So erwächst jenen aus der Familien¬ 
pflege zugleich eine regelmässige Einnahmequelle, 
welche w'irthschaftlich nicht ohne Werth ist. Ande¬ 
rerseits hat sich auch gezeigt, dass die Familien pflege 
eine grössere Sauberkeit und Ordnung in die Pfle¬ 
gerfamilie brachte, welche häufig der Ausdruck besse¬ 
rer wirtschaftlicher Verhältnisse sind. — Von Inter¬ 
esse ist der dem Vortrage beigegebene, dem Landes¬ 
hauptmann der Provinz Sachsen erstattete erste Be¬ 
richt über die Familienpflege in Jerichow. 

Die Art der familiären Unterbringung von Geistes¬ 
kranken ist zweifellos weit besser, zw’eckentsprechender, 
grösseren Erfolg verbürgend als jene, wenn die öffent¬ 
lichen Verwaltungen ihre Kranken geistlichen — sei es 
katholischen oder protestantischen — Genossenschaften 
übergeben und so glücklich überwundene Zustände 
wieder heraufbeschwören helfen, denn nur die streng 
naturwissenschaftliche Auffassung der Psychosen und 
ihrer Erscheinungsformen verbürgt die humane Be¬ 
handlung der geistig Kranken. Keliner-Untergöltzsch. 

— Schoen, Kopfschmerzen und verwandte 
Symptome. Wien 1903. Perles. 

Es genügt hier eine Inhaltsangabe der 51 
Seiten enthaltenden Schrift. Nachdem Verfasser 
die Eintheilung der Arten des Kopfschmerzes von 
Windscheid, Fuchs und eine dritte gegeben hat, führt 
er aus: I. Begriff und Arten des Kopfschmerzes. II. 
Die objectiven Träger der Schmerzempfindung. III. 
Der subjective Ort oder die Localisation der Schmerz¬ 
empfindung. IV. Unmittelbare Reizung. V. Ueber- 
tragene Reizung. A. Erste Vermittlungsvorgänge: a) 
Erhöhung des intrakraniellen Druckes, b) Gefässmuskel- 
krampf, c) Synästhesien. Ausstrahlung von sensiblen 
auf sensible Nerven. B. Zweite Vermittlungsvorgänge : 
a) Erhöhung der Körperwärme, b) Chemische Ein¬ 
flüsse (von den fertig in den Körper gelangenden 
Giftstoffen erzeugen die meisten den Kopfschmerz 
durch GefässVerengerung, hierzu gehört der Alkohol), 
c) Reflexe, Synkinesen, Ausstrahlungen von sensiblen 
und motorischen auf vasomotorische Nerven. C. 
Umstände, welche die Ausstrahlung begünstigen. VI. 
Die Reizursprungsstellen. A. Am übrigen Körper mit 
Ausnahme des Kopfes. B. Die Reizursprungstellen 
am Kopfe, das Gehirn ausgenommen. C. Reizursprung 


im Gehirn: Innervationskopfschmerzen, a) Begriff und 
Entstehungsweise der Innervationskopfschmerzen (diese 
Kopfschmerzstelle muss als Eigenthümlichkeit des Auges 
gelten), b) Ursachen krampfhafter Innervation sind 
Uebersichtigkcit, schlechte Körperhaltung und Be¬ 
leuchtung, asymmetrische Krümmung der Hornhaut, 
Weitsichtigkeit, Presbyopie, Alterssichtigkeit, Ueberan- 
strengung der Musculi recti, Ungleichheit beider Augen, 
Anisometrie, verschiedene Höhenlagen der Augen, 
Höhenscheiden, ungewöhnliche Arbeitshaltung, c) die 
Erzeugung des Kopfschmerzes geschieht durch schmerz¬ 
haftes Fühlbarwerden der Innervation selbst, durch 
Synästhesie mit synkinetisch erzeugtem Muskelschmerz, 
durch synkinetischen Krampf der Hirngefässe, d) aus 
den aufgezählten Symptomen setzen sich vielgestaltige 
Krankheitsbilder zusammen, leichtere und schwerere 
Formen, manche Neurasthenie, sehr viele Migränefälle; 
interessant ist hier, dass S. betont, dass jeder Fall 
von Epilepsie auf Augenfehler zu untersuchen sei. 
VII. Diagnose. VIII. Behandlung, ätiologische und 
symptomatische. „In zw’eifelhaften Fällen kann man 
behufs Ausschaltung der Ursache selbst Alkohol . . . 
verbieten“. (Warum so zaghaft!) „Nach Ausgleich¬ 
ung der Augenfehler werden alkoholische Getränke, 
selbstverständlich in nicht ungewöhnlicher Menge, 
wieder anstandslos ertragen.“ (Eine nicht ungewöhn¬ 
liche Menge Alkohol ist zu unbestimmt ausgedrückt. 
Der Kranke bestimmt sich diese Menge selber, w T enn 
der Arzt ihm — zu wenig erlaubt.) „Bei ablaufender 
Alkoholw’irkung hilft der Alkohol selbst wieder“ (Wozu ?). 

Das Werkchen ist anregend und empfiehlt sich 
zum Nachlesen. J. S. Mas eher-Hubertusburg. 


Personalnachrichten. 

— Unserem sehr verehrten Herrn Mitherausgeber, 
dem Privatdocenten der Psychiatrie an der Würz¬ 
burger Universität, Dr. Weygandt, wurden aus der 
Cramer-Klett - Stiftung 1500 M. zur Erforschung des 
Kretinismus in Franken zuerkannt. 

— Herrn Dr. med. Bruns, Nervenarzt in Hanno¬ 
ver, ist der Charakter als Professor verliehen. 


Statistische Kommission des 
Vereines deutscher Irrenärzte 



Die statistische Kommission wird auf der Ver¬ 
sammlung in Jena am 20./21. April 1903 den Be¬ 
richt über ihre bisherige Thätigkeit erstatten. Die¬ 
jenigen Herren Collegen, die noch Mittheilungen 
aus dem wiederholt umgrenzten Interessengebiet der 
Kommission zu machen haben, werden dringend ge¬ 
beten, dieselben spätestens bis zum 28. März 
an die Adresse von Prof. Hoche, Freiburg i. Br. 
gelangen zu lassen. 


Der heutigen Nummer lieget das 
Programm für den IX. Internationalen 
Kongress gegen den Alkoholismus 
(Bremen, 14.—19. April 1903) 
bei, worauf wir noch besonders hinweisen. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lircsler, Krazchnit* (Schlesien). 


Erscheint ieden Sonnabend — Schloss der Inseratcnannahme 3 Tag« vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S 

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Halle a S. 

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Psychiatrisch ^Neorologlscbe 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irren&rzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I* Edinger, 

Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazsrini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mo ns (Belgien). 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst 8ehultae, Direktor Dr. Urquhart, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland). 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Kraschnitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244. 

Nr. 52 . 28. März. 1903 . 

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Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt. Originale: Manisch-depressives Irresein und circulare Paralyse. Von Priv.-Doc. Dr. Alexander Bernstein in Moskau 
(S. 561). — Luftliegekuren bei Psychosen. Von Dr. W. Alter, Assistenzarzt (S. 566). — Das Enquete-Referat von Prof. 
Dr. Benedikt über die Privatirrenanstalten und die private Irrenpflege. Von Dr. Dieckhoff (S. 568). — Joseph Krayatsch f 
(S. 569). —- Mittheilungen (S. 570). — Referate (S. 570). — Personalnachricht (S. 572). 

Abonnements-Erneuerung. 

Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift (bei den Postämtern unter Nr. 6495 
des Zeitungs-Kataloges) baldigst zu erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen 
kann. 

Diejenigen unserer verehrt. Abonnenten, welche die Wochenschrift unter 
Kreuzband empfangen, erhalten dieselbe weiter geliefert, sofern eine Abbestellung 
nicht erfolgt 

Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“ 

Carl Marhold in Halle a. S. 

Manisch-depressives Irresein und circuläre Paralyse. 

(Aus einer klinischen Vorlesung.) 

Von Priv.-Doc. Dr. Alexander Bernstein , Director der Centralaufhahmestation für Geisteskranke in Moskau. 

£s giebt eine eigenthümliche Verlaufsart der pro- hältnissmässig harmlosen klinischen Bilde einer cir- 
gressiven Paralyse, welche für die Diagnose ganz culären Psychose verläuft; von Letzterem gar keine 
besondere Schwierigkeiten darbietet. oder fast keine Unterschiedsmerkmale darbietend, 

Kurze Zeit nach der luetischen Infection — etwa äussert es sich bald in einer manischen, resp. hypo- 
3 — 4 Jahre, manchmal auch früher — entwickelt manischen Erregung, bald in einer depressiven Hem- 
sich bei dem bisher völlig psychisch gesunden Indi- mung, bald in einem Mischzustande des circulären 
viduum eine Seelenstörung, welche unter dem ver- Stupors, der agitirten Depression u. s, w. Ganz analog 


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Original frnm 

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5^2 


der Verlaufsart des manisch-depressiven Irreseins mit 
seinen periodisch resp. cyclisch verlaufenden Episoden, 
zeigen auch diese psychotischen Erkrankungen gewöhn¬ 
lich einen intermittirenden Typus, indem jede einzelne 
Erkrankung mit einem offenbar völligen Zurücktreten 
aller pathologischer Erscheinungen schliesst und eine 
Tendenz zu Recidiven zeigt. Obwohl sich in manchen 
Fällen während der psychotischen Periode einzelne 
für die Paralyse charakteristische physische Merkmale 
constatiren lassen — wie z. B. Pupillendifferenz oder 
träge Lichtreaction, Störung der Kniereflexe, der 
Sprache oder der Schrift, verschwinden auch diese 
Zeichen manchmal mit dem Eintritt der psychischen 
Besserung. 

Das psychische Gleichgewicht, sowohl auf intellek¬ 
tuellem, wie auf emotionellem Gebiete, wird dabei 
in solchem Maasse wiederhergestellt, dass die ent¬ 
lassenen Patienten, in ihre gewöhnlichen Verhältnisse 
zurückgekehrt, ihre verantwortlichen dienstlichen oder 
professionellen Pflichten tadellos erfüllen können; die 
Remissionen zwischen den einzelnen Perioden können 
jahrelang dauern ohne bemerkbare Defecte aufzu¬ 
weisen ; und erst mit der fatal eintretenden Wiederkehr 
solcher Erkrankungen, stellen sich allmählich die phy¬ 
sischen und psychischen Stigmata der Paralyse stabil 
ein und beherrschen das allgemeine Krankheitsbild. 

Solche Verlaufsart nach dem Typus einer circu- 
lären Psychose lässt sich besonders häufig bei Fällen 
von sogenannter Taboparalyse beobachten; es sind 
Fälle, welche sich klinisch durch das Vorhandensein 
von tabischen Symptomen (Fehlen der Kniereflexe, 
Romberg’s Phänomen, lancinirende Schmerzen 
u. s. w.) unterscheiden. In diesen Fällen sind die 
Intervalle zwischen den einzelnen psychotischen Er¬ 
krankungen auffallend lang und die Remissionen — 
oder besser gesagt Intermissionen — besonders weit¬ 
gehend. Die terminale Periode der Paralyse scheint 
in diesen Fällen sehr weit zurückgeschoben zu sein; 
aber in Wirklichkeit ist eine solche Annahme eigent¬ 
lich kaum berechtigt 

Die durchschnittliche Dauer einer typischen Para¬ 
lyse wird jetzt gewöhnlich mit 4 — 6 Jahren berech¬ 
net ; da die Paralyse am häufigsten 8 —15 Jahre 
nach der stattgehabten Infektion ausbricht, so beträgt 
die Dauer zwischen dem primären Ulcus und dem 
Tode des Paralytikers 1 2 bis 20 Jahre. Wenn wir 
uns aber vergegenwärtigen, dass der Ausbruch der¬ 
jenigen Erkrankungen, von denen hier die Rede ist, 
ziemlich bald nach der Infection geschieht, so ver¬ 
steht sich von selbst, dass in diesen Fällen die all¬ 
gemeine Krankheitsdauer 10 bis 18 ja 20 Jahre be¬ 
tragen kann, ohne sich dadurch von der Dauer der 


[Nr. 5-- 


Durchschnittsfälle grundsätzlich zu unterscheiden. Und 
solchen quasi protrahirten Fällen mit circulärem Ver¬ 
lauf begegnen wir in Wirklichkeit, wenn wir die Ge- 
sammtdauer der Krankheit von der ersten psycho¬ 
tischen Erkrankung ab berechnen und dieselbe nicht 
als eine zufällige, nicht mit der Grundkrankheit zu¬ 
sammenhängende, Episode betrachten. 

Der langen Dauer und den tiefen Remissionen, 
die diese Verlaufsart darbietet, haben wir es wahr¬ 
scheinlich zu verdanken, dass bis jetzt hie und da 
von einzelnen Autoren von geheilten Fällen von 
Paralyse gesprochen wird; auch die „manie paraly- 
tique“ von Bai 11 arger und die „Pseudoparalyse“ 
von F ü rs t n e r scheint mir inj diesem Sinne gedeutet 
werden zu dürfen: es handelt sich dabei wohl um 
Fälle, welche nicht bis zu ihrem natürlichen Ende 
verfolgt wurden und welche in den Intermissionen 
auch ihre physischen Stigmata vorübergehend verloren 
haben. Andererseits geben solche circulär verlaufende 
Fälle Anlass, von einer Combination (oder sogar Com- 
plication!) des manisch-depressiven resp. periodischen 
Irreseins mit der Paralyse zu sprechen. Um aber 
von einer solchen Combination mit Recht sprechen 
zu dürfen, ist es nothwendig zu beweisen, dass das 
betreffende Individuum wirklich circulär war und 
nicht von vornherein an einer Paralyse gelitten hat, 
dass also diejenigen Episoden circulärer Art, welche 
dem ausgesprochenen Bilde der Paralyse voraus¬ 
gingen, wirklich idiopathischer Natur waren und nicht 
eine Initialerscheinung des definitiven Leidensvor¬ 
boten. 

Nach dem Gesagten leuchtet es ein, dass es bei 
der ziemlich genauen Identität beider Zustandsbilder 
sehr schwierig, ja unmöglich ist, ein objectives, zuverlässi¬ 
ges Criterium aufzufinden, welches uns erlaubt hätte die 
Frage nach der einen oder der anderen Richtung zu 
entscheiden. Einerseits fehlen häufig den Initial¬ 
erkrankungen der Paralyse die physischen Merkmale 
ganz, oder es lassen sich nur so vieldeutige Zeichen 
auffinden, wie etwa Pupillendifferenz, gesteigerte Knie¬ 
reflexe, Tremor u. s. w., andererseits aber lassen sich 
manchmal auch in circulär-manischen Zuständen vor¬ 
übergehende Sprachstörungen, Schwindel etc. beob¬ 
achten, wie das von Kirn, Korsakoff, Regis 
u. A. betont wird. 

Die Frage von der Combination einer circulären 
Psychose mit der Paralyse ist nicht nur eine rein 
wissenschaftliche Frage, deren Lösung nur einen aka¬ 
demischen Werth hat; ihr praktischer Zweck liegt in 
der Möglichkeit, eine richtige Diagnose am Kranken¬ 
bett zu stellen und Voraussagen zu können, ob der 
Patient sein Leben lang circulär bleiben, oder aber 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 563 


noch vor zwei Decennien paralytisch sterben wird. 
Wie wir soeben gesehen haben, sind aus dem Zu¬ 
standsbilde ziemlich oft die diagnostischen Schlüsse 
nicht zu ziehen; das Alter ist auch wenig maass¬ 
gebend , da bekanntlich die circuläre Psychose im 
beliebigen Alter, also auch in den dreissiger Jahren, 
cinsetzen kann. 

Glücklicher Weise haben wir, wie mir scheint, ein 
einfaches klinisches Mittel, dieser Aufgabe näher 
zu treten: das ist die Syphilis. Wenn ein ausge¬ 
sprochen circulärer Patient syphilitisch inficirt und 
eventuell io Jahre später eine typische Paralyse auf¬ 
weisen würde, so wäre ein solcher Fall mit grossem 
Recht im Sinne einer Combination zu deuten, in 
welche die Lues als Verbindungsglied eingetreten ist. 
Ein Fall von der Formel — Circuläre Psychose — 
Lues — Progressive Paralyse würde für die Combi- 
nationsfrage eindeutig entscheidend sein. 

Es ist merkwürdig und kaum einem Zufall zuzu¬ 
schreiben, dass bis jetzt kein derartiger Fall in der 
psychiatrischen Litteratur verzeichnet wurde; offen¬ 
bar erkranken die mitLues inficirten cir- 
culären Patienten nicht an progressiver 
Paralyse. Diese Thatsache scheint um so auf¬ 
fallender, als die Circulären während der manischen 
Phase oft genug erotisch gestimmt und zu sexuellen 
Ausschweifungen geneigt sind, und somit besonders 
günstige Gelegenheit zum Inficiren darbieten; ohne 
diesen unbegreiflichen Antagonismus zwischen beiden 
Krankheiten, würde die Complication des manisch- 
depressiven Irreseins mit Paralyse sicher eine alltäg¬ 
liche Erscheinung darbieten. 

Pilcz, welcher, soviel ich weiss der erste, seine 
Aufmerksamkeit darauf vorübergehend gerichtet hat, 
schreibt: „Es ist eine auffallende Thatsache, dass 
periodisches Irresein und progressive Paralyse ein¬ 
ander gewissermaassen ausschliessen“.*) Dabei lässt 
aber Pilcz die Zeit der primären Infection ganz 
ausser Acht, was methodologisch kaum zulässig ist. 
Erstens weist seine Darstellung den logischen Fehler 
der Petitio principii auf: diejenigen Fälle, welche in 
eine ausgesprochene Paralyse ausliefen, werden dabei 
von selbst aus der Rubrik der periodischen ausge¬ 
schlossen, indem sie als circulär verlaufende Paralyse 
gedeutet werden, und somit auch der Satz, dass, wo 
eine Paralyse vorhanden ist, keine circuläre Psychose 
vorausgehen konnte, dieser Satz, welcher zu beweisen 
ist, wird als gegeben angenommen. Andererseits aber 
werden zu Beweiszwecken auch solche Fälle ange¬ 
führt, welche noch lange nicht abgelaufen und welche 

*) Alexander Pilcz: Die periodischen Geistesstörungen. 
Jena. P'ischer. 1901. S. 184. 


somit in diagnostischer, resp. prognostischer Hinsicht 
zweifelhaft sind. 

So steht z. B. der Sachverhalt bei dem Kranken 
der Beobachtung Nr. 4 von Pilcz, von welchem 
er selbst bemerkt, dass „der Zeitraum nach der lueti¬ 
schen Infection nicht gross genug ist, um mit Sicher¬ 
heit sagen zu können, dass eine Erkrankung an Para¬ 
lyse nicht noch möglich gewesen wäre“ (1. c.); aller¬ 
dings wird bei der Beschreibung des Falles darauf 
hingewiesen, dass „schon während des ersten Anfalles 
eine Differenz der gut reagirenden Pupillenstarre be¬ 
merkt w'urde“. Pat. ist gegenwärtig 38 J. alt; erste 
Erkrankung vor 11 Jahren. *) In der Beobachtung 
Nr. 23 beträgt die Krankheitsdauer 14 Jahre (Pat. 
ist 40 J. alt); vor sechs Jahren eine Hemiplegia sini- 
stra, welche nur zum Theil zurückging; zunehmende 
Verblödung.**) In den beiden übrigen Lues-Fällen 
von Pilcz ist die Zeit der Infection nicht bekannt. 

Es ist somit selbstverständlich, dass die Frage 
nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Com¬ 
bination des circulären Irreseins mit der Paralyse auf 
Grund deijenigen Fälle, wo die Lues dem Ausbruch 
des circulären Bildes vorausging, nicht zu entscheiden 
ist; das Vorhandensein einer Combination nach der 
Formel — Lues — circuläre Psychose — progressive 
Paralyse — kann immer mit gewissem Recht auf 
eine einfache cirgulär verlaufende Paralyse zurück - 
geführt werden. Die Möglichkeit einer Combination 
würden nur solche Fälle beweisen, in denen sich 
die Gesammtkrankheit nach der zuerst oben ange¬ 
führten Formel — Circuläre Psychose — Lues — 
Paralysis progressiva — entwickelt hätte. Wie gesagt, 
wurde bis jetzt ein derartiger Fall nicht beschrieben 
und es kann somit, bis das Entgegengesetzte nicht 
bewiesen ist, die klinische Behauptung als geltend 
behalten werden, dass die luetische Infection einem 
von vornherein circulären Kranken nicht mit einer 
späteren paralytischen Erkrankung droht. 

Nach dem Gesagten leuchtet es ein, welche tief¬ 
greifende Bedeutung die Beschreibung eines derartigen 
Falles haben würde; ein solcher Fall müsste der 
strengsten Kritik Widerstand leisten und auf das 
Sorgfältigste geprüft werden; er müsste allen An¬ 
forderungen entsprechen, die einem Experimentum 
crucis gestellt zu werden pflegen. Ein derartiger Fall, 
— der einzige in der Litteratur — wurde vor kurzem 
hierselbst von Lund borg veröffentlicht***) und wollen 

*) Ihid. S. 32-33. 

**) Ibid. S. 94. 

***) Her man Lun d borg: Dementia paralytica bei einem 
Ehepaar. „Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift“. 1902. Nr. 27 
bis 28. 


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564 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5 2 . 


wir ihm nun die ganze Aufmerksamkeit widmen, 
welche seine Sonderstellung verdient. 

Es handelt sich um das Ehepaar N. N. Der 
Mann verheirathete sich im Alter von 2 6 Jahren; 
mit 40 Jahren hatte er „eine kleine Gehirnblutung 
gehabt (Ohnmachtsanfälle, Parese in den Gesichts¬ 
muskeln der einen Seite)“. 1 1 j 2 Jahr darauf wurde 
er tiefsinnig, „litt an Kopfschmerzen und Schwindel 
und hatte deutliche Symptome von Tabes dorsalis“. 
Sein Zustand verschlechterte sich immer, er war völlig 
abgestumpft und starb im Alter von etwa 42 Jahren. 
Lund borg hat den Kranken selbst nicht beobachtet 
und benutzt eine briefliche Mittheilung über ihn von 
einem Arzte, welcher den Patienten unregelmässig 
behandelt hatte. Aus dieser Mittheilung sehliesst 
Lundborg mit grösster Wahrscheinlichkeit, dass 
N. N. an Tabes wie Dementia paralytica gestorben 
ist, dass er Lues gehabt hat und damit vermuthlich 
seine Frau inficirt hatte. 

Die Frau N. N. bildet den Mittelpunkt des Inter¬ 
esses. „Von ihrem 14. Jahre an hat Pat. Anfälle 
von Geisteskrankheit (Mania per.) 3 mal alljährlich 
während eines oder mehrerer Monate gehabt“. Im 
Alter von 31 Jahren verheirathet, hatte sie zuerst 
einen Missfall (auf einer Seereise bei hoher See). 
Darnach hatte sie 4 Kinder, welche noch leben, und 
darauf wieder 5 Missfälle. Es sei nebenbei bemerkt, 
dass, trotzdem ein grosser Theil ihres Lebens im 
Krankenhause verlief, bei ihr nie etwaige Erschei¬ 
nungen luetischer Natur beobachtet worden waren 
und sie selbst weiss nichts von einer venerischen 
Krankheit, weder bei sich selbst noch beim Manne. 
Mit 51 Jahren stellten sich bei ihr, bei Ausbruch 
einer Unruheperiode, zahlreiche epileptiforme Anfälle 
ein, welche sich spätei öfters wiederholten. Während 
der kurzen ruhigen Perioden ist Pat. in den letzten 
Jahren „stumpf und gleichgültig, aber recht geschwätzig 
geworden“. 

Jetzt ist Pat. 53 Jahre alt. „Die rechte Pupille 
ist etwas kleiner, als die linke und reagirt langsamer“. 
Keine Sensibilitätsstörungen. In den Händen und 
der Zunge „ein gewisser Grad von Tremor“. „Im 
Gesicht dann und wann fibrilläre Muskelzuckungen“. 
Ueber den Zustand der Patellarreflexe wird leider 
nichts berichtet. Von der Sprache wird nur ange¬ 
geben, dass Pat. „ziemlich tadellos“ lesen kann; 
„längere Wörter, wie z. B. Artilleriebrigade kann sie 
nicht nachsprechen ohne sich zu verwickeln“ (also 
kein Silbenstolpern!); nur wenn sie hochgradig erregt 
ist, wird die „Sprache undeutlicher und verwischter“. 
Gesichtsausdruck „etwas schlaff“; „Blick sehr lebhaft“. 
„Pat. zeigt deutliche Euphorie, abwechselnd mit Wei¬ 


nerlichkeit“. „Sie ist sehr gedächtnissschwach, beson¬ 
ders für die Ereignisse späterer Zeit. Das weiss sie 
selbst“. Diese Gedächtnisschwäche schwankt von 
einem Tag zum anderen, indem sie „sich an ver¬ 
schiedenen Tagen verschieden erweist“. „Sie vergisst 
nicht selten, was sie hat sagen wollen.“ „Es fällt ihr 
oft schwer einen Gedanken auszudrücken“ oder „einen 
Gedanken zu Ende zu denken“, einen Brief zu 
schreiben, eine Addition richtig auszuführen. Beim 
Schreiben wird hier und dort eine Silbe zweimal ge¬ 
schrieben und „merkt sie einen Theil der Fehler, 
so giebt sie den Versuch auf“. „Weder Sinnes- noch 
Gedanken wahn ist nachzuweisen“. Von Zeit zu Zeit 
Unruheperioden; Pat. wird geschwätzig, cynisch, un¬ 
sauber, aggressiv; während der Erregung zahlreiche epi¬ 
leptiforme Anfälle („vom 27. XI. bis 4. XII. hatte 
Pat. nicht weniger als 23 epileptiforme Anfälle“). 

Soviel lesen wir in dem Beobachtungsprotokoll. 
Obwohl das Vorhandensein einer luetischen Infection 
bei der Frau durch nichts bewiesen wird, da ja die 
stattgefundenen Missfälle im besten Falle für eine 
Syphilis des Mannes und nicht der Frau sprechen, 
lassen wir zu, dass die an ausgesprochener circulärer 
Psychose leidende Patientin in der That Lues vom 
Manne acquirirt hatte. Ist nun das beschriebene 
Zustandsbild als eine Paralyse zu deuten? In der 
Epikrise äussert sich Lundborg wie folgt: „Aus 
dein Status geht ja mit aller Deutlichkeit hervor, dass 
bei der Kranken wirklich eine Paralyse vorliegt. . . . 
Die Krankheitszeichen, w r elche dann (bei der Auf¬ 
nahme) hervortraten, w'aren wohl ausschliesslich der 
Paralyse zuzuschreiben“. Diese Zeichen, die ich 
oben ausführlich und womöglich authentisch wieder¬ 
gegeben habe, sind aber kaum für eine solche Be¬ 
hauptung genügend. Der Pupillendifferenz an sich 
ist kaum ein etwaiger syraptomatologischer Wert bei¬ 
zugeben, da dieselbe häufig genug bei Geistesgesunden 
wie bei -Kranken, besonders bei älteren Personen 
vorkommt; dass die engere Pupille langsamer reagirt, 
als die weitere, hat an sich nichts Auffallendes und 
wird bei der alltäglichen Beobachtung der nicht para¬ 
lytischen Kranken gefunden; der geringe Tremor in 
den Händen und der Zunge ist auch nicht ohne 
Weiteres bei der 53 jährigen Patientin für die Diag¬ 
nose zu verwerthen. Es bliebe somit die Sprach¬ 
störung, welche im Status als Verwicklung beim Lesen 
längerer Wörter bezeichnet, in der Epikrise aber als 
„litterale Ataxie“ gedeutet wird. Es bleiben weite 
die epileptiformen Anfälle. 

Wenn wir uns nun zur Analyse des psychischen 
Bildes wenden, so finden wir auch hier wenig für 
die Paralyse charakteristisches. Ausser der Euphorie, 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 565 


welche ja nur auf einen manischen Zustand deutet, 
der bei einem drculär-manischen Ausbruch schwer¬ 
lich zu vermissen würde, spricht nach Lundborg 
für die Paralyse die Gedächtnisschwäche und die 
Unfähigkeit zum systematischen Denken. Wenn wir 
aber in die Angaben des Status etwas tiefer ein- 
dringen, so ist es, bei all ihrer Spärlichkeit, nicht 
schwer zu bemerken, dass die Störungen ein ganz 
anderes Gepräge tragen, als bei der Paralyse. Es 
ist vor Allem hervorzuheben, dass Patientin sich dieser 
Störungen bewusst ist, dass sie dieselben bemerkt, 
was bei der Paralyse gewöhnlich nicht der Fall ist. 
Die Gedächtnissschwäche bezieht sich bei ihr beson¬ 
ders auf die späteren Ereignisse; sie vergisst die 
Namen, vergisst, was sie sagen wollte etc. und die 
Tiefe der Störung schwankt an verschiedenen Tagen; 
bei der Paralyse sind wir dagegen gewöhnt einer 
stabilen Hypomnesie zu begegnen, welche an zeit¬ 
liche Grenzen weniger gebunden scheint, bei welcher 
aber dagegen vorzüglich die zeitliche Localisation der 
reproducirten Ereignisse gestört ist; dabei tritt bei 
der Paralyse die Merkschwäche mehr als die Repro- 
ductionsschwäche hervor. Die Erschwerung der Denk¬ 
fähigkeit bei der Patientin äussert sich in der „Un¬ 
fähigkeit einen Gedanken zu Ende zu denken“, einen 
Brief abzufassen, eine einfache Addition auszuführen; 
diese Störung zeugt bei ihr eher von einer Erschwe¬ 
rung des Denkprocesscs, als von einer Urtheilsschwäche, 
Zerfahrenheit, Unfähigkeit zu combiniren, welche wir 
bei paralytischen Kranken treffen. „2 i / 2 Jahre sind 
bereits vergangen, seit sich deutliche Symptome von 
dieser Krankheit zuerst zu zeigen begannen — sagt 
uns Lundborg, — und trotzdem ist die ganze 
Krankheit gegenwärtig noch nicht weiter vorgeschritten, 
als dass die Pat. arbeiten und sich selbst bedienen 
kann“. Wenn wir dabei berücksichtigen, dass eben 
dieser Zeitraum durch viele Serien von epileptiformen 
Anfällen erfüllt wurde, so wäre bei einem ähnlichen 
Verlauf der Paralyse eine viel tiefere Verblödung zu 
erwarten, als wir bei dieser, in ihren ruhigen Perioden 
geordneten, besonnenen, ja vernünftigen Patientin 
mit „recht lebhaftem Blick“ finden. Nur nebenbei 
sei bemerkt, dass bei einer aufgeregten, euphorischen 
vorgeschrittenen Paralyse kaum etwaige Wahnideen 
fehlen würden. 

Wenn aber die aufgezählten Erscheinungen dem 
Character der paralytischen Psyche wenig entsprechen, 
so ähneln sie auffallend denjenigen Störungen, welche 
sich bei Sclerose der Himgefässe allmählich ent¬ 
wickeln, wie sic so glänzend noch vor kurzem auf 
der Münchener Versammlung der Irrenärzte Deutsch¬ 
lands zusammengefasst wurden: Der geschilderte Cha¬ 


racter der Gedächtnissschwäche und der Erschwerung 
des Denkprocesses, die Intensitätsschwankungen ein¬ 
zelner Störungen und die Krankheitseinsicht, das Er¬ 
haltenbleiben des Kerns der Persönlichkeit und der 
Fähigkeit, sich in gewohnten Gedanken- und Leis¬ 
tungskreisen aufzufinden, endlich die Verwicklung der 
Sprache bei schwierigen Wörtern. Das Alles sind 
Kennzeichen, welche den arteriosklerotischen Hirner¬ 
krankungen eigen sind und welche auch das Krank¬ 
heitsbild von Frau N. N., von den manischen Zügen 
abgesehen, vollständig zu decken im Stande sind. 
Auch die häufigen epileptiformen Anfälle sprechen 
eher für, als gegen eine solche Deutung des Krank¬ 
heitsbildes; so häufige serienweise auftretende und 
während mehr als zwei Jahre andauernde Anfälle habe 
ich bei Paralytikern nicht gesehen, und glaube, dass 
derartige Anfälle einen echten Paralytiker noch vor 
Ablauf von zwei Jahren tödten würden. 

Somit wäre, wie mir scheint, der Fall von 
Lund borg dahin zu deuten, dass die Patientin, 
welche seit ihrer Pubertät circulär erkrankt war, im 
Alter von etwa 50 Jahren Zeichen von arteriosklero¬ 
tischen Processen im Gehirn aufzuweisen begann, 
welche durch eine mässige Demenz das zu Grunde 
liegende circuläre Krankheitsbild gewissennaassen com- 
plieirt haben. Wenn wir auch die angebliche luetische 
Infection hier als bewiesen annehmen, so ändert die 
Frage danach, ob die Arteriosklerose durch die Sy¬ 
philis oder durch andere Gelegenhcitsursachen bedingt 
worden war, gar nichts in der prinzipiellen Auffassung 
dieses Falles. Im Gegentheil würde, unter solcher 
Annahme, dieser weit verfolgte Fall, in welchem trotz 
der stattgehabten Infection bisher keine Paralyse ein¬ 
getreten ist und vermuthlich nicht mehr eintreten 
wird, meine Behauptung von der Unmöglichkeit eines 
Uebcrgangcs des manisch-depressiven Irreseins in 
eine Paralyse trotz des Eingriffs einer Lues nicht 
unbedeutend unterstützen. 

Wenn wir nun diese Behauptung der zweifellosen 
Häufigkeit des Debütirens der progressiven Paralyse 
mit eirculärartigcn Ausbrüchen kurz nach der Infection 
entgcgcnstellen, so entspringt daraus in vollem Maasse 
die grosse praktische Wichtigkeit, das Moment der 
Ansteckung eventuell anamnestiseh genau zu eruiren: 
dadurch gelangen wir zur Diagnostik des circulär- 
verlaufenden Krankheitsbildes und zur Voraussage 
über die Zukunft des Patienten. Wenn der Patient 
vor der Infection auch nur einen Ausbruch des 
manisch-depressiven Irreseins erlebt hatte, so wird er 
mit grösster Wahrscheinlichkeit frei von Paralyse 
bleiben, und wird die Lues keinen bedeutenden Ein¬ 
fluss aul den weiteren Verlauf seiner Krankheit aus- 


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566 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. .52. 


üben; wenn aber der erste Ausbruch erst nach der 
Infection, sei es auch kurz darauf, sich gezeigt hat, 
so ist die Wahrscheinlichkeit nicht minder gross, 
dass der Patient unter der Gefahr einer imminenten 
Paralyse sich befindet, wenn auch das Anfangsbild 
so harmlos ist, so völlig der reinen circulären Psy¬ 
chose entspricht, wenn auch die sichtbare Genesung 
so vollständig erscheint und das freie Intervall sich 
so lange zieht. 

Neben dieser praktisch wichtigen Thatsache, sei 
noch darauf hingewiesen, dass diese klinische Un¬ 
vereinbarkeit von zwei Krankheiten, deren Zustands¬ 
bilder und Verlaufsart in einigen Fällen und einigen 
Punkten so viel Aehnliches darbieten, als weiterer 


Beweis für die Berechtigung ihrer nosologischen Ab¬ 
grenzung, als besonderer Krankheiten und nicht nur 
als klinischer Formen dienen kann. Wenn auch die 
Abgrenzung der progressiven Paralyse ohnedem genug 
begründet ist und weiterer Unterstützungen kaum be¬ 
darf, so ist es bis jetzt für die circuläre Psychose 
oder vielmehr für das von K ra e p e 1 i n umgrenzte 
manisch-depressive Irresein noch nicht der Fall. Die 
hier aufgestellte Behauptung kann weiter als neuer 
Stimulus dienen zur Beseitigung des Vorurtheils von 
dem angeblichen Vorhandensein von Uebergangs- 
formen zwischen einzelnen klinisch abgesonderten 
psychischen Krankheiten. 


Aus der Provinzial-Irren-Anstalt Leubus. 

Luftliegekuren bei Psychosen, 

Vod Dr. IV. Alter , Assistenzarzt. 


P^in Einwurf, der immer wieder gegen die Bettruhe 
in der Irrenanstalt gemacht wird, ist der, dass 
bei ihrer strikten Durchführung die Zahl der Tuber¬ 
kulose-Erkrankungen entschieden zunehme. Es ist 
das ja im allgemeinen sehr schwer exakt zahlenmässig 
zu widerlegen: wir können es nach unseren hiesigen 
Erfahrungen — Leubus war unter den ersten An¬ 
stalten, in denen die Bettruhe Eingang fand — ent¬ 
schieden nicht zugeben. Die Mortalität an Lungen¬ 
tuberkulose betrug bei uns: 

86/87 87/88 88/89 89/90 9091 91/92 

4 -i 4-5 3-4 3-3 «•o 2.5% 

9 2 /93 93/94 94/95 95 / 9 6 Q6 67 97/98 

0.9 0.9 1.7 1.3 2.2 2.6 °/ n 

98/99 99 00 OO/'OI 01/02 

3-5 3-9 3-7 2 • 3 °/o 

der mittleren Belegziffer. 

Die Bettruhe wurde seit Oktober 1888 in immer 
grösserem Umfange angewendet, die Phthisenmortali¬ 
tät ist in den folgenden Jahren so exorbitant ge¬ 
sunken, dass man eher von einem günstigen Einfluss 
der Bettruhe sprechen müsste. Die eximierte Stellung 
des Jahres 91/92 erklärt sich ja als Consequenz der 
Influenzaepidemie von 90 und 91. Später ist die 
Mortalität wieder gestiegen, da würde man eher an 
die Opfer langjähriger Bettruhe denken können. Es 
bleibt aber immer sehr beachtenswerth, dass die hohen 
Mortalitätsziffern aus den Jahren vor der Einführung 
der Bettruhe nie wieder erreicht worden sind. Man 


wird also auch daraus eine causale Bedeutung dieser 
Behandlungsform für die Propagation der Tuberkulose 
in der Anstalt kaum ableiten dürfen. 

Dagegen schliessen sich auf anderem Gebiete an 
die Bettruhe nicht selten entschieden ungünstige 
Folgezustände. Bei Kranken, die längere Zeit, Mo¬ 
nate oder Jahre der Bettruhe unterstehen — manch¬ 
mal auch schon eher — entwickeln sich leider nur 
zu oft Anämieen von wechselnder, bisweilen recht 
grosser Intensität, ja von ausgesprochen deletärem 
Charakter, die auch in den leichtesten Formen eine 
höchst unerfreuliche Complication abgeben und sich 
meist gegen jede Therapie recht hartnäckig erweisen. 
Der schädigende Faktor ist dabei schwerlich die Bett¬ 
ruhe an sich, sondern die mit ihr verbundene Fem- 
haltung der fraglichen Patienten von den für jeden 
gesunden und kranken Organismus so eminent werth¬ 
vollen Einflüssen der freien Luft, der Insolation und 
der intensiven und directen Lichteffecte überhaupt. 

Von solchen Erwägungen aus habe ich seit dem 
Sommer vorigen Jahres versucht, bei Kranken der 
mir unterstellten Pensions-Abtheilungen die Bettruhe mit 
Liegekuren im Freien zu kombiniren, oder sie durch 
solche theilweise zu ersetzen. Ich kann heut schon 
sagen, dass die damit erzielten Erfolge sehr günstig 
sind und zu immer ausgedehnteren Versuchen er¬ 
mutigt haben. Ich habe die Liegekur fast durchweg 
wenigstens im Anfänge mit hydrotherapeutischen Be- 
handlungsmaassnahmen verbunden. Im einzelnen 
stellte sich das Verfahren dann meist so, dass die 
Kranken vormittags zwischen 9 und 11 Uhr ins Freie 


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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


5^7 


gebracht wurden; die Aussentemperatur habe ich da¬ 
bei mehr und mehr vernachlässigen gelernt: ich habe 
z. B. eine Kranke den ganzen Winter über, selbst 
bei 8—io°C. Kälte, stundenlang im Freien liegen 
lassen, mit nur günstigen Folgen. Benutzt werden 
einfache Rohrliegestühle, auf die eine dünn gepolsterte 
Matratze kommt. Die Kranken sind in gewöhnlicher 
Kleidung, die im Sommer thunlichst hell und leicht 
gewählt wird — im Winter werden die Patienten in 
Fusssäcke und Decken so warm eingepackt, dass ein 
Frösteln ebensowenig ein tritt, wie eine Wärmestauung. 
Sie liegen dann, oft in grosser Gesellschaft, zusammen, 
plaudern, spielen und lesen und nehmen auch die 
Hauptmahlzeit vielfach im Freien ein. Im Laufe des 
Nachmittags, nach 4—6—8 Stunden kehren sie in 
die Abtheilungen zurück und erhalten nun, meist so¬ 
fort, ein Kurbad, ein prolongirtes Bad, prolongirte 
Sitzbäder oder Einpackungen — je nach der Indivi¬ 
dualität und Indikation. Erkältungskrankheiten, die 
ich im Anfang immerhin befürchtet hatte, sind unter 
diesem Regime thatsächlich nie beobachtet worden : 
ich möchte übrigens auch ausdrücklich hervorheben, 
dass wir von Erkältungskrankheiten seit der ausge¬ 
dehnten Anwendung der Hydrotherapie*) in auffallend 
geringem Maasse zu leiden hatten. Sehr bemerkens- 
werth ist auch die Thatsache, dass eine Influenza, 
die in diesem Frühjahr bei uns grassierte, ausnahms¬ 
los die Kranken freiliess, die unter Badebehandlung 
und Freiluftkur standen. 

Indiziert erscheint mir ein partieller Ersatz der 
Bettruhe durch Liegekuren im Freien im Grunde bei 
allen Kranken, deren psychisches Verhalten sie irgend 
ermöglicht. Die Zahl solcher Kranken ist viel grösser 
als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Ich habe 
es aber auch, bisher freilich nur im Sommer, ohne 
weiteres riskirt, unruhige Kranke — sie machten dem 
Prädikat alle Ehre —, bei denen eine Anämie vor¬ 
lag oder drohte, einfach in der Einpackung — ich 
verweise da wieder auf Mittheilungen an anderer 
Stelle**) — stundenlang ins Freie zu legen. Mein Ma¬ 
terial ist da natürlich vor der Hand noch recht klein, 
denn die äusseren Bedingungen sind bei uns sehr 
imgünstig: altes Haus mit drei je ca. 7 m hohen Etagen, 
ohne Fahrstühle — aber in den wenigen Fällen, 
über die ich verfüge, waren die Erfolge sehr be¬ 
friedigend, nicht zuletzt auch in psychischer Beziehung. 
In der neuen Anstaltsanlage für 800 Kranke, die 
hier im Bau ist, sind jedenfalls daraufhin auch an den 

*) ef: Zur Hydrotherapie bei Psychosen, Centralblatt für 
Nervenheilkunde und Psychiatrie, März 1903. 

**) a. a. o. 


Pavillons für Unruhige grosse Veranden in Südlage 
vorgesehen, die mit den Bettsälen direct kommuni- 
ciren und die es ermöglichen werden, auch solche Kranke 
im Bett stunden- und tagelang ins Freie zu bringen 
— mit oder ohne Packung. 

In allererster Linie sind es aber Kranke in hy¬ 
pomanischen oder depressiven Zuständen, ruhige Pa¬ 
ralytiker, viele Formen von Dementia präcox, die für 
die Liegekur in Betracht kommen, und zwar ebenso 
alte Anstaltsinsassen, wie frisch aufgenommene Pa¬ 
tienten. Selbst bei einigermassen agitirten Melancholien 
lässt sich die Durchführung der Behandlung meist ohne 
Schwierigkeiten ermöglichen, wenn eine geeignete Umge¬ 
bung unter individualisirender Auswahl geschaffen werden 
kann. Die Ergebnisse sind, wie gesagt, recht günstig, 
in erster Linie auf rein körperlichem Gebiet. Anä¬ 
mische Kranke bekommen rasch Farbe und eine 
bessere Blutzusammensetzung; Appetit und Stoff¬ 
wechsel, die bei der Bettruhe nur zu oft zu wünschen 
lassen, werden mächtig angeregt. Aber auch die 
Stimmung der Kranken wird günstig beeinflusst. Sie 
werden nicht nur körperlich, sondern auch geistig 
frischer und regsamer, zugänglicher und theilneh- 
mender. Die vielen Klagen über „das ewige im Bett 
liegen“ treten ganz zurück, der Durchführung jeder 
anderweitigen Behandlung wird wesentlich Vorschub 
geleistet. Manchmal sind die Erfolge ganz frappant. 
So habe ich einen Patienten, einen 23jährigen ini¬ 
tialen Paralytiker, Offizier, der in hochgradigster Anä¬ 
mie, mit arger Appetit- und Schlaflosigkeit und 
schwerem Damiederliegen aller visceralen Funktionen 
zu uns kam. Er war bei jähen und extensiven 
Affektschwankungen meist tief deprimiert, voller hypo¬ 
chondrischer Beschwerden und Selbstmordideen. Er 
wurde vom ersten Tage an einer combinirten Be¬ 
handlung mit Bettruhe und 6Std. Bädern unterworfen, 
nach 8 Tagen trat dazu — mitten jm Winter — eine 
regelmässige Liegekur von 4—6 Stunden. Nach 2(> 
Tagen war sein Gewicht um 24 Pfund gestiegen, 
sein Aussehen war blühend, die körperlichen Funk¬ 
tionen hatten sich in wünschenswerthester Weise ge¬ 
hoben, die Stimmung war gleichmässiger, in der Regel 
vergnügt und euphorisch. Ein Medikament hat er — 
ausser einigen Pyramidonpulvem zu 0,25 — nie be¬ 
kommen, als Kostzulage wurde nur Milch gereicht. 

Das sind natürlich Renommirfälle, die zur Beur- 
theilung des Regime an sich von geringerem Werte 
sind. Aber die Resultate sind auch im allgemeinen 
so gleichmässig erfreulich und augenfällig gewesen, 
dass ich daraus schon heut der Freiluftliegekur in 
der Behandlung der Psychosen ein weites Feld ein- 
r.iumen möchte. 


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568 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


Das Enquete-Referat von Prof. far. Benedikt 
über die Privatirrenanstalten und die private Irrenpflege. 


U nter den Referaten betreffend die Reform des 
Irrenwesens in Oesterreich ist in Nr. 38 
dieser Wochenschrift auch das Referat von Professor 
M. Benedikt im Auszuge mitgetheilt. Weil dies Re¬ 
ferat wegen des Namens seines Verfassers auch auf 
die Beurtheilung und Entwicklung des Irrenwesens 
in Deutschland Einfluss haben könnte, ist es nöthig 
zu wissen, welcher Werth ihm beizulegen ist. 

Mit Bedauern muss gesagt werden, dass eine 
„Laiencommission“ dem Irrenwesen nicht vcrständiss- 
loser, den Aerzten nicht ungerechter gegenüberstehen 
kann als der hervorragende Wiener Neurologe in 
seinem Referat. Wenn man das Referat liest — cs 
ist, getrennt von den übrigen Enquete-Referaten, in 
der Wiener klin. Wochenschr. iqoi, Nr. 44 veröffent¬ 
licht —, so muss man über die gelegentlich ein¬ 
gestreuten pathologischen Ausführungen erstaunen. 
Ueber die Neurasthenie heisst es zum Beispiel: „Im 
Zusammenhang mit dem verhandelten Thema sind 
als Neurastheniker jene zu bezeichnen, welche durch 
Willensschwäche und Erschöpfbarkeit bei jeder ernsten 
Beschäftigung zu jeder Berufsthütigkeit unfähig sind. 
Diese Zustände können angeboren oder erworben 
sein; es handelt sich also um psychische und phy¬ 
sische Arbeitsunfähigkeit, die, wenn angeboren, zur 
„Arbeitsscheu“ sich entwickelt.“ Das hätte auch ein 
nicht approbirter Heilkundiger schreiben können. 
Weiterhin liest man von „Weibern, die wegen ihrer 
krankhaften Ausschweifungen allgemeines Acrgerniss er¬ 
regen und die Ehre der Familie cynisch blossteilen 
und daher unter Curatel gestellt sind“, von „Indivi¬ 
duen, welche einer Entziehungskur wegen lasterhafter 
Gewohnheit der Selbstvergiftung durch Morfin, Cocain, 
Alkoholika etc. benöthigen“; so darf sich ein Arzt 
doch nicht ausdrücken, auch nicht „im Zusammen¬ 
hang mit dem verhandelten Thema“. Auffallend ist 
auch die Behauptung, „bei der Influenza-Psychose“ 
bestehe „ein Doppelbewusstscin, ein psyc hopathisches 
und ein normales nebeneinander“; nachher heisst es 
kurz „Influenzakranke“. Von den gelegentlichen 
Aeusserungen über die Behandlung der Geisteskran¬ 
ken seien nur erwähnt „alle jene Strafvorgänge, die 
auch bei Geisteskranken zum Behufe der Besserung 
des Verhaltens wirksam und angezeigt sein können“. 

Auf dem Boden einer derartigen Pathologie sind 
die Reform Vorschläge erwachsen. „Wenn bei stürmisch 
einsetzenden und verlaufenden Geistesstörungen — 
durch mindestens zwei Wochen — und bei langsam 


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verlaufenden — durch mindestens acht Wochen — 
alle Spuren der Geistesstörung verschwunden sind, 
ist es Pflicht der Anstaltsleitung, davon der Fürsorge¬ 
behörde die Anzeige zu machen“ (die über die Ent¬ 
lassung entscheidet). In dem Eingangs genannten 
Auszug heisst es: „die Heilung muss längstens 8 
Wochen nach Schwund aller krankhaften Symptome 
der Fürsorge-Behörde angezeigt werden“; diese Fass¬ 
ung entspricht zwar nicht dem Wortlaut, aber wohl 
der Meinung des Verfassers; aber wer kann denn 
bei den langsam verlaufenden Psychosen auf den 
Tag, oder auch nur auf die Woche genau angeben, 
wann alle Spuren der Krankheit verschwunden sind ? 
In wunderlichem Gegensatz zu dieser Bestimmung 
steht die andere, dass Gesuche der Vormundschaft 
um Entlassung eines Kranken, wenn sich die Be¬ 
dingungen als nicht erfüllt zeigen, nicht vor sechs 
Monaten wieder erneut, resp. berücksichtigt werden 
sollen; „sonst würde die Fürsorgebehörde zu sehr 
behelligt werden“. Etwas kühn ist die Behaup¬ 
tung: „Das Gesuch des Kranken (um Entlass¬ 
ung) wird die Fürsorge - Behörde wohl in’ weitaus 
den meisten Fällen an und für sich sofort erkenne» 
lassen, ob eine wirkliche Gesundung vorauszusetzen 
ist oder nicht“. Das gäbe in der That ein sehr ein¬ 
faches Verfahren. 

Das sind alles so Meinungen, wie sie die Freunde 
der „Laiencommission“ haben mögen. Und „die 
Laien haben ein sehr schiefes Urtheil über Geistes¬ 
kranke“ sagt Prof. Benedikt. 

Dem irregeführten und übelwollenden Laien- 
Urtheil entspricht auch die ganz allgemein gehal¬ 
tene moralische Einschätzung der Aerzte an Privat¬ 
irrenanstalten ; hervorgehoben sei nur der Vorwurf, 
durch die verabreichten Schlafmittel würde die Hei¬ 
lung in vielen Fällen verzögert oder gefährdet Um 
derartige Missbräuche zu verhindern, empfiehlt ProL 
Benedikt eine strenge Controle der Privatanstalten, 
deren wichtigstes Substrat die genau zu führenden 
Krankengeschichten sein sollen. Diese Krankenge¬ 
schichten sind dann nicht etwa nur der Fürsoige- 
behörde und den von ihr mit der Controle beauf¬ 
tragten Aerzten vorzulegen, sondern sie sind auch 
den visitirenden Polizei- und Gemeindebehörden zu 
zeigen und den Angehörigen der Kranken; dann 
vermag ein Jeder, der nichts von der Sache versteht, 
leicht zu eontroliren, ob auch zu viele Medicamente 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT, 


5°9 


1903] 


gebraucht, ob „alle jene Strafvorgänge“ zu häufig an¬ 
gewandt werden u. s. w. „Auch nächtliche Besuche 
sind angezeigt“. 

Das Vorstehende ist nur eine kleine Blütenlese; 
die übrigen Ausführungen stehen zumeist auf dem 
gleichen Niveau. Es dürfte aber genügen, um zu 
sagen, dass die Meinungen Prof. Benedikt’s, der eine 


so geringe psychiatrische Erfahrung in seinem En¬ 
quete-Referat verräth, der eine Klasse von Aerzten 
— Prof. Benedikt spricht nur von ärztlich geleiteten 
Anstalten — ganz uneingeschränkt und in der schlimm¬ 
sten Weise öffentlich verdächtigt, für eine Reform 
des Irrenwesens keinen Werth haben. 

Dr. Dieckhoff. 


Joseph Krayatsch f. 


ief erschüttert bringen wir zur Kenntniss, 
dass Herr Regierungsrath Dr. Joseph 
Krayatsch, Direktor der Heil- und Pflege¬ 
anstalt in Mauer-Oehling, Sonntag, den 22. März 
d. Js. V2 10 Uhr moigens, nach dreitägigem 
Krankenlager gestorben ist. Am Donnerstag, 
den 19. März, hatten sich bei dem an Myode- 
generatio cordis leidenden Manne Insufficienz- 
erscheinungen gezeigt, die ihn zwangen, sich 
zu legen. Es stellte sich eine Magenblutung 
ein, welche binnen wenigen Stunden zum Tode 
führte. Er wurde am Mittwoch, den 25. nach¬ 
mittags auf dem Centralfriedhof in Wien be¬ 
erdigt. 

Krayatsch war 1849 zu Iglau in Mähren 
geboren, promovirte 1881 in Wien und trat 
1882 als Sekundärarzt in die niederösterreichische 
Landes-Irrenanstalt in Wien ein. Am 24. März 
1885 übernahm er als Anstaltsleiter die Leitimg 
der Irrenanstaltsfiliale Kierling-Gugging. Am 1. 
Juli 1890 wurde er, da diese Filiale am gleichen 
Tage zur selbständigen Landes-Irrenanstalt er¬ 
hoben worden war, zum dirigirenden Primararzt 
derselben ernannt. Nach Erweiterung der An¬ 
stalt durch den Bau des Centralgebäudes, durch 
den Ausbau einzelner Pavillons und durch Eta- 
blirung der Pflege- und Beschäftigungsanstalt für 
schwachsinnige Kinder am 1. Jänner 1897 
avancirte er zum Direktor derselben Anstalt. 
Die am 16. März 1899 eröflfnete, mit der An¬ 
stalt in Kierling-Gugging verbundene Kolonie 
auf dem Haschhof verdankt ihre Entstehung 
seiner Initiative. Am 15. April 1902 übernahm 
er die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt in 
Mauer-Oehling, bei deren Bau er als Experte 
mitgewirkt hatte. Die Organisation des Dienstes, 
die Instruktionen für die Aerzte, die Pläne für 
die innere Einrichtung dieser Muster-Anstalt etc. 


sind sein Werk. Am 24. August 1902 verlieh 
ihm der Kaiser in Anerkennung seiner Verdienste 
um die Errichtung der Heil- und Pflegeanstalt 
in Mauer-Oehling den Titel „Regierungsrath.“ 
Kray atsch legte das Schwergewicht seiner 
Thätigkeit auf die Administration, und die Be¬ 
handlung und Lösung administrativer Themen 
war seine liebste Beschäftigung. Daneben hatte 
er sich allmählich und durch eigenes Studium 
eine Menge technischer Kenntnisse angeeignet, 
wodurch er in hohem Maasse die Befähigung 
erhielt, bei der Errichtung von Irrenanstalten 
als ärztlicher Berather mitzuwirken. In dieser 
Beziehung wurde er nicht nur in Nieder-Oester- 
reich, sondern auch in anderen Provinzen der 
Monarchie in Anspruch genommen. 

Sein nimmer müder, rastloser Fleiss, sein 
fortgesetztes Streben, in allen die Irrenpflege 
betreffenden Fragen stets auf der Höhe der 
Zeit zu stehen, Hessen ihn nicht an seine eigene 
Person denken, und selbst als es allen Kollegen 
zur traurigen Gewissheit geworden war, dass 
der Körper dieses hünenhaft gebauten Mannes 
den Todeskeim in sich trage, kannte er, ob¬ 
wohl ihm der richtige Blick für sein Leiden 
keineswegs fehlte, keine Schonung für sich. 

Krayatsch war seit 1890 in glücklichster 
Ehe verheirathet. Der Ehe entstammt ein 
gegenwärtig zwölfjähriges Töchterchen. 

Der allzufrühe Hingang dieses vortrefflichen 
Mannes versetzt nicht nur die Aerzte, Beamten 
und Kranken der Anstalt Mauer-Oehling, son¬ 
dern auch die Fachcollegen, welche ihn kannten, 
in tiefste Trauer. Denn wer ihn kennen ge¬ 
lernt, musste ihn hochschätzen und verehren. 

Friede seiner Asche! 

Ehre seinem Andenken! 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 52 


M i t t h e i 

— Mit Bezug auf die auf S. 551 citirte Ansicht des 
Brandenburgischen Provinzialausschusses schreibt Sani¬ 
tätsrath Dr. Jenz, Direktor der Grossherzoglichen 
Idiotenanstalt in Schwerin, in einem Aufsatze: „Zur 
Streitfrage zwischen Aerzten und Pädagogen“:*) 

„Dieser Grundsatz sollte allgemein auch auf die 
Fürsorge für Idioten, Schwachsinnige und Epileptische 
wenigstens in Bezug auf solche Anstalten ausgedehnt 
werden, die der ärztlichen Leitung noch entbehren. 
Hierdurch würde entweder eine Aenderung in deren 
Organisation in unserem Sinne herbeigeführt werden, 
oder es würden mehr staatliche oder kommunale An¬ 
stalten errichtet werden müssen, was allerdings noch 
vorzuziehen ist. Denn wenn es auch noch einzelne 
staatliche Anstalten giebt, die bezüglich dieser Forde¬ 
rung rückständig sind, so zweifle ich doch keines¬ 
wegs, dass sich die in Betracht kommenden Behörden 
bei Neuerrichtungen solcher Anstalten der Einsicht 
nicht verschliessen werden, dass es sich um Kranken¬ 
anstalten handelt, und wissen werden, wem sie die 
Leitung ihrer Krankenanstalten an vertrauen sollen, wie 
denn Preussen und Mecklenburg bezüglich der Leitung 
und Organisation ihrer staatlichen Idiotenanstalten 
bereits ein Beispiel dafür bieten“. 

Wie schon Reg.-Rath Dr. Krayatsch kürzlich 
in dieser Wochenschrift forderte, verlangt auch Jenz, 
dass der Arzt der Anstalt selbst auch Leiter der¬ 
selben sein muss, und hält es für einen ernsten 
Fehler, dass eine dahin lautende gesetzliche Vor¬ 
schrift noch nicht existirt. Bei Anstalten, die nur 
eine Art Hülfsschule für schwachbefähigte und psy¬ 
chisch minderwerthige Kinder mit Internat darstellen, 
genüge die Aufsicht und Berathung durch einen psy¬ 
chiatrisch gebildeten Arzt 

Für die Forderung, dass Aerzte an die Spitze 
der Idiotenanstalten gehören, hat Zimmer die iro¬ 
nische Bemerkung: „ . . . . w’arum sollte ein Arzt 
nicht leisten können, was Brüder aus Diakonenan¬ 
stalten geleistet haben“. ... Zimmer sagt nämlich 
von dem Leiter der Idiotenanstalt: 

„Das kann ein Arzt sein, der ein Herz voll 
Liebe hat und pädagogisches Geschick — w'arum 
nicht das, w f arum sollte ein Arzt nicht leisten 
können, w'as Brüder aus Diakonenanstalten ge¬ 
leistet haben? — aber der Arzt als solcher, der 
wirklich ärztliche Interessen verfolgt, wird nach 
solcher Arbeit gar kein Verlangen tragen ; nimmt er 
eine Stellung in einer Idiotenanstalt an, so thut er 
es entweder, weil ihm das Elend der Idioten per¬ 
sönlich besonders aufs Herz gelegt ist, sodass er 
seinen eigentlichen ärztlichen Beruf aufgiebt und 
lieber Pfleger dieser Annen w erden will, oder aber, 
was vielleicht eher zu befürchten ist, Aerzte, denen 
der dornenvolle freie ärztliche Beruf zu unbequem 
ist, melden sich zu derartigen Leitungen, die ihnen 

*) In „Die Krankenpflege“ 1902/3, Nr. 6, als Entgegnung 
auf einen gleichbetitelten Artikel ebenda 1902/3 von Professor 
Friedrich Zimmer, Präsident des „Evangelischen Diakoniever- 
eins u . Auch im Uebrigen erfahren Zimmer’s Ausfälle gegen 
den Acrztestand durch Jenz die verdiente Zurück Verweisung. 


1 u n g e n. 

bequemer sind. Jedenfalls muss man damit rechnen, 
denn die Menschen bleiben Menschen. Und darum 
würde es ein ernster Fehler sein, wenn man gesetz¬ 
lich für die Idiotenanstalten die Leitung durch Aerzte 
vorschriebe und nach dem Schema „F“ Idiotenan¬ 
stalten einfach unter die Irrenanstalten mitklassificirte. 
Hierher gehört für die Leitung in erster Linie Liebe 
für diese Armen und in zweiter noch einmal Liebe, 
sodann das nöthige pädagogische Geschick und 
schliesslich Verwaltungstalent Wer das hat mag be¬ 
rufen sein, sei er Arzt oder Theologe oder Pädagoge 
oder was sonst; aber eine Standesaufgabe der Aerzte 
ist die Leitung von Idiotenanstalten nicht“ 

Worauf Jenz entgegnet: 

„Ich versage es mir durchaus, die Art der Moti- 
virung des Verfassers, weshalb Aerzte überhaupt 
seiner Ansicht nach die Leitung von Idiotenanstalten 
erstreben sollen, näher zu beleuchten. Nur die In¬ 
sinuation des Verfassers muss ich noch auf das 
schärfste zurückw'eisen, als ob Standesinteressen in 
einem Sinne für die Aerzte in Frage kämen bei der 
Forderung, dass auch für die Idiotenanstalten ärzt¬ 
liche Leiter nöthig sind. Nur rein sachliche Inter¬ 
essen sind es gewesen, welche die bekannten Reso¬ 
lutionen in der Versammlung Deutscher Irrenärzte zu 
Frankfurt im Jahre 1893 gezeitigt hab/m, und sind 
es noch, die uns an diesen Resolutionen festhalten 
lassen. Ein Standesinteresse könnte nur soweit in 
Frage kommen, als man es eventuell für standesun würdig 
halten könnte, wenn Aerzte Stellungen als Anstalts¬ 
ärzte an Idiotenanstalten einnehmen, welche unter 
der Direktion von Nichtärzten stehen, ohne wenig¬ 
stens einen maassgebenden Einfluss auf die Leitung 
dieser zu besitzen.“ 

Aus der oben skizzirten Haltung Zimmer’s 
werden wir Aerzte Winke für unsere Stellung zu 
seinem Krankenpflegerinnen verein und für unser 
Urtheil über den über letzterem waltenden Geiste 
entnehmen dürfen. 

— Stuttgart. Am 26. April soll hier im Justiz¬ 
gebäude eine Versammlung von Juristen und Aerzten 
.stattfinden zur Erörterung von Fragen aus dem Ge¬ 
biete der Psychiatrie, die für die beiderseitigon Be¬ 
rufskreise von practischer Bedeutung werden können. 
Es sind bereits zahlreiche Vorträge in Aussicht gestellt. 

— Eisass. (Bezirksirrenanstalt zu Rufach.) Der 
notarielle Ankauf der Parzellen zur Bezirksirrenanstalt 
hat nun begonnen und nimmt seinen regelrechten 
Verlauf. Der Ankauf des ganzen Bodens beträgt ca. 
300000 M. 

Referate. 

— Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 
und p syc h.-gerieht 1 . Medicin. Bd. 59 Heft 4. 

Kirchhoff (Neustadt in Holstein). Die Höhen- 
messung des Kopfes, besonders die Ober- 
hö he. 

Ausgehend von der Thatsache, dass die Höhen¬ 
verhältnisse des Schädels wichtiger sind, als Länge 


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1903} 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


und Breite, hat V$rf. nach der brauchbarsten Methode 
gesucht, am Lebenden die Höhe des Kopfes zu be¬ 
stimmen. Wichtig sind die Ohrstirnlinie und die Ohr¬ 
höhe, deren gemeinsamer Ausgangspunct das äussere 
Ohrloch ist. Diese beiden Maasse lassen gewisse 
Schlüsse auf den Abschnitt des Schädelgrundes zu, 
welcher die Ganglien des grossen Gehirns trägt. 

Raecke (Kiel). Ueber H ypochond rie. 

Unter 2800 Kranken der Tübinger Klinik waren 
18 sichere Fälle von reiner Hypochondrie. Verf. 
berichtet über 9 Fälle ausführlicher und kommt zu 
dem Schluss, dass die Hypochondrie eine selbständige 
Krankheitsform ist, welche sich hauptsächlich bei ge¬ 
schwächtem Nervensystem (Neurasthenie, Hysterie, 
schwerer erblicher Belastung) entwickelt. Im Verlauf 
treten häufig Remissionen und gelegentlich Exacer¬ 
bationen ein. Dauerde Heilung ist zweifelhaft, nie¬ 
mals tritt Demenz ein. Die echte Hypochondrie ist 
stets eine Hypochondria sine materia. 

Nawratzki (Dalldorf). Ueber Ziele und 
Erfolge der Fam i 1 ien p fl ege Geisteskranker 
nebst V ors chlägen für ei ne Abänderung des 
bisher in Berlin angewendeten Systems. 

Die Statistik lässt ein allmählich fortschreitendes 
Anwachsen der Berliner Familienpflege vermissen, und 
zwar nicht aus Mangel an geeigneten Kranken oder 
an geeigneten Pflegestellen, sondern aus Schwierig¬ 
keiten im inneren Betrieb, verursacht durch erhöhte 
Belastung von Arzt und Verwaltung. Verf. schlägt 
deshalb vor: Abtrennung der Familienpflege von der 
Anstalt, Angliederung an die Armendirection ev. auch 
an die Deputation für die Irrenpflege, Unterstellung 
unter die selbständige Leitung eines fachmännisch ge¬ 
bildeten Arztes mit dem Wohnsitz in Berlin, Verbleib 
der Pfleglinge unter der Aufsicht des Arztes bis zur 
endgiltigen Entlassung. 

— Rosenblath. Neurasthenie, hervor¬ 
gerufen durch Einatmung von Xylo I - 
dämpfen. Aerztl. Sachverstztg. October 1902. 

Die durch Einwirkung irgendwelcher Gifte ent¬ 
standenen Nervenstörungen gehen nicht selten mit 
psychopathischen Zuständen einher oder gehören 
eventuell zu den Grenzgebieten zwischen Nerven- 
und Geisteskrankheiten. Der von R. mitgetheilte 
Fall von Xylolvergiftung betrifft einen Mann, welcher 
bei der Gummirung von Gew f eben beschäftigt war, 
wobei das als Lösungsmittel des Gummi verwandte 
Xylol mit einem Zusatz von Eucolyptusoel durch 
Hitze verflüchtigt wurde. Die bei ungenügender Ven¬ 
tilation eingetretenen Intoxicationserscheinungen be¬ 
standen anfänglich in einem angenehmen Allgemein¬ 
gefühl, dann in Eingeschlafensein der Hände und 
Füsse, Atembeklemmungen, Angstzuständen, Zittern 
und unsicherem Gang, zuletzt in deliranten Angst- 
paroxysmen. Während diese Symptome bei ander¬ 
weitiger Beschäftigung vergingen, entwickelte sich ein 
ausgesprochen neurasthenischer Zustand: bei irgend¬ 
welchen Arbeiten traten Angstzustände auf, Schwindel, 
Herzklopfen, Kopfcongestionen, körperliche Mattigkeit, 
Schlaflosigkeit, Vergesslichkeit, nervöse Sensationen 
und Hyperaesthesie. Später traten Beklemmungsge¬ 
fühle beim Passieren enger Gassen, das Gefühl, als 


ob Jemand hinter ihm heigehe u. a. auf. Bei Ab¬ 
schluss der Arbeit bestanden die Symptome noch 
fort. — Interessant würde die Kenntniss des weiteren 
Verlaufs der Krankheit sein, speciell, ob sich der 
psychopathologische Character einzelner Symptome 
noch verschärfte, so dass man eventuell die Genese 
einzelner psychopathischer Erscheinungen verfolgen 
könnte. Kellner- Untergöltzsch. 

— Psychiatrische en neurologische 
Bladen. 1902. No. 1. 

Ziehen, Zur Differentialdiagnose der Hebephre- 
nie (Dementia praecox). 

Verfasser will den Begriff der Hebephrenie enger 
fassen und damit ausschliesslich eine Psychose ver¬ 
stehen, welche in der Pubertätszeit auf tritt und als 
Hauptsymptom einen vom Krankheitsbeginn ab nach¬ 
weisbaren längere Zeit progressiven Intelligenzdefect 
zeigt. Häufige Nebensymptome sind Apathie und 
Stereotypien. Auch Kompilationen mit Wahnvor¬ 
stellungen (Dem. paranoides). Hallucinationen, Affect- 
störungen kommen vor. Ausgehend von dieser De¬ 
finition fand Verf. unter 5880 Aufnahmen der Jenen¬ 
ser Klinik 402 Pubertätspsychosen und unter diesen 
höchstens 34 Fälle von Hebephrenie, also etwa 10% 
der Pubertätspsychosen und weniger als I °/ () aller 
Aufnahmen. 

1) Differentialdiagnose gegenüber der hypochon¬ 
drischen Neurasthenie: „Unter hypochondrischer 
Neurasthenie verstehe ich eine Psychose, bei welcher 
auf dem Boden der typischen neurasthenischen Symp¬ 
tome hypochondrische Vorstellungen und Verstim¬ 
mungen anftreten.“ Der körperliche Befund zeigt 
keine grossen Unterschiede. Bei der Hebephrenie 
beginnt ziemlich früh eine Abnahme der Schmerz¬ 
empfindlichkeit. Die Ermüdungscurve bei Neurasthenie 
zeigt meist einen relativ niedrigen Anfangswerth und 
die weiteren Werthe nehmen abnorm rasch ab. Auch 
bei der Hebephrenie bleiben die Anfangswerthe nicht 
selten hinter der Muskelentwicklung zurück, weiter¬ 
hin aber fällt neben ziemlich starken Schwankungen 
der Werthe ihre geringe Gesammtabnahme auf. Bei 
der Hebephrenie bleibt der Ernährungszustand normal, 
oder nimmt sogar bedeutend zu. Bei der Neuras¬ 
thenie ist die Reproductionsfähigkeit zuweilen, bei der 
Hebephrenie fast stets herabgesetzt. Der Neurasthe¬ 
niker schreibt oft besser als er spricht, der Hebe- 
phreniker schreibt fast stets schlechter als er spricht. 
Vor allem ist die schon im Prodromalstadium auf- 
tretende Apathie eines der sichersten Differenlialdiag- 
nostischen Zeichen der Hebephrenie gegenüber der 
hypochondrischen Neurasthenie. Stereotype Be¬ 
wegungen und Haltungen sprechen nur dann mit 
einiger Sicherheit für Hebephrenie, wenn keine Angst- 
affccte, keine pathologischen Sensationen, keine hypo¬ 
chondrischen Vorstellungen und keine Zwangsvorstel¬ 
lungen vorliegen oder Vorlagen. 

2) Differentialdignose gegenüber der acuten hallu- 
cinatorischen Paranoia. 

Das unmittelbare Vorausgehen einer Intoxication 
oder Infection, eines Traumas oder einer schweren 
Ueberanstrengung spricht mehr für acute hall. Paranoia, 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 52. 


572 


während Fälle ohne nachweisbare Gelegenheitsveran¬ 
lassung stets auf Hebephrenie verdächtigt sind. Eine 
besonders hervortretende Häufigkeit der gleichartigen 
Vererbung bei Hebephrenie, wie sie Vorster fand, 
konnte Verfasser nicht nachweisen. Für die Hebe¬ 
phrenie ist die initiale Apathie characteristisch. Die 
prodromale Depression der acuten hall. Paranoia ist 
kürzer, continüirlicher und namentlich fast nie mit 
Apathie combinirt. Auch die weitere Entwicklung ist 
bei der acuten hall. Paranoia acuter, bei der Hebe¬ 
phrenie chronischer. 

Für den Krankheitszustand auf der Höhe ergeben 
sich folgende differentialdiagnostische Hinweise: 

a) Auf Hebephrenie verdächtig sind Fälle, in 
weichen die Stereotypien sich in einem monotonen 
Grimmassiren oder Gesticuliren, oder in monotonen 
tikartigen Abweichungen des Ganges äussem, während 
andere Stereotypien bei beiden Krankheitsformen Vor¬ 
kommen. 

b) Auf Hebephrenie verdächtig sind Fälle, in 
welchen ausgesprochene Perseveration auch bei Fragen 
besteht, welche nicht wohl in Beziehung zu Wahn¬ 
vorstellungen und Sinnestäuschungen des Kranken 
stehen können. 

c) Flexibilitas cerea kommt bei beiden Psychosen 
vor. Pseudo-Flexibilitas cerea ist bei Paranoia 
häufiger. 

d) Selbstanklagen und Verfolgungsvorstellungen 
können bei beiden Krankheiten Vorkommen, kindische 
Grössenideen fast nur bei Dementia praecox. 

e) Normale oder gesteigerte Nahrungsaufnahme 
und normaler Schlaf sprechen für Hebephrenie. 

f) Negativismus kommt bei beiden vor. 

g) Eintritt einer Remission oder scheinbaren 
Intermission spricht nicht gegen Hebephrenie, Eintritt 
eines Recidivs nicht gegen acute hall. Paranoia. — 

Hulst, Een geval van Dementia paralvtica als 
Paranoia hallucinatoria debuteerend. 

Mann von 37 Jahren mit Gesichts- und Gehörs- 
hallucinationen, ängstlicher, deprimirter Stimmung. 
Verfolgungs- und Vergiftungsideen. Körperlicher Be¬ 
fund negativ. 2 Monate nach der Aufnahme plötz¬ 
lich characteristische Anfälle, so dass die Diagnose 
der Paranoia hall, in die der allgemeinen Paralyse 
umgeändert werden musste. Bestätigung durch die 
Section. 

Mecus, Een katatonisch geval van dementia 
praecox. 

Eine ausführliche Krankengeschichte. Hervorzu¬ 
heben wäre etwa die Neigung des Kranken sich zu 
schlagen, so dass er beide Augen verlor, und ein 
Othaematom entstand. Die Bewegungsstörungen haben 
nach Verf. einen dreifachen Ursprung: Sie sind theils 
psychisch bedingt, theils werden sie durch Sensibili¬ 
tätsstörungen hervorgerufen, theils sind sie rein impulsiv. 


Bouman, De verpleging van patienten, lijdende 
an dementia senilis. 

Die Fälle von Dementia senilis betrugen 1896 : 
4,5 °/ 0 Männer und 4,5 % Frauen von den Auf¬ 
nahmen, 1897 : 5,7 °/„ und 7%, 1898 : 3,5 °/ 0 und 
11,1 %, 1899 : 5,3 % und 10,8 °/ 0 , 1900 : 8,9 % und 
7%, i9Oi:4,Q°/ 0 und 16 °/ 0 . Insgesammt von 

504 Männern 28=5,5% un< * von 369 Frauen 
30 = 8,1 °/ n . Die Fälle mit einfacher Verblödung 
können unter Umständen auch in der Familie oder 
in Siechenanstalten verpflegt werden, während mit 
Manie oder Melancholie complicirte Fälle der Pflege 
in der Irrenanstalt bedürfen. Hier können diese 
Kranken im gleichen Saal, wie die Siechen und die 
Paralytiker im Endstadium, untergebracht werden. 
Sie bedürfen der dauernden Ueberwachung. Auf der 
Wachabtheilung und auf der Abtheilung für ruhige 
Kranke können sie wegen ihres störenden Verhaltens 
zur Nachtzeit nicht gehalten werden. 

Wert heim Salomo n so n, Bijdrage tot de 
kennis van de theorie van den Resonateur vau Ondin. 

Beschreibung des Appartes von Ondin zur Er¬ 
zeugung von Wechselströmen hoher Spannung. 

Ganter. 

— Hermann Fischer: Die chirurgischen 
Ereignisse der genuinen Epilepsie. Archiv 
für Psychologie und Nervenkrankheiten. Bd. 36. 
Heft 2. 1902. 

Aus dieser wichtigen Arbeit, deren Studium viele 
neue Beobachtungen über Häufigkeit, Art und Schwere 
der Verletzungen bringt, sei besonders hervorgehoben, 
wie oft solche selbst in Anstalten, übersehen werden. 
So war Verfasser z. B. (Seite 17) „betroffen von der 
grossen Anzahl kleiner, schmerzhafter Knoten in den 
Muskeln nach schiveren, epileptischen Anfällen.“ Er 
hält sie für Rupturen von Muskelbäuchen, ausgefüllt 
und umgeben von Blutcoagulis. Sehr wichtig ist der 
Hinweis, dass nach schweren Verletzungen eine mit¬ 
unter sehr lange Pause in den Anfällen auftritt. Es 
würde dies namentlich von Wichtigkeit sein können, 
wenn gelegentlich einer, bei einem Geisteskranken 
Vorgefundenen Verletzung, die sow r ohl im epileptischen 
Anfall als durch Schuld des Dritten entstanden sein 
könnte, z. B. bei der Schlägerei, eine sechswöchent¬ 
liche Beobachtung in einer Irrenanstalt den Nach¬ 
weis der Epilepsie* liefern sollte. 

Hermann Kornfeld. 


Personalnachricht. 

Dr. med. Paul Schuster, Assistent an der Prof. 
Mendelschen Poliklinik für Nervenkrankheiten in 
Berlin, hat sich als Privatdocent für Irren- und 
Nervenheilkunde bei der dortigen Universität habilitirt. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brest er, Kraschnitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Sachregister. 

(Die Zahlen bedeuten die Seiten.) 

(Die Bibliographie über Cri mi nalanth ropologie und Verwandtes von Med. Rath Dr. N&cke befindet sich S. 39 » 219, 389 
403, 5 2 3 - Die Sammlung der gerichtlichen Entscheidungen von Prof. Dr. Schultze in Nr. 1 u. 2.) 


Aberration, psychische, 13 29 

Abstinenz in Irrenanstalten (Alkohol-Abst.), 53, 223 
Agarophobie 76 

Agraphie nach epilept. Anfällen 165, 420 
Alkohol, Behandl. fieberhafter Krankh. ohne A. 329; 
Einfluss des A. auf die Arbeit 392; A. — Nahrung 
oder Gift? 322; Thatsachen über den A. 308; 
Alkoholiker, Anstalten für A. 402; Waidfrieden 117; 
Geistesstörungen der A. 418; A. in Irrenan¬ 
stalten 229; Prognose u. Therapie 386, 464; 
Suggestivbehandl. 385 

Alkoholismus, chron. A. u. Geistesstörungen 316; 
Controverse Clemm-Möbius 281, 288; Congress, 
intemat. in Bremen, 551, Aufruf dazu 542; 
Trunksuchtsgesetz in England 120; A. u. Straf¬ 
rechtsreform 263; Trunksüchtige im Kranken¬ 
versicherungsgesetz 495 
Allenberg, 50 j. Jubiläum 304 

Amnesie 391 (nach Kohlenoxyd-Vergiftung); totale 
retrograde 299 

Andernach, St. Thomas, Wachabtheilung für Unrein¬ 
liche 225 ; 

Anatomie, d. Gehirns u. Psychologie 391 
Annahmen, über A. 228 
Ansbach, Eröffnung der Anstalt zu A. 182 
Aphasie 420, A. u. Demenz 94; nach epil. Anfällen 165 
Apoplexie 512 (Thalamus opt.) 

Arbeitshäuser, Geisteskranke in engl. A. 120 
Arbeitscurve, Die 131 

Arteriosklerose u. Gesichtsfeldeinengung 51; A. u. 
Geistesstörung 85 

Atlas und Grundriss der Psychiatrie von Weygandt 299 
Attentäter, geisteskranker 38 
Augenmuskellähmung 386 

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Bäderbehandlung 222 

Beachtungswahn 94 

Beschäftigung der Kranken 222 

Bettbehandlung 223; (bei chronischen Psychosen) 316; 

Bizzozero +51 

Bleivergiftung, psychische Störungen 299 

Blutdruckmessungen 463 

Bromeigon 242 

Bromipin 56, 241 

Bromocoll 242 

Cerebrospinalflüssigkeit, bei Dementia paralyt. u. an¬ 
derem Schwachsinn 316 
Chemnitz, Irrenabtheilung 559 
Chirurgischer Pavillon der Seine-Anstalten 157 
Cholin bei Epilepsie 443 
Circuläre Psychosen 387 
Coloniale Verpflegung 230 

Congress, intemat. d. Irrenfürsorge in Antwerpen 84, 
249, 277, 285 

Congress gegen den Alkoholismus in Bremen 542, 551 
Coniinum hydrobroraatum 242 
Correctionshäuser in Sizilien 445 
Craig Colony, Preis 443 

Criminalanthropologie, V. intemat. Congress 420, 444, 
454; Bibliographie über Criminala. von Med. 
Rath Näcke 39, 219, 389, 403, 523 
Cyklopie 332 

Cysticercus im IV. Ventrikel 92 
Dämmerzustand, hyster. 385 

Degeneration 11; D. u. Straf- u. Civilrecht 226; 463 
Degenerationszeichen 463, 464, innere 279; physiol. 

Grundlage 87; D. am Jugum sphenoidale 444 
Delirium acutum 360 (Urämie), 75; D., halbseitiges 

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574 


.SACHREGISTER. 


361; D. tremens, körp. Erscheinung. 280; von 
mehrmonat. Dauer 241 ; von nächtl. Auftreten 241 
Dementia senilis 5 72 

Demenz u. Aphasie 94; Dem. paralvt. l>. Ehepaar 
301, 311 ; Dementia präcox 403, 571 
Dionin 69 
Dipsomanie 471 

Distomum pulm., Eier im Gehirn 375 
Dösen, Ueberwachungsabtheilung 233 
Dortmund, Irrenfürsorge 471 
Dysenterie in Anstalten 2 15 

Ehescheidung b. Geisteskrankh. 242; Urtheil 445; 

bei inducirtem Irresein 298; Prozesskosten 399 
Eigenbeziehung 94 
Ekstase 532 

Electricität, therap. Anwendung bei Geisteskrank. 87; 

neuere Methoden 330, 572 
Elmira Reformator}' 454 
Encephalomyelites 141 

Entmündigung 12; Ablehnung ein. E. 310; E. u. Ge¬ 
schäftsfähigkeit 143; E. wegen Geistesschwäche 385 
Entscheidungen, gerichtliche 2, 19 
Entweichungen 200 

Epilepsie, Aphasie u. Agraphie nach Anfällen 1 (>5; 
Behandlung nach Toulouse-Richet (diätetische) 
92, 242, 387, 405, 479, 484, 525; Bromeigon 
242, Bromipin 241, Bromocoll 242; Cholin als 
Ursache 443; chirurgische Ereignisse 572; Co- 
niinum hydrobromicum 242; Geschichte d. E. 
(Hippokrates) 539; E. und Geisteskrankheit 449; 
E. u. Hysterie, Differentialdiagnose 128; E. u. 
Meteorologie 449; E. u. Migräne 384; E. und 
Verbrechen 05 

Epileptikeranstalt, ()rganisation 170, 287 ; E.-Fürsorge 
in Württemberg 401 

Erbliche Belastung 189 (s. a. Vererbung), 464 
Ergotismus 297 

Erlass d. preuss. Justizministers v. 1. X. 02 323, 324, 
332, 340, 350, 377, 38O, 392, 49b, 530 
Erlass, d. preuss. Medicinal-ministers betr. Pflegeper¬ 
sonal 260 

Erlass d. preuss. Minister betr. Anzeige von Todes¬ 
fällen in Anstalten etc. 307 
Erlass d. österr. Justizministers betr. geisteskranke 
Häftlinge 246 

Facialiskrampf, tonischer 12 7 

Familienpflege 205, 230, 2b 1 (Geschichtliches), 262, 
277, 278, 286, 325, 337, 433, 545, 559, 57 « 
„Friedau“, Colonie 77 
Fuhrmann, Prozess 23 
Furcht, krankhafte 21b 


Fürsorgeerziehung in Prcussen u. Arzt 428 
Galkhausen 265 

Gedächtnissstörung und Gehirnkrankheit 392 
Gefängnisspsychosen 241 

Gehirn, Anatomie des G.-s und Psychologie 108, 391, 
279; G.-Anatomie vergleichende 130; chemische 
Constitution 248; Gehimkrankheit u. Gedächt¬ 
nissstörung 392; Ausschaltung motor. Funktionen 
339; Eier v. Distomum pulmonale im Gehirn 375; 
G.-Hypertrophie (Thymus, Nebenniere) 330; 
G.-Gefässc, Pathologie 332; Gypsmodelle 522; 
Otische Erkrankungen 307 ; Gehhnsectionen 204; 
G.-Stanun, Topographie 87; Stich Verletzung 418; 
G.-Syphilis 438. 

Geisteskranke, ausserhalb der Anstalt 118, 2 77, 279,479, 
55 -» 55 «; Behandlung io, 247,403, 566 (Luft- 
liegekuren), 572; Beschäftigung 286; elektrische 
Untersuchung. 330; erbliche Belastung 189; G-e. 
im Heere 38, 315; Krankenbett f. Unreinliche 411 ; 
Messungen des Schädels 512; Rechtsschutz G-er. 
451; Sclbstbcschädigungsversuche 62; Statistik 
in dcutschsprachl. Anstalten 197: unbekannte 
Geisteskranke Beilage zu Nr. 12, 29, 42, 51 ; 
verbrecherische Geisteskrank (s. auch Verbrecher) 
420, 450; verurtheilte G-e. 83 
Geisteskrankheit, G. u. Arteriosklerose 85; Classifikation 
339 ) G.-e bei Eisenbahnbeamten 83; G.-en bei 
Göthe 473, G.-en bei Juden 386; G. bei Hunden 
experimentell erzeugt durch Strumektomie 130; 
bei Influenza 108 ; G. nach Körperverletzung und 
körperl. Misshandlungen 206; Beziehung zw. G. 
u. körperlichen Erkrankungen 419; G. der Land¬ 
streicher 417; Prognose bei alsbaldiger Aufnahme 
in die Anstalt 188; Therapie 439; therapeut. 
Anwendung von Elektricität 87; G. u. Toxämie 87 
Geistesschwäche, Bestrafung von Delikten an solchen 
2b2 ; Entmündigung G.-er 383 
Genie und Verbrechen 435 

Geschichte der Irrenbehandlung im 18. Jahrli. 299 
Geschlecht u. Krankheit 434 ; Geschlechtsorgane und 
Nervenerkrankungen 480; Geschlechtstrieb und 
Schamgefühl 27 

Gesichtsfeldeinengung bei Arteriosklerose 51; Gesichts¬ 
feldstörungen bei Hunden, experimentelle 93 
Gheel 280 

Glia u. Gefässapparat 131 
Golgipräparate, Dauerhaftmachung solcher 120 
Göttingen, Poliklinik für Nervenkranke 106, Neubauten 
94, 176, Prov.-Nervenheilanstalt 543 
Graphologie 463 
Graphospasmus 107 


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ACHREGISTER. 


575 


Graüdenz, Irrenabtheilung bei der Strafanstalt 265 
Grenzfragen, jurist.-psychiatrische 278, 428 
Griesinger, Denkmal 84 
Grossschweidnitz 2 5 

Gynäkologische Beobachtungen b. Geisteskranken 391 

Hallucinationen, einseitige 96; psychische Störungen 
nach solchen 391 

Hallucinatorisches Irresein, acutes 403 
Hallucinator. Verwirrtheit als Initialstad. d. Melancholie 
203 

Hamblasenruptur bei progr. Paralyse 133 
Hebephrenie, Differentialdiagnose 571 
Hemicephalie, Nervensystem dabei 338 
Hemiklonus 375 

Heredität der Geisteskrankheiten 417 

Hilfsverein für Geisteskranke 86, 93, 173, 217, 231, 

398.493 

Homosexualität 420 
Hochweitzschen 400 
Hydrocephalie fötale 331 
Hygiama 107 

Hygienisches in Anstalten 214 

Hypnose, Heilwerth 415,410, 531; bei Verbrechern 464 
Hypochondrie, Lehre v. d. 50, 571; traumatische 419 
Hysterie, Amaurose, doppelseitige 391 ; Dämmerzu¬ 
stand 385; H. u. Epilepsie, Differentialdiagnose 
128; Hystero-Epilepsie 478; H. u. Katatonie 
Diff.-Diagnose 316; Kieferluxation 553; Mord¬ 
impuls 119; Mutismus, hysterischer, in der Ge¬ 
schichte 392; Singultus 553; Unfallh. 385; Un- 
fallh. bei Telephonistinnen 384 
Hysterisches Irresein 393, 417 

Ichthoform 242 

Idiotie, Histologie 509, Behandlung mit Thyreoidin 241 
Idiotenanstalten, Organisation 170, 287, 481 , 489 
501, 570; Prügelstrafe 428 
Idiotenfürsorge 481, 501 (Oesterreich), 401 (Württem¬ 
berg), 486 (Europa) 

Inducirtes Irresein 141 
Influenzapsychosen 108 
Inspirationsreflex 464 

Irrenanstalten, Aufnahmeatteste 286; Aufsichtsrecht 
214; Benennung 109, 181, 216; Centrallabora¬ 
torium 120; Chirurg. Dienst 157 (Paris), 286; I.-en 
bei Goethe 473 ; Grösse der I.-en und Organi¬ 
sation 41, 43, 45, 76, 97, 109, 170, 286, 289, 400, 
465, 568 ; I. in der Levante 162 ; freiwillige Pen¬ 
sionäre in besonderen Häusern unterzubringen 
449; Entlassung bei Ablehnung der Entmündi¬ 
gung 440; Mord in einer I. 132; Steuerfreiheit 
der Privatanstalten 217; I.-en in den Tropen 


316; Typhus in I.-en 432; Ueberfüllung 198; 
Verdächtigung der I.-en in der Presse 25, 107, 
296; Wandschmuck 244 

Irrenärzte, Gehälter nnd materielle Lage 120-* -218, 
233, 238, 521; Klage gegen einen I. wegen In- 
ternirung 288 

Irrenbehandlung im 18. Jahrh. 299 
Irrengesetzgebung Deutschland 05, 118, 131,-170. 

385, 389, Italien 52, Oesterreich 421, Ungarn 429 
Irrenfürsorge, Baden, 89, 102, 103, m, 181, 1-56, 
150, Bayern 398, Belgien 227, 325, Berlin ii8 } 
203, 246, 457, 465, Böhmen 333, 347, Branden¬ 
burg 351, Dortmund 471, Eisass-Lothringen-131, 
570, Frankreich 297, 325, Hessen 10, 182, 308, 
Hessen-Nassau 398, Holland 545, Italien 277, 
N.-Oesterreich 193, 273, 277, 296, Ostpreussen 
357» 375 » 3 8 7 > 4°4> Pommern 25, Rheinprovinz 
263, 521, Rumänien 277, Russland 171, Kgr. 
Sachsen 400, 559, Schlesien 337, Tirol 154, 
Ungarn 236, 277, Westfalen 398, Württemberg 
272, 401, 415 

Irrenhaus oder Privatpflege? 76 
Irrenrechtliches 11, 262 (Bestrafung von Delikten an 
Geisteskranken); Beihilfe zu strafbaren Hand¬ 
lungen Geisteskranker nicht strafbar 38; Anrech¬ 
nung des Aufenthalts in Irrenanst. auf die Straf¬ 
zeit 9, 208, 282 
Irresein, acut, hallucinator. 403 
Isolirhaft und Psychosen 241 

Jubiläum der Anstalt Allenberg 304; v. Krafft-Ebing’s 1 
Juden, Geisteskrankheiten 386 

Kaplan, Nachruf 374 
Kastration bei Verbrechern etc. 464 
Katatonie u. Hysterie 316; K. im höheren Lebens¬ 
alter 131 

Kehlkopflähmung 130 

Kinderlähmung, Muskelüberpflanzung 127 

Kirchliche Congregationen und Irrenanstalten 227, 277 

Kleinhirnabscess 92 

Kleptomanie 279 

Königsberg, psychiatr. Klinik 509 

Kopfschmerzen und verwandte Symptome 560 

Körperverletzung als Ursache von Geistesstörungen 206 

Krankenbett f. Unreinliche 41 1 

Krayatsch f 568 

Lehre v. Leben (Bilharz) 172 
Levante, Irrenanstalt in der 162 
Localisation, spinale 330 
Luftliegekuren bei Psychosen 566 
Luisa v. Toscana 476 
Lumbalpunktion 360 


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576 


SACHREGISTER. 


Luxation des Kiefers bei Hysterie 553 

Manganvergiftung 338 
Manie 420 chron. , 

Manisch-depressives Irresein und progressive Para¬ 
lyse 561 

Manissa, Irrenanstalt (Levante) 162 
Markscheidenfärbung 522 

Mauer-Oehling Beschreibung 251; Eröffnung 260 
Medicinalgesetze Preussen; 247 
Melancholie, bei Zwillingen 120; mit halluc. Verwirrt¬ 
heit als Initialstadium 203 
Menstruation u. Psychosen 487 
Meschede 404 
Migräne und Epilepsie 384 

Militär, Untersuchung vor Einstellung 444; Psychia¬ 
trie 383 

Missbildungen des Centralnervensystems 331 (bei 
Hydrocephalie), 332 (bei Cyklopie) 
Misshandlung, Ursache von Geistesstörung 206 
Mohammed — Epileptiker? 132, 353, 367 
Motorische Funktionen, künstl. Ausschaltung 339 
Münch Frhr. v. 183, 193, 228, 449 
Muskelatrophie 127 (progress.) 

Muskelüberpflanzung 127 
Mutismus, hysterischer 392 

Myasthenie u. verwandte Zustände 300; Muskel¬ 
präparate 131 

Myasthenische Paralyse 298 
Myelitis, acute 128 
Myosklerose 339 

Nagelformen 464 
Nekrophilie 280 

Nerven, Markscheidenfärbung 522, Zerfallsprocesse 340 
Nervenerkrankungen u. Geschlechtsorgane 480; N.-n. 

bei Manganvergiftung 338 ; 

Nervenheilstätten, Steuerfreiheit 217; Volksn. 77, 118, 
401, 513, 551; Prov.-Nervenheilanstalt bei Göt¬ 
tingen 543 

Nervensystem des Hemicephalen 338; N. u. Syphilis 
248; path. Anat. 128 
Nervenzelte 308; feinere Anatomie 523 
Neubauten 209 

Neurasthenie, objektive Symptome 340; Pathologie 
298; N. u. Kleptomanie 279; Pulsphänomen 340; 
Hyloldämpfe 571 

Neurastheniker, Lebensregeln f. solche 144 
Neurobiologisches Institut in Berlin 216 
Neurofibromatose der Haut 128 
Neuronfrage 331, 384 

Neurosen, traumatische 76; vasomotorische 129 


Occultismus in Schlesien 509 
Offenthürsystem 224 
Oikophobie 62 

Opisthotonus, operativ geheilt 127 
Ostpreussen 357, 375, 387, .404 
Paranoia 94, 420, P. acute als Initialstadium von 
Paralyse 572 

Paralyse, myasthenische 131, 298, 300 
Paralyse, progr. 419; Achillessehnenreflex 477; Ana¬ 
tomie 119, 477: Aetiologie 298; Cerebrospinal¬ 
flüssigkeit 316; beim Ehepaar 301, 311; Ge¬ 
schlechtssinn 391; P. und manisch-depressives 
Irresein 561; P. als acute Paranoia auftretend 572; 
psych.-motor. Hallucinationen 390; Hamblasen¬ 
ruptur, spontane 133; Statistik 298, in Ungarn 508 
Pseudoparalyse 40, 61 
Patentcigairen von Wendt 480 

Pellagra, prophvlact. Gesetzgebung in Italien 52; 
Einfluss experim. erzeugter P. auf Reproduktion 
und Vererbung 63 
Pennsylvania Hospital 419 
Periodische Psychosen 387; Aetiologie 488 
Periodischer Wahnsinn 121 
Perversitäten, sexuelle 383, 452, 461, 476 
Pflegepersonal, materielle Lage, Unterricht, Unfall¬ 
fürsorge 132, 238, 286, 287, 451; Min.-Erlass, 
preuss. 260; „Mädchenopfer“ 76 
Physiognomik, neue Methode Hallenordens 309 
Plexuslähmung 383 
Polioencephalitis 330 

Privatanstalten, nicht für öffentliche Irren-, Epileptiker- 
und Idioten-Fürsorge zu benützen 203, 228, 
246, 277, 28O, 359. 375, 404, 551; Beaufsich¬ 
tigung 568 

Psychiatrie, Handbuch der gerichtl. Ps. 300; psych. 
Erkenntniss 415 

Psychiatrisch-forensisches (s. a. Sach verständigen thätig- 
keil) 242, 243, 278, 317, 379, 432, 455, 535 
Psychiatrisch-forensische Vereinigung in Göttingen 
220, Zürich 428, Stuttgart 570 
Psychiatrische Klinik, Breslau 10, 398, Königsberg 
509, München 182, 226, Wien 351 
Psychische Infection 298, 444 

Psychologie, collective 420, normale 486, 507; Ps. u 
Gehirnanatomie 391, Benedikts Grundformel 420 
Psychophysische Methoden im Strafprocess 454 
Psychopathia sexualis 26, 383, 452, 476, 511 
Psychosen (s. a. Geisteskrankheiten), Classification 339, 
bei Bleivergiftung 299, circuläre 387, periodische 
488, indudrte 298; Luftliegekuren 566; men¬ 
struelle 487, postepileptische 241, polyneuritische 
241, bei Verbrechern 241 


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SACHREGISTER. 


577 


PupiUenreaction 352 
Pulsphänomen, neurasthenisches 340 

Quärulantenwahn 420 

Rasse, Einfluss auf Criminalität 464 
Rauchen in den Nervenanstalten 480 
Raynaudsche Krankheit 339 
Reggio-Emilia (mit Abbildung als Beilage) 542 
Reils Denkmal 207 
Rindengefässe, Pathologie 49 

Rückenmark, Cocainisirung 360, Röntgographie 439, 
523 

Ruhr in Anstalten 2 15 

Sachverständigenthätigkeit 80, 140 (sachv. Zeuge), 
190, 217, 317, 323, 324, 332, 340, 341, 377, 

379 » 380» 392, 432, 455 » 463, 530 » 534 

San Servilio 427, 432 
Santiago, Irrenanstalt 142 
Schädelknochen, äusserst dünner 11 
Schädelmessung 570 

Schadenersatz wegen ungerechtfertigter Internierung 
279 

Schamgefühl und Geschlechtstrieb 27 
Schlafmittel 223 

Schwachsinnige, Fürsorge f. Schw. 278, 286, 376, 
453 » 481» 501 

Schwachsinn, physiolog. 62, 156 
Schwindel 248 

Schulkinder, schwachsinnige 453 
Schule f. nervenkranke Kinder 411 
Sehsphären, Entwicklung 130 
Selbstmorde 200 

Sexuelle Perversitäten 383, 452, 476, 511, 512 
Singultus, hyster. 553 
Sirolin bei Tuberkulose 242 
Sittlichkeitsverbrechen, Psychologie 383 
Sklerodermie 339 

Spinale Kinderlähmung, Muskelüberpflanzung 127 

Spinale Localisation 330 

Spiritismus u. Hystero-Epilepsie 171, 478 

Spiritismus in Schlesien 509 

Stadtasyl, Projekt, 286, 289 

Statistische Commission des Vereins deutscher Irren¬ 
ärzte 60, 65 
Stereotypien 360 
Strafrecht und Wülensfreiheit 484 
Stuttgart, Irrenanstalt 272, 401, 415 
Suggestivbehandlung 11, bei Trinkern 385 
Syringomyelie 95, 141 

Syphilis u. Nervensystem 248; path. Anatomie 128 


Tabak, Einfluss auf die Arbeit 392 

Tabes u. nicht paralytische Geistesstörung 417 

Temperatursinnprüfung 338 

Tetanie, Genese 374, 549; Verhalten der Zunge 130 

Thiocoll bei Tuberculose 242 

Tic convulsiv 127 

Tonus u. Sehnenreflexe 75 

Toxämie u. Geistesstörung 87 

Traumatische Neurosen 76 

Träume, Buch von Sanctis, 264, 470 

Trinker, Trunksucht, s. Alkohol — 

Tropische Irrenanstalt 316 
Tropenkoller 486 

Tuberkulosen in Anstalten 214, 242 
Tumoren, Stimhim 129, 413, 414; Thalamus 129, 
130; subdurale 92; Rückenmarkshäute 130 
Typhus in Anstalten 214 

Uebungstherapie bei Bewegungsstörungen 383 
Unfallhysterie 384, 385 
Unglücksfälle in Anstalten 201 
Urämie, Delirium acutum 360 
Urlaubsunterstützungen f. Kranke 203 

Vasomotorische Neurosen 129 
Ventilationseinrichtungen 214 

Verbrechen und Epilepsie 95, und Genie 455, bei 
Greisen 444, Prophylaxe 444, 454, V. u. Sozial¬ 
demokratie 455 

Verbrecher 463, 464, geisteskranke II, 450, 464, 
Unterbringung etc. 88, 144, 205, 244, 282, Für¬ 
sorge für entlassene geisteskr. V. 559; Typen 
nach Dostojewsky 454 
Verdauung, Einfluss auf Psyche 172 
Vereine: Sitzungsberichte: abstinente Aerzte 25. IX. 1902 
3 2 2,3 29; bayrische Psychiater 227; Satzungen 387; 
Berlin. Ver. f. Psychiatrie und Nervenkrankh. 10. 
XI. 1902 374; mitteldeutsche Psychiater und 
Neurologen 25. u. 26. X. 1902 383; Irrenärzte 
Niedersachsens und Westfalens 3. V. 1902 92, 
10b; Irrenärzte der Rheinprovinz 7. VI. 1902 
140; 15. XL 1902 385; Ver. deutscher Irren¬ 
ärzte 14. IV. 1902 37, 49, 60, 85, 95; schwei¬ 
zerisch. Psychiater 19. u. 20. V. 1902, 278; 
südwestdeutsch. Irrenärzte 1. u. 2. XI. 1902 
401, 411; südwestdeutsch. Neurologen u. Irren¬ 
ärzte 24. u. 25. V. 1902, 127; nordostdeutsch. 
Psychiater 11. VII. 1902, 203; Abtheilung f. 
Neurologie u. Psychiatrie d. Vers, deutscher 
Naturforscher und Aerzte 1902, 330, 338, 351; 
ungarische Irrenärzte 1902, 429, 439, 450, 461, 
476, 484, 507; französische Psychiater und 


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57» 


SACHREGISTER. 


Neurologen 19QI 75; psycholog.-forensische 
Vereinig, in Göttingen 18. XII. 1902. 484 
Vererbung u. Genealogie 298; V. von Geisteskrank¬ 
heiten 279; Bedeutung der V. für d. Pathologie 
11, 403, 464 

Verurtheilung, bedingte 455 

Volksheilstätten f. Nervenkranke 513, s. a. Nerven . . . 
Vogelgehirn, Anatomie 130 

Wachabtheilung f. Unreinliche 223 
Wahnsinn, periodischer 12 1 
Wahrendorffdenkmal in Ilten 201 
Waldfrieden, Trinkerheilstätte 117 
Wandschmuck in Irrenanstalten 244 
Wasserversorgung in Anstalten 214 
Weinsberg 415 
Wiener Irrenthurm 273 


Willensfreiheit u. Strafrecht 484,' W. u. Psychopatho¬ 
logie 488 

Willensbestimmung, freie 379, 380 
Windungsprotuberanzen des Schädels 128 

Xyloldämpfe und Neurasthenie 571 

Zellenbehandlung 222 
Zellenlose Behandlung 10, 145 
v. Zeller, Nekrolog 313 
Zerfallsprocesse an peripheren Nerven 340 
Zurechnungsfähigkeit, verminderte 217, 352, 399,, 
400 ; 463 (Preisausschreiben) 

Zwangshandlungen 392 
Zwangsmittel 221 
Zwangsvorstellungen, sexuelle 419 
Zwillingsirresein 120. 


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Namenregister. 

(Die Zahlen bedeuten die Seiten). 


Abadie 420 
Aietrino 420 

Alt 45, 92, 94, 277, 285, 

559 

Alter 566 
Alzheimer 85, 86 
Anton 330, 332, 339, 340 
Antonini 464 

Aschaffenburg 300, 329, 

339 » 383 
Auerbach 298 
Baganis 525 
Baker 95 
Balint 479, 485 
v. Bar 484 
Bartels 130 
Baucke 56, 69, 141 
Baumgarten 461 
Bäumler 129 
Bayerthal 129 
Beckh 87 
v. Becker 486 
Behr 433 
Benda 522 
Bennecke 383, 384 
Benedikt 420, 568 
Berger, W. 545 
Berillon 464 
Berkhan 94 
Bernhardt 375 
Bernstein 561 
Bezzola 416 
Bilharz 13, 29, 172 
Binswanger (Jena) 383, 384 
Binswanger (Constanz) 299 
Bleuier 121, 361, 428 
Bloch 26, 511 
Blum 130 
Bödeker 449 
Bohn 509 
Böhmig 384 
Bolton 119 
Bombarda 455 
Böthke 377 
Boumann 444, 572 
Brandes 76 
Bratz 496 
Brauchli 278 
Brayn 88 
Brero, v., 316 
Bresler 251, 323, 480 


Brosius 86, 386 

Bruns 76, 92, 94, 129, 

383,384 

Brunswig 500 
Buckler 11 
Busch 419 
Buvat 390 

Cahen 360 
Carrara 463 
Carrier 75 
Ceni 62 
Chyzer 236 
Clark Bell 455 
Claus 278, 286 
Clemm 281 
Colojami 455 

Cramer 93, 94, 226, 484, 

544 

Crocq 286 
Cullerre 360 
Cutrera 455 
Cuylits 286 

Decsi 451, 452, J§3 
Dedichen 420 
Degenkolb 49, 86 
Deiters 185, 197, 209, 221, 
229, 237 
Deknatel 444 
Delbrück 400 
Deventer van 286 
Dewey 11 
Dieckhoff 568 
Dietrich 403 
Dietz 401, 415 
Döllken 280 
Donath 443, 477, 47Ö 
Dorada 444 
Drews 11 
Duckworth 87 

Ebers 127 
Edel 62, 133 
Edinger 130 
Epstein 432, 452 
Erb 128 
Eschle 411 
Eulenburg 330 

Fajersztajn 300 
Fauser 401, 415 
Febure 391 


Feldmann 418 
Fere 392 
Ferri 455 

Fischer (Illenau) 89, 102, 
iii 

Fischer F. (Pforzheim) 473 
„ (Ungarn) 431,451, 
Fischer H. 572 [462 

Förster O. 383 
» R. 141 
Franchi 454 
Frank 278, 415 
Frey E. 509 
Freymuth 204 
Frick 329 
Friedmann 129 
Fries 282 
Fuchs 340 

Fürstner 8, 60, 86, 128 

Ganser 383, 385 
Garnier 4Ö3 
Gauckler 444 
Gaupp 61, 104, 415, 471 
Gerenyi 277, 285 
Gerhardt 130 
Gerstenberg 93 
Gluszczewski 203 
Gock 449 
Göthe 473 
Greppin 278, 463 
Grohmann 77 
Grunmach 439 
Gudden 87 

Hänel 86, 329, 338, 340, 
3 ** 3 , 384 

Hajos 478, 486, 507 
Hallervorden 309 
Halmi 525 
Hankein 387 
Havelock Ellis 27 
Hellms 76 
Hess 393, 417 
Hesse 92 
Hinrichsen 279 
Hippel 484 
Hirt 449 

Hitzig 61, 95, 128, 129, 
383. 384 

Hoche 65, 128, 300, 403, 
488 


Hoffmann (Heidelberg) 127 
H offmann 141 
Holländer 108 
Hollos 508 
Hoppe 384 

Hoppe (Königsberg) 145, 
218, 304, 308, 357, 375, 
404, 420 
Hüfler 559 
Hulst 572 
Hüppe 323 
Ilberg 384 
Israel 143 
Jacksch v. 338 
Jacobsohn 375, 449, 522 
Jahrmärker 297 
Jelgersma 420 
Jenz 570 
Jolly 10, 60, 61 
Jones 87 
Juliusburger 459 
Kaiser 316 
Kalischer 374 
Kalmus (Prag) 333, 347 
Kalmus (Lübeck) 298 
Kekule v. Stradonitz 298 
Kende 486 
Keraval 277 
Kirchhoff 570 
Kirsch 530 
Kockel 499 
Kolb 289 
Kolk 512 
Kölpin 298 
Konrad 431, 451 
Körner 307 
Kornfeld 316 
Krafft-Ebing 1, 487 
Kraepelin 129, 131 
Krauss 417 

Krayatsch 481, 489, 501, 
Kreuser 87 [569 

Krömer 206 
Kronthal 308 
Ladame 279 
Laquer 453 
Laudenheimer 419 
Learcy 11 

Lechner 431, 439, 450 
Legrain 464 

Lenzmann (Duisburg) 323 


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580 


NAMENREGISTER. 


Leonova 332 
Leroy 392 
Levi 418, 523 
Levis 496 
Leyden 439 
Lichtenberg 544 
Lilienstein 331 
Link 131 
Linke 420 
Lombroso 455, 463 
Lorenz, W., 273 
Löwenthal 92, 340, 449 
Lückerath 142, 265 
Lundborg 301, 311 
Luther 316 
Macdonald 120 
Macpherson 286 
Manes 9 

Marandon de Montyel 391 
Marburg 332 

Marie 325, 277, 286, 390 
Marina 352 
Marinesco 330, 338 
Masoin 286 
Meeus 278, 286, 572 
Meier 420 
Meinong 228 
Meschede 204, 339, 404 
Möbius 62, 156, 265, 281, 
454 , 532 

Möli 383, 44Q, 457, 465 
Moll 463 
Möller 76 
Mönkemöller 299 
Moharrem 132, 353, 367 
Molnar 450, 451 
Monakow 130, 278 
Moravcsik 430, 450 
Morel 444 
Moulton 11 
Münzer 331, 339 
Mumm 498 
Mundy v. 261 
Näcke 144, 444 
Nawratzky 571 
Neisser 488 
Neugebauer 205 
Neumann, M., 401,402,513 
Nissl 131 
Nitsche 392 
Nonne 248 

Obersteiner 330, 331, 338 


Öbecke 386 

Olah 109, 216, 277, 430, 
440, 451, 508 
Pandy 405, 484 
Panse 248 ' 

Pamisetti 463 
Peeters 277 
Pelman 60, 87, 403 
Peretti 87 
Petit 391 
Pfausler 341, 455 
Pick, Fr., 338 
Pick 298, 43 2 , 4/2 
Picque 157, 391 
Picquet 286 
Piepers 444 
Pierson 385 
Pilcz 330 
Pitres 360 
Plank 484 
Poppel 463 
Poszvek 485 
Preston 11 
Pron 172 
Quaet-Faslam 106 
Quensel 209 
Räcke 50, 298, 571 
Raimann 331, 339 
Rärsz 452 

Ranschburg 478, 484, 508 
Raymund 499 
Reich 449, 523 
Risch 420 
Robertson 96, 120 
Robinovitch 454 
Rorie 108 
Rosemann 323 
Rosenblath 571 
Rosenfeld 339, 419 
Rothmann 330, 338, 339, 
438 

Rudolph 392 
Rumpf 129, 323 
Rühle 417 
Rütte 512 

Salgo 190, 431, 443, 451, 
452, 476, 485, 508 
Salomonsohn 572 
Sanctis, de, 264, 270 
Sander 205 
Sano 286 

Sarbo 477, 478, 508 


Sauermann 386 
Schäfer (Lengerich) 41 
„ (Blankenhain) 316 
Schafter 477 
Schermers 512 
Schlöss 53 
Schmidt, A., 383 
Scholz 247 
Schön 560 
Schönstedt 530 
Schröder (Heidelberg) 131 
Schüle 61, 128 
Schultze (Bonn) 19, 127, 
129, 130 

Schultze, E., (Andernach) 
2, 140, 300, 385, 386 
Schwalbe 128 
Schwartzer v. Babarcz 429 
Seeligmüller 129 
Seifert 385 
Sickinger 323 
Siefert 420 
Sighele 444 

Siemens bo, 86, 87, 204, 
502 

Silbersrlimidt 12 
Simpson 10 
Smith 402 
Snell, R., 93, 173 
Soury 391 
Soutzo 277 
Stadelmann 165, 411 
Starlinger 97, 421 
Stegmann 385 
Steiner 387 
Steckei 330 
Stemberg 332, 338 
Sticher 129 
Stier 38, 315 
Stockmaus 278 
Stransky 340 
Sträussler 331 
Strohmayer 384 
Struelens 464 
Strümpell 129 
Sutherland 463, 464 
Szigeti 431, 450, 462 
Szeszy, v. 451 

Taquet 76 

Tamburini 36, 62, 277, 286 
Taniguchi 375 


Telegdi 431, 451, 478 
Trachini 444 
Theilhaber 480 
Thomson 386, 387 
Thudichum 248 
Tilkowsky 534 
Treitel 76 
Treves 464 
Truelle 391 
Tschisch, v. 454, 464 

Ulrich 278 
Ungar 386 
Vaschide 391 
Vogt 217 
Voigt 51, 94 
Vorster 242 
Voss, v. 549 
Vulpas 391 
Vulpius 127 

Wallenberg 205 
Wagner, v. 338 
Weber (Sonnenstein) 385 
Weber (Göttingen) 94, 176, 
419 

Wehmer 247 
Weichelt 225 
Weil, M., 414 
Wellenberg 444 
Westphal 95 

Weygandt 129, 162, 299, 
30. 380,539 
Wickel 204 
Wichmann 144 
Wiedemann 401 
Wiener 339 
Wigles worth 119 
Wilcox 120 
Wildermuth 401 
Wille 279 
Willmanns 417 
Winkler 128 
Witthauer 171 
Wolff 87 

Wollenberg 300, 413 
Würth 316 

Zacher 387 
Ziehen 571 
Zimmer 570 
Zimmermann 43 
Zuccarelli 464 


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