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8 The Fenway.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer,
Uchtaprinue (Altnmrkl. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland).
Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini,
Frankfurt a. M Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom.
Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel, Direktor Dr. Olah, Direktor Dr. Ritti,
Leipzig Mons (Belgien). Budapest. St. Maurice (Seine).
Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart, Dr. ined. et phil. W. Weygandt,
Andernach. Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler
Kraschnit/ (Schlesieni
- - Vierter Jahrgang 1902 1903. :
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Neurologie, dessen Präsidium v. Krafft-Ebing durch
io Jahre innegehabt hatte, Professor Obersteiner
das Wort und überreichte dem Jubilar eine Festschrift
des Vereines mit zahlreichen Beiträgen von seinen
Schülern und Freunden, darunter von seinen Studien-,
collegen Professor Erb und Professor Schule.
Hierauf ergriff der älteste Assistent der Klinik,
Docent Dr. v. Sölder das Wort und wünschte dem
Meister Glück für den heutigen Tag sowie für die
Zukunft.
Danach beglückwünschten den Jubilar Decan Pro¬
fessor Kolisko Namens der Wiener medicinischcn
Facultät, Hofrath Chrobak Namens der Gesellschaft
der Aerzte, Primararzt Dr. Redtersbacher für die
Direction des allgemeinen Krankenhauses, Hofrath
Nothnagel im Namen der Gesellschaft für innere
Medicin, Regierungsrath Svetlin Namens der prak¬
tischen Aerzte, Professor A. Pick Namens der Prager
medicinischen Facultät und Dr. Subotic Namens
des Serbischen Aerzte Vereins.
Auf diese Kundgebungen erwiderte Hofrath
v. Krafft-Ebing folgendes: „Ich stehe verwirrt, be¬
schämt vor Ihnen und weiss nicht, wie ich es an¬
fangen soll, Ihnen allen zu danken. Ich habe nie
[Nr. i.
darüber nachgedacht, was ich eigentlich wcrth bin.
Ich habe nur immer gestrebt, mir die Achtung meiner
Mitmenschen zu erwerben und die Freundschaft
meiner Collegen, und es scheint mir dies gelungen
zu sein. Für die Psychiatrie kann Niemand etwas
Grosses leisten; das ist eine Wissenschaft, die in
einem Menschenleben kaum erfasst und ergründet
werden kann. Es ist möglich, dass ich einige Bau¬
steine füri den Bau der Psychiatrie der Zukunft bei¬
getragen habe, und hoffe, dass zahlreiche Schüler
durch einfache klinische, unermüdliche, voraussetzungs¬
lose Beobachtungen die Wissenschaft fördern und so
mein Andenken ehren werden.“ Hierauf gab Pro¬
fessor v. Krafft-Ebing eine Schilderung seines Lebens¬
laufes, die auch hinsichtlich des von ihm in der Psy¬
chiatrie Erstrebten und Erreichten höchst interessant
war. Damit schloss die Feier.
Für den Abend war vom Vereine für Psychiatrie
und Neurologie ein Festmahl zu Ehren des Jubilars
veranstaltet worden, das bei zahlreichem Besuche
sehr animirt verlief und bei dem auch die zahlreichen,
aus Nah und Feme eingelangten brieflichen und
telegraphischen Glückwünsche verlesen wurden.
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie.
Aus der juristischen Fachlitteratur des Jahres 1901 zusammengestellt
von Dr. Ernst Schultee , Andernach.
I. Strafgesetzbuch.
§ 5i-
ie Verteidigung hätte mit Rücksicht auf die Art
ihrer Abweisung in den Entscheidungsgründen
das ausdrückliche Eingehen auf die Frage nothwcndig
gemacht, ob die Angeklagte das Bewusstsein von der
ehrenkränkenden und herab würdigenden Natur ihrer
gegen den Königlichen Landrath und den Freiherrn
v. F. erhobenen üblen Nachreden gehabt habe. Das
Urtheil sagt zwar, die Angeklagte habe das Gut D.
ganz selbständig und mit grosser Sachkunde verwaltet,
welche Aufgabe eine Frau von „im Allgemeinen“ auch
nur wesentlich verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht
hätte erfüllen können, und spricht der Angeklagten
ausserordentlich gutes Erinnerungsvermögen zu. Allein
dies Alles hat mit dem erwähnten Bewusstsein, das
ein Erkennungsvermögen in ganz anderer und beson¬
derer Richtung voraussetzt, nichts zu thun. Dagegen
ist bei der Strafzumessung erwogen, dass die Ange¬
klagte häufiger starken Aufregungen und nervösen
Ueberreizungen unterworfen und von schweren Krank¬
heiten heimgesucht worden sei, die nicht ohne Einfluss
auf ihr Gemüthsleben bleiben konnten. Hierauf wird
die Feststellung gegründet, „dass in dieser Beschränkung
sogar im Allgemeinen eine geminderte Zurechnungs¬
fähigkeit“ angenommen werden könne. Es ist unklar,
was die Strafkammer hierunter versteht, insbesondere
welche Beschränkung sie annimmt und welche Seite
der Zurechnungsfähigkeit sic für gemindert hält. Dies
ist ein Mangel, der gleichfalls zur Aufhebung des
Urtheils führt; denn es ist nicht ausgeschlossen und
mit diesen Entscheidungsgründen wohl vereinbar, dass
das überreizte Gemüthsleben gerade die klare Einsicht
in die beleidigende Natur ihrer Aeusserungcn getrübt
und dass die Minderung ihrer Zurechnungsfähigkeit
gerade in der Einseitigkeit ihres Gedankenkreises
bestanden hat, vermöge deren sie die Nebenwirkungen
der Verfolgung einer fixen Idee, hier die beleidigende
Natur ihrer Verfolgungsthätigkeit, ganz übersehen oder
nicht erkannt hat. Eine solche fixe Idee stellt das
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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Urtheil fest. Die Angeklagte betrachtet sich, weil ein
Gendarm, den sie zur Einschreitung gegen Wilderer
veranlasst zu haben glaubt, von einem Wilderer er¬
schossen worden ist, als die Ursache der „Erschiessung“
und hält es für ihre Pflicht, nicht eher zu ruhen, bis
der „Mörder“ entdeckt ist. Sie nimmt an, dass Frei¬
herr v. F. dabei betheiligt gewesen sei, und diese
Bezichtigung ist im Wesentlichen der Gegenstand der
beleidigenden Briefe an ihn, seine'Frau und andere
Personen; die Beleidigungen des Königlichen Lancl-
rathes stehen damit in innerem Zusammenhänge. Da
die Urtheilsgründe die Behauptung der Angeklagten
für glaubwürdig erklären, dass sie fortdauernd ihrer
Pflicht gemäss von dem Motive beseelt gewesen sei,
zur Aufklärung der folgenschweren dunklen That nach
Kräften beizutragen, so scheint die Strafkammer zu¬
zugeben, dass auch die fraglichen Briefe diesen Zweck
verfolgten. Verfolgte sie nun diesen Zweck bei „im
Allgemeinen geminderter Zurechnungsfähigkeit“, so
bestand umsomehr Anlass, zu untersuchen und fest¬
zustellen, ob davon nicht das Bewusstsein der beleidigen¬
den Nebenwirkung berührt und ausgeschlossen war,
als die Vertheidigung der Angeklagten, sie wisse nicht,
was sie geschrieben oder gesagt habe, da sie zur Zeit
krank war (laut Sitzungsprotokoll), offenbar dieses
Bewusstsein — wie jedes andere — ausdrücklich
bestritten hatte. Statt dessen spricht das Urtheil nur
davon, dass die Beleidigten die betreffenden Aeusse-
rungen'als Angriffe auf ihre Ehre empfunden haben,
und dass die Angeklagte die Pflicht erkennen musste,
die Ehre ihrer Mitmenschen nicht freventlich anzutasten.
Dass hiermit nicht gesagt ist, sic habe bewusst gegen
diese Pflicht gehandelt, liegt zu Tage.
Urtheil des I. Sen. vom io. Juni 1901. 1872.
1901. J. W.*) pag. öoi.
$ 65 Abs. 3.
Der von dem Vormunde in eigenem Namen und
nicht in Vertretung des Entmündigten gestellte Straf¬
antrag ist unwirksam, wenn der Bevormundete be¬
schränkt geschäftsfähig, also nicht wegen Geistes¬
krankheit, sondern nur wegen Geistesschwäche oder
aus andern Gründen entmündigt ist. Für die Be-
urtheilung der Geschäftsfähigkeit ist der Entmündigungs¬
beschluss maassgebend.
Urtheil des IV. Sen. vom 18. Januar 1901.
J. W. pag. 433.
§ x 75-
„Unzucht“ ist nicht denkbar, ohne dass wenigstens
ein Theil in wollüstiger Absicht handelt. Dagegen
braucht diese nicht noth wendig auch bei dem andern
*) Juristische Wochenschrift.
vorzuliegen. Es genügt, dass dieser auch seinerseits
bewusster- oder gewolltermaassen zu der beischlafs¬
ähnlichen Handlung mitwirkt, sie insoweit selbst vor¬
nimmt oder duldet, und zwar in Kenntniss
davon, dass der Andere dabei in der Absicht der Er¬
regung oder Befriedigung seines Geschlechtstriebes
handelt.
Urtheil des II. Sen. vom 29. März 1901. 632.
1901. J. W. pag. 436.
§ 230.
Die Angeklagte hatte als Oberin des Kranken¬
hauses die Anordnungen des dirigirenden Arztes Dr.
B. zu befolgen. Dabei war es ihre Berufspflicht, mit
der ihr möglichen durch die Umstände gebotenen Sorg¬
falt im Einzelfalle zu prüfen, ob die Voraussetzungen
Vorlagen, für welche die von ihm im voraus erlassenen
allgemeinen Anordnungen getroffen waren, und zu
erwägen, dass derartige Anordnungen alle denkbaren
Besonderheiten eines jeden einzelnen Falles nicht er¬
schöpfen können. Gelangte sie bei ihrer sorgsamen
Prüfung zu der Ansicht, dass die Voraussetzungen
einer allgemeinen Anordnung gegeben waren,
so hatte sie dieser einfach Folge zu leisten. Sie
würde pflichtwidrig gehandelt haben, w^enn sie selb¬
ständig von der Vorschrift abgewichen w r äre, weil sie
etw a nach ihrem eigenen Ermessen eine andere Maass-
nahme für geboten erachtet hätte. Sie war nicht
berechtigt, ihre eigene Ansicht höher zu stellen, als
die des Krankenhausarztes; sie war nicht verpflichtet,
ihm Gegenvorstellungen zu machen. Gewinn sie aber
bei ihrer Prüfung die Meinung, es sei unwahrscheinlich
oder doch ungewiss, ob die thatsächlichen Voraus¬
setzungen der allgemeinen Anordnung Vorlagen, so
hatte sie, weil es für solche zweifelhaften Fälle an
einer zutreffenden Anordnung fehlte, je nach den
Umständen entweder die Bestimmung des Arztes ein¬
zuholen oder selbst, wenigstens vorläufig, Bestimmung
zu treffen. In diesem Sinne ist der Satz des ange¬
fochtenen Urtheils zu verstehen oder nur als richtig
anzuerkennen: „Eine Oberin, die, wie die Angeklagte,
bereits ib Jahre in ihrem Berufeist, hat nicht wällen¬
los und blindlings die von dem Arzt getroffenen
Anordnungen auszuführen, sondern sie hat nach ihrem
pflichtmässigen Ermessen zu prüfen, ob dieselben an¬
gebracht erscheinen oder nicht.“ Die Angeklagte hat
in Beziehung auf K., nachdem sie in dem Aufnahme¬
schein als Grund der Aufnahme das delirium tremens
gelesen hatte, diejenigen Anweisungen einfach befolgt,
welche der Krankenhausarzt für den Fall der Ein¬
lieferung eines an delirium tremens leidenden Kranken
allgemein ertheilt hatte: sie hat K. ohne Benach¬
richtigung des Arztes in die Tobzelle bringen und
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i.
hier ohne Bewachung bis zu dem täglichen Kranken¬
besuche des Arztes verbleiben lassen. Das Urtheil
giebt keine Gründe an, weshalb die Angeklagte bei
gehöriger Erwägung, etwa wegen des Grades der
Erkrankung, hätte erkennen müssen, dass der vor¬
liegende Fall ein solcher sei, welcher unter die all¬
gemeine Anweisung nicht oder vielleicht nicht falle.
Sie hat nach Einsicht des keine Andeutung über eine
andere vorhergehende oder fortdauernde Erkrankung
enthaltenden Aufnahmescheines des Sanitätsraths Dr.
C. und nach Empfang der Anzeige über die grosse
Unruhe des Kranken erklärt, die Angehörigen hätten
die Unwahrheit betreffs der Krankheit gesagt; es ist
nicht für widerlegt erachtet, dass sie bei ihrer Maass-
nahme die Angaben des Sohnes und der Tochter des K.
über die Rippenfellentzündung ihres Vaters für unwahr
gehalten hat; es ist nicht festgestellt, dass und weshalb
dieser ihr Glaube etwa ein fahrlässig verschuldeter
war. Nach den Urtheilsgründen „musste sich die
Angeklagte bei ihrer langjährigen Thätigkeit sagen,
dass das Verbringen eines solchen Kranken ohne jede
ärztliche Untersuchung und ohne jegliche Bewachung
in die ihr wohlbekannte Tobzelle sehr wohl geeignet
war, an dem Kranken derartige schwere Verletzungen,
w'ie bei K. geschehen, herbeizuführen.“ Anscheinend
ist gemeint, die Angeklagte habe die Untersuchung
veranlassen müssen, damit der Arzt über die Ein¬
schliessung in der Tobzelle und die dabei einzuhalten¬
den Maassregeln entscheide. Aber weshalb sie dies
hätte thun müssen, obgleich der Arzt allgemein seine
zuvorige Benachrichtigung als unnöthig bezeichnet hatte,
ist nicht gesagt und aus den Worten „eines solchen
Kranken“ nicht zu entnehmen. Dass eine Bewachung
die Selbstverletzungen unmöglich gemacht haben würde,
ist festgestellt. Aber wenn auch die Tobzelle mit
ihren vier nackten Wänden und ihrer eisenbeschlagenen
Thür den Tobsüchtigen Mangels Bewachung Gelegen¬
heit zu Selbstverletzungen gab, so war doch dieser
Umstand für den Arzt nicht ausreichend gewesen,
stets eine Bewachung darin anzuordnen. Es fehlt im
Urtheil an der Angabe eines Grundes, weshalb die
Angeklagte, welche sich die Gefährdung des Kranken
beim Unterbleiben einer Bewachung klar machen
musste, berechtigt und verpflichtet war, der Bestimmung
des Arztes, welcher eben diese den Kranken gefähr¬
dende Behandlungsweise vorgeschrieben hatte, nicht
Folge zu leisten.
Urtheil des III. Sen. vom io. Dezember 1900.
4200. 1900. J. W. pag. 278.
II. Strafprocessordnung.
§ 5i-
Der Mangel einer genügenden Vorstellung von
dem Wesen und der Bedeutung des Eides, welcher
nach dieser Vorschrift die Unterlassung der Beeidigung
rechtfertigt, muss auf mangelnder Verstandesreife oder
auf Verstandesschwäche beruhen. Eine Ausdehnung
auf andere Gründe ist unstatthaft. Verhindert Trunken¬
heit den Zeugen, die Aussage wahrheitsgetreu und im
Bewusstsein der mit der Eidesleistung zu übernehmen¬
den Verantwortlichkeit zu machen, so hat das Gericht
die Vernehmung und Beeidigung bis zur Hebung
des Hindernisses zu verschieben, also in einen späteren
Abschnitt der nöthigenfalls zu unterbrechenden Haupt¬
verhandlung zu verlegen oder Aussetzung der Ver¬
handlung anzuordnen.
Urtheil des III. Sen. vom 10. Juni 1901. 1925.
1901. J. W. pag. 687.
§§ 56, 260.
Die Vernehmung eines Geisteskranken als Zeugen
ist zulässig und in § 56 Str. P. Ö. vorgesehen, indem
der daselbst Nr. 1 gebrauchte Ausdruc k Verstandes¬
schwäche die Geisteskrankheit mit umfasst.
Urtheil des II. Sen. vom 9. Oktober iqoo. 3479.
1 900. J. W. pag. 283.
§ 72 .
Die Revision rügt, die Vernehmung des Dr. S.
habe in unzulässiger Weise, unter Verletzung der
Mündlichkeit des Verfahrens, stattgefunden. Dieser
Sachverständige sei fast taub, so dass er nicht im
Stande sei, die an ihn gerichteten Fragen zu verstehen ;
er habe sich in der öffentlichen Sitzung einer Mittels¬
person, des P. bedient, der die vom Vorsitzenden an
jenen gerichteten Fragen rasch zu Papier gebracht
und ihm vor Augen gehalten habe, w r orauf die Ant¬
wort erfolgte. P. aber sei nicht als Dolmetscher
vereidigt und nur stillschweigend geduldet worden.
Nach amtlicher Auskunft des Vorsitzenden ist Dr. S.
schwerhörig; „er lässt sich“, sagt der Vorsitzende,
„die an ihn gestellten Fragen, um jedem Missverständ¬
nisse vorzubeugen, durch eine Mittelsperson auf¬
schreiben. Da ich aus den Antworten des Sachver¬
ständigen ersah, dass er meine Fragen stets richtig auf¬
gefasst hatte, habe ich diese Art der Verständigung
für zulässig erachtet.“ Obgleich diese Erklärung nicht
einer Beurkundung im Sitzungsprotokoll gleichkommt,
kann sie doch, als zu Gunsten der Revision lautend
nicht unberücksichtigt bleiben. Das darin zugegebene
Verfahren erscheint in hohem Grade bedenklich, zu¬
mal, da es scheint, dass es, wie die Revision ein-
fliessen lässt, bei Vernehmungen des genannten Sach¬
verständigen sogar stets eingehalten zu werden pflegt.
Von einer Verpflichtung, überhaupt von den persön¬
lichen Eigenschaften der jeweiligen Mittelsperson ist
in der Erklärung keine Rede. Doch kann eine Ver-
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i(j02 J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
letzung des Grundsatzes der Mündlichkeit oder einer
bestimmten Vorschrift der Str. P. O. nicht in dem,
was der Vorsitzende zugiebt, gefunden werden. Denn
hiernach wurden von ihm die Fragen mündlich gestellt
und diese von dem Sachverständigen mündlich be¬
antwortet. Und wenn der Vorsitzende, wie er be¬
hauptet, sich überzeugte, dass der Sachverständige
die Fragen richtig aufgefasst habe, so muss an¬
genommen werden, dass diese Antworten jeden Zweifel
hierüber ausgeschlossen haben. Da der Sachver¬
ständige nicht taub war, war die Zuziehung eines
Dolmetschers nicht geboten und hatte eine Belehrung
oder Vereidigung der Mittelsperson, deren sich nicht
der Vorsitzende, sondern der Sachverständige, um
jedem Missverständnisse vorzubeugen, bediente, nicht
stattzufinden. Sache der Processleitung wäre es
gewesen, eine solche Einmischung eines Unberufenen
zurückzu weisen ; aber da die Unterlassung nicht be¬
anstandet wurde, konnte die Revision keinen Erfolg
haben. Denn dass die Schwerhörigkeit des Sachver¬
ständigen ihn hinderte, die Einlassung des Angeklagten,
die Aussagen der Zeugen, die Ausführungen des Staats¬
anwaltes und Vertheidigers zu hören, ist nicht er¬
sichtlich; im gegebenen Falle waren Zeugen überhaupt
nicht vernommen, und der Vertheidiger hat nicht
behauptet, den Versuch gemacht zu haben, direkte
Fragen ! an den Sachverständigen zu stellen; seine
hierauf bezüglichen Bemerkungen in der Revisions¬
schrift sind darum nicht geeignet, den einzigen Gerichts¬
beschluss, der in der Hauptverhandlung erlassen worden
ist, nämlich die Ablehnung des Antrags auf Ver¬
nehmung eines anderen Sachverständigen als auf einer
Gesetzesverletzung beruhend, nachzuweisen.
Unheil des I. Sen. vom 11. März 1901. 400.
1901. J. W. pag. 40b.
$ 79-
Dem Revidenten ist zuzugeben, dass die Str. P. O.
eine Beeidigung von Sachverständigen nur in ver¬
sprechender Form kennt. W enn aber im vorliegenden
Falle der Zeuge S. bald nach Beginn seiner Ver¬
nehmung und nachdem sich herausgestellt hatte, dass
seine Aussage zum Thcile die eines sachverständigen
Zeugen wurde oder in einzelnen Punkten sich zu
einem Gutachten gestaltete, „den gesetzlichen Sach¬
verständigeneid geleistet hat“ und dann des Weiteren
vernommen ist, so lässt sich dem nicht entnehmen,
dass er nicht Alles, wofür seine Eigenschaft als Sach¬
verständiger in Betracht kam, nach seiner Eidesleistung
ausgesagt hat. Die Wiedergabe seiner Aussage im
Sitzungsprotokolle ist für deren Inhalt nicht beweisend,
da dieses zu ihrer Beurkundung nicht bestimmt ist
273 der Str. P. O.j. Hält man sich aber an den
Wortlaut des Sitzungsprotokolles, so hat der Sach¬
verständige nach seiner Beeidigung erklärt, dass er
Alles, was er gutachtlich ausgesagt habe, auf diesen
Eid nehme, und damit der Sache nach dieses wieder¬
holt, sodass es durch den Sachverständigeneid gedeckt
ist. Im Uebrigen ist im Allgemeinen der von S. vor
seiner Vernehmung geleistete Zeugeneid auch zur
eidlichen Bestärkung einzelner in der Aussage ent¬
haltener Urtheile und gutachtlicher Aeusserungen ge¬
eignet (vergl. Entsch. des R. G. Bd. 3, S. 100).
Urtheil des III. Sen. vom 7. Januar iqoo. 4815.
I 9 no * J. W. pag. 497.
III. Bürgerliches Gesetzbuch.
§ 0. z. 1.
Die Voraussetzungen der zur Entmündigung führen¬
den Geistesschwäche sind bei demjenigen gegeben,
der infolge seines geistigen Defektes sich in intellek¬
tueller und ethischer Hinsicht ungefähr auf der Ent-
wickelungsstufc eines Minderjährigen, der das 7. Lebens¬
jahr überschritten hat, befindet. Der Geistessc hwache
darf nicht befähigt sein, seine Angelegenheiten im
allgemeinen selbständig zu besorgen, muss aber im
Stande sein, unter der schützenden Aufsicht eines
Vormundes bei Besorgung dieser Angelegenheiten mit¬
zuwirken.
(O.-L.-G. Karlsruhe, 30. Mai iqoi.)
D. R.*) Entscheidungen Nr. 1460.
$ b. Z. 1.
Unfähigkeit zur Besorgung einzelner Angelegen¬
heiten rechtfertigt nicht die Entmündigung,
(R. G. 20. Oktober 1000).
D. R. Entsc heidung Nr. 2305.
£ b. Z. I.
Auch wenn sich die geistige Erkrankung in den
Formen des Querulantenwahnsinns zeigt, kann eine
Entmündigung nur eintreten, wenn die Wahnideen
die Person in allen ihren Lebensbethätigungcn erfasst
haben, sie nach allen Richtungen in der Art be¬
herrschen, dass eine allgemeine geistige Erkrankung als
vorhanden angesehen werden muss.
(O.-L.-G. Hamburg, 1. April iqoi.)
D. R. Entscheidungen Xr. 1462.
$ 6. Z. 1, jüv 104.
Ein Geisteskranker kann geschäftsfähig sein.
Der Beklagte ist nach dem Gutachten erheblich
psychisch krank. Die Thatsache, dass jemand geistes¬
krank ist, ist für sich allein weder für die Frage, ob
der Kranke entmündigt werden kann, noch für die
*) Das Recht.
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6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i.
Frage, ob er auch ohne Entmündigung für geschäfts¬
fähig zu erachten ist, irgendwie entscheidend.
Vergl. §§ 6 Ziff. i, 104 B. G. B.
(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1901.)
D. R. Entscheidungen Nr. 1461.
Zu vj 6. sowie Art. 155 E. G. z. B. G. B.
1. § 0 B. G. B. enthält gegenüber dem Badischen
Landrechtssatz 489 eine Aenderung, da er zwischen
Geistesstörung und Geistesschwäche unterscheidet.
In beiden Richtungen wird ein geistiger Defekt
unterstellt; Geistesstörung und Geistesschwäche unter¬
scheiden sich nur dem Grade nach und dadurch, dass
in dem einen Falle der geistig Erkrankte seine An¬
gelegenheiten absolut nicht zu besorgen vermag,
während ihm im anderen Falle nur die Fähigkeit zur
selbständigen Besorgung, nicht diejenige zur Mit¬
wirkung dabei fehlt. Hiernach ist bei einem geistigen
Defekt, der nach dem Badischen Landrecht zu einer
Entmündigung führen könnte, nach dem neuen Recht
zu prüfen, ob er als Geisteskrankheit oder als Geistes¬
schwäche anzusehen sei.
2. Aus der Natur des Anfechtungsverfahrens be¬
züglich der Entmündigung ist nicht die Folgerung zu
ziehen, dass nur das zur Zeit des Entmündigungs¬
beschlusses geltende Recht zur Anwendung kommen
dürfe.
Vielmehr ergiebt sich daraus, dass es sich dabei
um ein Statusrecht handelt, sowie aus Art. 155 des
E. G. zum B. G. B., dass auch in dem Anfechtungs¬
verfahren, das sich auf eine vor dem 1. Jan. 1900
beschlossene Entmündigung bezieht, das neue materielle
Recht zur Anwendung kommt. Dass ein Antrag auf
Entmündigung wegen Geistesschwäche im Sinne des
B. G. B. vorliegt, ist in dieser Beziehung nicht er¬
forderlich ; denn die Gerichte sind bei der Ent¬
scheidung über den Grad der Entmündigung an den
Inhalt des Antrages nicht gebunden.
Urtheil des R. G. vom 20. Novbr. 1900 i. S.
Rep. II Nr. 260/00. (Ebenso Entscheid, des V. C.
S. des R. G. in einem Urtheile vom 29. N. 1900).
D. R. Entscheidung Nr. I.
§ 6. Z. 2.
Die Entmündigung kann stattfinden, wenn der zu
Entmündigende arbeitsscheu ist und erheblich mehr
als di<? jährlichen Einkünfte seines Vermögens ver¬
braucht.
(O.-L.-G. Rostock, 1. Oktober 1900).
D. R. Entscheidungen Nr. 1309.
§ 6. Z. 2.
Verschwendung für sich genommen ist der Hang
einer Person zu sinnloser, ihren Vermögensverhältnissen
nicht entsprechender Vergeudung des Vermögens.
(R. G. IV. 20. Mai 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1690.
§ 6. Z. 3. § 1906.
Während des Entmündigungsverfahrens wegen Ver¬
schwendung kann das Vormundschaftsgericht gemäss
§ 1906 den zu Entmündigenden unter vorläufige Vor¬
mundschaft stellen. Diese endigt unter den in § 1908
aufgeführten Voraussetzungen und schafft nur einen
vorübergehenden Zustand, der erst durch den Hin¬
zutritt der Entmündigung sich in einen endgültigen
verwandelt.
(L.-G. Kaiserslautern, 22. September 1900).
D. R. Entscheidung Nr. 244.
§ 6. A. 2.
Erkenntniss des Reichsgerichts IV. C. S. i. S. v. d.
Luhe c. v. Oertzen vom 20. Mai 1901, Nr. 92/1901 IV.
II. J. O. L. G. Rostock.
Gründe:
Mit Recht macht hiergegen die Revision geltend,
dass zur Begründung der auf Wiederaufhebung der
Entmündigung gerichteten Klage nur gehört, dass nach
derjetzigenS ach läge die Voraussetzungen der Ent¬
mündigung nicht vorliegen, nicht aber, dass auch eine
Besserung des Entmündigten eingetreten ist. Liegen
nach der jetzigen Sachlage die Voraussetzungen der Ent¬
mündigung nicht vor, so ist der Grund der Entmündigung
weggefallen und deshalb die Entmündigung aufzuheben.
Das Erfordemiss einer „Besserung“ als Voraussetzung
der Wiederaufhebung der Entmündigung bedingt die
Heranziehung des früheren Zustandes zur Vergleichung
mit dem jetzigen Zustande als entscheidenden Maass¬
stab auch für die Wiederaufhebung der Entmündigung;
damit wird aber dem früheren Zustande eine Trag¬
weite beigelegt, die er nicht haben kann und auch
nicht haben darf. Denn bei der Wiederaufhebung
kommt ausschliesslich der gegenwärtige Zustand in
Frage; ist danach der Entmündigte frei von dem
Mangel, auf dem seine Entmündigung beruht, der
wegen Verschwendung Entmündigte also insbesondere
mit dem Hange zu sinnloser Vermögensvergeudung
nicht behaftet, so besteht kein Grund für die Aufrecht¬
erhaltung der Entmündigung und ist diese aufzuheben,
ohne dass zu prüfen ist, ob eine „Besserung“ im
Vergleich zu dem früheren Zustande cingetreten ist.
Es ist nicht nur kein Grund ersichtlich, weshalb gegen¬
über dem Nachweise, dass der Entmündigte jetzt mit
dem für seine Entmündigung erforderlichen Mangel
nicht behaftet ist, die Wiederaufhebung noch von
dem Nachweise einer Besserung im Verhältnis zu
dem früheren Zustande abhängig gemacht werden
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1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
sollte; es steht ein solches Verlangen auch geradezu
mit dem Gesetze in Widerspruch, nach welchem die
Entmündigung bei dem Wegfalle ihres Grundes ohne
weiteres aufzuheben ist. Mit Recht weist die Revision
auf die mit dem Verlangen einer „Besserung“ als
Voraussetzung der Wiederaufhebung der Entmündigung
verbundene unannehmbare Folge hin, dass danach ein
in Folge unzutreffender Würdigung des früheren Zu¬
standes unzutreffend für geisteskrank oder für einen
Verschwender erklärter Entmündigter, der in Wirklich¬
keit gar nicht geisteskrank oder gar kein Verschwender
war, die Wiederaufhebung der Entmündigung niemals
würde erreichen können, da seiner Klage stets der
Einwand entgegenstände, dass er so gesund, so haus¬
hälterisch, wie jetzt, schon zur Zeit der Entmündigung
gewesen, also eine Aenderung zum Besseren nicht ein¬
getreten sei. J. W. pag. 476.
S 7. '
Zur Begründung eines Wohnsitzes wird in der
Regel erfordert, dass die Person an einem Orte sich
niederlässt und den Willen hat, dass dieser Ort auf
die Dauer des Mittelpunkt ihrer Verhältnisse und
Thätigkeit bilden soll.
(O.-L.-G. Köln, 27. März 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 2175.
$ «.
Selbst bei lebenslanger Festhaltung des Geistes¬
kranken in der Heilanstalt muss der ursprüngliche
Wohnsitz begrifflich solange fortdauem, bis der Vor¬
mund namens des Entmündigten den Willen kund
giebt, den Wohnsitz an den Ort zu verlegen, wo sich
die Heilanstalt befindet. Eine solche Kundgebung
kann in der Erklärung an sich nicht erblickt werden,
durch die der Vormund dem Aufenthalt und der
Verpflegung in der Anstalt zustimmt.
(O.-L.-G. Karlsruhe, 6. Dezember 1900).
D. R. Entscheidungen Nr. 14Ö4.
§ Io 4-
Das Prozessgericht ist auch durch den dispositiven
Theil des Entmündigungsbeschlusses nicht gebunden
und kann daher annehmen, dass jemand gemäss § 104
Nr. 2 B. G. B. geschäftsunfähig ist, auch wenn derselbe
lediglich wegen Geistesschwäche entmündigt worden
ist.
Urtheil des O.-L.-G. München vom 27. Februar
1901. D. R. Entscheidungen Nr. 13 11.
823, 826.
Nicht schon jede, die freie Willensbestimmung des
anderen irgendwie beeinflussende Einwirkung ist unter
den Begriff der Freiheitsverletzung zu stellen.
R. G. VI. 11. IV. 1901.
D. R. Entscheidungen Nr. 1161.
§ 828. A. 2..
1. Um den Thäter von der Verantwortung zu
befreien, genügt es nicht schon, wenn ihm die zur
Erkenntniss der Gefährlichkeit der Handlung erforder¬
liche Einsicht fehlte, w’ährend andererseits auch hier
nicht Voraussehbarkeit des Schadens erfordert wird.
2. Der Thäter ist für den Mangel der Einsicht
beweispflichtig.
(O.-L.-G. Dresden, 20. September 1901).
D. R. Entscheidung 2461.
§ 832.
Der Aufsichtspflicht, ist genügt, wenn im allgemeinen
die zur Beaufsichtigung der Minderjährigen erforder¬
lichen Maassnahmen getroffen sind, ohne dass es da¬
rauf ankommt, ob eine genügende Beaufsichtigung
gerade hinsichtlich der schädigenden Handlung statt-
gefunden hat.
(O.-L.-G. Kiel, 29. April 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1479.
§ L5b8.
Bei Entscheidung der Frage, ob schwere Pflicht¬
verletzungen vorliegen, kann das subjektive Moment,
die Aufgeregtheit und die demzufolge fehlende bös¬
liche Absicht, in Erwägung gezogen werden.
(R.-G. IV. 13. Dezbr. 1900.)
D. R. Entscheidung Nr. 673.
§ 1368.
Wenn auch das Unvermögen zur Leistung der
ehelichen Pflicht für sich und als solches keinen
Scheidungsgrund bildet, so ist es doch nicht ausge¬
schlossen, dass die Herbeiführung des Unvermögens
durch schuldvolles unsittliches Verhalten den anderen
Ehegatten berechtigt, auf Grund § 1568 die Scheidung
zu verlangen.
(R.-G. IV. 13. Dezember 1900).
D. R. Entscheidung Nr. 476.
§ I3ö8.
Aus diesem Paragraphen kann auf Scheidung geklagt
werden, wenn der Ehemann fortdauernd arbeitsscheu,
trunksüchtig und streitsüchtig ist, auch wenn er einen
Offenbarungseid wissentlich falsch geleistet hat und
deshalb zu längerer Zuchthausstrafe verurthcilt ist.
(O.-L.-G. Rostock II, 26. Oktober 19.00)*
D. R. Entscheidungen Nr. 1340.
£ 1308.
Ist eine Handlung im allgemeinen geeignet, eine
völlige Zerstörung der ehelichen Gesinnung hervor¬
zurufen , so erübrigt sich ein weiteres Eingehen auf
die individuellen Verhältnisse der Ehegatten, solange
nicht besondere Umstände angeführt sind, die eine
Ausnahme begründen könnten. Sind derartige Um-
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8
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. i.
stände nicht geltend gemacht, so bedarf es nicht der
Feststellung ihres Nichtvorhandenseins.
(R.-G. III, 22. Juni 1900).
D. R. Entscheidungen Nr. 1495.
§ I5&9-
Der Paragraph beschränkt sich nicht auf die Fälle
eines geistigen Todes des erkrankten Ehegatten, sondern
verlangt nur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft
durch die Geisteskrankheit, eine solche liegt aber vor,
wenn der kranke Ehegatte nicht mehr im Stande ist,
an dem Lebens- und Gedankenkreis des anderen Ehe¬
gatten irgendwie theilzunehmen.
Die Entstehungsgeschichte des $ 15dg eit. zeigt,
dass nur eine qualificirte Geisteskrankheit zur Ehe¬
scheidung genügen sollte und dass man diese Quali¬
fikation der Geisteskrankheit nicht in ihrer Wirkung
auf die eheliche oder häusliche Lebensgemeinschaft,
sondern in ihrer Wirkung auf die geistige Gemeinschaft
finden wollte (Prot. 2. Lesung S. 5671 ff). Diese
Fassung verbietet es, ausschliesslich den Zustand des
geisteskranken Theils zu beachten; vielmehr ist auch
die Lage des gesunden Ehegatten, zu dessen Gunsten
das Gesetz gemacht ist, in Betracht zu ziehen. Ist der
kranke Theil infolge seiner Geisteskrankheit nicht mehr
im Stande, an dem — hier gewiss einfachen —
Lebens- und Gedankenkreis des anderen Ehegatten
irgendwie theilzunehmen, so kann von einer geistigen
Gemeinschaft zwischen den Ehegatten keine Rede
mehr sein.
Hanseat. O.-L.-G. Urtheil vom 22. I, 01, II 293/00.
D. R. Entscheidung Nr. 571.
§ I 5 & 9 -
Der Mangel des Bewusstseins der mit dem anderen
Ehegatten gemeinsamen Interessen und des Willens,
diesen nach Kräften zu dienen, genügt nicht, vielmehr
hat nur der geistige Tod, also ein Zustand, in welchem
der Kranke die Scheidung nicht mehr empfindet und
nur mehr von einer animalischen Fortexistenz gesprochen
werden kann, als Scheidungsgrund angenommen werden
sollen.
(O.-L.-G. Köln, 23. März 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1181.
§ 1569-
Selbst wenn infolge des Verhaltens des kranken
Theiles ein Zusammenleben der Ehegatten nicht mehr
möglich ist, kann noch eine geistige Gemeinschaft
zwischen ihnen bestehen, so hinsichtlich der Besorgung
vermögensrechtlicher Angelegenheiten und vor allem
hinsichtlich der Fürsorge für das Wohl und die Er¬
ziehung der Kinder.
(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1001).
D. R. Entscheidungen Nr. 1875.
£ 1 3Ö9.
Nach der Entstehungsgeschichte des § 1569 B.
G.B. ist die Annahme gerechtfertigt, dass die gesetz¬
gebenden Faktoren mit dem Ausdruck „Aufhebung
der geistigen Gemeinschaft zwischen den Ehegatten“
nichts anderes sagen wollten, als was bei den Be-
rathungen mit dem bildlichen Ausdruck „geistiger Tod“
zum Ausdruck gebracht wurde, also Zustand völliger
Verblödung. Ob aber die Absicht des Gesetzgebers,
dem Ehcscheidungsgninde des § 1369 so enge Grenzen
zu setzen, im Gesetze hinreichenden Ausdruck gefunden
hat, ob nicht vielmehr die Worte nothwendigerweise
dem Ehescheidungsgrunde eine weitere Ausdehnung
gaben, ist zweifelhaft.
(O.-L.-G. Karlsruhe, 2. Mai 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1496.
(Fortsetzung folgt.)
Mittheilungen.
— Einladung zur Jahresversammlung des
Vereins der deutschen Irrenärzte. Die Ver¬
sammlung wird am Montag, den 14. April und
Dienstag, den 15. April in München statt¬
finden. Beginn Montag Vormittag 9 Uhr im physi¬
kalischen Hörsaal des Polytechnikums.
Tagesordnung:
I. Begrüssung der Versammlung und geschäftliche
Mittheilungen.
II. Referate:
a) Die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund¬
lage. Referent: Herr Dr. Alzheimer in Frank¬
furt a. M.
b) Vorschläge zur Schaffung einer Centralstelle für
Gewinnung statistischen Materials über die Be¬
ziehungen der Geisteskranken. Referent: Herr
Prof. Dr. Ho che in Strassburg i. E.
III. Vorträge:
1. Herr Geh. Hofrath Prof. Dr. B i n swa ng e r (Jena):
Ueber hysterische Myoclonie.
2. Herr Dr. Brosius (Sayn): Ueber den Mangel
an Irren-Patronaten in Deutschland.
3. Herr Dr. Degen kolb (Neustadt): Beiträge zur
Pathologie der kleinen Hirngefässe.
4. Herr Hofrath Prof. Dr. F ü r s t n e r (Strassburg i. E.):
Giebt es eine Pseudoparalyse?
3. Herr Privatdocent Dr. Gudden (München): Bei¬
träge zur Anatomie und topographischen Anatomie
des Hirn Stamms.
6. Herr I)r. Räcke (Kiel): Ueber Hypochondrie.
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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 9
7. Herr Dr. H. Vogt (Göttingen): Ueber Gesichts¬
feldeinengung bei Arteriosklerose.
8 Herr Prof. Dr. A. Westphal (Greifswald): Beitrag
zur Pathogenese der Syringomyelie.
q. Herr Privatdocent Dr. G. Wolff (Basel): Die
physiologische Grundlage der Lehre von den
Degenerationszeichen.
Die Reihenfolge der Vorträge wird am Vorabend
der Versammlung festgesetzt werden.
Die Herren, welche den Projectionsapparat zu
benützen wünschen, werden ersucht, sich an Herrn
Privatdocent Dr. Gudden in München (Steinsdorf¬
strasse 2, 11.) zu wenden.
Nach der Nachmittagssitzung am Montag, den
14. April wird ein gemeinsames Essen im Hotel
Bayrischer Hof (Promenadeplatz) stattfinden. Am
Vorabend der Versammlung, Sonntag, den 13. April,
findet von 8 Uhr ab im Cafe Luitpold (Brienner-
strasse) zwangloses Beisammensein und Begrüssung
der Teilnehmer der Versammlung und ihrer Damen
statt.
Das Lokalcomite besteht aus den Herren Med.-
Rath Prof. Dr. ßumm (als Vorsitzender), Privatdocent
Dr. Gudden und Director der Kreisirrenanstalt Dr.
Vocke. Die Herren haben sich freundlichst bereit
erklärt, über Wohnungsverhältnisse u. s. w. Auskunft
zu geben. Frau Director Vocke wird sich gütigst
der mitkommenden Damen annehmen und ihnen
beim Besuch der Sehenswürdigkeiten Münchens hülf-
rekh sein.
Der Vorstand.
Fiirstner, Strassburg. Hitzig, Halle. Jollv, Berlin.
Kreusser, Schussenried.
Laehr, Zehlendorf. Pelman, Bonn. Siemens, Lauenburg.
— „Ueber die Anrechnung der Detentdonszeit
in einer Irrenanstalt auf die Strafzeit“ macht Dr.
jur. Alfred Manes, Referendar in Göttingen, in der Zeit¬
schrift das „Recht“ (10. III. 1902) folgende beraerkens-
werthe Ausführungen: „Die Aufmerksamkeit, welche
dem Geisteszustand eines Angeklagten geschenkt wird,
hat sich in den letzten Jahren stark vermehrt, und
damit ist die Bedeutung der strafrechtlichen und
strafprozessualen Vorschriften erheblich gestiegen, die
bezüglich des Geisteszustandes des Angeklagten und
seiner Begutachtung Bestimmungen enthalten. Dabei
zeigt sich, dass die in Betracht kommenden Gesetze
einer Verbesserung fähig sind, insbesondere hin¬
sichtlich der Anrechnung der Detentionszeit
in einer Irrenanstalt auf die Strafzeit
des beobachteten und für gesund erklärten Angeklagten.
Die Psychiatrie ist nicht derartig ausgebildet, dass
in allen Fällen ein unzweifelhaftes Gutachten seitens
eines Sachverständigen auf Grund einer mehrstündigen
Beobachtung des' Angeklagten in der Hauptverhand¬
lung oder des Angeschuldigten vor derselben abge¬
geben werden kann. Der § 81 Str. P. O. bestimmt
daher im Abs. 1: Zur Vorbereitung eines Gutachtens
über den Geisteszustand des Angeschuldigten kann
das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach
Anhörung des Vertheidigers anordnen, dass der An¬
geschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht
und dort beobachtet werde. Und im Abs. 4 heisst
es: Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer
von sechs Wochen nicht übersteigen.
Durch diese prozessuale Anordnung wird also eine
Internierung des Angeschuldigten oder Angeklagten
zwecks Untersuchung seines Geisteszustandes möglich.
Diese Untersuchungszeit ist nicht als Unter¬
suchungshaft im Sinne der Strafprozessordnung
anzusehen. Die Bestimmungen über die Untersuch¬
ungshaft finden auf diese Internierung durchaus keine
Anwendung. Sämmtliche Commentare schweigen sich,
soweit ich sehe, über diesen Punkt aus. Eine gegen¬
teilige Ansicht ist mir nicht bekannt. Sie Hesse sich
auch kaum begründen. Es gelten mithin für die
Beobachtungsdetention nach § 81 Str. P. O. nicht die
Vorschriften über die Anrechnung der Unter¬
suchungshaft auf die Strafzeit, § 60 Str. G. B.,
§ 482 Str. P. O.; auch § 493 Str. P. O. kann nicht in Be¬
tracht kommen, welcher die Anrechnung der nach
Beginn der Strafvollstreckung wegen Krankheit in
einer von der Strafanstalt getrennten Krankenanstalt
verbrachten Zeit auf die Strafzeit anordnet.
Hieraus folgt, dass es an gesetzlichen Bestim-
mungen über die Anrechnung der Detentionszeit
fehlt. Und man wird wohl nicht irre gehen, wenn
man dieses Manko aus dem Umstand erklärt, dass
der § 81 Str. P. O. erst in einem späten Stadium des
Gesetzentwurfes in diesen hineingekommen ist, näm¬
lich erst in den Commissionsberathungen, während er
in den Regierungsentwürfen nicht vorhanden war.
Wie so häufig, zeigt sich auch hier, dass bei der¬
gleichen späten Einschiebungen nicht alle ihre C011-
sequenzen ausreichend beachtet werden, sonst hätte
man wohl noch eine weitere Bestimmung getroffen
über die Anrechnung dieser Detentionszeit auf die
Strafzeit.
Dass aber eine solche Anrechnung in zahl¬
reichen Fällen angebracht erscheint, ist wohl
kaum zu bezweifeln. Insbesondere ist eine Nicht¬
anrechnung unbillig in folgendem Fall. In der Haupt¬
verhandlung oder kurz vorher ergeben sich Zweifel
über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Der
herbeigezogene Sachverständige erklärt, ein Gutachten
erst nach genauer Beobachtung in der Irrenanstalt
abgeben zu können, und stellt einen Antrag auf
Ueberweisung dorthin. Der Staatsanwalt stimmt
zu. Der Angeklagte und sein Vertheidiger wider¬
sprechen aus dem Grunde, weil selbst bei sofortiger
Annahme der Zurechnungsfähigkeit die zu erwar¬
tende Strafe — vielleicht nur Geldstrafe — für
den auf freiem Fusse befindlichen Angeklagten ein
weit geringeres Uebel wäre als die sechswöchentliche
Internierung, die ihn und seine Familie brotlos machen
kann und die ihm nicht einmal zu gute kommt, wenn
er aus der Anstalt als geistig normal entlassen wird.
Es ist aber äusserst hart, einem Angeklagten die Kosten
der Detention — nach § 497 Str.P.O. — aufzuerlegen
und in einer erneuten Haupt Verhandlung ihn dann
als zurechnungsfähig erklärten Thäter zu Strafe zu
verurtheilen, auf die die Detention keine Anrechnung
findet.
Es erscheint fraglich, ob die Dententionszeit über¬
haupt bei Bemessung der Strafzeit in Berück-
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I<> PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i.
sichtigung gezogen werden darf, denn das Ge¬
setz bestimmt ausdrücklich und ausschliesslich nur,
dass die Untersuchungshaft in Anrechnung gebracht
werden kann. Auch der Richter, der gewillt wäre,
auf eine kleinere Strafe zu erkennen, weil der Delin¬
quent mehrere Wochen in der Irrenanstalt war, könnte
an der Fassung der bezüglichen Paragraphen be¬
rechtigten Anstoss nehmen.
Die Aufnahme einer Bestimmung in die künftige
Strafprozessordnung in dem hier dargelegten Sinne
erscheint unbedingt erforderlich. Diesem Erfordcmiss
könnte genügt werden durch eine erweiterte Fassung
des öo Str.G.B., die etwa dahin zu lauten hätte:
Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung
des Urtheils auf die erkannte Strafe ganz oder thcil-
weise angerechnet werden. Ebenso die in einer
Irrenanstalt verbrachte Beobachtungszeit.“
— Die alljährliche Konferenz der Landes-
directoren und Landeshauptleute der preussi-
schen Monarchie wird in diesem Jahre in Düssel¬
dorf in den Tagen vom 3. bis 5. Juni abgehalten werden.
— Eine psychiatrische Klinik für die Uni¬
versität Breslau. Ueber eine psychiatrische Klinik
für die Universität Breslau ist, wie aus dem stenogra¬
phischen Bericht über die Sitzung des Abgeordneten¬
hauses am 11. März hervorgeht, nach einer Bemerkung
des Ministerialdirectors Dr. Althoff eine Verständigung
der Unterrichts Verwaltung mit der Finanzverwaltung
so gut wie gesichert.
— Hessen. Wie mitgctheilt wird, dürfte die
für Rheinhessen piojectirte Irrenanstalt nach
Alzey kommen.
— Notiz zur „zellenlosen Behandlung 44 . In
dem neuesten (XXVI.) Jahrgang der Charite-
Annalen giebt Geh. Rath Jolly Erläuterungen zum
Neubau der psvchiatrischcn und Nervenklinik der
Kgl. Charite und lässt sich am Schlüsse derselben
folgendermaassen aus:
„Bezüglich der Isolirzimmer ist zu bemerken, dass
dieselben sämmtlich mit Fenstern aus 2 cm dickem
durchsichtigem Glas in eisernen Rahmen versehen sind
und in üblicher Weise die möglichste Vermeidung
scharfer Ecken und Kanten an den Wänden und
Thüren erkennen lassen. Im Uebrigen machen sie
aber vermöge der Grösse der Fenster einen durchaus
zimmerartigen Eindruck, und es besteht die Absicht,
sie überwiegend nur als solche zu benutzen, um Kranke,
welche durch das Zusammenschlafen mit anderen ge¬
stört werden oder diese selbst stören, während der
Nacht getrennt schlafen zu lassen. Dass sie gelegent¬
lich auch zur Abschliessung aufgeregter Kranker be¬
nutzt werden müssen, ist selbstverständlich. Die
„zellenlose Behandlung“ bis zu dem Extrem durchzu¬
führen, dass man darauf verzieht#, auch sinnlos ver¬
wirrte und aufgeregte Kranke vorübergehend von
ihrer Umgebung abzusperren, halte ich vorläufig , so
lange nicht bessere Mittel zur Verfügung stehen, für
unmöglich. Wohl aber kann ich fcststcllcn, dass wir
selbst unter den verhältnissmässig ungünstigen Ver¬
hältnissen, wie sie die bisherigen Baueinrichtungen
der Charite darboten und trotz des ausserordentlich
grossen Materials an acut erkrankten aufgeregten
Geisteskranken, Epileptischen und Deliranten, durch
systematische Einschränkung der Isolirungen zu auf¬
fallend viel günstigeren Verhältnissen gekommen sind,
als sie früher bestanden und, ich kann wohl hinzu¬
fügen. als wir erwartet hatten. Das extreme Ziel des
Fanatiker braucht in dieser Frage ebenso wenig ver¬
wirklicht zu werden, wie in der Frage der Alcohol-
abstinenz. Aber der Fanatismus hat schon oft das
Gute gehabt, dass er die Grenzen des wirklich Erreich¬
baren erheblich weiter hinausrückte, als es der kühlen
Ueberlegung zunächst möglich erschien, und wenn in
beiden Fragen nur dieser Nutzeffect erzielt wird, so
müssen wir den Fanatikern wenigstens mildernde
Umstände bewilligen“.
Falls die Eiferer der sogenannten „zellenlosen
Behandlung“ diese Ausführungen in loyaler Weise
neben dem früheren Jolly’schen Ausspruch von dem
„Stichworte für das neue Jahrhundert“ citiren werden,
sollen ihnen die mildernden Umstände bewilligt werden.
s.
Referate.
— A m erica n Journal o f I n s a n i t y, April
1 < )<) 1.
1. Francis (). S i m p s o n (Lancaster County
Asylum, Rainhill): Some points in the treatment of
the chronic insane.
S. bespricht die hygienischen, diätetischen und
mechanischen Maassregeln bei der Behandlung chro¬
nischer Geisteskranker; das Pavillonsystem scheint hier
zu kostspielig. Er hält es für weiser, die Kranken
in einfacheren und weniger grossartigen Gebäuden zu
halten, sie in eine Umgebung zu bringen, welche
mehr ihren früheren Gewohnheiten entsprechen und
das Geld, welches so erspart wird, für die Vermeh¬
rung der Aerzte und Wärter zu verwenden. Doch
ist dies nach Ansicht des Ref. sehr wohl mit dem
Pavillonsystem vereinbar, wenn nur nicht prunkende
Villen, sondern ganz einfache Landhäuser gebaut
werden.
Wenn S. behauptet, dass auf dem Festlande auf
105 Kranke etwa 1 Arzt kommt, so wüsste ich nicht
wo (abgesehen von den Kliniken) dieses Verhältniss
erreicht ist. Wimsehenswerth ist dieses Verhältniss
ohne Frage und er fordert mit Recht eine wesent¬
liche Vermehrung der Aerzte (in Rainhill kommt 1 Arzt
auf über 400 Kranke). Desgleichen hält er die
Besserstellung (in Rainhill ca. 9—10 M. wöchentlich
Gehalt) und Vermehrung des Wartcpersonals und
ferner auch die Vermehrung des Personals für nöthig,
damit die Kranken in ausreichender Weise zur Be¬
schäftigung gezogen und angehalten werden können.
Die Bemerkungen über Abfuhr,‘Beleuchtung und
Ventilation bieten nichts Neues.
In Bezug auf die Ernährung der Kranken fordert
S. grössere Abwechslung des Speisezettels und Rück¬
sichtnahme auf die Gewohnheiten der Kranken; täg¬
liche Verabreichung von Fleisch in irgend einer Form
würde auch die Hinfälligkeit und Morbidität herab¬
setzen ; die miserable Ernährung in der Irischen An¬
stalt finde ihren sprechenden Ausdruck in der er-
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. n
schrecklichen Sterblichkeit an Tuberkulose. Die Epi- eines wissenschaftlichen Buches an die Spitze eines
leptiker sollten eine rein vegetarische Diät bekommen.
Von Getränken sei die Wahl zwischen Thee,
Kaffee und Cacao zu lassen, von denen jedoch das
letztere das zweckmässigste sei. Den Werth der Milch
hebt S. nicht genügend hervor. — Was die alkoho¬
lischen Getränke betrifft, so erklärt S.: „Die A b -
Schaffung des Bieres bei den Mahlzeiten
ist so er folg re ich ge wese n, dass es unnöthig
ist eine Praxis zu besprechen, welche cin-
müthig angenommen worden ist. Es genügt
zu bemerken, dass die Verabreichung von Alkohol
an Geisteskranke in irgend einer Form (mit Ausnahme
bei schweren körperlichen Erkrankungen als Medicin)
zu verurtheilen ist“. Eine Untersuchung über den
Einfluss des Alkohols auf die Entstehung von Geistes¬
störungen hat ihm etwa dreimal so hohe Procentzahlen
ergeben als die officiellen Daten zeigen.
Was schliesslich die medicinische Behandlung der
Geisteskranken betrifft, so ist S. ein warmer Verthei-
diger der Isolirungen und der Schlafmittel. Von dem
eigentlichen Wesen der Wachsaalbehandlung scheint S.
keine Ahnung zu haben. Indem er auf eine (wahr¬
scheinlich englische) Arbeit Bezug nimmt, in welcher
der Autor behauptet, dass die chronischen Kranken
von ihren lärmenden, zerstörenden und schmutzigen
Gewohnheiten durch Unterbringung in helle Schlaf¬
räume mit Nachtwärtern geheilt werden können, wirft
er die Frage auf, wie die Gegenwart einer Wartper¬
son oder eines Lichtes auf die jahrelangen üblen Ge¬
wohnheiten oder Degeneration einen Einfluss ausüben
soll, und weist, um die Unmöglichkeit des Verfahrens
zu demonstriren, auf einen Versuch des Directors
von Hawkhead, Dr. Watson hin, welcher eines Abends
16 weibliche Kranke, die wegen ihres lärmenden,
gewaltthätigen und störenden Verhaltens bisher regel¬
mässig in Zellen geschlafen hatten, in einen hellen
Schlafraum unter Aufsicht von 3 Wärterinnen legte
und natürlich bei dieser ingeniösen Insccnirung des
Versuchs denselben schon nach einer Stunde mit einem
glänzenden Misserfolg abschloss.
Als Schlafmittel empfiehlt S. Chlorid, Hyoscyamin und
Hyoscin, warnt aber vor dem regelmässigen Gebrauch,
bei unruhigen Kranken mit seniler Demenz Paraldehyd,
bei chronisch lärmenden Kranken eine „grüne Mixtur“
aus Kal. brom. und Tinctura Canabis Indic. zu glei¬
chen Theilen, besonders bei Frauen, Sulphonal, Trio-
nal etc.
Zuletzt bespricht S. die Epilepsie ohne neue Ge¬
sichtspunkte beizubringen.
2. William II. B u c k 1 e r: Notes on the con-
tracts and torts of lunatics with special refurme to the
law of Maryland.
Bietet für deutsche Leser nichts besonderes Inter¬
essantes.
3. J. F. Lear c y (Tuscaloosa): 11 e r c d i t v.
Allgemeine Betrachtungen über Erblichkeit vom
biologischen Standpunkt.
George J. Preston (Baltimore): Insane or
criminal ?
Eine 41 jährige begabte und tüchtige Lehrerin
von besserem Ruf, war gelegentlich der Ucbersetzung
grossen literarischen Unternehmens getreten, für wel¬
ches ihr innerhalb d oder 7 Jahre 150000 Dollar
anvertraut wurden, wovon aber die Actieninhaber nur
die Hälfte als Dividende zurückbekamen. Das Uebrigc
war spurlos verschwunden, ohne dass die Dame Aus¬
kunft über den Verbleib des Geldes geben konnte
und ohne dass sie es für sich verbraucht hatte, da
sie ausserordentlich einfach lebte. Sie selbst sträubte
sich für geisteskrank gehalten zu werden, und es war
auch kein deutliches Zeichen der Geistesstörung bei
ihr zu finden mit Ausnahme einer grossen Gleich¬
gültigkeit gegen ihr Schicksal und hartnäckigstem Fest¬
halten an der Ansicht, dass das Geld sich aus dem
(fingirten) Unternehmen schon wieder finden werde.
Sie wurde zu 5 Jahren Gefängniss verurtheilt.
P. lässt die Frage offen, ob die Lehrerin von
andern Personen, welche sie für ihre Zwecke benutzt
hatten, vorgeschoben und dirigirt worden war, oder
ob es sich um Geisteskrankheit handelt.
5. A. R. Moulton (Philadelphia): Death of an
insane man from fracture of skull and haemorrhage
of the brain; skull abnormal}’ tliin.
Es handelt sich um einen 59jährigen Mann, der
eine Zeit lang stark getrunken hatte und wegen Un¬
ruhe und Grössenideen in die Anstalt gebracht worden
war, wo er zeitweise sehr erregt und obscoen war.
Eines Morgens wurde derselbe tot auf dem Rücken
liegend neben seinem Bett gefunden. Er war jeden¬
falls beim Verlassen des Bettes hingestürzt und hatte
sich, wie die Sektion ergab, einen Bruch des beson¬
ders an der Fossa posterior und den Seitentheilen
hinter dem äussem Gehörgange äusserst dünnen Schä¬
del zugezogen. Die Schädelbasis zeigte 2 Brüche.
Starke Blutklumpen bedeckten die linke Stirn- und
die rechte Parietal- und Occipitalgegend. Ferner zeig¬
ten sich neben allgemeiner Atheromatose aller Ge-
fässe im linken Stirnlappen und im linken Kleinhirn
Erweichungsherde.
6. E. B. Delabarre: The rclation of mental
content to nervous activity.
7. Richard Dewey: Mental therapeutics in
nervous and mental disease.
I). bespricht in diesem Vorträge den Werth und
die Anwendung der Suggestion bei Nerven- und
Geistesstörungen und erläutert seine Ausführungen
durch zahlreiche Beispiele.
8. Chac. A. Drews (Massachusets): Signs of de-
generaev and types of the criminal insane.
D. wendet sich mit viel Humor gegen die Aus¬
wüchse der Lehre von den Degenerationszeichen,
welche schon geringe Abweichungen von der angeb¬
lichen Norm als Stigmata der Entartung auffasse und
so bei Geisteskranken und Verbrechern zu grossen
Zahlen komme. D. erkennt nur sehr deutliche und
augenfällige Abweichungen als Degenerationszeichen
an und hat so unter den letzten 100 Aufnahmen in
der Staatsanstalt für geisteskranke Verbrecher in
Massachusets 44 mit Schädelabnormitäten, 40 mit ver¬
bildeten Ohren, 3c) mit abnormer Gaumenbildung ge¬
funden. Würde er nach den Beispiel anderer Auto¬
ren verfahren sein, so hätte er kaum 25°/ n normal
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12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i.
gesunde und qo °/ 0 hätten als Besitzer von dege-
nerirten Ohrformen bezeichnet werden müssen. 8
Fülle von ausgesprochener Degeneration werden kurz
beschrieben und ihre Photographien nebst Schädel -
diagrammen beigefügt. Hoppe.
— Sil b ersc h m id t, W. Zur Auslegung von
§ b Ziffer i. B. G. B. Das Recht. 1901. Nr. 22.
Nach $ <) Ziffer 1 ist Voraussetzung der Entmün¬
digung :
1) dass jemand seine Angelegenheiten nicht zu
besorgen vermag;
2) dass Geisteskrankheit oder Geistesschwäche
Schuld hieran trägt.
Es ist leicht begreiflich, dass der Jurist bei der
ersten Frage einsetzt, während der ärztliche Sachver¬
ständige zuerst die zweite Frage entscheidet.
Nach zwei grundlegenden Entscheidungen des
Reichsgerichts sind unter den Worten „seine Ange¬
legenheiten“ alle Angelegenheiten zu verstehen. Wenn
also der zu Entmündigende nur einzelne Angelegen¬
heiten oder einen bestimmten Kreis von solchen zu
besorgen ausser stände ist, treffen die Voraussetzungen
einer Pflegschaft gemäss § 1900 Abs. 2, nicht aber
die der Entmündigung zu. Wenn auch Angelegen¬
heiten nicht ausschliesslich Vermögcnsangelegenheiten
betreffen, so ist es doch zu weit gegangen, sie auch
auf strafrechtliche und öffentlich-rechtliche Interessen
auszudehnen. Mit Samter trennt auch er die Frage
der Gemeingefährlichkeit völlig von der der Entmün¬
digung. Eine andere Frage hinwiederum ist die, ob
Jemand, der wegen Gemeingefährlichkeit dauernd aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit etc. in einer Irrenan¬
stalt versorgt ist, hierdurch verhindert ist, seine An¬
gelegenheiten zu besorgen, wobei aber wiederum zu
erwägen ist, dass es sich um die Gesammtheit der
Angelegenheiten handelt.“ Der Kranke, der insbe¬
sondere seine Vermögensangelegenheiten zu besorgen
in der Lage ist, darf nicht entmündigt werden.
Ebenso ist auch die Frage der Delictsfähigkeit von
der der Geschäftsfähigkeit, mit der allein bei der Ent¬
mündigung gerechnet wird, zu trennen.
Die Frage, ob das Unvermögen zur Besorgung
der Angelegenheiten vorliegt und ob diese durch die
etwa vorhandene Geistesstörung bedingt ist, hat der
Richter vollständig selbständig zu lösen.
Ernst Schultzc.
Bibliographie.
(Besprechung der wichtigeren Arbeiten erfolgt unter „Referate“.)
Archiv für K rimin al-Anthropologie und
K r i in i n a 1 i s t i k , von Pf. Hanns Gross, VIII. Bd.,
1. Heft, Dezember 1901.
Welchen Werth diese bedeutende Zeitschrift für
den gerichtlichen Medicus hat, zeigt das Verzeichniss
der bereits erschienenen Abhandlungen, von denen
wir nur die für die Psychiatrie wic htigen hier anführen:
I. Bd. Höfler, Zurechnungsfähigkeit.
II. Bd. Gross: Reflexoide Handlungen, Levin-
sohn: Identität.
III. Bd. Näcke: Richter und Sachverständiger,
Altmann und Ne m an o w itsch: Sadismus,
Homosexualität u. A.
V. Bd. v. Sehren ck-Notzing: Suggestion, Rosen¬
blatt: Mord oder Selbstmord, eine Warnung
für Gerichtsärzte, Kautzner: Aus der gerichts¬
ärztlichen Praxis.
VII. Bd. v. Sch r enck - N o t zi n g: Fall Mainonc,
Gross: Reflectoides Handeln etc.
Obiges Heft enthält u. A. einen Fall von „Betrug
in Sinnesverwirrung“ von Pollak, in dem die Ange¬
klagte, die unter zureichenden Motiven mit Ueber-
legung versucht hatte, einen Schmuck zu unterschlagen,
auf Grund eines ausgezeichneten Gutachtens als
hysterisch (bei gleichzeitiger unehel. Schwangerschaft)
ausser Verfolgung gesetzt wurde. Schrenck-Notzing
bespricht unter Hinzufügung eigener Beobachtungen
die Frage nach der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“,
Näcke den Verlauf des V. Congresses für Krim.-
Anthrop. in Amsterdam. Aus den zahlreichen Refe¬
raten und kleineren Mittheilungen sei hervorgehoben:
Gross: Beweis durch Photographien (betr. die Phot,
mit aufgesetzten Köpfen, die im Ernstfälle, z. B.
Momentphotographie bei Untreue grosses Unheil an-
richten könnten). H. Kornfeld.
Psychiatrische en Neurologische Bladen,
1902, Januar/Februar.
Ziehen: Zur Differentialdiagno.se der Hcbephrenie
(Dementia praecox).
Hulst: Een geval van dementia paralytica als para-
noia hallucinatoria debuteerend.
Mceus: Een katatonisch geval van dementia präcox.
Bo um an: De verpleging van Patienten, lijdende
aan dementia senilis
Wert heim Salomo nson: Bijdrage tot de kennis
van de theorie van den Resonoteur van Oudin.
Verslag der Commissie ter omsehrijving der ziekte-
vormen der tegenwoordige Nomenclatuur.
Personalnachrichten.
(Um Mit'hcilung von Peraonalnacbrichtrn e'c an die Redaktion
wird gebeten.)
— Kgr. Sachsen. Oberarzt Dr. Krell am 1. Jan.
als design. Direct«>r von Hochweitzschen nach Gross¬
schweidnitz versetzt; mit dem 1. April werden versetzt:
Oberarzt Dr. Ilberg von Sonnenstein, Dr. Arnemann’
von Zschadrass, Dr. H e i n i c k c und Dr. Hahn von
Hubertusburg nach Grossschweidnitz; Dr. Klem m
von Hochweitzschen, Dr. Goetzc von Colditz nach
Zschadrass; Oberarzt I)r. Frühstück von Colditz
nach Hochweitzschen; Oberarzt Di. Kellner von
Hubertusburg nach Untcigöltzsch.
— Der Vortragende Rath im preuss. Kultusmini¬
sterium Geheimer Oberregienmgsrath Förster ist zum
Ministerialdircctor der Med.-Abtheilung und Wirklichen
Geheimen Oberregierungsrath mit dem Range der
Räthe erster Classe ernannt.
Das Inhalts-Verzeichniss des III. Jahr¬
ganges der „Psychiatrischen Wochenschrift“ wird der
nächsten Nummer beigegeben.
Für den rcdactionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sebe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch -Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
hpiansgegeben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E Mendel,
IJchnpnne** tAltmarki Graz. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin Rerlin
Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel,
Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr~Z 12. April. 1902 .
Die ,,Psych ia tr i sc h -Neur o 1 o g ische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
R-«*fllnni»en n-htn<»n iede Rurhhandiung, di** Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Frmässigung ein.
Zuschriften für riie Redaktion sind an 1 Uierarzt Dr |. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), /.u richten
Inhalt. Originale: Psychische Aberration. Psychopathie. Von Sanitätsrath Dr. Alfons Bilharz-Sigmariugen (S. 13). —
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. Von Dr. Ernst Schultze, Andernach (Fortsetzung)
(S. 18). — Mittheilungen (S. 23). — Referate (S. 25). — Personalnachrichten (S. 28).
Psychische Aberration. Psychopathie.*)
Von Sanitäts-Rath Dr. Alfons ^////«rc-Sigmaringen.
W* haben es bisher als unsere Hauptaufgabe
erachtet, an allen möglichen Punkten die dünne
Rasendecke der Erscheinungen abzuheben und un¬
mittelbar darunter das gleichartige Grundwasser der
Metaphysik, als eines Erklärungsgrundes, hervortreten
zu lassen; was eben heisst: Physik auf Metaphysik
zurückführen oder Physik aus Metaphysik deduciren
oder erklären. Wir können daher in einer Lehre
vom Lehen an seinen krankhaften Ei scheinungen
nicht vorübergehen, obwohl sie gewöhnlich eine weit¬
abliegende Disciplin ausmachen; besonders aber des¬
wegen nicht, weil die metaphysische Erklärung oder
Auffassung, die wir hier vertreten wollen, anderen
Orts, d. h. ohne den innigsten Zusammenhang mit
Metaphysik, gar nicht verstanden werden würde.
*) Als besonderes Kapitel erschienen in des Verfassers
eben erschienenem Werke: „Die Lehre vom Leben“,
Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1902, 502 S. Die Lektüre
obigen Aufsatzes setzt diejenige dieses hochinteressanten Werkes
voraus, bezw. muss nebenhergeheu.
Den sichersten Leitfaden, damit gleich der erste,
wichtigste Schritt in der Beurtheilung der psychischen
Entgleisung richtig ausfalle, bietet uns die Thatsache,
dass sie, wie die sittliche Entgleisung, nur beim
vernunftbegabten Wesen, dem Menschen, vorkommt.
Psychopathie, wie Ethopathie, ist an den Besitz der
Vernunft, also der Sprache, geknüpft. Irrsinn und
Verbrechen, im Lehen oft so schwer auseinander zu
halten, erweisen sich, als Vernunftkrankheiten, auch
als metaphysisch verwandt; verschieden nur nach den
Weltaxcn, in denen sie veilaufen, also wie Inhalt und
Form, und daher rechtwinkelig aufeinander.
In der That ist durch die Sprache, d. h. durch
die Erschaffung einer zweiten Welt von Objecten
(deren Uebereinstimmung mit der Welt der Wirklich¬
keit keineswegs immer gewährleistet ist), durch die
Herstellung einer fast unbegienzten Menge von Diffe¬
rentialbegriffen verschiedener Ordnung gegenüber der
gegebenen Welt integraler Vorstellungen, ein zweites
Mal die gefährliche Möglichkeit des Bruches des
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2.
ethophysischen Gesetzes gegeben, das (als
Ausdruck der Welthälftigkeit des Gegensatzpaares der
metaphysischen Seinsgrösse) Anspruch auf unverbrüch¬
liche Allgemeingültigkeit machen darf. Denn so wenig
Leben (Bewusstsein) bei Zerfall des Subjectpunctcs
bestehen kann, so wenig darf ihm ein doppelter
Objectpunct entsprechen: in beiden Fällen ist der
Bestand des künstlichen Staatengebildes, das eine
Welthälfte darstellt, bedroht.
Die tägliche Erfahrung lehrt, dass dies schon beim
gewöhnlichen Verstandesirrthum der Fall ist.
Wer einen Wolf für einen Schäferhund, das Trugbild
der Wüste für Wasser hält, der wird für sein Leben
Gefahr laufen. Bleibt es bestehen, so sind solche
Irrthümer leicht zu verbessern; man nennt dies Er¬
fahrungen sammeln, durch Erfahrung klug werden.
Sinneserkenntniss ist Verwandlung (also enantiale
Uebereinstimmung) des subjectiven Forminhalts der
Empfindung in die subjcctive Inhaltsform der Zeit¬
räumlichkeit, die mit der objectiven Inhaltsform
identisch ist. In diesem Punct findet sich das eiho-
physische Gesetz verwirklicht: zwischen der auf den Be-
wusstseinsmittelpunct hinbezogenen, also vorbewussten
und daher dem Sein angehörigen Empfindung und
der daraus gemachten Vorstellung besteht die voll¬
kommene Uebereinstimmung, wie sie uns in der
Synthese des Quadrates, als dem Bild des Be¬
griffs überhaupt, vorgeführt wird. In diesem Punct
wurzelt auch das, was sowohl an der monistischen
Welttheoric, als auch an der Identitätsphilosophie
Schell ing's*) richtig ist: die Uebereinstimmung
oder (enantiale) Identität zwischen metaphysischer
und physischer Form.
Die ethophysischc Uebereinstimmung wird auch
dann nicht verletzt, wenn thatsächlich eine Ver¬
schiedenheit der Empfindung vorkommt; wenn z. B.
bei einem Zusammensein von Grau und Blau ein
Auge nur grau**) empfindet, also für Blau farben¬
blind ist. Hier liegt kein Irrthum, sondern eine
Mangelhaftigkeit in der Organisation, ein Mangel an
Unterscheidungskraft der Sinne vor. Die Synthese
vollzieht sich in der reinen Zeitlinie, und diese führt
Nothwendigkcit bei sich. Irrthum kommt in das
*) Schelli hielt es für seine Lehensaufgabe, den philo¬
sophischen Dualismus zu überwinden: ,,Unser Geist strebt nach
Einheit im System seiner Erkenntnisse.“ Er hat es sehr ver¬
kehrt angefangen und vollendet. Wer aber nicht wenigstens
eine Faser der Wahrheit in Händen hat: wo sollte er die
Kraft und den Mnth hernehmen, ein so gewaltiges Werk wie *
ein System der Philosophie durchzuführen?
**) Empfindungen können natürlich nicht selbst verglichen,
nur aus der Gleichheit oder Verschiedenheit des Eindrucks
kann auf das Qualitative geschlossen werden.
sinnliche Erkennen erst dann, wenn der Verstand
sich über die flächenhaften Sinnesdaten hei macht
und sie im Raum, also gesetzlos-willkürlich, zu einem
dreidimensionalen, pseudoinhaltlichen Gebilde, einem
Helmholtz'sehen Begriff vereinigt.
Die Verstandesirrthümer, denen auch die ge¬
schärften Sinne der Thicrc unterliegen, verschwinden
aber gänzlich vor der ungeheuren Masse der Ver-
nunftirrthtimer, die auf einem falschen Differentiations¬
verfahren beruhen. Die sprachliche Bildung abstrac-
tiver Begriffe hat es nicht so gut, wie die mathematische
Differentiation. So gross ist der Unterschied, dass
die Wesensverwandtschaft beider Vorgänge bisher
überhaupt nicht erkannt worden ist; weder die
Bildung von Wortbegriffen als einer Differentiation,
noch das Wesen der Differentiation als einer successiven
Abstossung einer Dimension. Die mathematische
Differentiation sucht den im Begriff der Constanten
liegenden Inhalt aus der (gleichgültigen) F o r in
durch wiederholte Abstossung der formalen Dimen¬
sionen herauszuschälen. Da Inhalt auf Form, als
reiner conträrer Gegensatz, rechtwinkelig steht, so
muss das mathematische Verfahren, um dem Enantial-
satz oder dem ethophysischen Gesetz zu entsprechen,
demgemäss verfahren: die Rectangularität ihres Ver¬
fahrens liegt denn auch sowohl in der Gleichung, als
auch in der analytisch-geometrischen Curve überall zu
Tage; ein Irrthum kann nicht stattfinden.
Trotz der Geschicklichkeit der Mathematiker in
ihrer Kunst, sind sie doch, kleinlaut gemacht durc h
den bereitwillig verschluckten Widerspruch des Un¬
endlich-Kleinen, und wie hvpnotisirt durch das ewige
Hinstarren auf die räthselhaft-fascinirende Gestalt des
Bruches , , hinter den Sinn
äx
ihres hierophantischen
Verfahrens nie gekommen. Angesichts der Wichtig¬
keit der Sache sei mir folgende Abschweifung ge¬
stattet.
Ihre Unfähigkeit, erkenntnisstheoretisch richtig zu
denken, verrathen die „unendlich kleinen“ Mathe¬
matiker deutlich darin, dass sie mit Verachtung aller
erkenntnisstheoretischen Grenzen schreiben:
h -/
n . dx,
während es heissen muss:
oder
y = a x .
Folgende anschauliche Nebeneinanderstcllung dei
zwei mathematischen Sprachen giebt ein deutliches
Bild ihres Unterst .Liedes:
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Gck gle
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Differentialrechnung Gewöhnliche Mathematik
links die Sprache der Metaphysik, das Unausgedehnte,
Punctuelle, Constante, der Inhalt (A): rechts die
Sprache der Physik, das Ausgedehnte, Veränderliche,
die Form, das Integral (£u).
Man sieht, dass man mit der Grösse — --,
dem Handschuh für die constante Hand A , machen
kann, was man will, umstülpen, einstülpen, Zusammen¬
legen, zusammenrullen, auseinanderwickeln, aufblasen :
immer bleibt es dasselbe, so lange A besteht, d. h.
s*> lange dasselbe metaphysische Wesen hinter der
Erscheinung steht; so lange der Enantialsatz die
Gleichwerthigkeit aller dieser Formumwandlungen ver¬
bürgt, und so lange sein eisernes Gesetz auch die
kleinste Abweichung eines Zuviel oder Zuwenig ver¬
wehrt. Man erkennt aufs Deutlichste den Fehler,
eine mathematische Gleichung ein synthetisch e s
Urtheil zu nennen, und erkennt das Gleichgültige
aller Manipulationen mit endlichen Wcrthen der
Veränderlichen.
Ich glaube, dass die Einsicht in die Gleichgül¬
tigkeit der mathematischen Formurmvandlungen, der
Zeiträumlichkeit eines Vorgangs in Hinsicht auf den
Werth der Sache selbst, den Gedanken der Differen¬
tialrechnung im Kopf des grossen Newton zuerst er¬
zeugt habe: er wollte alle Verschiedenheiten der zeit¬
räumlichen Daten in einem einzigen Denkact zusam¬
mendenken und so von ihnen abstrahiren.
So erhielt er, im Falle der astronomischen Cen¬
tralbewegung, die constante B e z i e h u n g der Wclt-
körper zu einander ganz unabhängig von ihrer je¬
weiligen Lage, die vielmehr von jener bestimmt wird.
Er musste dabei offenbar aus der Schwereebene, in
der die zeiträumliche Ausdehnung (= Bewegung) vor
sich geht, gänzlich heraustreten, sich also senkrecht
dazu stellen. Er schaute, entfremdet, in eine neue
Welt des Wesens selbst hinein, in die einst der Künstler-
Philosoph Plato hineingeschen hatte; wo die Ideen, die
Geister der Erschlagenen, die Schiller ’sche „Gestalt“
hausen; das Land der „intcllectuellcn Anschauung,“ wo
die höchste Abstractionskraft den Sieg über sich selber
feiern darf, ohne Widerspruch.
Diese zusammenschauende, synthetische, genialisch-
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*5
künstlerische Ncwton’schc Art der Differentiation
ist die eigentliche Sprache der Metaphysik, der Lehre
vom Inhalt, der Vereinigung aller Formen, und führt
auch allein zum Verständniss des Wesens dieser
Rechnungsart. Newton bedurfte für seine Flucht aus
der Welt der Veränderlichkeit .in die Welt der C011-
stanz keiner besonderen Ausdrucksweisc; wohl aber
bedurfte einer solchen der dissecirende Verstand eines
L e i b n i z , der sie auc h fand. Der Gedanke w r ar leicht
und secundär: was für jede Zeit gilt, das gilt auch
für den Zcitpunct, die ausdehnungslose Zeit, das
„Zeitdifferential“: damit war die Sprache der Meta¬
physik in eine Rechnungsart verwandelt und in ein
Lehrgebäude, wie eine solche zu erlernen sei.
In der That führen, wie tavg 0 °und tavg 90 0
zeigen, zwei Thore aus der Zeitlichkeit oder der Welt
des Veränderlichen hinaus, deren gleichwertige
Grenzen Null und Unendlich sind. Doch ist ein Unter¬
schied: das zur Einheit und Constanz zusammengefasste
Unendliche ist etwas; der Gedanke kann sich daran
festhalten und jenseits der Veränderlichkeit sich ein
Gebiet von constanten Werthen wohl vorstellen. Mit
der Null aber kann man gar nichts anfangen. Die
Mathematiker wären die Letzten gewesen, zur Be¬
gründung ihres stolzen Gebäudes ein so unsicheres
Ding, wie die Metaphysik, zu Hülfe zu rufen, und
sicherlich hatten weder L e i b n i z noch seine Schüler
eine Ahnung davon, dass sie sich mit ihren Differen¬
tialgleichungen in eine neue und gänzlich verschiedene
Welt hinein begeben.
Man kann, wenn man will, den Gedanken der
Differentialrechnung bis zu Diophantcs zurück
verfolgen , der zuerst in der Gleichung etwas C011-
stantes und etwas Veränderliches unterschied. Nach
Decartes’ grosser synthetischer That war ihre
Entdeckung nur noch eine Frage der Zeit: die
Gleichung selbst wurde zum Gesetz der Curve.
L e i b n iz übersetzte Newt on ? s Gedanken , vor
dessen zusammenschauendem Blick die Grenze
zwischen Physik und Mcthaphysik verschwend, in
das mathematische Schlagwerk und gab der Constanz-
betrachtung die streng mathematische Form; freilich
um einen ungeheuren Preis, den zu entrichten dem
gewandten Philosophen vielleicht selbst nicht so schwer
ankam, um so schwerer aber allen Denen, die, ohne
das Opfer des Verstandes bringen zu können, seine
Schüler werden wollten : nämlich um den Preis, den
Unendlichkeitsbegriff (um der Null zu entgehen) in
die Welt der Endlichkeit hinein zu tragen. Die
philosophischen Winkelzüge der Mathematiker in der
Beschönigung dieses Gevvaltstrcic'hs sind einfach
schändlich. Aber so fest ist das Gefüge der mathe-
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[Nr. 2.
16 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
matischen Form, dass man ohne Verständniss der
Saclie Differentiiren lernen kann, wenn man sich nur
entschlossen hat, jenen Widerspruch mit Haut und
Haaren hinunter zu schlucken. Indessen irren heute
noch Schüler umher mit der Fiage, was man denn
eigentlich mit der Differentialrechnung wolle, und er¬
halten keine Antwort. Die Thatsachc der Diffe¬
rentialrechnung ist der starke Schild, hinter den sich
die erhabene Unnahbarkeit des Meisters verbirgt; erst
klagt der Schüler seinen dummen Verstand an; später,
in seiner Kunst geübt, setzt er mit Lust das mathe¬
matische Schlagwerk in Gang, ohne sich mehr an die
schweren Stunden des Eintritts in die höhere Mathe¬
matik zu erinnern, d. h. des Eintritts in die Meta¬
physik, ohne es zu wissen ! Ich habe schon ander¬
wärts hervorgehoben, dass es dem ausgezeichneten
Mathematiker P. Dannegger durch den Begriff der
Constanz gelungen ist, sich ganz selbständig einen Weg
zum Verständniss der Differentialrechnung zu bahnen,
indem eben der Begriff der Constanz ihn befähigte,
den Differentialquotienten als das aufzufassen, was er
ist, nämlich als blosses Zeichen, den Rückweg zum
Integral wieder zu finden *)
Denn, worauf die mathematische Differentiation
immer ausgeht, das ist, die Constanz aus der Hülle
der Zeitlichkeit successive herauszuschälen. Sie ver¬
wandelt den Cubus in die Fläche, die Fläche in eine
Ordinate.**) Differentiiren heisst Hinausdenken, Ab-
*) Dannegger hat, abgesehen von der von ihm und
mir gemeinschaftlich herausgegebenen Schrift „Metaphysische
Anfaugsgründe der mathematischen Wissenschaften“, seine Ge¬
danken nur noch in einem Schulprogramm der Ackerbauschule
zu Sigmaringen niedergelegt. Er behandelt darin die Frage,
wie weit man von den Grundsätzen der höheren Mathematik
schon in den niederen Schulen Gebrauch machen könne und
zeigt die Möglichkeit an mehieren Beispielen. Dass dies jetzt
geschehehen müsse, wenn Metaphysik eine Wissenschaft, und
Differentialrechnung ihre Sprache ist, steht ausser Frage. Man
gelangt zum Verständniss der höheren Mathematik nicht durch
die niedere, sondern umgekehrt; wie Metaphysik Physik erklärt,
nicht umgekehrt.
**) Ein Mathematiker machte gegen meine Definition der
Differentiation die Einwendung, dass sie zu enge sei, nur die
Potenzen betreffe, aber z. B. die Gleichung y — c x nicht be¬
rühre, deren Ableitungen j ' 4 (e x ) u.s. w. immer wieder — c* seien.
Der geehrte Kritiker bemerkte nieht, welche Blösse er sich
gab. Denn er konnte sich wohl hinter den Schirm flüchten,
selbst nicht zn wissen, was für ein Vorgang bei der Differen¬
tiation stattfinde, nicht gut aber, dass überhaupt nichts vorgehe,
wofür sein Beispiel doch zu sprechen scheint. Sicherlich wäre
seine Definition, wie sie auch lauten mochte, alsdann ebenfalls
zu enge ausgefallen. Noch weniger aber wird ihm bewusst ge¬
wesen sein, dass sein Beispiel eine glänzende Bestätigung
meiner Auffassung enthält. e x ist eine Constaute, die in un¬
bestimmt vielen Dimensionen ausgedehnt ist. Ertheilt man
x einen endlichen Werth, so verwandelt sich der Ausdruck in
strahiren, Dimensionen wie Geweihe abwerfen, die in
der Frühlingswelt der Integration von neuem wachsen
sollen; z. B.
y — a . x . x
dy
r = 2U.X
dx
Ich füge diesem parenthetischen Streifzug ins Ge¬
biet der Mathematik noch hinzu, dass die Verhült-
nissanalogie der Differentialrechnung und der Variations¬
rechnung des Lag ran ge einerseits, und der zeitlich¬
physischen und der zeitlos-metaphysischen Erkenntniss
andererseits, — das Recht, das Metaphysik verleiht,
in ihr Gebiet der Constanz auch den Begriff der Ver¬
änderlichkeit zu übertragen, nur eben nicht den Be¬
griff der zeitlichen Veränderlichkeit, — eine der
schönsten Coincidenzen der Wissenschaft ist, die es
geben kann; deren Werthschätzung aber mehr philo-
eine constante Grösse, die auch mein Gegner nicht wird dilfe-
rentiiren wollen. Das Beispiel gilt also nur für x ~ x * and
nun möge er anfangen zu differentiiren, oder, nach meiner An¬
gabe, zu dedimensioniren.ein e nach dem anderen ab¬
zuwerfen, und möge dabei die Geduld nicht verlieren. Was
herauskommt, ist in der That immer wieder die Grösse e x ; er
kommt dem Ziel (6 l ) nicht näher.
Dasselbe zeigt sich bei der Differentiation der Kreisfunctionen.
Da die Differentialrechnung, wie wir oben sagten, die Sprache
der Metaphysik ist, d. h. durch fortgesetztes Abstossen der
formalen Dimensionen den Inhalt herausschält, Inhalt aber auf
Form senkrecht steht, so ist klar, dass die Differentialconstantc
des Sinus nur immer wieder der Cosinus sein kann, und um¬
gekehrt.
Die Discussion des Ausdrucks e x giebt Anlass zu einer
weiteren Bemerkung. Naeh Obigem ist es ebensowohl ein
Differential als ein Integral und ist in diesem Sinne der adue-
quate Ausdruck für die metaphysische Seins¬
grösse. Wir hatten schon oben (im II. Theil) gesagt, im
Verhältniss zum formalen, dreidimensionalen, physischen
Pseudoinhalt müsse das metaphysische I nhalts- Integral als
Körper von unendlich vielen Dimensionen aufgefasst werden,
da es ja auf allen Punkten von seinem Gegensatz, dem Object,
umgeben ist. Wir hatten ferner durch die Figur 9, Seite 176,
erläutert, dass Wegnahme oder Hinzufügen von Dimensionen
an der metaphysischen Seinsgrösse nichts ändere; dass ein
eigentliches Differentiiren oder Integriren hierbei nicht statt-
linde, und zwar deswegen nicht, weil das Metaphysische d i e
Zeit nicht enthält, nur im Raum veränderlich ist. Hierüber
spricht sich nun der Ausdruck e x , als Träger einer constanten
Seinsgrösse e, mit aller Deutlichkeit aus.
Man wird der Sprache der Mathematik, diesem voll¬
kommensten Werkzeug des menschlichen Geistes, die Bewuuderung
nicht versagen können. Sie giebt auch da eine richtige
Antwort, wo die ihr vorgelegte Aufgabe ihre Tragweite über¬
schreitet. Metaphysik aber ist im Stande, die todte Form mit
dem herrlichsten Inhalt anzufüllen.
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iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
sophisches Verständniss der Mathematik voraussetzt,
als die vereinigten Wissenschaften der Mathematik,
Philosophie und Naturwissenschaft bisher aus sich
hervorgebracht haben.
Vergleicht man nun mit dem Abstractionsvorgang
der mathematischen Differentiation die sprachliche
Begriffsbildung, die den Menschen befähigt, auch ohne
Gegenwart des H e 1 m h o 11 z’schen Integralbegriffs
oder des sinnlichen Objects eine Vorstellung davon
in sich hervorzurufen, so bemerkt man sofort die
Aehnlichkeit und die Verschiedenheit des Vorganges.
Zuerst wird die erste Dimension der Empfindungs¬
grösse abgestossen, und an ihre Stelle tritt (dem
Differentialquotienten entsprechend) ein Zeichen,
das die Rückkehr zur Integration wieder möglich
macht: der articulirte Laut. So ist aus dem drei¬
dimensionalen Vorstellungsgebilde eines bestimmten
einhufigen Thieres der zweidimensionale Begriff „Pferd“
entstanden, aus dem also, bis auf das wesentliche
oder c har acteristische Prädicat der Einhufig-
keit, alle anderen Formalbestimmungen hinausgedacht
worden sind, und der demgemäss alle Einzelvorstel¬
lungen, wenn sie nur dem characteristischen Prädicat
Genüge leisten, in sich befassen kann. In dieser zwei¬
dimensionalen Gestalt entspricht der differentiirte h »go-
centrische Begriff der metaphysischen Synthese aus
Inhalt und Form: A. ^ = A 2 , d. h. einem Begriff
überhaupt, und man übersieht sofort, dass der Ein-
heiistrieb der analytischen Vcrnunftthätigkeit sich die
Gelegenheit nicht entgehen lassen werde, den Ab-
stossungsvorgang noch einmal zu wiederholen, ein
zweites Mal zu differentiiren und sich zur Bestimmung
des Begriffs mit der einfachen Grösse A genügen zu
lassen; in diesem Fall mit der wesentlichen Be¬
griffsbestimmung der Einhufigkeit = So entstehen
simmtliche substantivirte Eigenschaftsbegriffe, die in
so ungeheurer Anzahl das logocenfrische Gebiet be¬
völkern: sie sind die Producte einer wiederholten Dif¬
ferentiation, aus der die wesentliche Bestimmung übrig
geblieben ist.
Bis hierher ist die Analogie der zwei verglichenen
Verfahrungsweisen so vollständig, dass inan nicht nur
berechtigt ist, die sprachbcgriffliche Abstraction Diffe¬
rentiation zu nennen, sondern auch als das gemein¬
same Wesen der Differentiation überhaupt das suc-
cessiv wiederholte Abstossen der Dimensionen eines
Begriffs, bis zur übrigbleibenden letzten Dimension,
anzusehen.
Aber die erkenntnissthcoretisch überaus wichtigen
Unterschiede müssen andererseits gebührend hervor¬
gehoben werden.
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Ihrem a p r i o r i s c h e n *), d. h. auf Metalogik und
Metaphysik zurück verweisenden Character und ihrem
subjectiven, vom Object ganz unabhängigen Ursprung
getreu, verfährt Mathematik in allen Punkten correct:
aus den tausenderlei formalen Umhüllungen schält
sie den Inhalt heraus, der sich in der zuletzt übrig
bleibenden constanten Grösse darstellt; der ganze
Process ist durchsichtig und klar von Anfang bis zu
Ende. Bei der aposteriorischen Erkenntniss
tritt vor allem die Umkehrung des noocentrischen
Standpunkts, der sogenannte geocentrische Irrthum,
in die Quere, der das letzte Glied der durch und
durch formalen Begriffssynthese für einen Seins-
inhalt und die Vorstellung für das die Empfindung
und Vorstellung erzeugende Object nimmt. Die
ganze Welt wird dadurch auf den Kopf gestellt, (wie
denn ein Mensch, der sich auf meiner Retina präsen-
tirt, thatsächlich auf dem Kopf steht,) und es kostet
Mühe, die Begriffsverschiebungen erkenntnisstheoretisch
richtig zu stellen. Was überhaupt an metaphysischem
Inhalt in der ganzen Synthese enthalten ist, steck
im Form inhalt der Empfindung, dem erstgegebenen
Element; gerade dieses aber wird in der sprachlichen
Differentiation zuerst entfernt, und der logocentrische
Inhaltsbegriff wird dem allerunsichersten, weil nur räum¬
lich-synthetischen, Element der dritten Dimension
übertragen. Diese kann dann ebenfalls entfernt werden,
und übrig bleibt als wesentlicher Bestandtheil des
ganzen Begriffs, nicht etwa ein Element des Seins,
sondern die Form der Form, die bestimmende Eigen¬
schaft, die vorletzte Dimension.
In dieser Durchbrechung und Verwirrung aller
erkenntnisstheoretischer Grenzen kann von mathema¬
tischer Strenge der Differentiation nicht mehr die
Rede sein. Die Unähnlichkeit wird hier so gross,
dass Kant entschuldigt ist, wenn er die logocentrische
Begriffsbildung sogar für einen Act der Synthesis an-
sah. Die Unsic herheit steckt sowohl in der „Sub-
jectivität“ der Empfindungsdaten, d. h. in ihrer nur
individuellen Gültigkeit, als auch in der gesetzlosen,
dem Zufall und der Willkür unterworfenen zweiten
Synthese, (der Zusammenfassung aller empfindungs¬
haltigen Formalbcgriffe zum Pseudoinhalt des „Gegen¬
standes“,) die im Raum geschieht. Verlass ist nur auf
die enantiale Gleichheit der in der Zeiteinheit des
Denkens verbundenen, also rectangularen Dimensionen
*) Es ist immer ein wahres Vergnügen, mit den unsterb¬
lichen Begriffsbestimmungen der Transscendentalphilosophie zu¬
sammenzutreffen und so ihren Werth zu demonstriren. Syn¬
thesis apriori ist allerdings ein Widerspruch; aber dass mathe¬
matische Urtheile apriorische sind, wird Niemand so leicht
widerlegen können.
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18 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2.
der aufs Bewusstsein bezogenen, also vorgestellten
Empfindung, in der allein sich das ethophysische Ge¬
setz verwirklicht. Daran und an der Unverbrüchlich¬
keit des geocentrischen Irrthums hat indessen das
physische Erkennen Halts genug, um sich in der
Welt des Objects mit grosser Sicherheit zurecht zu
finden. Beim Menschen macht die Häufigkeit der
Vergleichung zwischen Wort- und Wirklichkeitsbegriff
und der Denkdrehung, die dabei stattfindet, und deren
man sich wegen der Geläufigkeit des Vorgangs kaum
bewusst ist, die Sicherheit im Gebrauch des ersten
Differentiationsbegriffs um so grösser, als dieser ja
eine Rückkehr zur quadratischen Urgestalt des Be¬
griffs bedeutet. Allein beim zweiten Differential, bei
den sogenannten abstracten Begriffen ist aller Halt
verloren. Ein Begriffsstab ist noch vorhanden, die
Form der Form, an der das characteristische Attribut
des Inhalts, nämlich die Constanz, nur noch in der
«konstanten Form des articulirten Lautes erhalten ist.
In diesen tönenden Schlauch kann Alles gepackt
werden, was drein geht und nicht drein geht. Diese
Begriffe fügen sich der logischen Form des Urtheils
gerade so gut, wie ihre Integrale, von denen sie ab¬
geleitet sind, und eignen sich trefflich dazu, den
fressenden Wurm des verdeckten Widerspruchs durch
die glänzendsten Deduclioncn zu schleppen und sie
dadurch werthlos zu machen. Und gerade diese be¬
griffe haben für den Menschen die grösste Bedeutung
und Tragweite. Von jeher haben die grossen Denker
der Menschheit Alles aufgeboten, um den Inhalt
solcher Abstractioncn sicher und richtig zu stellen; ja,
ihre Grösse besteht geradezu in der Reinheit ihrer
Grundbegriffe. In der That handelt es sich um eine
Richtigstellung. Denn das aus Subject und Prä-
dicat bestehende Urteil ist der zerlegte Begriff, also
das zerlegte Quadrat, dessen Dimensionen (als Inhalt
und Form) einander gleic h gesetzt werden, und ein
richtiges Urtheil ist daher ein solches, dessen
Dimensionen rechtwinklig auf einander sfehen. Aber
wo ist im Gebiet des Abstracten, so wie es in der
Anschaulichkeit der mathematischen Grössenlehre vor¬
handen ist, das Richtscheit, das die Sc hiefwinkligkeit
der gebrauchten Begriffe sofort aufzeigen würde?
Allerdings giebt es ein solches in der strengen
Gegensätzlichkeit der Begriffe, dem logischen
Aequivalentdcr mathematischen Rectangularität Ueber-
all, wo die auf der Höhe der Abstraction gebrauchten
Begriffe als reine Gegensätze nachgewiesen werden
können, (denen also im letzten Grund der Urgcgcn-
satz von Inhalt und Form unterliegen muss,) da ge¬
winnt auch die Darstellung der speculativen Vernunft
den Grad mathematischer Gewissheit oder nähert sich
ihr in demselben Maasse an. Es ist das gemeinsame
Merkmal der grossen Erzeugnisse der Literatur, dass
sie der Prüfung in dieser Hinsicht Stand halten, und
nichts ist leichter für Den, der gewohnt ist, rectan-
gular oder streng gegensätzlich zu denken, als den
Werth oder Unwerth einer Schrift nach diesem Kri¬
terium auf den ersten Blick zu erkennen *). So ist
die ganze orientalische speculative Literatur in wissen¬
schaftlicher Hinsicht werthlos, so hoch sie als Er-
zeugniss dichterischen Geistes stehen mag. Erst die
hohe Vernünftigkeit der Griechen erhob sich zur
Klarheit reiner Gegensätze. Wir hatten schon oben
darauf hingewiesen, dass die Geburtsstunde der wissen¬
schaftlichen Speculation, d. h. der Philosophie, damals
schlug, als es Thaies gelang, sein Denken aus der
Zeit in den Raum, also um einen rechten Winkel zu
drehen, und der dialektischen Methode des Sokrates,
die nichts anderes ist, als das Bestreben, durch immer
wiederholte logische Prüfung einen abstracten Begriff'
richtig d. h. rectangular zu stellen, hat der gesammte
Orientalismus nichts an die Seite zu stellen. Und
sollte nicht Philosophie überhaupt die Missachtung,
in der sie steht, dem Umstand zu verdanken haben,
dass sie gar oft griechische Strenge im Denken ver¬
missen lässt?
Das Differential muss, wie Form auf Inhalt, auf
dem Intregal senkrecht stehen. Ist dies innerhalb
der log< »centrischen Begriffswclt der Fall, so füllt sich
das Gebiet des vernünftigen Denkens mit dem werth-
vollsten Material, durch das der Mensch die ganze
Welt dem wissenschaftlichen Verständniss unterwerfen
und sich zu ihrem Herrscher machen kann. Es ist
aber überaus bemerkenswert!), dass erst, seitdem das
dialektische Experiinentiren der Philosophen durch
das exacte Experiment der Naturforscher ersetzt worden
ist, ein so ausserordentlicher Fortschritt in der wissen¬
schaftlichen Erkenntniss des Seienden, wie heute, ge¬
macht wurde. Wir sehen leicht den Grund davon
ein: von einer durch unbefangene Beobachtung ge¬
sicherten integralen Grundlage steigen die Natur¬
forscher an der Hand der Mathematik zu immer
höheren Differentialbegriffen, immer bereit eine Wahr¬
heit (Hypothese, Theorie) durch eine besser be¬
gründete zu ersetzen, d. h. an der erstrebten Rectan¬
gularität ihrer .Begriffe eine genauere Correctur an¬
zubringen. Die Philosophen verfuhren immer um¬
gekehrt und integrirten ihre speculativen Abstractioncn,
*) Schopenhauer brauchte, wie er sagt, nur die erste
Seite eines Buches zu lesen, um urtheilen zu können, ob es
lesenswerth sei. Unwillkürlich, und ohne davon zu wissen,
liess er das Gitterwerk der Coordinaten seines klaren Denkens
auf den Autor sich herabsenken und wusste dann genug.
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
19
d. h. Differentialbegriffe, deren Herkunft keineswegs
immer einer streng-wissenschaftlichen Prüfung unter¬
zogen worden waren,, ja, die sogar ausdrücklich eine
Heimatsberechtigung in einer Erfahrung verschmähten!
Wissenschaft weist solches Ansinnen zurück. Zwar
gelang es dem speculativen Denker immer, die Wirk¬
lichkeit mit seinen Grundbegriffen in Einklang zu
bringen*); er konnte sagen: die Integration meiner
*) Das schönste Beispiel liefert Kant in der Kritik der
reinen Vernunft. Nach der Entdeckung der Subjectivität von
Raum und Zeit musste ein reiner erkentnisstheoretischer Idea¬
lismus folgen, der sich ebenso nothwendig durch einen reinen
Differentialbegriffe ist erreicht — aber fragt mich nur
nicht wie!
Realismus im Sinn einer metaphysischen Ontologie hätte er¬
gänzen müssen. Beidem aber stand der altgewohnte Rationa¬
lismus entgegen. Kant war keineswegs gewillt, die Realität
der Aussen weit aufzugeben. Den idealistischen Grundgedanken
in den sogenannten empirischen Realismus auslaufen lassen zu
können, das eben sollte der gewaltsame Gedankengang der
Kritik der reinen Vernunft besorgen. Eine leise Schiefwink-
licbkeit, über eine lange Denkfläche vertheilt, vermag den Denker
über sich selbst, sowie den Leser zu täuschen. Ein Philosoph,
der in seinen Begriffen von der strengen Gegensätzlichkeit ab¬
weicht, ist sicher verloren.
(Fortsetzung folgt.)
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie.
Aus der juristischen Fachlitteratur des Jahres 1901 zusammengestellt
von Dr. Ernst Schnitze , Andernach.
(Schluss).
Erkenntniss des Reichsgerichts IV. c. S. i. S. Böttcher
c. Bottelier vom 4. März, 1901 Nr. 380/1(100 IV.
II. I. O. L. G. Celle.
Die Klägerin hat beantragt, auf Grund des § 1369
des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Ehe der Parteien
zu scheiden, indem sie behauptet, dass ihr Ehemann
in Geisteskrankheit verfallen sei, und diese seit länger
als drei Jahren während der Ehe bestelle und einen
solchen Grad erreicht habe, dass die geistige Gemein¬
schaft zwischen den Ehegatten ohne jede Aussicht
auf Wiederherstellung aufgehoben sei. Der Vormund
des Beklagten hat die Abweisung der Klage beantragt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Be¬
rufung der Klägerin ist durch das obenbezeichnete
Urthcil des Oberlandesgerichts zurückgewiesen. Auf
Revision der Klägerin ist das Beruf ungsurtheil auf¬
gehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückge¬
wiesen.
Gründe.
Das Beriifungsurtheil beruht auf der Annahme,
dass nach dem Gutachten des ärztlichen Sachver¬
ständigen, Professors Dr. C.. der Beklagte nicht an
Geisteskrankheit leide*, event. aber die etwa vor¬
handene Geisteskrankheit nicht einen solchen Grad
erreicht habe, dass die geistige Gemeinschaft unter
den Ehegatten ohne jede Aussicht auf Wiederher¬
stellung aufgehoben sei.
Diese Begründung muss beanstandet werden.
In Ansehung der Frage, ob der Beklagte an
Geisteskrankheit leidet, bedarf es nach Lage der
Sache nicht einer grundsätzlichen Entscheidung da-
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rüber, ob der $ 1569 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
einem Ehegatten die Scheidungsklage nur im Falle
der Geisteskrankheit oder auch im Falle der Geistes¬
schwäche des anderen Ehegatten giebt. Die Klägerin
hat behauptet, dass der Beklagte an Geisteskrankheit
leide. Das Berufungsgericht ist gegenüber dieser Be¬
hauptung dem Gutachten des Sachverständigen C.
gefolgt. Diese Würdigung giebt aber zu Bedenken
Anlass. Der Sachverständige hat bei seiner zweima¬
ligen Vernehmung sich im Wesentlichen überein¬
stimmend dahin geäussert:
Der Beklagte sei im Jahre 1893 geisteskrank
gewesen. Er habe sich aber im Laufe der Zeit
gebessert. Gegenwärtig sei er im Sinne des
Bürgerlichen Gesetzbuchs geistesschwach, im
wissenschaftlichen Sinne auch geisteskrank. Er
leide an sekundärer Demenz auf dem Boden des
chronischen Alkoholismus im Anschluss an ein
delirium tremens.
Dieses Gutachten bietet aber keine genügende
Grundlage für die Beantwortung der Beweisfrage.
Dasselbe argumentirt mit dem Begriffe der Geistes¬
krankheit bald im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs,
bald im Sinne der Wissenschaft. Dabei ist aber das
Verhältnis« nicht dargelcgt, in welchem beide Begriffs¬
arten zu einander stehen. Dies macht sich besonders
insofern geltend, als der Sachverständige selbst da¬
von ausgeht, dass der Beklagte im Jahre 1893 an
Geisteskrankheit im Sinne des Bürgerlichen Gesetz¬
buchs gelitten habe, dann nur konstatirt, dass der
Beklagte sich später in gewissem Grade gebessert
Original fr&m
HARVARD UNIVERSUM
20
[Nr. 2.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT*
habe, und schliesslich den gegenwärtigen Zustand des
Beklagten doch nicht als abgeschwächte Geisteskrank¬
heit, sondern als Geistesschwäche im Sinne des Bür¬
gerlichen Gesetzbuchs bezeichnet.
Im Zusammenhänge hiermit steht das Bedenken,
welches die Vorentscheidung hinsichts der eventuellen
Frage hervorruft, ob die etwa vorhandene Geistes¬
krankheit des Beklagten derartig gesteigert ist, dass
demselben das Bewusstsein der ehelichen Gemein¬
schaft völlig und dauernd abhanden gekommen ist.
Das Berufungsgericht erwägt hier :
Nach dem C.’schen Gutachten bethätige sich
das Bewusstsein der ehelichen Gemeinschaft sei¬
tens des Beklagten noch fort, theils krankhaft
durch die Eifersuchtswahnideen, theils nicht
krankhaft durch den Widerspruch gegen die
Scheidung wie durch Aeusserungen dahin, dass
er nach L. zurückkehren und sein Geschäft über¬
nehmen wolle, und dass dies schon gehen werde,
wenn seine Frau sich so verhalte wie er. Aller¬
dings bekunde der Sachverständige, dass der
Beklagte noch immer zum Trinken neige und
beim Rückfalle gemeingefährlich werden würde,
deshalb auch seine Entlassung bisher nicht an-
gängig gewesen sei, sowie, dass auf einen Brief¬
wechsel des Beklagten mit der Klägerin so wenig
wie bisher zu rechnen sei. Aber alles das ge¬
nüge nicht im Sinne des § 1569 des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs.
Dem gegenüber muss davon ausgegangen werden,
dass die eheliche Gemeinschaft ein auf sittlichen
Rechten und Pflichten beruhendes Lebensverhältniss
ist, und dass, wenn von einem Fortbestehen, einer
Fortbethätigung dieser Gemeinschaft gesprochen wer¬
den soll, entsprechende reale Anhaltspunkte dafür
zu erfordern sind. Nun hat der Sachverständige
C. bei seiner ersten Vernehmung bekundet:
Die Entlassung des Beklagten aus der Pro¬
vinzialirrenanstalt sei bis dahin immer am Mangel
anderweiter geeigneter Unterbringung gescheitert.
Dies werde bei der Natur seiner Geisteskrank¬
heit und bei den bestehenden Verhältnissen
auch für die Zukunft geschehen. Deshalb sei
eine geistige Gemeinschaft zwischen den Ehe¬
gatten für jetzt und in der Zukunft ausgeschlossen.
Zwar sei eine Bethätigung der Gemeinschaft
durch Briefwechsel nicht absolut ausgeschlossen,
aber auf diese Möglichkeit bei der hochgradigen
Interesselosigkeit des Beklagten nicht zu rechnen.
Angesichts dieser Angaben des Sachverständigen
wird das Bedenken nahe gelegt, inwiefern sich für
Gegenwart und Zukunft thatsächlich noch eine ehe-
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liehe, d. h. von dem Bewusstsein sittlicher Rechte
und Pflichten getragene Gemeinschaft unter den Ehe¬
gatten ermöglichen soll. J. W. *) p. 29.
§ 1569 B. G. B.
In die hier geforderte Dauer von mindestens 3
Jahren ist auch die schon vor dem 1. Januar 1900
abgelaufene Zeit einzurechnen.
Urtheil des L.-G. Kaiserslautern vom 3. Mai 1901.
D. R. **) Entscheidung Nr. 909.
§ 1602, iriio.
Erwerbsunfähigkeit ist schon dann anzunehmen,
wenn eine der Lebensstellung des Bedürftigen ent¬
sprechende Erwerbsthätigkeit ausgeschlossen erscheint.
(R.-G. IV. 25. April 1901.)
D. R. Entscheidungen Nr. 1731.
§ 1829 A. 3.
Die durch den volljährig gewordenen Mündel er-
theilte Genehmigung gemäss § 1829 Abs. 3 B. G. B.
muss dem anderen Theile gegenüber erklärt werden
und nicht etwa dem Vormunde gegenüber.
Nach dem Eintritte der Volljährigkeit ist der Vor¬
mund nicht mehr zur Vertretung des Mündels be¬
rechtigt und kann derselbe deshalb auch keine Er¬
klärungen mehr für diesen abgeben. Daraus folgt,
dass der Mündel nur dem anderen Theile gegenüber
die Genehmigung erklären kann. Der Wortlaut des
Gesetzes (§ 1829 Abs. 1 B. G. B) spricht zwar
scheinbar dafür, dass die Erklärung dem Vormunde
gegenüber zu machen ist, der sie seinerseits dem
anderen Theile mitzutheilen habe. Es darf aber
nicht übersehen werden, dass in Abs. 1 die Existenz
der Vormundschaft vorausgesetzt wird.
(L.-G. Metz, 28. August 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 2023.
§ 1906; § 27 R. F. G.
Die Entscheidung des Vormundschafts- bezw. Be¬
schwerdegerichts, dass eine „vorläufige Vormundschaft“
i. S. des B. G. B. § 1906 gegebenenfalls erforder¬
lich sei, kann, weil Sache des rein thatsächlichen Er¬
messens, nicht im Wege der weiteren sofortigen Be¬
schwerde (R. F. G. § 27, 69 5 , 20, 29 2 ) zur Nach¬
prüfung des O.-L.-G. gebracht werden, insofern die
gesetzlichen Voraussetzungen des § 1906 im übrigen
inhaltlich der Feststellungen des Beschwerdegerichts
(L.-G.) vorliegen.
Beschluss d. O.-L.-G. Karlsruhe vom 14. No¬
vember 1900. D. R. Entscheidungen Nr. 1039.
§ 1909.
Das Vomiundschaftsgericht hat vor Einleitung
einer Pflegschaft aus § 1909 Abs. 1 Satz 2 B. G. B.
*) Juristische Wochenschrift.
**) Das Recht.
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1002.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 2 1
zunächst die formelle und materielle Gültigkeit des
Testaments zu piüfen.
(K. G. 22. April 1 t;o 1).
D. R. Entscheidungen Nr. 2203.
§ 1910.
Uübereinstimmend mit „Recht“ 1900 S. 51 (>, Nr.
786, 787 (Bestellung eines Pflegers für einen geistes¬
kranken Beamten im Zwangspensionierungsverfahren.
Unmöglichkeit der Verständigung mit einem Geistes¬
kranken).
(K.-G. 21. Januar 1901).
D. R. Entscheidung Nr. 577.
§ *2231.
Zur gültigen Errichtung eines privatschriftlichen
Testaments ist nicht erforderlich, dass dasselbe in
deutscher Sprache verfasst wird. Das Gesetz stellt
vielmehr bezüglich der Sprache, in welcher ein der¬
artiges Testament zu errichten ist, kein Erfordern iss
auf.
(K. G. 29. Mai 1 o< > 1).
D. R. Entscheidungen Nr. 22 io.
§ 2238 A. I.
Zugelassen ist nur eine Erklärung durch ge¬
sprochene Worte, nicht durch .Zeichen, sodass ein
Testament, bei dem der Errichter sein Einverständ¬
nis« lediglich durch Kopfnicken zu erkennen gegeben
hat, nichtig ist.
(O.-L.-G. Stuttgart, 23. März 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1505.
§ 2242 A. 1 S. 2.
Die hier vorgeschriebene Feststellung im Testa¬
mentsprotokoll kann nicht durch eine nachträgliche
Bescheinigung des Protokollanten, „er habe das
Schriftstück dem Kranken . . . vorgelcsen, worauf
derselbe seine letztwillige Verfügung unterschrieben
habe“, ersetzt werden und noch weniger 'durch eine
ähnliche Bestätigungserklärung des bei der Aufnahme
der Urkunde zugegen gewesenen Zeugen.
(L.-G. Dresden, 13. Juni 1900h
D. R. Entscheidung Nr. 41 1.
IV. Einführungs-Gesetz zum
Bürgerlichen Gesetzbuch.
Art. 153 bis 156, 160.
Erkenntniss des Reichsgerichts IV. C. S. i. S. Marg.
c. Staatsanwaltschaft u. Gen. vom 3. Januar 19m
Nr. 277/1900. IV.
II. J. Kammergericht.
Das Berufungsurtheil ist aufgehoben und die Sache
an das Berufungsgericht zurückgewiesen.
Aus den Gründen.
Die aus dem materiellen Rechte hergenom-
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mene Beschwerde erweist sich als durchschlagend.
Auch wenn mit dem Berufungsgericht auf Grund der
Fassung des § 669 Absatz 1 der Civilprozessordnung
angenommen wird, dass demselben lediglich eine Prü¬
fung darüber oblag, ob der amtsgerichtliche Entmün¬
digungsbeschluss zur Zeit seiner Erlassung,
d. i. am 13. August 1898, gerechtfertigt war, — was
vorliegenden Falles um so unbedenklicher ist, als der
Kläger den Eintritt einer Aenderung in seinem gei¬
stigen Zustande für die seitdem verflossene Zeit gar
nicht behauptet —, so hatte doch das Berufungsge-
gericht auch in diesem Falle bei der Beschliessung
seines Urtheils, am 29. Juni 1900, hierüber nicht
mehr nach Allgemeinem Landrecht, sondern nach
Maassgabe der Vorschriften des seitdem in Kraft ge¬
tretenen Bürgerlichen Gesetzbuch zu entscheiden.
Die Frage, ob eine Person geisteskrank und deshalb
geschäftsunfähig oder bezw. in seiner Geschäftsfähig¬
keit beschränkt ist, betrifft die Feststellung eines Zu¬
standsrechts (Statusrechts). Dass auf dergleichen Zu-
standsrechtc seit der Wirksamkeit des neuen Gesetzes
dessen Satzungen anwendbar sind, geht schon im
Allgemeinen aus der Tendenz des Gesetzes, insbe¬
sondere aber auch aus den Artikeln 153 bis 156
und 160 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen
Gesetzbuche, zur Genüge hervor. Auch in dem Ur-
theil des erkennenden Senates vom 29. Oktober 1900
(IV, Nr. 244/00) ist bereits ausgesprochen worden,
dass vom 1. Januar 1900 an die Entmündigung wegen
Geisteskrankheit in einem zu dieser Zeit noch an¬
hängigen Verfahren nicht mehr nach altem, sondern
nach dem neuen Rechte zu beurtheilen ist.
In der vorliegenden Sache genügte es demnach
für den Berufungsrichter nicht, in Uebereinstimmung
mit dem Beschlüsse des Amtsgerichts vom 13. Au¬
gust 1898 festzustellen, dass der Kläger damals im
Sinne des £ 28 Titel I Thcil II des Allgemeinen
Landrechts blödsinnig (unvermögend, die Folgen sei¬
ner Handlungen zu überlegen) war. Seine Prüfung
hatte sich vielmehr nach dem 1. Januar 1900 darauf
zu erstrecken, ob sich aus dem von dem Amtsge¬
richte festgestellten Thatbestand auch die Folgerung
ziehen lasse, dass der bei dem Kläger damals vor¬
handene Geisteszustand eine Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche nach Maassgabc des § 0 Nr. 1
des Bürgerlichen Gesetzbuchs darstelle und
dass Kläger in Folge derselben gehindert war, seine
Angelegenheiten zu besorgen. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass der Gegenstand dieser Prüfung in dem
einen und in dem anderen Falle nicht derselbe ist.
J. W. p. 72.
Original frnm
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2.
Art. 155.
Die Frage, ob jemand geisteskrank und deshalb
geschäftsunfähig ist, muss von dem Richter, der da¬
rüber nach dem i. Januar i c>« »o zu erkennen hat,
auf Grund des neuen Rechts entschieden werden.
(R.-G. IV, 3. Januar 1901).
D. R. Entscheidungen Nr. 1045
Art. 210.
Pflegschaften, die nach § 90 der Pr. Vorm.-Ord¬
nung eingerichtet sind, verbleiben auch unter der
Herrschaft des B. G. B. in Kraft.
(O.-L.-G. Frankfurt a. M., 17. Okt. 1900).
D. R. Entscheidungen Nr. 1207.
Art. 210 A. 2.
Die Vorschrift, dass die bisherigen Vormünder
als nunmehrige Pfleger im Amte bleiben, greift dann
nicht Platz, wenn an Stelle der mit dem 1. Januar
1900 zu Ende gegangenen Vormundschaft eine Pfleg¬
schaft tritt.
(O.-L.-G. Jena I., 28. Mai 1 <j<>0).
D. R. luitscheidungen Nr. 1O9.
Art. 210.
Vormünder und Pfleger, die unter der Herrschaft
des früheren Rechtes befreit worden sind, sind vom
1. Januar 1900 nicht weiter befreit, als dies das B.
G. B. zulässt; insbesondere fällt jede Befreiung von
ij 1807 weg.
(K.-G. 29. Oktober 1900).
D. R. Entscheidung Nr. 418.
Art. 2 io A. 2.
Die Vorschrift des Art. 210 Abs. 2 E. G. z d.
B. (i. B., dass die bisherigen Vormünder im Amte
bleiben, bezieht sich nicht nur auf die bestellten,
sondern auch auf die gesetzlichen Vormünder.
Die allgemeine Fassung jener Gesetz Vorschrift
schliesst eine Unterscheidung zwischen Vormündern,
welche nach dem bisherigen Rechte bestellte oder
gesetzliche waren, aus, und auch die Materialien zu
derselben - Motive zu $ 128 d. Entw. eines E. G.
z. B. G. B. S. 303 — rechtfertigen die Annahme
nicht, dass eine solche Unterscheidung gewollt war.
In diesem Sinne wurde die in der Litteratur be¬
strittene Frage von dem Kammergericht (Johow Jahrb.
Bd. 10, S. 43) entschieden. Den gleichen Stand¬
punkt hat mit Bezug auf Landrechtsatz 393 a auch
das Grossherz. Bad. Justizministerium in den an die
Badischen Amtsgerichte erlassenen Belehrungen vom
6. Januar und 26. Februar 1900 (Bad. Rcchtspraxis
1900 S. 73, 74) vertreten.
R. G. Urth. vom 12. Febr. 1901. II 310/1900.
D. R. Entscheidung Nr. 489.
V. Civilprozessordnung.
§ 41 Z. b.
Die Ablehnung eines Sachverständigen kann in
der Berufungsinstanz nicht unter Anrufung des §41
Nr. 6 C. P. O. in der Weise begründet werden, dass
derselbe bereits in erster Instanz vernommen worden
sei und somit als Richtergehilfe bei der Entscheidung
erster Instanz mitgewirkt habe.
Entsch. des R. G. VII vom 7. Mai 1901.
D. R. Entscheidungen Nr. 1215.
§ 56*
Stellt sich heraus, dass der Beklagte schon zur
Zeit der Klagezustellung prozessunfähig war, ohne
mit einem gesetzlichen Vertreter versehen zu sein,
so ist das Gericht nicht befugt, das Verfahren durch
Beschluss auszusetzen, sondern es muss durch Urtheil
entscheiden.
(O.-L.-G. Dresden, 13. Juli 1900).
Stellt sich in der Berufungsinstanz heraus, dass
der Beklagte und Berufungskläger prozessunfähig ist,
und dies auch schon zur Zeit der Klagezustellung
war, ohne mit einem gesetzlichen Vertreter versehen
zu sein, so ist nicht etwa die Berufung als unzulässig
zu verwerfen, sondern die Klage unter Aufhebung
des ersten Urtheils und des bisherigen Verfahrens
abzu weisen.
(O.-L.-G. Stuttgart, 24. Mai 1901).
D. R. Entscheidungen 2119, 2120.
§ 406.
Die Ablehnung eines Sachverständigen ist nach
$ 406 Abs. 2 der C. P. O. nur so lange zulässig,
als nicht dessen Vernehmung oder bei schriftlicher
Begutachtung die Einreichung des Gutachtens erfolgt
ist, es sei denn, dass — was hier nicht zutrifft —
der Ablehnungsgrund früher nicht geltend gemacht
werden konnte. Der Sachverständige N., gegen
den die Kl. ein in dem angefochtenein Beschlüsse
zurückgewiesenes Ablehnungsgesuch eingebracht hat,
ist aber in dieser Prozesssache bereits wiederholt
vernommen und hat mehrfache schriftliche Gutachten
erstattet, darum ist die jetzt erst erfolgte Ablehnung mit
Recht als pfo< essual unzulässig angesehen. Die Be¬
schwerdeführerin behauptet zwar, es handle sich jetzt
um eim: neue Ernennung des Sachverständigen be¬
hufs der Beweiserhebung über ein neues Beweisthema,
allein das ist, wie die Fassung des ßeweisbeschlusses
vom 14. November 1900 klar zum Ausdruck bringt,
thatsächlich nicht der Fall. VI. C. S. i. S. Pfister e.
Kyllmann und Heyden vom 27. December 1900,
B. Nr. 232/1900 VI. J. W. p. 59.
§ 406.
Ein Ablehnungsgrund betreffs eines Sachverstän-
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tgoi.) PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 23
digen kann nicht daraus entnommen werden* dass
derselbe bereits in einer früheren Instanz vernommen
worden ist.
( 0 .-L.-G. Karlsruhe, 28. December igoo).
D. R. Entscheidungen Nr. 1088.
§§ 407,413-
Der Sachverständige kann die Erfüllung der ihm
obliegenden Verpflichtung zur Erstattung eines Gut¬
achtens nicht von der begehrten Zusicherung be¬
stimmter Gebührensätze abhängig machen.
(Kammergericht, 1. October igoo).
D. R. Entscheidungen Nr. 1089.
S 48/ Z. 3» 488.
Das Gericht ist an die benannten Sachverstän¬
digen gebunden und muss sie vernehmen. Der An¬
tragsteller hat somit ein durch § 4<>4 Abs. 1 nicht
besc hränktes Vorschlags r e c h t.
(R. G., 24. September 1901.)
D. R. Entsc heidungen Nr. 2554.
$ 5 () 7 -
Wenn der Antrag der das Entmündigungsverfah¬
ren betreibenden Staatsanwaltschaft auf nochmalige
Vernehmung von Sachverständigen seitens des Amts¬
gerichts abgelehnt worden ist, so ist hiergegen Be¬
schwerde zulässig.
(L.-G, Darmstadt, b. Juni igoi).
D. R. Entscheidungen Nr. 2275.
$ () S°-
Dem Geiste des Gesetzes entspricht cs, dass über¬
all da, wo der Eindruc k der Person des zu Entmün¬
digenden für den Ausfall der richterlichen Entscheidung
Bedeutung gewinnen kann, dieses Erkcnntnissmittel
auch verwerthet wird. ‘ Deshalb wird sich der Richter
des Aufenthaltsortes im Zweifel nicht der Aufgabe
entziehen dürfen, über die beantragte Entmündigung
sachlich Entscheidung zu treffen.
(O.-L.-G. Dresden, 5. November 1900.)
D. R. Entscheidung Nr. 1433.
§ ( > 5 °-
Uebereinstimmend mit „Recht“ S. 375. Nr. 202.
K. -G. 30. März 1000, während das Bayr. Oberst.
L. -G. vom 10. März 1900 anscheinend etwas weiter
geht, indem es sagt:
„Leitender Gesichtspunkt für Zulassung der Ueber-
weisung war, dass es für die Sicherheit des Verfahrens
von erheblichem Werthc sei, wenn derjenige Richter
das Urtheil fälle, der den zu Entmündigenden vor
Augen gehabt und vernommen habe. Demgegenüber
könne die Folge der Ueberwcisung nicht durchschlagend
sein, dass bei einzelnen Gerichten, in deren Bezirk
sich Irrenanstalten befinden, eine Fülle von Entmün¬
digungssachen erwachsen könne.“ Nach der Ansicht
des Kammergerichtes sollte durch die Fassung des
Gesetzes gerade die Möglichkeit der Ueberlastung
einzelner Gerichte ausgeschlossen werden.
D. R. Entscheidung Nr. 219.
$ f> 50 .
Die nac hträgliche UeberweisungdcsEntmündigungs¬
verfahrens an das Amtsgericht, das den zu Entmün¬
digenden bereits auf Ersuchen des zur Einleitung des
Verfahrens zuständigen Amtsgerichts vernommen hat,
ist zulässig.
(O.-L.-G. Dresden, 8. Oktober iqoo.)
D. R. Entscheidungen Nr. 1656.
S 650.
Gegen die Entscheidung aus $ 050 Abs. 3 giebt
es keine Beschwerde.
(K. G. 30. März igoo.)
D. R. Entscheidung Nr. 220.
$ <> 50 .
Gegen die Entscheidung aus § 650 :l steht den be¬
theiligten Gerichten kein Rechtsmittel zu.
(O.-L.-G. Dresden, 13. Dezbr. igoo.)
D. R. Entscheidungen Nr. 1432.
§§ 650, (>53.
Die Uebernahme der Verhandlung und Entschei¬
dung über den Entmündigungsantrag kann nicht wegen
mangelnder Angabe der Gründe, aus welchen die
Verbringung des zu Entmündigenden in die Irren¬
anstalt erfolgte, abgelehnt werden.
(Bayer. Oberstes L.-G., I. Juli igoi.)
D. R. Entscheidungen Nr. 2428.
f>54* f>55» () 7 l -
Auc h in solchen Fällen, in denen für das Prozess¬
verfahren der ersten Instanz der § 598 a F. (jetzt
$ <>54) massgebend war, ist, wenn zur Zeit der Ver¬
handlung in der Berufungsinstanz die neue Vorschrift
des § O34 in Kraft getreten war, diese Bestimmung
anzuwenden. § O71 Abs. 1 C. P. O. muss nach den
allgemeinen Vorschriften dieses Gesetzbuches auch in
der Berufungsinstanz Anwendung finden. In gleicher
Weise hat schon der III. C. S. des R. G. in einem
Urt. vom 12. Oktober 1900 Rep. III Nr. 185/00
entschieden.
Urtheil des R. G. vom 20. November igoo in
der Sache Rep. II Nr. 2b0/00.
I). R. Entscheidung Nr. 118.
8 654.
Die Vorschrift, dass der zu Entmündigende per¬
sönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sach¬
verständigen zu vernehmen ist, ist im Interesse und
zum Schutze des zu Entmündigenden gegeben. .Die
Vernehmung darf deshalb nicht aus dem Grunde unter-
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-4
bleiben, weil das Gericht dieselbe als unerheblich für
seine Entscheidung erachtet.
Beschluss der I. C. K. des L.-G. Elbcifeld vom
20. September i()Oi.
D. R. Entscheidungen Nr. 2153.
£1 f) 54 > (r> 7 1 •
Als eine „besondere Schwierigkeit 4 " i. S. des Abs.
3 des | #134 ist das Ausbleiben oder die Weigerung
des zu Entmündigenden, zu erscheinen, nicht anzu¬
sehen, da das Gesetz die Vorführung desselben ge¬
stattet, die Vernehmung des zu Entmündigenden muss
unter Zuziehung mindestens eines Sachverständigen
erfolgen. Dies gilt auch für das Anfechtungsverfahren.
§ O71 Abs. 2 bezieht sich nur auf $ (>55.
(R.-G. IV. C. S. 12. Oktober 1900.)
D. R. Entscheidung Nr. 851.
§ () 57 *
1 lat der Entmündigungsrichtei dem Vormundschafts¬
richter Mittheilung von der Einleitung eines Entmün-
digungsverfahiens behufs Anordnung der Fürsorge für
die Person oder das Vermögen des zu Entmündigenden
gemacht, so hat der Vormundschaftsrichter nicht zu
prüfen, ob das Verfahren zu Recht eingeleitet ist
bezw. fortgeführt wird.
(K. G. 25. Februar iqoi.,
L). R. Entscheidungen Nr. 1057.
II (>04, <)(*(>.
Im Prozesse über die Anfechtungsklage ist nur
darüber zu entscheiden f ob die Entmündigung zu der
Zeit, zu der sie ausgesprochen wurde 4 , zu Recht er¬
folgt ist. Für diese Frage ist es ohne Bedeutung,
wenn die Legitimation der Antragsteller weggefallen ist.
Dies hat nur zur Folge, dass sie vom Augenblic ke
des Wegfalls an kein Recht mehr haben, zum Pro¬
zesse zugezogen zu werden.
(O.-L.-G. Hamburg* 18. März.)
I). R. Entscheidungen Nr. 1538.
I 071
Zutreffend erscheint der von der Revision er¬
hobene Vorwurf einer Verletzung des | (>71 Abs. 1
und des § Ö54 der C. P. O. Der zunächst nur für
das amtsgerichtliche Entmündigungsverfahren geltende
| 054 a. a. O. leidet nach | (>71 Abs. 1 auch in
dem Verfahren über die Anfechtungsklage, und zwar,
wie Mangels einer entgegenstehenden Bestimmung
nach den allgemeinen civilprozessualen Grundsätzen
anzunehinen ist, sowohl in der landgeriehtliehcn wie
in der Berufungsinstanz entsprechende Anwendung.
Das B. G. musste daher, abgesehen von dem hier
nicht in Betracht kommenden Falle des £ 054 Abs.
3 a. a. O. dem von dem Amtsgericht entmündigten
Kl. persönlich, unter Zuziehung eines oder mehrerer
[Nr. 2.
Sachverständiger vernehmen. Ausweislich des Ver-
handlungsprotokolles vom 29. Juni 1900 ist jedoch
diese Vernehmung ohne Zuziehung eines Sachver¬
ständigen erfolgt. Der gerügte Verstoss liegt mithin
vor, und dass auf ihm das angefochtene Urtheil auch
b< ruht, erscheint nach dem Inhalt der Entscheidungs¬
gründe keineswegs ausgeschlossen, da die Zurück¬
weisung der Berufung daselbst ausdrücklich auf das
Gutachten der vernommenen Sachveiständigen mit-
gegründet wird. (Vcrgl. auch die Urtheilc des R. G.
III. C. S. vom 12. Oktober 1900, III Nr. 185/00,
und II. C. S vom 20. November 1900, II Nr. 2(10/00.)
R.-G. IV. C. S. i. S. Marg C. Staatsanwaltschaft u.
Gen. vom 3. Januar 1901, Nr. 277/1900. IV.
J. W. pp. 80.
|| Ö71, 054.
Wenn der Berufungsrichter es unterlassen hat, in
dem auf Aufhebung der Entmündigung gerichteten
Verfahren den Entmündigten mit Zuziehung von Sach¬
verständigen zu vernehmen, so ist das Urtheil nichtig.
(R.-G. IV. 3. Januar iooi.)
1 ). R. Entscheidungen Nr. 1098.
|| (>8b Abs. 4, (>(>5.
Zuständig für die Wiederaufhebungsklage ist das
Landgericht, in dessen Bezirk das Amtsgericht belegen
ist, welches den Antrag auf Aufheining der Entmün¬
digung abgelehnt hat.
(O.-L.-G. Naumburg, 15. März 1901.)
D. R. E 7 ntscheidung.cn Nr. 1539.
VI. Handelsgesetzbuch.
S 2-
Ist der Betrieb einer Krankenheilanstalt Selbstzweck,
hat also der Arzt die Absicht, gerade aus der Ge¬
währung von Aufenthalt und Unterhalt gegen Knt-
geld Gewinne zu ziehen, und stellt die ärztliche
Thätigkeit sieh nur als ein, wenn auch wesentliches,
Glied in der Kette derjenigen Einrichtungen dar,
welche in ihrer Zusammenfassung als Anstaltsbetrieb
Gewinn ab werfen sollen, so muss das Vorhandensein
eines gewerblichen Unternehmens anerkannt werden
und die Anstalts-Firma ist zur Eintragung in das
Ha 11 delsregistei anzumelden.
Gerade in Bezug auf die Anwendung des | 2 des
Handelsgesetzbuchs ist in der Denkschrift hierzu be¬
merkt : „Der Ausdruck gewerbliches Unternehmen
braucht im Gesetze nicht näher erläutert zu werden ;
schon vermöge der Bedeutung, welche ihm nach dem
allgemeinen Sprachgebrauchc zukommt, genügt er, um
die Ausübung der Kunst, der Rechtsanwaltschaft, des
ärztlichen Berufs u. s. w. auszuschliessen 4 ' (Hahn-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
u;o2.] PS YCHIAT RISCH-N E U R<) LOG ISCHE \VO( H ENSCH RIFT.
Mr.gdan a. a O. S. 197). Auch in der einschlägigen
handelsrechtlichen Litteratur wird zumeist angenommen,
dass der Beruf des Arztes nicht als Gewerbe im Sinne
des Handelsgesetzbuches gelten könne. (Kumm, zum
II. G. B. von Düringer-Hachenburg, Bd. i, S 27,
Lehmann S. 4, Staub 0. und 7.. Aufl. Bd. 1, S. 44.)
Nach allen diesen Zeugnissen kann es keinem be¬
gründeten Zweifel unterliegen, dass nach dem allge¬
meinen Sprachgebrauche die Berufsthütigkeit des Arztes
nicht ein Gewerbe darstellt und dass, da dieser Sprach¬
gebrauch für Hie Auslegung des § 2 des Handelsge¬
setzbuchs entscheidet, die Ausübung dieser Thätig-
keit nicht die Begriffsmerkmale des gewerblichen
Unternehmens im Sinne des § 2 erfüllt. Allerdings
gilt alles dies nur von der Ausübung des ärztlichen
Berufs als solchen. Ist dagegen mit ihr der Betrieb
einer Heilanstalt verbunden, so kann darin sehr wohl
ein Gewerbebetrieb gefunden werden. Für die Ab¬
grenzung ist entscheidend, ob der Betrieb der Anstalt
selbständiges Mittel zur Erzielung einer dauernden
Einnahmequelle ist oder ob der Anslaltsbetrieb sich
lediglich als Mittel dem Zwecke unterordnet, die, wenn
25
auch mit Gewinnbezug verbundene, Ausübung der
ärztlichen Berufsthütigkeit zu ermöglichen oder zu
fördern. Im ersteren Falle liegt ein Gewerbebetrieb
vor, im letzteren nicht. Danach ist das Moment der
Gewerbsmüssigkcit jedenfalls dann nicht gegeben, wenn
der Arzt eine Pri »'atkrankcnanstalt lediglich für Lehr¬
zwecke oder zur eigenen Fortbildung oder für wissen¬
schaftliche Untersuchungen halt. Aber auch in den¬
jenigen Fällen, in welchen der Arzt mit dem Betliebe
solcher Anstalt nur bezweckt, die sachgemässe Aus¬
übung seiner ärztlichen Thätigkeit zu sichern, ohne
dass die Absicht bestellt, aus dem Anstaltsbeti ieb als
solchen Gewinn zu ziehen, kann ein Gewerbebetrieb
nicht angenommen werden. lYbeiall ist hier das die
Gewerbsmässigkeit ausschliessende Moment, dass der
Arzt, wenn er auch wie jeder, der einer gewinn¬
bringenden Beschäftigung nachgeht, Geld verdienen
will, dies doch nur mittels seiner Benifstbüligkeit als
Arzt und nicht als Anstaltsuntei nehmei thun will
Kammergericht Berlin, 14. Januar 1901.
D. R. Entscheidung Nr. 04 7.
Mittheilungen.
— Die schweizerische Psvcbietci Versammlung
findet am 19. Mai (Pfingstmontag) in Pirmingsberg
statt.
— Kgr. Sachsen. Aus der neuerbauten Kgl.
sächsisc hen Anstalt G n »ss - S e h we i d n i t z , welc he
wegen ihre Vorzüglichen Einrichtung das Interesse
weitester Kreise erweckt, wird uns gesc hl ichen:
„Es haben während der letzten Wochen rund
8000 Personen aus allen Theilen des Aufnahmebe¬
zirkes, darunter 44 Vereine, die hiesige Anstalt be¬
sichtigt. Täglich fanden ärztliche Führungen statt.
Allen Besuc hern wurden vor der Besic htigung populäre
Vorträge über moderne Irrenpflege, Anstaltseinrich-
tungen, besonders die von Gross-Sehweidnitz, über die
sächsischen Pflcgcreinrichtungcn, sowie über den säehs.
Irrenhilfsverein gehalten, die mit grossem Interesse
entgegengem unmen wurden.
Hoffentlic h ist auf diese Weise manches Vorurtheil
bekämpft, manche schiefe Ansicht der hiesigen Be¬
völkerung über Irren pflege u Anstaltseinrichtimgen
beric htigt worden. Die 4 Wochen waren allerdings
sc hwer. Das Gedränge war oft geradezu beängstigend.“
Die Anstalt Gross-Sc hweidnitz dürfte unter den
in der letzten Zeit erbauten Instituten dieser Art die
erste Stelle einnehmen.
— Pommern. Aus den Beschlüssen des 29.
Provinzial-Landtages der Provinz Pommern, der vom
12. bis 16. März d. Js. in Stettin getagt hat, ist
Folgendes als für das Irren wesen von Interesse zu
erwähnen.
Bei der Provinzial-Irren-Anstalt bei Ue< bei münde-
wird eine zweite Erweiterung vorge-nommen weiden
und zwar sollen erbaut werden 2 massixe Baracken
für anslec krude Krankheiten, ein Wohnhaus für weib¬
liche Pensionäre-, ein Beamtenhaus (III. Arzt und
Rendant) und ein Würtcrw«»lmhaus, ausserdem wird
der Wirt.sc. haftshof durc h Neu-und Erw eiterungshauten
vergrössert; die Gesammtanschlagssumme beläuft sich
auf 202 400 Mark. Bei der Provinzial-Trrenanstalt zu
Treptow a. R. wird ein Wohnhaus für den Yeiwal-
tungsassistenten und zwei Unterbeamten zum An-
schlagsprcise voll 40000 Maik errichtet werden.
Bei der Provinzial-Irren-Anstalt Lei Ucckermünde
ist die Stelle eines Assistenzarztes in die: eines III.
Arztes iimge-wandelt. Die Gehälter der Obeiärzte
und 4. Aerzie sind nicht unwesentlich aufgebessert.
Nicht nur den zweiten ()beiärztcn an den 4 Anstalten,
sondern auch den 4. Aerztcn in Lauenbiirg
und Treptoxv a. R. ist Anstellung a 11 f Leb c n s z e i 1
verliehen; — die Bezeichnung „Warte-personal 1 * i>t in
„Pflegepeis» >nal“ umgexvandelt.
Der bekannte Prozess „Fuhrmann** hat am
20. März 1002 in zweiter Instanz bei dem Land¬
gericht in G »1 »lenz mit einem Vergleich der Parteien
geendet, wobei die Angeklagten folgende! Erkiäirmu
abgaben;
Erklärung.
Die Vnferwidmeten erkennen hiermit ri'nk-
haltslos an, dass die Verbringung des
Joseph Fuhrmann aus Neuenahr
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HARVARD UN1VERSITY
26 PSYCHIATRISCH-NEUR« >LOGISCIIK WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2.
in die Provinzial-Heil- und Pflege-Ansalt Ander¬
nach durch seine Ehefrau vollständig gerechtfer¬
tigt und geboten war , nnd dass dabei alle gesetz¬
lich gegebenen Vorschriften beobachtet worden sind.
Wir erkennen ferner an, dass die im Urtheil
erster Instanz des Amtsgerichts Ahrweiler vom
14. December enthaltenen Feststellungen , insofern
sie Nachtheiliges über die Persönlichkeit und den
Charakter der Ehefrau Fuhrmann enthalten, den
thatsächliehen Verhältnissen nicht entsprechen.
Wir bedauern , dass durch unsere Mitthei-
Inngcn, und namentlich durch den Artikel in dem
Köhier Tageblatt, über das Verhalten der Ehe¬
frau Fuhrmann , sowie über das Verhalten der
betheiligten Aerzle und Anstalt unrichtige Vor¬
stellungen in die Oeffentlichkcit gebracht worden
sind.
Wir übernehmen ah Gesmnmtschiddner die
sämmtlichcn Kosten beider Instanzen und ermäch¬
tigen die Ehefrau Fuhrmann, vorstehende Er¬
klärung in folgenden Zeitungen auf unsere Kosten
öffentlich bekannt zu machen , nämlich;
1. dem Kölner Tageblatt,
2. dem General-Anzeiger für Bonn und Um¬
gegend ,
2. der Ahrweiler Zeitung ,
1. einer in Magen erscheinenden Zeitung.
5. der Coblenxer Volkszeitung.
Coblenz , den 26. Marx 1902.
J. Dietz. M. Borg. Emil Borg.
A. J. Irmgartz. Frau A. J. Irmgartz.
Für diejenigen Herrn Kollegen, welche diesen
Prozess in der Tagespresse nicht verfolgt haben,
theilen wir folgendes mit.
Im August wurde der Kaufmann Jos. Fuhrmann zu
Neuenahr in Folge starken Trinkens in die Irrenan¬
stalt Andernach gebracht und zwar auf Grund des
Gutachtens des Dr. Niesen durch Leute, die von der
Frau des Fuhrmann bezahlt waren. Hierauf erschie¬
nen in dem Kölner Tageblatt drei Artikel vom 30.
August, 4. September und 12. September v. J., in
welchen behauptet wurde, dass die Frau Fuhrmann,
ein früheres Dicnstmfnleben bei ihm, ihren Mann
Familienverhaltnisse halber widerrechtlich in eine
Irrenanstalt hätte unterbringen lassen. Wegen dieser
Artikel und wegen verschiedener Acusserungen, die
über die Frau F. gemacht wurden, erhol) sic beim
Schöffengericht in Ahrweiler eine Privatklage und
zwar 1. gegen den Direktor und Chefredacteur Jean
Dietz, 2. den Redacteur Gustav Delphy zu Köln,
3. den Kaufmann Moritz Borg, den Kaufmann Emil
Borg, 5. den Gästwirth Aut. |os. Irmgartz und 6.
dessen Ehefrau, alle aus Neuenahr. Das Schöffenge¬
richt wies aber durch Urtheil vom 14. December die
Klage kostenfällig ab, weil das Schöffengericht an-
nalnn, dass die Beschuldigten in Wahrung berech¬
tigter Interessen gehandelt hätten. Gegen dieses
Urtheil hat die Privatklägerin und die königliche
Staatsanwaltschaft Berufung erhoben. Zu der neuen
Verhandlung waren etwa Oo Zeugen und als Sach¬
verständige die Herren Dr. Niesen, Kreisarzt Dr.
Kohlmann, Dr. Ehrenwall, Dr. Schultzc und Dr.
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Länderer, Direktor der Provinzial-Irrenanstalt in An¬
dernach geladen.
Besonderen Dank verdient das energische Vor¬
gehen des Herrn San.-Rath Dr. Ehren wall, der
bei Gericht, als der Vergleich angebahnt wurde, da¬
rauf hinwies, dass die Irrenärzte ebenfalls an dem
gerichtlichen Urtheilsspruch ein hohes Interesse hätten
angesichts des Schadens, welchen das Ansehen der¬
selben durch die Presse bei diesem Vorfall erlitten
hätte.
Der Vorsitzende erklärte darauf, dass die Inter¬
essen der Aerzte im Tenor des gerichtlichen Ur-
tlieils keinesfalls, dagegen sehr wohl in den Ver¬
gleichsverhandlungen wahrgenommen könnten. Und
so geschah es auch.
Referate.
— Bloch, Beiträge zur Aetiologie der Psycho¬
pathie sexualis. Dresden, Dohrn, 1002. 272 Seiten.
7 M. Erster Thcil.
Verf. will vor allem in seinem sehr anregenden,
neben vielem Bekannten doch auch Neues, hie und
da freilich Anfechtbares, enthaltenden Buc he den
Nachweis führen, dass allen sexuellen Anomalien all¬
gemein menschliche Bedingungen zu Grunde liegen,
dass sie sich deshalb zu allen Zeiten und bei allen
Völkern in gleicher Weise wiederfinden. Er stellt
diese seine „anthropologisch-medizinische Theorie“ der
medizinischen und historischen Theorie gegenüber auf.
Auf der andern Seite leugnet er so ziemlich ganz die
„angeborenen Fülle von Homosexualität und führt sie
auf äussere Ursachen zurück. Freilich ist er sich
selbst bewusst, dass seine Beweisführung keine ganz
strenge ist. Rcf. glaubt, dass es in der That,
wenn auch selten genug, „angeborene“ Homosexualität
giebt. Siedler tritt hier die Neigung zum gleichen
Geschleckte sehr früh auf und durchaus nicht immer
gelingt es, eine äussere Ursache dafür aufzufinden.
Aber selbst wenn das geschieht, sc'» muss man doch
eine sehr grosse Disposition dazu als angeboren an¬
erkennen, wenn unbedeutende Ursachen, Anblick von
Genitalien, ein sexueller Schmerz etc', eine so tiefe
Wirkung hervorbrachten. Uebrigens behandelt Bloch
in seinem Buche blos allgemein die Ursachen der
perversen Sexualität und nur die speziellen der Homo¬
sexualität. Die einzelnen Perversionen sollen in einem
2. Buche näher betrachtet werden. Mit Recht ver¬
langt Verf., dass jeder sexuell Perverse auf schwere
erblic he Belastung und Stigmata hin untersucht werde.
Unter den Gründen zum Abirren des Gesell lech ts-
trieb’s stellt er den geschlechtlichen „Reizhunger“ oben
an; wichtig sind auch ferner Klima, Rasse. Bei den
Juden soll Homosexualität sehr selten sein (dafür aber
wohl die Geilheit grösser. Ref.). Sämmtliche Per¬
versionen finden sieh schon bei Naturvölkern vor.
Sehr wichtig ist vor allem das Geschlecht (bei Frauen
sind Perversionen seltener), Ehe, Cölibat, die Civili-
sation, die Phantasie (daher so oft bei Künstlern).
Die meisten Perversionen finden sich als religiöse
Institutionen vor, wie des Näheren bewiesen wird.
Der Abschnitt über religiöse Prostitution ist ein sehr
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1 902.1 PSVCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
interessanter, wie auch bez der steten Berührung des
Religiösen mit dem Sexuellen, in Askese, Mönchsthum
und besonders im Hexenglauben, der nur aus dem
Geschlechtstrieb abgeleitet wird (Letzteres möchte
Ref. doch nicht als so absolut sicher hinstellen). Die
casuistischc Literatur der Theologen, wie die Schriften
der Heiligen sind wahre Fundgruben für Sexualität,
ebenso die Predigten des Mittelalters Klassisch zeigt
sic h diese religiös-sexuale Berührung im Phallus-Kultus,
im Flagellantismus etc. Neben allgemeinen Einflüssen
auf das Geschlechtsleben kommen noch individuelle
in Betracht; Abnormitäten der Genitalien, Kürze des
Frenulums, Impotenz, Hermaphroditismus; sehr die
Onanie (besonders wichtig für Päderastie), dann Al¬
kohol, Opium, die Mode, (deren Rolle sehr hübsch
geschildert wird, besonders im Korsett und der Tur-
nüre,) spezielle Kleiderstoffe (Wolle, Pelz). Noch viel
wichtiger aber ist das Bedürfnis nach Variation im
geschlechtlichen Verkehr und die Sucht, den Genuss
zu vergrössem. Mit der Häufigkeit der Reize steigert
sich das sexuelle Variationsbedürfnis. Dazu kommen
Müssiggang und Blasirtheit. Ebenso gross ist die
Rolle der direkten Verführung (durc h Dienstmädchen,
Erzieher, Bordellhuren etc.), dann Anhäufungen von
Menschen (Schulen, Klöster, Kasernen etc.), Kriegs¬
züge, Theater, öffentliche Aborte, intimes Zusammen¬
leben mit Thieren. Von ungeheurer Bedeutung ist
ferner die erotische und obseöne Literatur, die ein¬
gehend berücksichtigt wird, ebenso die obseönen Dar¬
stellungen, namentlich Photographien, sogar Museen,
Kunstausstellungen können gefährlich werden, auch
Ballette, Zirkus. Bez. der Homosexualität glaubt
Verf., dass die Zahl der Urninge keine grosse ist
(? Ref.). Neben den ersten Eindrücken sexueller Art,
kommt noch alles dazu, was die Abneigung gegen
das Weib begünstigt, die Furcht vor Ansteckung, Ab¬
norme Beschaffenheit und Erkrankung der Analgcgcno,
die eine erotogenc Zone erzeugt, Analmasturbation,
Berühren dieser Gegend, künstliche Effemination, Miso-
gynie des Wüstlings, starke Geilheit, meist aber Ver¬
suchung durch Urninge und die männliche Prostitution.
Verf. will endlich den $ 175 nicht aufgehoben, sondern
nur geändert haben. Er hält eine Aufhebung des¬
selben für sehr gefährlic h, was Ref. nicht anerkennen
kann. Medizinalrath I)r. P. Näcke,
Hubertusburg.
— Havelock Ellis. Geschlechts trieb und Scham¬
gefühl. Autorisierte Übersetzung von Julia E. Kötsrher
unter Redaction von Dr. med. Max Kötschor. Zweite,
unveränderte Auflage. Würzburg. A. Stübers Verlag
(C. Kabitzsch). icjoi. p )4 S. Brosch. Mk. 5,—,
gebunden Mk. 6,—.
Verf. giebt in der vorliegenden Arbeit drei Studien,
die er als nothwendige prolcgomena für eine Ana¬
lyse des geschlechtlichen Instinctes bezeichnet.
In der ersten Studie bespricht er die Entwicklung
des Schamgefühls, der instinctiven Frucht, welche sexu¬
elle Vorgänge zu verheimlichen bestrebt ist. Sie tritt
beim Weibe um so viel stärker auf als beim Mann,
dass sie geradezu als einer der wichtigsten secundären
Gescbleehtscharaktere des Weibes auf psychischem Ge¬
biete bezeichnet werden kann. Es lassen sich beim
Schamgefühl zwei Furchtgefühle unterscheiden; das
eine ist von vormenschlichem Ursprung und geht
nur vom weiblichen Wesen aus — ursprünglich dazu
geschallen, den aggressiven Mann femzuhalten fordert
cs ihn später vielmehr zu seiner Ucberwindung auf —,
das andere ist von ausgesprochen menschlichem
Character, eher socialem als sexualem Ursprung; hier¬
zu gehören die Furcht, F.kel zu erregen, sowie rituelle
und gesellschaftliche Rücksichten. Besonders nach¬
drücklich hebt er hervor, dass das Schamgefühl ur¬
sprünglich von der Kleidung ganz unabhängig ist; es
isi eher ein Resultat als eine Ursache der Bekleidung;
diese hat nicht sowohl den Zweck, die Geschlechts¬
organe zu bergen als vielmehr hervorzuheben. Nackt¬
heit ist eben keuscher als theilweise Verhüllung. Die
physiologische Grundlage des Schamgefühls bildet der
vasomotorische Mechanismus, dessen sic htbares Zeichen
das Errothen ist. Fast ist es richtiger zu sagen, dass
Mensc hen schamhaft, weil sie errothen oder fühlen, dass
sic errothen können, als umgekehrt. Unter den Wilden
ist das Schamgefühl viel eingewurzelter als bei civi-
lisierten Völkern, bei den unteren Klassen ist es viel
unüberwindlicher als bei den gebildeten Klassen.
Im zweiten Kapitel behandelt er das Phänomen
der Sexual-Periodicität. Ueberall ist zu beobachten,
dass sich die Geschlechtsthätigkcit in regelmässigen
Zeiträumen wiederholt. Rhythmus ist überhaupt das
Kennzeichen jeden biologischen Vorgangs. Wenn
Verf. hierbei, um einen gewissen Einfluss des Mondes
darzuthun, auf die bekannte Koster sehe Arbeit zurück-
greift, so werden ihm hier sicherlich nur wenige Psy¬
chiater folgen. Verf. setzt bei der ihrem Wesen nach
unbekannten Menstruation ein und äussert sieh des
eingehenderen über deren Einfluss auf die sociale
Stellung der Frau. Imlcss kann man auch beim
Manne einen menstrual-phvsiologischen Cyclus an¬
nehmen, wenngleich bestimmtes Beweismaterial noch
fehlt. Schon früher ist des öfteren daraufhingewiesen
worden, dass man beim Manne rnonatliclieSchwankungcn
oder Aenderungen von körperlichen und geistigen, nor¬
malen und pathologischen Eigenschaften beobachten
kann; vor allem lässt sieh dann eine Zunahme der ge¬
schlechtlichen Erregung beobachten. Pan Professor der
Biologie constatierte bei sich in einem zweijährigem Zeit¬
raum einen Höhepunkt de*r Träume und Pollutionen,
der regelmässig alle 28 Tage einsetzte. Die Selbst¬
beobachtung eines anderen Autors, die 1 2 Jahre währte,
wird angeführt; hier Hess sic h ein deutlicher wöchent¬
licher Rhythmus bezüglich der Pollutionen teststrllen,
der den monatlichen Rhythmus fast verdeckte. In
einem Nachtrage berichtet PerrydA »sie über seine Jahre
lang hindurc h geführten Aufzeic hnungen ; hier Hessen
die Pollutionen einen jälnlirhen, monatlic hen, wöchent¬
lichen Rhvthmus erkennen. Uebrigens bittet dieser
Autor die Vorsteher der Hochschulen, eine Anzahl
ihrer Studenten zu weiteren Nachforschungen zu ver¬
anlassen; er verhehlt sieh hierbei nic ht, dass verwerth-
bare Resultate nur erreicht werden können bei aller
Sorgfalt und Genauigkeit der Notizen sowie bei sexueller
Abstinenz.
P'r erörtert auch die jährlic he Sexualperioclicität, die
Tendenz einer periodischen Steigerung des Geschlechts-
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
2 8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2.
triebes im Frühjahr und Herbst, eine Tendenz, welche
sieh auch bei der unwillkürlichen geschlechtlichen Er¬
regung kundgiebt.
Der dritte und bei weitem grösste Abschnitt ist
eine Studie über den Autoerotismus. Hierunter ver¬
steht Yerf. die unwillkürlichen Aeusserungen des Ge-
schlechlstriebos, die spontane geschlechtliche Erregung
ohne irgend welche? Anregung, direct oder indirect,
seitens einer anderen Person. Das ist ein weites Ge¬
biet geschlechtlicher Bethätigung, das sic h entrollt
von den gelegentlichen wollüstigen Tagesträumen bis
zur sc hamlosen Onanie Geisteskranker. Als typische
Form des Autoerotismus bezeichnet Verf. die gesteigerte
geschlechtliche Erregung während des Schlafes, wo
das Individuum im Gegensatz zu anderen Formen des
Autoerotismus keine' freiwillige Rolle spielt. Er will
keine erschöpfende Discussion über alle Erscheinungen
des Autorrotismus geben, sondern nur bestimmte
Punkte untersuchen , wie seine Ausdehnung, seinen
Charaeter, seine moralisc hen, phvsischcn und sonstigen
Folgen. U. a. erörtert er die ursächlichen Beziehungen
zwischen Autoerotismus und Hysterie; erzeigt, welche
Umwandlungen die Lehre? von der Actiologic der
Hysterie im Laufe der Zeiten erfahren hat las zu der
jüngsten von Freud und Breuer aufgestellten Lehre.
Yerf. steht dieser sympathisch gegenüber, wenn er
auch in den Verletzungen der sexuellen Empfindungs¬
sphäre nicht grade den Hauptfac tor sieht.
Ausführlich spricht Verf. über die Ausbreitung der
Masturbation bei den verschiedenen Geschlechtern
und Altern, ihre Folgen und deren Beurteilung zu den
verschiedenen. Zeiten. Die berüchtigten populären
Bücher, deren Auspreisung mau in so vielen Tages¬
blättern begegnet, deren weitverbreitete; Lectiirc solchen
Schaden stiftet, sind übrigens schon recht alten Da¬
tums. Das erste derartige Machwerk erschien in Eng¬
land und zwar bereits im Anfänge des 18. Jahrhun¬
derts; es erlebte nicht weniger als 80 Auflagen. Natür¬
lich wurde eine „stärkende Tinctur“ empfohlen und
deren Wirkung in vielen mitabgedruckten Briefen sehr
geh >bt.
Massige Masturbation schadet einem erblich
nicht belasteten Menschen nicht. Eine sprei fische ona-
nistische Psychose giebt es nicht: eher ist das Onaniren
(‘in Symptom als Ursache' des Irreseins. Wird die
Masturbation bei Leuten beiderlei Geschlechts geübt,
die über das Pubeitätsalter hinaus sind und sonst ein
keusches Leben führen, so geschieht das wohl, weil
sie eine körperliche und geistige Erleichterung und
Beruhigung erfahren. Er enthält sich eingehender
Bemerkungen über 'Heilung und Verhütung; wir
wissen noch zu wenig, vor allem auc h über das Ver¬
halten normaler Personen und arbeiten vielfach mit
einer übel angebrachtem, nicht berechtigten didaelischen
Moralität.
Das Buch fesselt durch eine Fülle von Beobachtungen
und Bemerkungen, die nicht nur den Arzt, sondern
auch den Anthropologen und Ethnologen angehen;
gerade* hierbei zeigt Verf. seine ausserordentliche Bo-
l‘iir den i odactioin-ll« ii lini; \ r: antw 01 t'm h : Üla
Krsrhrmt irden Sonnabend — Schiuss der Inse» alonann.ihmr ) Tilge
1 ieynemann’scbe Burhdrm kejrei
lesenheit, die es ihm ermöglicht, die Stellung der ver¬
schiedensten Völker und der verschiedensten Zeiten
zu den einschlägigen Fragen anzugeben.
Verf. stellt weitere Studien, so über die Ver-
schiedenheitder Tendenz des Auftretens des Geschlechts¬
triebes bei den beiden Geschlechtern in Aussicht,
und auch diese werden sicherlich die gleiche Aufnahme
finden, wie das vorliegende Buch, das innerhalb kmzer
Zeit in zweiter Auflage erscheinen konnte.
Ernst Sehultze.
Personalnachrichten.
(Um Mittheilung von Personnlnachrichtrn etc an die Redaktion
wird gebetend
- - In Ueckermünde ist der Assistenzarzt Dr.
Deutsch vom 1. April 1002 ab zum 3. Arzt ernannt
und dem Assistenzarzt I)r. Panselius ist zum 15.
Juli IQ02 die beantragte Entlassung aus dem Provin¬
zialdienst ertheilt; — in Lauenburg ist der practische
Arzt Dr. Vol 1 heim als kommissarischer Assistenzarzt
einberufen.
— Nieder- O est er reich. Direktor Dr. Joseph
Krayatsch zum Direclor in Mauer-Oehling, Director
Dr. Heinrich Schloss zum Director in Kierling-Gug-
ging, Dr. Theophil Bogdan zum dirigirenden Primar¬
arzt in Ybbs, Dr. Joseph Beize zum Primararzt in
Wien, (Irrenanstalt), Dr. Joseph Gnirchtmayer zum
Primararzt in Mauer-Oehling ernannt. Zu dirigirenden
Aerzten wurden ernannt : Dr. Matthias Burkhardt
für Wien (Irrenanstalt), Dr. Franz Sickinger für
Klosterneuburg, Dr. Anton Ilockauf für Kierling-
Gugging, Dr. Carl Richter für Ybbs, Dr. Adolph
Bavcr für Mauer-t )ehling; diese Veränderungen gelten
vom 15. A]>ril a. c. ab.
N a c h t rä g 1 i ch ein gegangen:
— Verein der Irrenärzte Niedersachsens und
"Westfalens. 37. Versammlung am 3. Mai 1902. nachmittags
3 Uhr in Hannover, Lavcsstr. 26.
Tagesordnung: 1. Bruns-Hannover: Ncuropnthologische De¬
monstrationen. 2 A 1 t-Uehtspringe: Zur Genese des paralytischen
Anfalls. 3. Sne 11 - Hildesheim: Irrenhilfsvtrcine. 4. Cramer-
Göttingen : lieber krankhafte Eigenbeziehung und Bcachtungs-
wahn. f). Wehe r-Göttingen: Ueher einige Neubauten an der
Göttinger Anstalt. 6. V og t-Güttingen : Ueher die Beziehungen
zwischen Aphasie und Demenz. 7 . Q u a e t - F a sl e m - Göttingen :
Mittheilungen aus der Universitäts-Poliklinik für psych. und
Nervenkranke. 8. B ehr-Lüneburg: lieber die Fainilienpflege
in Göttingen.
Nach der Sitzung findet in Kastens Hotel ein gemeinsames
Essen (Couvert 4,50 M.) um 7 Uhr statt. Anmeldungen
werden rechtzeitig an den Vorsitzenden erbeten
Der Vorsitzende.
Gerstenberg-Hildesheim.
— Auf der vom 16. — 19. April in Bremen tagenden
VIII. Versammlung der deutschen bandesgruppe der inter¬
nationalen kriminalistischen Vereinigung wird Director
Dr. Delbrück, Bremen einen Vortrag halten über die ver¬
mindert Zurechnungsfähigen und deren Verpfleg¬
ung in b e s o n d e r e n A n s t a 1 1 e n. Der V ornag fällt auf den
18. April, Schwurgerichtssaal, nachmittags 4 Uhr. Anfragen
und Anmeldungen sind an Herrn Staatsanwalt Lön i n g-Bremen,
Gerichtshaus zu richten.
rar /.L 1 >i. J . llrrslrr Krasclinitz, (Sch csien).
■ vor der Ausgabe. — Wrl.ijf von C. a r I Marhold in Halle a. S
( ( «<*br. Woiff) in Hallo a. S.
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[Nr. 3.
ruiig), Begriffe also, die in der reinen Vernunft ihren Begriffsart gesondert auf den gemeinschaftlichen
Ursprung haben, nicht zulassen, ist Metaphysik eine Bewusstseinsmittelpunct bezogen werde, wie es in dem
Erfahrungswissenschaft so gut wie Physik, nur mit Schema des physiologischen Faservcrlauf s
dem Unterschied des Innen und Aussen und dem, (s. Abb.) dargestellt ist.
dass die ganze Erfahrung der Metaphysik in einem In dieser Uebcreinstimmung aller, oder (wie man
einzigen Actus der Seinsbeziehung erschöpft ist. auch sagen kann) im Gleichgewicht dieser zwei Bc-
Sie ruht alsdann aber auf einem absolut sicheren griffsarten ist alsdann die Einheit des objectiven Welt-
Grund. — bildes trotzdem gewährleistet, wie es dem Gegensatz
Integral- und Differentialbegriffe stehen im Ver- Subject-Object im Sein oder der metaphysischen
hältniss von Inhalt und Form, und Abstracta, wenn Enantialität und ihrem Ausdruck, dem cthophvsischen
sie richtig gebildet, d. h. wenn sie von den Concretis Gesetz, entsprechen muss. Auf der anderen Seite,
richtig abdifferentiirt worden sind, müssen auf diesen im Falle der Nichtübereinstimmung, kann die eon¬
senkrecht stehen. Der Irrthum überhaupt enthält stante Wortform eine ganze Reihe verschiedener In-
daher ein Agens, das die Begriffe aus dieser Rieh- halte beherbergen, von denen nur ein einziger dem
tung abzudrängen sucht, einen transversalen Zug, ethophysischcn Gesetz gemäss ist, und der Rest das
und wir sind im Recht, wenn wir
Irrthum im Allgemeinen als Trans-
versismus bezeichnen. Der ver-
hältnissmässig seltene Irrthm der
Sinne (des Verstandes) ist alsdann
corticaler Transversismus der Em¬
pfindungssphären des Gehirns, der
Körperfühlsphärc, der Sehsphäre
des Hinterhauptlappens u. s. w. oder
der sogenannten Projectionsfaser-
systeme; der überaus häufige Ver¬
nunftsirrthum dagegen corticaler
Transversismus der Assoeiations-
centren.
Man kann wohl sagen, dass in
den letztgenannten Rindengebieten
eines jeden Gehirns es von solchen
Transversismen wimmelt, nicht nur
täglich neugebildeter falscher Vor¬
stellungen, sondern auch ererbter,
atavistischer, in die Gehimorgani-
sation und Faserlage übergegangener, und dass unsere Seinsgesetz aufzuheben scheinen. In diesem partialen
ganze Erziehung daraufhinausläuft, Schiefstellungen in Transversismus liegt daher eine Gefährdung des Ganzen,
den Begriffen zu verbessern, neue zu vermeiden. Die des Subjectpunkts selbst *).
sensoriellen, in diesem Fall überhaupt corticalen, Or- Bleibt aber die Bewusstseinseinheit des Amoeben-
thismen der Thiere entsprechen dem, was man bei uns Staates Mensch erhalten; tritt der Transversismus des
gesunden Menschenverstand nennt. falschen Differentials in das Ganze ein, so dass es
Schärfe der Intellects und hohe Vernünftigkeit mit vollem Bewusstsein als Motiv des Handelns zu¬
werden dagegen Demjenigen zuerkannt, dem es ge- gelassen wird, so muss dem I ransversismus des Denkens
lingt, seine Vernunftbegriffe (der Associationssph ire) nothwendig ein rransyersismus des Wollens folgen:
mit den sinnlichen Verstandesbegriffen in Uebercin- dem Irrthum entspricht die Irrthat, die sittliche Ent-
stimmung zu bringen. Das Vermögen, dies zu thun, gleisung, die Ethopathie, das Böse. Die Welt ist
heisst Urtheilskraft, der Mangel daran physiologische vollkommen (d. h. cthophvsisch) überall, wo der
Dummheit, wie sie einem ganz gesunden, aber be- Mensch nicht ist mit seinem falschen Differential.
schränkten Geist angehören kann. Unter allen Um¬
ständen verlangt aber die geforderte Ucbereinstim-
*) Ich habe an anderer Stelle schon die Gewissensangst
eine Art Todesangst genannt; ein Wort, hinter das ein geehrter
rnung zwischen Integral und Differential, dass jede Kritiker ein Fragezeichen setzte.
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3 i
1902.]
Erst das Böse, die Ethopathie, macht aus dem etho-
physischen oder Seinsgesetz das Sittengesetz. Daher
ist dieses so tiefgründig, an das Wesen des Subjects
gebunden; nicht zwar unabhängig von Differential¬
begriffen, also der Sprache, also der Vernunft, wohl
aber unabhängig von der Gegenwart anderer Wesen.
Das Böse betrifft Denken und Wollen zugleich, also
das Ganze; im Gegensatz zum corticalen oder neo¬
plastischen Transversismus des Irrthums wäre demnach
das Böse in der von uns gewählten Sprache als cen¬
traler oder palaeoplastischer Transversismus, kürzer als
Seinsquerung zu bezeichnen (im Punkt e der Figur).
Wir sehen, wie richtig sich dem ethischen Pro¬
blem gegenüber Sokrates stellte, als er die Bedeutung
des Erstgegebenen, des Motivs in den Vordergrund
stellte und sagte, rechtes Denken müsse rechtes Han¬
deln im Gefolge haben. Theoretisch ist der Satz
unanfechtbar, practisch aber bedeutungslos; denn der
Irrthum aller V01 fahren, von der Entstehung des
Menschengeschlechts an, ist die grosse Schuld der
Zeiten, an der jeder Einzelne abzuzahlen hat, und von
der man nicht weiss, ob sie noch wachse oder abnehme.
Wir verfolgen an dieser Stelle die ethische Ange¬
legenheit nicht weiter und fragen: Was ist neben Irr¬
thum und Irrthat der Irrsinn, das pathologische
Denken, die Psychopathie? — Wir können bei Be¬
trachtung der physiologischen Gehimfaserung (s. Fig.)
nicht im Zweifel sein: Irrsinn entsteht, wenn die
Relativirung der zwei Begriffsarten (seien diese mit
Irrthümem behaftet oder nicht) nicht im Bewusst¬
seinsmittelpunkt e selbst, sondern durch Qucrschlag
oder Kurzschluss irgendwo auf dem Weg zwischen
Centrum und Peripherie schon vorher geschieht,
also durch Aufhebung der Isolation zwischen den
Gebieten der Projektion und Association, der Irttegralc
und Differentiale selbst. Irrsinn ist intermediärer
Transversismus (bei n oder b\
Demgemäss ist geistige Gesundheit als interme¬
diärer Orth i smus zu bezeichnen, d. h. gesunder
Geisteszustand ist dann vorhanden, wenn nicht nur
die einzelnen Begriffe, sondern die gesammten Vor¬
stellungsmassen der Fühlsphärcn einerseits und der
Associations-(Abstractions-)Sphären andererseits, also
diese selbst, mit einander im Gleichgewicht stehen.
Wir dürfen uns die integralen Verstandesbegriffc
(— Vorstellungen) und die Vernunftdifferentiale als
wie in zwei grossen Behältern angesammelt denken,
die durch eine membranöse Scheidewand von ein¬
ander geschieden sind, und in denen annähernd die
gleiche Druckhöhe aufrecht erhalten ist.
Die Möglichkeit einer wirklichen Begriffsbestimm¬
ung (synthetischen Definition) der geistigen Ge*
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sundheit, ist, wie man sieht, durch die Erforsch¬
ung der anatomischen Verhältnisse des Gehirns an¬
gebahnt worden, beruht aber wesentlich auf der Er¬
kenntnis des gegensätzlichen Verhältnisses der Ver¬
standes- oder Vernunftbegriflfe, oder der Erkenntnis«,
dass letztere analytischen, und nicht, wie jene,
synthetischen Ursprungs sind. Sie setzt also eine
gegen früher gänzlich veränderte Auffassung des Er-
kenntnissproblems und, wie weiteres Zurückdenken
ergiebt, die Thatsache einer ontologischen Metaphysik
oder die Entdeckung des ontocentrischen Standpuncts
voraus; woraus wiederum hervorgeht, dass Psychologie
ihrem Hauptsinne nach eine philosophische Wissen¬
schaft ist. Die Forderung des endopsychischen Gleich¬
gewichts ergiebt sich keineswegs aus anatomischen
Gründen, sondern aus der Gleichweithigkeit der Ge¬
gensätze Inhalt und Form.
Jeder von uns hat davon vielfache Erfahrung, dass
das Gleichgewicht der Seele, der aequus animus ge¬
stört ist; ja, wir dürfen annehmen, dass die Drucke
der beiden Behältnisse während der psychischen Action
überhaupt fortwährend wechseln, sich gegeneinander
ausspielen und im Leben so wenig jemals ganz in
Ruhe sind, wie die Quecksilberkuppe eines empfind¬
lichen Barometers, oder so wenig, wie die Erde in
einer streng mathematischen Ellipse um die Sonne
läuft. Bisweilen wogt und stürmt es darin so sehr,
dass man glaubt „den Verstand verlieren zu müssen“,
d. h. dass die trennende Schicht in Gefahr ist zu zer-
rcissen. Geschieht es dann wirklich, so dass die zwei
psychischen Wellen aufeinander treffen, sich kreuzen,
interferiren, sich hemmen, sich mischen, und geschieht
die verderbliche Querung nicht gerade im Bewusst-
scinsmittelpunct, wie dies offenbar in der prämortalen
Bewusstseinstrübung der Fall ist *), so muss nothwendig
die höchste Verwirrung des Denkens eintreten, über
die sich das centrale Bewusstsein keine Rechenschaft
geben kann, weil ihre Störung erfolgt, bevor noch
die Beziehung auf den Mittelpunct, in der die Ein¬
heit der Begriffsbildung besteht, sich vollendet hat,
und die eben deswegen den Stempel des Krankhaften,
der Psychopathie, an sich trägt.
In der Hallucination, auch gewissen Traum Vor¬
stellungen, Begriffsbildem, die so lebhaft sind, dass
sie die Gegenwart wirklicher Objecte Vortäuschen, tritt
die vor bewusste Mischung der zwei verschiedenen
psychischen Wellen deutlich hervor. Das centrale
Bewusstsein wird die begriffliche Vorstellung „Pferd“
von einem wirklichen Pferd dann nicht unterscheiden
*) In diesem Fall spricht man wegen der Kürze der Dauer
nicht von Geistesstörung, obwohl sie der Sache nach eine solche
ist.
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können, jene also für ein solches halten müssen, wenn,
vermöge Aufhebung der Isolation, eine Erregung des
Sehnervverlaufs von Seiten der differentialen Vor¬
stellung aus geschieht, und sich der integrale Strom
gewissermaassen in das leere Bett des formalen Be¬
griffs, seine (identischen) Grenzen ausfüllend, ergiesst.
Denn der Nerv überträgt seine Erregung dem nächsten
Querschnitt, unwissend, woher sie stamme.
Natürlich kann der Durchbruch von jeder der
beiden Seiten her erfolgen. Bei der ungeheuren
Masse von Vorstellungen und Begriffen, die der mensch¬
liche Geist in sich beherbergt, werden die Erschein¬
ungen , die ihre pathologische Mischung im Gefolge
hat, und die der Ausdruck dieser Mischung sind,
ausserordentlich mannigfaltig sein, und es wird nicht
so leicht angehen, sie in typisch-einheitliche Krank¬
heitsbilder zu vereinigen, wie dies bei körperlichen
Krankheiten gelingt, zumal beim Gehirn der patho¬
logisch-anatomischen Untersuchung die grössten
Schwierigkeiten entgegen stehen. Wir erörtern hier
indessen einige Umstände, die die psychopathischen
Erscheinungen jedenfalls bestimmen müssen.
1. Der menschliche Geist wäre der Gefahr allzu¬
heftiger Eindrücke rettungslos überantwortet, wenn er
nicht, wie das Auge, eine Art Schirmvorrichtung da¬
gegen besässe; ja, die freie Willensbestimmung, die
den Menschen dem Thier gegenüber auszeichnet, wäre
nicht denkbar, wenn sie sich nicht auf seine negative oder
receptive Seite bezöge, die die eigentliche Seinsseite
ist (gegenüber der positiven oder Vorstellungsseite).
Die Willensfreiheit muss sich auf die Zulassung
der Willensmotive beziehen; denn, einmal zugelassen
oder ins Bewusstsein eingetreten, ist das Motiv dem
Willen entrückt und der Zeitfolge anheimgegeben, wo
nicht mehr die Freiheit, sondern strenge Nothwen-
digkeit herrscht. In dem Zwischengewebe der Neu-
roglia hat der menschliche Geist das Mittel, eine be¬
drohte Isolation zu verstärken, wie wir annehmen *).
Es handelt sich aber um active, amoeboide Beweg¬
ungen ; wie etwa ein Feldherr Soldaten auf einen be¬
drohten Punct schickt. Ebenderselbe Eindruck wird
ein Gehirn heftiger und gefährlicher treffen, wenn es
von ihm überrascht wird, wenn es keine Zeit zur
Gegenwehr hat, sich in einem labilen Gleichgewichts¬
zustand befindet, oder wenn gar die peripheren
Amoeben dem Befehl der Centralamoebc, die Soldaten
dem Feldherm, nicht oder nur zögernd gehorchen.
Daher muss in einem festen Gefüge der Zellenindivi¬
duen, besonders in einer atavistisch festgefügten und
gesicherten Faserlage der beste Schutz gegen Geistes-
*) Ich verweise der Kürze halber auf meinen Aufsatz: „Ueber
die Natur und die Eintheilung der Geisteskrankheiten“ in der
Jubiläumsschrift ..des Landesspitals zu Sigmaringen 1897.
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Störung gelegen sein, und daher legen die Psychiater
so grosses Gewicht auf die sogenannte erbliche Be¬
lastung, die eben den Ausschluss der genannten
Vorzüge bedeutet.
Die Isolation kann auf zweierlei Weise aufgehoben
werden: erstens passiv durch gewaltsame Ruptur von
aussen, von der Objectseite her, und zweitens activ,
von der Subjectseite her, durch Vorschieben und An¬
einanderlagern von Pseudopodien, unabhängig von
dem Befehl der centralen Amoebe. Nach diesem
durchgreifenden Gesichtspunct, der sich dem der
metaphysischen Gegensätzlichkeit von Subject und
Object anschlicsst, habe ich mir erlaubt vorzuschlagen,
die geistigen Störungen in Impressions-Psy-
c h o s e n und S e d i t i o n s - P s y c h o s e n einzutheilen,
eine Eintheilung, die im Allgemeinen auch der oben
angeführten hereditären Verschiedenheit entsprechen
wird. Man sagt im Sprichwort: „Wer unter diesen
Umständen den Verstand nicht verliert, hat keinen
zu verlieren“; das heisst: auch ein gesunder Mensch
kann geisteskrank werden; aber dann wird er eher
einer Impressionspsychose anheimfallen und im all¬
gemeinen überhaupt weniger in Gefahr sein, so dass
man sogar die Frage der Heilbarkeit einer Geistes¬
krankheit nach demselben Gesichtspunct wird beant¬
worten dürfen. Es ist denkbar, dass die Widerstands¬
kraft einer gesunden und atavistisch gefestigten Faser¬
anlage gross genug sei, um eine Durchbruchstelle, wie
ein feindliches Fort, mit Schutzbauten so zu umgeben,
dass sie aufs Ganze nicht mehr reflectirt und ihr
Dasein bedeutungslos wird. Dass in dieser Wider¬
standskraft ein grosser Unterschied wirklich besteht,
zeigt das Verhalten verschiedener Menschen gegenüber
dem „furchtbarsten Grosshimgift“, dem Alkohol, dessen
Wirkung auf „psychopathisch Minderwerthige“ so eigen-
thümlich ist, dass man von pathologischen Rauschzu¬
ständen sprechen darf.
Die Wirkung des Alkohols überhaupt scheint in
einer Lähmung der Isolationsmechanismen zu bestehen,
während man die plötzliche Einwirkung äusserer und
innerer Traumen (Fall auf den Kopf, Hirnerschütterung,
heftige Gemüthsbewegung) wohl als eine Einziehung
der Neuropodien auffassen darf, ähnlich den Vor¬
gängen an den Polypenbeeten der Südsee, deren
Farbenpracht in der klaren Tiefe uns die Reisenden
mit Entzücken schildern, während ein einziger Ruder¬
schlag hinreicht, um sie zum Verschwinden zu bringen.
Im Allgemeinen aber wird die Anwesenheit par¬
tieller Transversismen innerhalb der Bewusstseinseinheit,
auch wenn, wie oben angedeutet, bisweilen eine func-
tionelle Ausschaltung angenommen werden darf, doch
nicht gleichgültig sein. Obwohl v o r dem Bewusstsein
gelegen, müssen sie als etwas unbestimmt Fremdes,
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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Feindseliges empfunden und so nach aussen projicirt
werden. Daher die Häufigkeit von Verfolgungswahn -
ideen. Sodann aber müssen sie, als Theil einer un-
theilbaren Einheit, aufs Ganze reflectiren; wie die
früher als Beispiel aufgeführte, zum Theil gefärbte
weisse Scheibe, wenn sie rasch gedreht wird, ihre
Weisse verliert und einen gleichartigen Farbenton er¬
hält. Das heisst: ein neuer Gleichgewichtszustand
muss nothwendig wieder hergestellt werden, und eben
dieser muss eine ganz andere Erscheinung darbieten;
daher die auffallenden hypo- und hyperkinetischen
Symptome, als Grenzformen die Apathie und die
Tobsucht, die nur der motorische Reflex aufs Ganze
siud, das Suchen der Seele nach dem neuen Gleich¬
gewichtszustand.
Oder aber die Schwankungen um die zu suchende
Ruhelage spielen sich mehr im Gebiet der Vorstellungen
selbst ab. Der Bewusstseinsinhalt muss sich mit dem
localen Transversismus, dem fremden Eindringling,
abfinden; das ganze Gedankensystem muss nach ihm
umgearbeitet werden; die ganze Persönlichkeit wird
verschoben, der Subjectpunct „verrückt“ (Paranoia).
2. Ein wesentlicher Gesichtspunct, von dem aus
die Erscheinungen der geistigen Störung beurtheilt
werden müssen, ist der Ort, wo der Transversismus
erfolgt. Die Anatomie sagt uns bei den rein func¬
tioneilen Störungen darüber nichts und kann nicht
leicht etwas sagen, da sie ja als vitale Bewegungs¬
störungen des Neurokyms aufzufassen sind.
Glücklicher Weise zeigen die physiologischen
Analysen und Zusammenordnungen der Symptomen-
complexe grösseres Entgegenkommen zu einer Ver¬
ständigung mit der philosophischen Psychologie, die
indessen hier wiederum Gelegenheit hat, die Ueber-
legenheit der Deduction, die von der Einheit zur
Vielheit hinabsteigt, zu erweisen. Besonders sind hier
die Leistungen Kräpelin’s hervorzuheben, in denen
es diesem ausgezeichneten Forscher gelang, die ver¬
wirrende Mannigfaltigkeit und Mischung psycho¬
pathischer Erscheinungen zweier grosser Reihen zu¬
sammenzufassen. So gelangte er zur Vereinheitlichung
der Stimmungspsychosen, wie ich sie nennen
möchte, in den Begriff des manisch-depressiven (cir¬
cularen) Irreseins, und zur Zusammenfassung schein¬
bar weit auseinander liegender Symptomgruppen, für
die er die Bezeichnung des Dementia praecox
vorschlug. Niemand, der sich im gleichen Fall befand,
wird der unnachgiebigen Wissenschaftlichkeit dieses
Forschers die Hochachtung versagen können, die aus
dem freimüthigen Geständniss spricht, dass er rathlos
lange lange Jahre hindurch der Fülle von geistigen
Schwächezuständen gegenüber gestanden habe, die
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in ihrer Mannigfaltigkeit zu oberflächlicher Gruppirung
gedrängt hätten, in der Tiefe aber doch bestimmte,
überraschend gleichförmig wiederkehrende Grundzüge
erkennen Hessen.
Wenn wir nun versuchen, für die klinisch als
zusammengehörig sicher gestellten Symptomgruppen
zu einem Verständnis ihres Wesens zu gelangen,
dadurch dass wir sie auf unsere psychologischen
Grundlagen zurückführen, so fassen wir die Stimmungs¬
psychosen der ersten Reihe als Transversismus
eines bestimmten Theils der Rinde auf, wobei
die Ausgleichungsbestrebungen der Seele den grossen
Resonanzboden des Gemüths in so starke Mitschwingung
versetzen, dass die täglichen kleinen positiven und
negativen Schwankungen der Gemüthslage sich zu
grossen Wellen sammeln, die im Sinne eines Wechsels
von ausserordentlicher Depression und Exaltation sich
geltend machen, so in die Tiefe dringen und sogar
den Bestand der palaeoplastischen Faserlagen in Ge¬
fahr bringen. So vermag der Gleich tritt eines Truppen¬
körpers [eine sonst festgefügte Brücke zum Einsturz
zu bringen. Der mächtige Reflex aufs Ganze zeigt
sich ebensowohl im Stupor und bei Apathie, wenn
gleichstarke Querströmungen motorische Explosionen
hemmen, als wenn sie, vereinigt, diese zu einer exor¬
bitanten Höhe gelangen lassen, oder die innere Spannung
sich in dem unwiderstehlichen Trieb, den Bestand
des Staatengebildes aufzulösen, Luft zu machen sucht.
— Multiple corticale Transversismen da¬
gegen, die sich in der Rinde abspielen ohne tiefere
Theile in Mitleidenschaft zu ziehen, und daher oft
nur transitorische Bedeutung haben, finden ihren symp¬
tomatischen Ausdruck als V erw i r rth ei t. Ein solches
Rindenfeld bietet dann den Anblick eines alten Kirch¬
hofes dar, in dem die morschen Kreuze in allen
Winkelneigungen stehen.
Diesen Störungen, die wesentlich Transversismen
der neoplastischen Hirngebiete sind und daher auch
der Wiederausgleichung günstigere Aussichten bieten,
steht nun die Dementia praecox Kräpelin’s
gegenüber. Kräpelin will die Bezeichnung nur als
vorläufig gelten lassen; mit Recht, denn sie trifft nicht
den nosologischen Kern, sondern nur den sich oft
lang hinziehenden Ausgang des eigentlichen, auffallend
abgekürzten» (praecox) psychopathischen Vorgangs.
Während aber das Leben selbst keineswegs dadurch
bedroht ist, das palaeoplastische Gebiet also nicht
berührt wird, deutet dennoch Alles darauf hin, dass
wesentlich gerade die tieferen Schichten der Faserlage
in Mitleidenschaft gezogen seien, und unser Gedanken¬
gang scheint uns dazu zu nöthigen, diese Formen als
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
34
mesoplastischen Transversismus neben corti-
ealem Orthismus zu erklären.
Ich wage zu sagen, dass der Psychiater, der
sich die Mühe nehmen will, die Symptome der De¬
mentia praecox in die Begriffe der ontocentrischen
Psychologie umzudenken, erstaunt sein wird, zu finden,
wie das gewohnte Bild voller scheinbarer Ungereimt¬
heiten und Widersprüche sich aufzuhellen und sich
dem Verständniss zu erschlossen beginnt.
Die Dementia praecox ist, im Gegensatz zur phy¬
siologischen Beschränktheit, also pathologische Dumm¬
heit, als Logopathie, als Störung der Urtheilskraft, als
Nichtübereinstimmung der (an sich richtig gebildeten)
Vorstellungen der corticalen Verstandes- und Ver¬
nunftsphäre zu bezeichnen. Anstatt dass die getrennten
Leitungsbahnen sich erst im obersten Bewusstseins-
inittelpunkt zum Gleichgewicht von Inhalt und Form
im quadratischen Begriff vereinigen, wie es die geistige
Gesundheit verlangt, confundiren sie sich durch eine
intermediäre Ruptur schon in dem mesoplastischen
Gebiet (siehe Fig. bei b) der grossen subcorticalen
Ganglien, die als solche ganze Rindenkeile beherrschen.
Wir können hier auf Einzelheiten nicht eingehen,
doch erlaube ich mir Folgendes zu berühren. Un¬
erklärlich schien bisher das Zusammenbestehen eines
extravagant kindisch - läppischen Benehmens neben
leichtem Denken und gutem Gedächtniss, von scharfer
Beobachtung neben blockigem Stumpfsinn; aber das
heisst eben subcorticaler Transversismus neben corti-
calem Orthismus. — Wenn Jemand uns plötzlich gegen¬
über tritt, so bemerken wir kaum, dass wir uns in
Positur setzen, uns innerlich aufrichten, überhaupt
Stellung dazu nehmen. Bei den Logopathischen tritt
dies deutlich hervor, aber auch, wie der motorische
Impuls sich in falsche Bahnen ergiesst, in den eigen-
thümlichen und so charakteristischen *), negativistisch-
katatonischen Widerstandsbewegungen. — Gegenüber
der gewaltigen constanten Strömung der Durchbruch¬
stelle verschwinden gewöhnlich alle anderen Impres¬
sionen, nur die zufällig nächstgelegene bleibt; daher
die wiederum so charakteristischen Erscheinungen der
sogenannten Befehlsautomatie, der Echopraxie, der
Katalepsie, der Flexibilitas cerea, und dann wieder,
bei einer ungewöhnlichen Willensanstrengung, die den
Lauf der falschen Strömung kreuzt und hemmt, der
ganz unerwartete Beweis des corticalen Orthismus,
der mit der ungeheuren Demenz in so schroffem
Widerspruch steht.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich als die
*) Bekanntlich gaben diese dem hochverdienten Kahlbaum
die Veranlassung zur Aufstellung des bahnbrechenden Begriffs
der Katatonie.
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LNr. 3.
Hauptursache, also das Wesen dieser geistigen Stö¬
rung die Incongruenz der integralen und der diffe¬
rentialen Vorstellungen der sexuellen Sphäre in An¬
spruch nehme; dies jedoch im alleweitesten Sinne
der Sache. *) In der Uebergangszeit der sogenann¬
ten Entwicklungsjahre des Menschen („Hebephrenie“),
oder in der sich daran anschliessenden Zeit, vermag
die einseitig ungezügelte Wucht solcher Impressionen,
gerade auch bei feiner organisirten Naturen, oder im
zufälligen Zustand eines labilen Gleichgewichts, oder
bei geringer Widerstandskraft der atavistischen Faser¬
lage, leicht in die Tiefe zu dringen und subcorticales
Gewebe zu verletzen. — Auch beim gewöhnlichen
Altersblödsinn treten, als ominöse Vorboten der nahen
Auflösung, katatonisch-negativistische Erscheinungen
auf: zum Zeichen, dass die von der Peripherie nach
dem Centrum fortschreitende Entartung auf der meso¬
plastischen Station bereits angekommen sei.
Für das Schicksal und die Auflassung der meisten
functioneilen Geistesstörungen ist daher die entschei¬
dende, aufs Wesen gehende Hauptfrage die, ob eine
Rindenquerung oder eine Hüge 1 querung vor¬
liege. Letztere ist es, die von den oben erwähnten,
auffallenden Erscheinungen vorzeitiger Demenz be¬
gleitet ist.
3. Dass es in der zweiten Uebergangszeit des
Menschen, wenn die sinkende Kraft dazu mahnt, die
Summe des Lebens zu ziehen, und sich dabei ein
lächerlich kleiner Betrag zu ergeben scheint, zu de¬
pressiven Dauerzuständen kommt, zumal wenn man
die thörichte, von der Zeitbedingung regierte Frage
„Wozu?“ auf das Sein anwendet, und auf die leere
Frage das Echo einer ebenso leeren Antwort zurück¬
tönt, ist an sich nicht verwunderlich; eher sollte man
sich wundern, dass man über solche wohl unvermeid¬
lich sich einstellenden Reflexionen dennoch meist so
leicht hinwegkommen kann. Offenbar handelt es sich
auch hier, wie bei der negativen Welle der Wechsel¬
psychose, 11m impressionistische Rindenquerung mit
depressivem Seelenreflex, dessen Stärke Aussicht hat,
zugleich mit der seelischen Receptivität überhaupt,
abzunehmen, also der Heilung wieder entgegen zu
gehen.
4. Die Incongruenz zwischen Verstand und Ver¬
nunft kann auch darin begründet sein, dass entweder
das Gesammtgehim auf einer dem Thier angenäher¬
ten Stufe zurückbleibt, oder die Entwicklung der
Associationssphären mit den Fühlsphären nicht glei¬
chen Schritt hält. Im ersteren Fall spricht man von
Idiotie und angeborener Imbecillität; der zweite liefert
*) Erfahrungsgemäss disponirt auch das Puerperium zu
dieser Krankheit.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
die neuerdings berühmt gewordene Gruppe der soge¬
nannten geborenen Verbrecher (Lombroso). Dies
sind demnach Individuen, die wohl in den Verstand,
aber nicht in die Vernunft des erwachsenen Menschen
hineingewachsen sind, und in letzterer Hinsicht Kinder
bleiben. In Beziehung auf den Verstand gewöhnlich
nicht zu kurz gekommen, gewandt und schlau in den
Verrichtungen des gewöhnlichen Lebens, weshalb man
sich nur schwer entschliesst, sie für Geisteskranke
(also auch für nicht-verantwortlich für ihre Handlungen)
zu halten, sind sie deswegen höchst gefährlich, weil
sie den Impulsen der Sinnlichkeit, denen sie wie
andere Menschen unterworfen sind, keine genügend
starken Vernunftmotive entgegensetzen können, weil
sie ihrer Anlage (nicht ihren Willen) nach keine haben.
Sie sind also nicht für im gewöhnlichen Sinne freie
Menschen zu erachten, da ihnen die Wahl in der
Einführung der Motive nicht frei steht; daher auch
nicht für verantwortlich, obwohl sie sich der Strafbar¬
keit einer verbrecherischen Handlung bewusst sind.
Hier decken sich die Begriffe nicht, weil man den
Begriff der Geisteskrankheit in der That weiter und
enger fassen kann: weiter, als Gleichgewichtsstörung
zwischen Verstand und Vernunft überhaupt; enger,
als eine derartige Gleichgewichtsstörung durch inter¬
mediären Transversismus. Im letzteren Fall ist die
Störung stets vor dem Bewusstsein gelegen, und
alsdann die Nicht-Verantwortlichkeit auch nicht in
Frage gestellt; im ersteren Fall liegt sie im Bewusst¬
sein, und hieraus ergiebt sich, wie schwer dem Richter,
sowie dem Arzt, im einzelnen Fall die Entscheidung
fallen mag, ob Verbrechen vorliege, das strafbar macht,
oder Geisteskrankheit ohne Verantwortlichkeit. Hieran
wird selbst die theoretische Einsicht in den psychi¬
schen Process nichts ändern, weil die Grenzen hier
fliessend sind, und die Entscheidung sich vom Quali¬
tativen (Intensiven) ins Quantitative (Extensive) hin¬
über spielt.
Es kann nun noch die Frage aufgeworfen werden,
ob die psychische Gleichgewichtsstörung nicht auch
durch unverhältnissmässiges Ueberwiegen der Vernunft
hervorgerufen werden könne. Sie ist deswegen nicht
zu übergehen, weil die Versuche, Genialität als
pathologische Erscheinung zu nehmen, vielfach Bei¬
fall gefunden haben. Es ist richtig, dass Wunder¬
kinder in iher späteren Entwicklung selbst hinter
bescheidenen Erwartungen Zurückbleiben. Es ist
richtig, dass genialische Menschen auf der Höhe
ihres Daseins oft zu Schaden kommen, weil sie
sich, seiltänzergleich, an den Grenzen der Mensch¬
heit auf schwindligen Pfaden ergehen. Es ist richtig,
dass solche Menschen, nach einem Leben der un-
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geheuersten Denkanstrengung, immerhin noch vor¬
zeitig, oft geistigem Siechthum verfallen. Aber die
Genialität, oder die höchste Offenbarung derjenigen
Seelenkräfte, die die Abwendung von der Thierheit
bedeuten, als Psychopathie zu erklären, ist ein grober
Verstoss: er deutet auf hoffnungslos-atavistische („ein-
gefleischte‘‘) UnWissenschaftlichkeit hin, deren untrüg¬
liches Zeichen ist, gerade in der Hauptsache daneben
zu hauen.
5. Das Paradigma der Seditionspsychosen ist die
Fallsucht; Aufhebung des Gleichgewichts zwischen
Theil und Ganzem, Störung der festen Relation,
zwischen Peripherie und Centrum, und daher Be¬
wusstseinstrübung ohne Gefährdung des Subjektpunkts
selbst, der nur wegen Lockerung des corticalen Ge¬
füges (also des einheitlichen Objektpunktes oder der Vor¬
stellung) die Zuleitungen von dort her nicht mehr in
sich vereinigen kann. Wir setzen hier Eigenbeweg¬
ungen von einzelnen Rindenamoeben oder Gruppen
derselben voraus, die sich ausserhalb der Befehls¬
macht der Centralamoebe vollziehen, und Bewusstsein
nothwendig aufheben müssen, weil dieses auf völliger
Gleichheit von Einheit und Vielheit, Ganzem und
Theilwerk, Inhalt und Form beruht, die ihrerseits
wiederum nur der Ausdruck der metaphysischen
Enantialität von Subjekt und Objekt ist, unter welcher
Bedingung allein ein Object in eine Erkenntniss (Be¬
wusstsein) eintreten kann, wenn diese den Sinn haben
soll, ein Abdruck des Seienden zu sein. Das Be¬
wusstsein wird immer dann aufgehoben, wenn den
Bedingungen der Welthälftigkeit, die im Sein vor¬
handen ist, im Erkennen (Denken) nicht entsprochen
wird.
Dauert der Zustand der partiellen Insubordination,
die, obwohl eine grosse initiative Beweglichkeit der
Neurone ein Vorzug genannt werden könnte, dennoch
aber in Hinsicht auf das Ganze als eine Entartung
angesehen werden muss, länger, so wird auch der
Reflex auf’s Ganze sich mehr und mehr bemerklich
machen; wie ein Staat, der von innerem Bürgerkrieg
und Strassenkampf durchwühlt wird, in seiner Kraft¬
entfaltung nach aussen gelähmt ist. Auch hier be¬
deutet die Zunahme der Demenz Fortschreiten des
Proccsscs nach den mesoplastischen Gebieten.
Es lässt sich denken, dass, wenn jene oben als Vor¬
zug gerühmte Beweglichkeit nicht eben eine untergeord¬
nete, sondern die centrale Amoebe selbst beträfe, anstatt
einer Entartung ein hoher Grad von geistiger Begabung
daraus folgen müsste. In der That ist Epilepsie nicht
selten zusammen mit einer solchen angetroffen worden,
und insbesondere wird hervorgehoben, dass „alle
grossen Cäsaren“ (Flechsig) auch Epileptiker gewesen
Original from
HARVARD UN1VERSITY
36
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3.
seien. Auch die Entstehung eines neuen Gedankens,
die eigentlich geniale, künstlerische Leistung muss
wohl auf dieselbe Eigenschaft zurückgeführt werden.
Das Wesen des Genie’s liegt dann in dein Hochmaass
coörcitiver Kraft, das starke Eigenbewegungen der
peripherischen Amoeben (Seditionsbestrebungen) im
Keime zu unterdrücken vermag, das Pathologische aber
darin, dass solche gelingen. Nie und nimmer aber
ist das Genie an sich etwas Pathologisches; seine
Leistung vielmehr der Ausdruck höchster geistiger
Gesundheit, Zusammenfassung der höchsten Geistes-
thätigkeit zum völligen Einklang aller Kräfte, und
verhält sich, um bei unserem Bilde zu bleiben, zu
einer Entartungserscheinung wie ein siegreicher Krieg
nach aussen, in dem alle gesunden Kräfte des Staates
zur höchsten Anstrengung angefacht werden, zu einer
bürgerlichen Empörung im Innern, wobei der Bestand
des Ganzen doch in ganz anderer Weise ins Schwanken
geräth.
Die Geisteskrankheiten mit grob-anatomischer und
chemischer Grundlage, die dem physischen Verständniss
mehr offene Seiten darbieten und im gleichen Maass
für die philosophische Psychologie an Bedeutung
verlieren, sollen hier nicht näher besprochen werden.
Mittheilungen.
— Herrn Prof,
wurde aus Anlass des
25 jährigen Jubiläums
der von ihm begrün¬
deten Rivista speri-
mentale di Freniatria
eine besondere Wid¬
mung zu Theil. Das
Heft III/IV des Vol.
XXVII bringt einen
Festartikel, den wir
im Folgenden wieder¬
geben.
An
AugustTamburini.
Von dieser selben
Rivista, die seine
höchsten Ideale wie¬
dergespiegelt hat und
wiedcrspiegelt, möge
an August Tam¬
burin i die Huldi¬
gung und der hoch¬
achtungsvolle Gruss
zukommen; von die¬
sem Blatte, das wie
sein geistiges Haus
ist, voll Erinnerun¬
gen, w f orin seit 25
Jahren, um seine
Gedanken herum, die
Gedanken von Colle-
gen und Schülern ge¬
sammelt wurden und
noch w erden. Es sind
heute fünfundzwanzig
Jahre her, dass Au¬
gust Tamburini
das Geschick dieses
Blattes zu lenken be¬
gann , und dass
er berufen wurde,
Tamburini in Reggio-Emilia Carlo Livi in der Direction des Irrenhauses von
Reggio-Emilia nach¬
zufolgen ; und dass
die Regierung ihn zu
der Würde des Hoch¬
schullehrers hob: drei
grundlegende Augen¬
blicke seines Lebens;
drei Formen der Thä-
tigkeit, die er vervoll¬
ständigt und harmo¬
nisch verschmolzen
hat zum Vortheil und
zur Ehre der italieni¬
schen Psychiatrie . . .
. . . Das Studium
der Psychiatrie nach
den Grundsätzen und
Forderungen der po¬
sitiven Methode zu
richten: das ist der
leitende Gedanke, den
er mit seinen ausge¬
dehnten Forschungen
in die That umsetzte,
Forschungen, die zum
ständigen Erbgut der
Wissenschaft gewor¬
den sind, die von
der Gehimlocalisation
bis zu den Erschein¬
ungen des Hypnotis¬
mus, von der Physio¬
pathologie der Spra¬
che bis zu den kör¬
perlichen und mora¬
lischen Entartungen
des Menschen, von
den telepathischen u.
spiritistischen Phäno¬
menen bis zur Ent¬
stehung der Halluci-
□ igitized by
Go. gle
Original fmm
HARVARD UNiVERSITY
37
igoj.J PSYCH 1 ATKISCH-NEUROLC:
naiiuiien gehen; ein Gedanke, den er auch zu ver¬
wirklichen suchte dadurch, dass er die objectiven
Forschungsmittel im psychiatrischen Institut zu immer
grosserer Wichtigkeit erhob . . .
.... Er ist ein Meister, der sich seine
Scliule gegründet, sie aber nicht als die Sklavin
einer Formel, sondern als ein starkes Geschöpf, dem
aus allen Quellen Leben zufliesst, aufgefasst hat. Nicht
das vorgezeichnete Schema, sondern die Ableitung
der zur Beleuchtung der Seelenprobleme nützlichen
Elemente aus allen Anschauungen und von allen Ge¬
sichtspunkten heraus zeichnete ihn aus. Er wollte
alle Stimmen mitsprechen lassen, vorausgesetzt, dass
sie Wahrheit sprächen, dass alle wissenschaftlichen
Mittel zum Studium versucht, alle Wege begangen
würden; und auf diesen mannigfaltigen Wegen hat er
die Energien geleitet, die sich ihm darboten, indem
er sie zuerst sichtete und die nützliche Richtung auf¬
deckte und diese nährte: und er hat es nie zugegeben,
dass irgend eine Flamme, die lebendig und rein war,
verlöschen durfte.
So hat er, mit Rath und That, mächtig dazu bei¬
getragen, dass die Psychiatrie ihre Wurzeln auf dem
weiten Boden der Biologie ausbreitete und daraus eine
tiefe und neue Belebung erfuhr.
Aber er hat die Wissenschaft nicht nur als eine
erhabene und abstracte Erscheinungsform des Ge¬
dankens betrachtet, er hat sie auch als die Form ver¬
standen , di - das gute Wort eingiebt, die herunter¬
steigen und unter den Menschen, die leiden, als Trösterin
wandeln soll . . .
. . . Möge er nun den Gruss in diesem 25 jährigen
Jubiläum der ersten wissenschaftlichen und practischen
Anerkennung empfangen; in dieser idealen Ruhepause
zwischen Vergangenheit und Zukunft möge er die
besten Erinnerungen wieder anknüpfen, möge er die
Glück- und Segenswünsche von allen denen, die die
ganze Poesie fühlen, welche in seinem Werke als Ge¬
lehrter und als Mensch eingeschlossen ist, empfangen.
15. December 1901. Das Comite.
Das vorliegende Heft der Rivista + ), zum grössten
Theil aus Artikeln von Schülern Tamburinis zusammen¬
gesetzt, trägt dessen Bildniss und ist ihm zugeeignet,
als eine Huldigung seiner Mitarbeiter, zur Erinnerung
an das freudige Datum dieses Jahres, in welchem der
fünfundzwanzigjährige Jahrestag sich erfüllt, dass e r,
mit der grössten Sorgfalt und der erleuchtetsten Weis¬
heit, die Direction der Rivista übernahm.
Zeitverhältnisse, also unabhängig vom Comite und
von den Unterzeichnenden, haben es verhindert, die
erste Absicht verwirklichen zu können, d. h. einen
ganz aus den Tamburini zugeeigneten Arbeiten zu¬
sammengesetzten Band hersteilen zu können; man
hat daher geplant, die gesammelte Summe von
2000 Franken anders zu verwenden und hat be¬
schlossen, ihm, am 15. dies., eine goldene Medaille zu
überreichen, die auf der rechten Seite das Bildniss des
Meisters trägt, auf der Kehrseite die Widmung:
Dem August Tamburini
die Collegen und die Schüler
_ 1876— 1901.
*) Referate erscheine demnächst.
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GISCHE WOCHENSCHRIFT.
— Jahresversammlung des Vereins deutscher
Irrenärzte in München. Im Mineralogischen Hör¬
saale der Technischen Hochschule, dem durch Pflanzen¬
schmuck ein festliches Aussehen gegeben w^ar, begann
am 14. ds. Mts. vorm. 9 Uhr die Tagung, zu der
sich Vertreter der staatlichen und städtischen Behörden,
hervorragende Aerzte und Universitätsprofessoren ein¬
gefunden hatten. Es waren zur Begrüssung anwesend
der Rector magnificus der Universität Professor Dr.
Brentano, der Generalstabsarzt der Armee Dr. B e s t e 1 -
meyer, Ministerialrath im Kultusministerium Dr. von
ßumm, der Vorstand der oberbaycrischen Kreisiiren-
anstalt Dr. Vocke u. A.
Geh. Univ.-Prof. Medicinalrath Dr. Jolly (Berlin),
der Vorsitzende des Vereins, eröfFnete mit kurzen
Worten die Versammlung und begrüsste die Ver¬
treter der Behörden, die Mitglieder und Gäste;
Oberinedicinalrath Dr. von Grashey ergriff Namens
der Staatsregierung das Wort, um die Versicherung
zu geben, dass die Regierung, an der Spitze Minister
Freiherr von Feilitzsch, der selbst Ehrendoktor
der Medicin sei, den Bestrebungen des Vereins das
lebhafteste Interesse entgegenbringe. Die Wissenschaft
der Psychiatrie habe einen grossen Aufschwung ge¬
nommen und daran habe auch der Verein ehren¬
vollen Antheil. Sein Einfluss habe sich bei Fragen
der Gesetzgebung auf psychiatrischem Gebiet geltend
gemacht, er habe auch auf die Ausgestaltung der
neuen Prüfungsordnung dahin gewirkt, dass der Psychi¬
atrie bei den allgemeinen ärztlichen Prüfungen ein
grösserer Einfluss zukomme. Die Fürsorge für die
Geisteskranken bekunde sich in Bayern in weitgehender
Weise, das zeige die Einrichtung neuer grosser und
mustergiltiger Anstalten in Oberbayem und in Mittel-
franken, in welch letzterem Kreise sechs Millionen für
die neue Irrenanstalt aufgewendet wurden.
Regierungs- und Kreismedicinalrath Dr. Messerer
sprach als Vertreter der Kreisregierungaus, dass diese als
Oberaufsichtsbehörde über die Kreisirrenanstalt be¬
gründetes Interesse an den Beratungen habe.
Bürgermeister von Brunner wies auf die Ent¬
stehung der neuen Kreisirrenanstalt Eglfing und der
Universitäts-Irrenklinik hin und gedachte der hervor¬
ragenden verdienstlichen Arbeit, welche die Medicinal-
räthe Dr. von Grashey und Dr. von Bumm, bei
antiquirten Einrichtungen, geleistet. Die Stadt wünsche,
dass die Arbeit der Psychiater von Nutzen sein, und
dass nach gethaner Arbeit die Versammelten von
dem gastlichen und künstlerischen München gute Ein¬
drücke gewinnen mögen.
Als „Hausherr“ richtete Prof. Dr. von Dyck, der
Director der Technischen Hochschule, herzliche Worte
an die Versammlung, die, w*ie vor ihr schon viele
andere, dem Wohle der Menschheit ihre Arbeit widme.
Medicinalrath Prof. Dr. von Bumm sprach Namens
des Lokalkomites.
Der Vorsitzende des Vereins, Gchcimrath Dr.
Jollv, dankte wiederum den Rednern und den Ver¬
tretern der Behörden und Ehrengästen für die liebe¬
volle Aufnahme des Vereins, der seit 1860 bestehe,
und bei seinen Wanderversammlungen öfter nach
Bayern sich gewendet habe, in dessen Hauptstadt
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
38 PSYCH 1 ATR 1 SCH-NEUR<.»LOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3.
er zum letzten Male vor 2 7 Jahren getagt. Dem
unvergesslichen Dr. Gudden, der damals der Ver¬
sammlung präsidirt, werde der Verein einen Kranz
auf’s Grab niederlcgen. Seit jener Zeit habe die
Psychiatrie in Bayern grosse Fortschritte gemacht und
es herrsche hier das Bestreben, diese Wissenschaft zur
höchsten Vollkommenheit zu heben. Der Redner
gedenkt hierbei auch der Verdienste des ehemaligen
Coli egen Medieinalrath Dr. Grashey.
Nach Bekanntgabe der Namen der Mitglieder, die
der Verein durch den Tod verloren (Bandorf, Lang¬
reuter, Binder, Gessler, Müller) und zu deren Ehrungen
man sich von den Sitzen erhob, wurde in die Be¬
rathungen eingetreten. (Forts, in nächster Nr.)
— Vor Gericht. Ei n e Lüek e im Gesetz.
Bedenken gegen einige Entscheidungen des Reichs¬
gerichts drückte kürzlich der Vorsitzende der vierteil
Strafkammer des Landgerichts I Berlin bei der Ver¬
handlung eines Straffalles aus, der allerdings recht charak¬
teristisch war. Angcklagt waren der pensionierte ge¬
prüfte Heizerbei der Anhalter Balm H. und dessen Ehe¬
frau wegen wiederholten Ladendiebstahls bezw. Hehlerei.
II. hatte am 6. März das Werlheimsche Geschäft
in der Leipzigerstrasse besucht; er trug eine grössere
Ledertasche in der Hand, und eine Detektivin, die
ihn beobachtete, glaubte wahrzunehmen, dass er einen
ausgelegten Gegenstand in diese Tasche hinein cs-
kamotierte. Der Angeklagte suchte, als er sich be¬
obachtet fühlte, zu entkommen, wurde jedoch festge¬
halten und visitiert. Da fand man denn in der Tasche
eine ganze Anzahl grösserer und kleinerer Gegen¬
stände, die dem Werthcimschen Geschäft entnommen
waren. Ergab auch zu, diese aus Vergesslichkeit
in die Tasche gesteckt zu haben. Als bei ihm Haus¬
suchung abgehalten wurde, stellte sich seine Wohnung
als eine Art Filiale des Wcrtheimschen Geschäftes
dar. Bei einer grossen Reihe von Gegenständen der
alleiverschiedensten Art, Bedarfsartikel. Nippes, ganzen
Kartons mit Seife, Zimmerschmuck u. s. w. konnte
fcstgestellt werden, dass sie aus dem Wcrtheimschen
Geschäft herstammten. Die Anklagebehörde nahm
an, dass alle diese Gegenstände, zu deren Anschaffung
dem Angeklagten die Mittel fehlten, von ihm gestohlen
seien. Die angeklagte Ehefrau behauptete dagegen,
dass sic die Gegenstände in der festen Meinung in
Empfang genommen, dass er sie ehrlich erworben
habe. Im gestrigen Termin blieb die Frau bei dieser
Behauptung, während aus dem Ehemanne überhaupt
nichts hcrauszubringen war: er erklärte auf alle Fragen
des Vorsitzenden, dass er sich auf nichts besinnen
könne. Die Erklärung hierfür gab der Sachverstän¬
dige Dr. mccl. Bohnstedt, welcher bekundete, dass
der Angeklagte wegen licrv«^tretender geistiger Ab¬
normität seinerzeit pensioniert, sein Geisteszustand
von Professor Dr. Mendel und in der Maison de saute
untersuc ht worden sei und kein Zweifel obwalte, dass
bei ihm eine unheilbare Paranoia vorliege. Auf
Giund dieses Gutachtens musste der Gerichtshof nac h
Paragraph 51 St. G. B. zur Freisprechung des Ange¬
klagten kommen; längere Berathung widmete er aber
der Frage, wie die Frau strafrechtlich zu behandeln
sei. Wie der Vorsitzende hervorhob, hatte der Gc-
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richtshof nicht den geringsten Zweifel, dass die Frau
den unredlichen Erwerb der Sachen vollkommen ge¬
kannt habe, er musste sie aber dennoch freisprechen ,
weil nach mehrfachen Reichsgeiichtserkenntnissen, die
dem Gerichtshof bedenklich erscheinen, der Fortfall
der Haupithat auf Grund des Paragraphen 51 auch
die Unmöglichkeit einer Bestrafung wegen Begünstig¬
ung, Hehlerei u. s. w. zur Folge habe, und anderer¬
seits nicht alle Thatbestandsmerkmale gegeben seien,
um die Frau etwa wegen Unterschlagung verurtheilen
zu k«'innen.
— Ansbach. Am I. Mai wird die hiesige
Kreisirrenanstalt mit vorläufig bo Kranken, welche
von Erlangen hierher überführt werden, in Betrieb
genommen.
— Ein geisteskrank er Attentäter. Die Polizei
in Brüssel verhaftete einen Geisteskranken, der in das
Königliche Palais eindringen wollte, um, wie er angab,
den König zu ermorden. Der Kranke wurde einem
Irrenhause überwiesen.
— Dortmund. Die vom westfälischen Pro¬
vinzial - Landtag eingesetzte Commission zur Vor¬
bereitung einer neuen Provinzial-Irrcnanstalt hat für
den 18. d. Monats eine Besic htigung der von der
Rheinprovinz neuerdings erbauten und im vorigen
Jahre in Benutzung genommenen Provinzial-Irrcnanstalt
zu Galkhauscn bei Langenfeld in Aussicht genommen.
Referate.
— Ewald Stier, Uebcr Verh titun g und
Behandlung von Geisteskrankheiten in der
Armee. Hamburg iqo2. 43 S. Gebrüder Lüdeking.
Die Zahl der beim Militär beobachteten Geistes¬
krankheiten ist nach den einschlägigen Sanitätsberich¬
ten eine auffallend geringe; in Wahrheit ist sie viel
grösser, da noch viele hier nic ht rubricirten Fälle von
Epilepsie, Neurasthenie, Hysterie, manche Selbstmörder
hinzukommen, und die wegen Geistesstörung Entlasse¬
nen sowie die Psychosen im (Ifficierslande lind bei
den (/adelten hierbei keine Berücksichtigung gefunden
haben. Bedenkt man nun weiterhin den weitgehen¬
den Einfluss, den Geistesstörungen ausüben, so erhellt
daraus sattsam die Bedeutung der Psvchiatrie für die
Militärmedirin. Sic herheit wird jeder Psychiater den
Ausführungen des V. beistimmen, dass neben den
längst anerkannten und zweifellos wichtigsten Zweigen,
der Hygiene, der Chirurgie und der Lehre von den
Infectionskrankheiten, auch die Psychiatrie als noth-
wendige Spccialdisciplin anerkannt werden muss. Muss
doch V. zugeben, dass in psychiatrischen Fragen die
Armee auf Civilärzte angewiesen ist.
Selbstverständlich soll kein Geisteskranker einge¬
stellt werden; ebenso befreit nach der Verordnung
überstandene Geisteskrankheit oder ein hoher Grad
von geistiger Beschränkt-beit, der die militärische Aus¬
bildung verhindert, von der Dienstpflicht. Um erste-
res zu ermöglichen, sollen die Civilbehörden gezwungen
werden, den überstandenen Aufenthalt in einer Irren¬
anstalt bei einem jeden Namen in der Stammrolle
zu vermerken. Wichtiger ist noch die Fernhaltung
von Schwachsinnigen, die grade hier so oft verkannt
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 39
werden ; deshalb sollen auch die in der Stammrolle
vorgemerkt werden, welche eine Schule für sehwach¬
befähigte Kinder besucht haben.
Bei fast allen psychisch erkrankten Soldaten ist
hereditäre Belastung nachzuweisen. Deshalb aber
alle Belasteten auszuscheiden ist weder ausführbar
noch auch unbedingt zweckmässig. Immerhin ver¬
dient die Erblichkeit bei der Einstellung berücksich¬
tigt zu werden, ebenso wie das mehrfache Vor¬
kommen von Degenerationszeichen als ein objeetiv
sichtbares Zeichen der erblichen Belastung. Diese
Faktoren sollten in jedem fraglichen Falle zu Ungunsten
der Einstellung sprechen. Dies gilt in noch höherem
Maasse bei der Einstellung von Berufssoldaten.
Nach der Einstellung kommt wesentlich die
Prophylaxe und die Therapie der Seelenstörungen in
Betracht.
Die beste Prophylaxe gegen Psychosen nicht nur
sondern auch gegen Vergehen ist eine Entlassung aller
Individuen, welche bei ihrer Ausbildung sich geistig
als wesentlich unter dem Durchschnittsniveau stehend
ausweisen, bei möglichst freier Auslegung des Begriffs
der Beschränktheit. Daneben spielt der Kampf gegen
den Alkohol und die Lues eine wichtige Rolle.
Eine der schwierigsten Aufgaben wird eine früh¬
zeitige Erkennung der Störungen sein ; das beste
Mittel ist eine längere Beobachtung im Lazareth.
Simulation ist im ganzen selten und heute noch selte¬
ner dank unserer erweiterten klinischen Kenntnisse.
Eine gute psvehiatrische Ausbildung der Militärärzte
ist nüthig und eine Berücksichtigung der Psychiatrie
in den Fortbildungskursen ist dringend wünschenswert!!.
Jedes Lazareth sollte Einrichtungen haben zur
vorläufigen Unterbringung auch der erregtesten Kran¬
ken. Das ist aber nur ein Nothbchelf. Alle zweifel¬
los Kranken sollen möglichst bald einer Irrenanstalt
überwiesen werden. Zur Untersuchung fraglicher und
zur Begutachtung gerichtlicher Fälle soll in dem gröss¬
ten Lazareth eines jeden Armcccorps eine Nerven-
abtheilung unter Leitung eines psychiatrisch vorge¬
bildeten Arztes eingerichtet werden. Einer Militärirrcn-
anstalt bedarf cs nicht für die Mannschaften, eher für
die Behandlung erkrankter Officiere und Unterofficiere,
zur Erleichterung ihrer wirtschaftlichen Nothlage.
Dies der Inhalt der Broch uro, der ein Litteratur-
verzeielmiss beigefügt ist. Ihre Lectüre ist dringend
anzucmpfchlen. Sie bringt viele beachtenswerte Vor¬
schläge, zumal sie von einem Militärarzt stammen,
der einen offenen Blick für bestehende Mängel und
psychiatrische Kenntnisse hat. Ernst S c h u 1 1 z c.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
1. Quartal 1902. Zusammengestellt von Medicinalrath
Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
Murache: Le mariage; etude de socio-biologie et
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De: iss er. 1,50 M.
Digitized by Google
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het feit strafter volgens Art. 247 W. v. G. Psy¬
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S c h ermers: Ecnige anthropi logische maten bij
krankzinnigen en nich krankzinnigen onderling ver-
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durch einen geisteskranken Schwindler (Pseudo¬
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zeichen bei Paralytikern und Normalen, zugleich
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der Kopfform und der Schädclgrösse bei denselben
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moeurs Archives d’anthrop. crim. etc. IQ02, p. 36.
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Original ffom
HARVARD UNIVERSITY
40 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3.
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rarchico delle anomalie craniche. Monitore zoo-
logico Italiano, anno XIII, Nr. 1, 1902,
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1902, Nr. 1.
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de psvehiatrie etc., mars 1902.
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Mohnfrüchten. Ibidem, p. 317.
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Claitre: Degenerescence et mysticisme. Dissert.
Bordeaux.
Butler Metzger: The insane criminal. American
Journal of insanity 1901, Oct.
M oll: Gesundbeten, Medicin und Occultismus. Berlin
1902, Walther, 47 S.
Bloch: Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis. Dresden, Dohau 1902, 272 S., 7 M.
Personalnachrichten.
— Ostpreussen. Der pract. Arzt Dr. Wehowski
aus Mirau als fünfter Arzt der Prov.-Irrenanstalt Allen¬
berg, der pract. Arzt Bibro wie zaus Grätzals sechster
Arzt daselbst angestellt. Die Stelle des zweiten Arztes
'der Ostpreussischen Provinzial - Besserungs -, Land¬
armen- und Irrenanstalt zu Tapiau ist dem appro¬
bierten Arzt Dr. Krakow von hier zunächst auf
Probe vom 1. April d. J. ab übertragen. — Bei der
Provinzial-Irrenanstalt Kortau sind folgende Aende-
mngen eingetreten a) der V. Arzt Dr. Ehrhardt
scheidet am 1. April d. J. zwecks Uebenritts zur
Anstalt für Epileptische zu Carlshof aus dem Pro¬
vinzialdienst aus; b) die V. Arztstelle ist dem zeit¬
weiligen VI. Arzt Dr. Dekowski; c) die Stelle des
VI. Arztes dem bisherigen Volontärarzt Dr. Bosse;
d) die neu geschaffene VII. Arztstelle dem Dr. Fritz
Hoppe von hier z. Z. in Soldau übertragen worden. —
Den dieser Nr. beigefügten Prospect der
Verlagsbuchhandlung Otto Liebmann, Ber¬
lin W. 35, betr. die „Deutsche Juristen-Zeitung.
Herausgegeben von Prof. Dr. Laband, Reichsgerichts¬
rath a. D., Dr. Stenglein, Justizrath Dr. Staub,“
empfehlen wir besonderer Beachtung.
Erscheint jede» Soi
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Für den redactionellen Tlieil verantwortlich: Überarzt Dr. J. Iiresler Kraschnitz, (Schlesien).
Sonnabendl-^Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Cari Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WolflF) in Halle a. S.
U
gle
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch -Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. -
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Aaslandes
herauftgngeben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Gutta tadt,
Urbuprine#* -Altmark» Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin.
Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel,
Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraachnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 4. 26 . April. 1902,
Oie ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
H—»frU.intfcn nehm-n jt-de Rurhhandlung, di« Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marho Id in Halle a. S. entgegen.
lii«*rate werden für die 3»paitige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermaasigung ein.
Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), Zu richten.
Inhalt. Originale: Wie gross sollen neue öffentliche Gehirnkrankenanstalten gebaut werden? Von Dir. Dr. Schaefer-Lengerich,
Landesbaurath Zimmermann-Münster und Direktor Dr. K. Alt (S. 41). — Mittheilungen (S. 49). — Referate (S. 51).
Wie gross sollen neue öffentliche Gehirnkrankenanstalten gebaut werden?
Jn Nummer 51, S. 504 Jahrg. III dieser Wochenschrift
wird die westfälische Provinzial-Verwaltung davor
gewarnt, den Gedanken des Baues einer Gehirnheil-
und Pflegeanstalt zur Ausführung zu bringen, welche
bis 1400 Plätze enthielte. Warum ich einen neuen
Namen für diese Anstalten anwenden möchte, be¬
gründe ich weiter unten. Die Frage der Grösse der¬
selben aber ist noch bestritten genug, um es wünschens¬
wert! 1 erscheinen zu lassen, sie von Neuem zu erörtern.
Seit den letzten Verhandlungen darüber sind wieder
einige Jahre ins Land gegangen, und man hat neue
Erfahrungen gesammelt. Fast überall in Deutschland
drängt der Umfang der Anstalten weiter über das
anfänglich so gern festgehaltene Muss hinaus. Blickt
man statt 5 Jahren 50 Jahre zurück, so sind aus dem
früher für zulässig gehaltenen Höchstmasse der in
einer Anstalt unter einem dirigirenden Arzte zu be¬
handelnden Kranken von 300 allmählich 400, dann
500 und boo geworden. Neuerdings wird auch diese
Zahl noch überschritten, und zwar ohne dass man
glaubt, damit das System der einheitlichen ärztlichen
Leitung der ganzen Anstalt zu verlassen. Durch die
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nöthige Zahl der Abtheilungsärzte, welche dem Director
beigegeben werden, glaubt man zu erreichen, dass der
letztere entlastet werde und doch zugleich noch im
Stande bleibe, nicht allein den ganzen Betrieb der
Anstalt zu übersehen und im Einzelnen zu controlliren,
sondern auch der massgebende Arzt aller Kranken
zu sein. Das Mass der in einer Gehirnkrankenanstalt
zu leistenden ärztlichen Arbeit hängt bekanntlich fast
noch mehr von dem Wechsel der Kranken, der sich
in der Aufnahme und Abgangsziffer ausdrückt, als
von dem Durchschnittsbestände ab. Während nun
bisher eine prcussische Normalanstalt eine Aufnahme-
zifler von 150 bis 200 zu haben pflegte, sieht sich
heutzutage der Direc tor eines Provinzial-Gehirnkranken-
hauses nicht mehr selten vor die Aufgabe gestellt,
eine Anstalt von 600—700 Kranken und einer Auf¬
nahmezahl von 300 und mehr ärztlich zu leiten
und sachlich zu verwalten. Er soll die Personalien
behandeln, die Bausachen, dgs Inventar, die Küche,
Landwirtschaft, Bekleidung, Wäsche nicht nur im
Auge haben, sondern auch bei allen die Entscheidung
geben, Stockungen beseitigen, Fehler abstellen, zahl-
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HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
reiche Berichte schreiben, sämmtliche Rechnungen
an weisen, und dabei soll er nicht nur alle Kranken
im Kopfe haben, sondern er soll die Behandlung der
Kranken wirklich leiten, auf ihre gesammte gute
Haltung und Pflege achten, zu ihrer Beschäftigung
antreiben, er soll alle Aufnahmeanträge erledigen,
alsdann auf das Pflegepersonal achten, die jüngeren
Collegen anleiten, endlich die wichtigeren Gutachten
selbst schreiben, Tennine wahmehmen und was es
sonst noch giebt. Wie das ein Mensch fertig bringen
soll, ist mir ein Räthsel. Dass so ein Director auch
nebenbei noch Mensch sein, d. h. allgemeine Interessen
vertreten, für seine Familie sorgen und bestrebt sein
soll, der Wissenschaft zu dienen, sich und die Anstalt
weiter fortzubilden, dass wird wohl stillschweigend
auch noch erwartet. Wer aber glaubt, dass das möglich
ist, möglich bei den gestiegenen Anforderungen an
die Krankenbehandlung und an exakte Verwaltung,
der befindet sich meines Erachtens in einer voll¬
ständigen Illusion. Die Collegen, welche solche aus
dem ursprünglichen Plan herausgewucherten Anstalten
zu leiten haben, werden selbst diese Illusion nicht
theilen. Sie werden wissen, wieviel sie von ihrer
Selbständigkeit und Verantwortung auf Andere über¬
tragen haben, aber sie werden auch das Missverhältniss
empfinden, welches auf diese Weise entsteht. Der
Director fühlt sich getrieben, nach Möglichkeit der
Aufgabe, selbst zu arbeiten, gerecht zu werden, weil
dies der durch die Dienstvorschriften begründeten Er¬
wartung der Behörden entspricht, so kommt er in die
Gefahr, sich mehr zuzumuten und sich eine grössere
Verantwortung aufzuladen, als er tragen kann. Er
reibt sich auf und kann doch vielleicht nicht verhindern,
dass Mängel im Anstaltsbetriebe eintreten, welche ihm
zur Last gelegt werden. Wenn solche Nachtheile in
den über 500 Kranke wesentlich hinausgewachsenen
Anstalten nicht entstehen, so kann das meines Er¬
achtens nur daher kommen, dass thatsächlich die in
Alles eindringende ärztliche und administrative Leitung
des Directors in jenen Anstalten nicht mehr besteht.
So wird aber in jenen Anstalten ein Schein entstehen,
welcher den Thatsachen nicht entspricht. Wird aber
die Verantwortlichkeit des Directors wissentlich auf
das erträgliche Mass eingeschränkt, sodass nicht nur
Nachtheile, sondern auch jener falsche Schein vermieden
werden, so können darum jene Grössenverhältnissc
doch nicht als zweckmässig angesehen werden, denn
dann ist das alte güte Prinzip des Alles vertretenden
Directors verlassen, ohherlass für diesen Verlust ein ent¬
sprechender Ersatz gewonnen wäre. Die Mehrverpflegung
von 200 Kranken kann als ein solcher Ersatz nicht an¬
gesehen weiden, es müsste denn sein, dass eine Anstalt
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eine ganz ungewöhnlich hohe Zahl von Aufnahmen
hätte; ein voller Ersatz tritt erst ein, wenn das Prinzip
der getheilten Verantwortung wirklich ausgenutzt und
demgemäss bei einer normalen Aufnahmeziffer eine
weit höhere Verpflegungszahl als 700 erreicht wird.
Sobald man die Grenze von 500 Bestand und
höchstens 200 Aufnahmen überschreitet, verlässt man
das normale, der Kraft eines dirigirenden Arztes an¬
gepasste Verhältniss, und je weiter man sich von ihr
unter Aufrechterhaltung der einheitlichen ärztlichen
Leitung entfernt, um so grösser wird das Missver¬
hältniss in der Organisation. Fügt man zu dem
einen Oberarzt ohne Aenderung des Systems einfach
einen zweiten hinzu, so hat man eine Halbheit, denn
dann hat der Director zwar einen Geholfen mehr, aber
seine Verantwortlichkeit ist dieselbe geblieben. Geht
man aber dazu über, die Verantwortlichkeit zu theilen,
und stattet den Oberarzt mit voller Verantwortlichkeit
neben dem Director aus, so ist bei 700 Kranken und
der dieser Zahl gewöhnlich entsprechenden Aufnahme¬
ziffer die Aufgabe für jeden Einzelnen zu gering,
weil dann der Director bei seiner Vcrwaltungsarbeit
immer noch die Behandlung von etwa der Hälfte der
Kranken verantwortlich leiten kann, und der Ober¬
arzt mit Hülfe der darum doch nicht entbehrlichen
Assistenzärzte weit mehr als die übrig bleibende Hälfte
der Kranken zu versehen im Stande ist. Auch der
Ausweg, den man noch wählen kann, dass der Director
dem Oberarzt gewisse Verwaltungsarbeiten überträgt,
führt nicht zu einer günstigen Eintheilung. Ein
richtiges Verhältniss tritt erst wieder ein, wenn eine
Grösse der Anstalt erreicht ist, bei welcher Beide, der
Director und der Oberarzt, bei voller Arbeitsteilung
ausreichend beschäftigt sind.
Das kann zunächst bei 800 bis qoo Kranken sein,
bei denen der Director die gesammte Verwaltung und
ein paar wichtige Abtheilungen, der Oberarzt aber
das Gros der Kranken haben wird. Man kann aber,
wenn man einmal soweit gegangen ist, nun sehr leicht
noch einen Schritt weiter thun und einen zweiten selb¬
ständigen Oberarzt anstellen. Jeder von ihnen über¬
nimmt mit den nötigen Hülfsärzten eine Geschlechts-
seitc, der Director die Verwaltung, und er versieht
mit Hülfe eines Assistenzarztes, welcher für ihn die
Status und Krankengeschichten schreibt, zugleich eine
Aufnahmeabtheilung. Bei einer solchen Eintheilung
können ohne Schwierigkeit 1200 —1400 Kranke einer
Klasse in einer Anstalt verpflegt werden. Man kann
aber dann alle Vortheile des Grossbetriebes ausnutzen,
der Grunderwerb wird billiger, und dass sich auch
die Baukosten niedriger stellen ist nicht zweifelhaft.
Durch Vergleiche der Baukosten \»>n Anstalten ver-
Original from
HARVARD UNIVERSfTY
1 Q02.]
schiedener Grösse kann man sich wegen der zahl¬
reichen in Betracht kommenden Umstände hierüber
schwer Klarheit verschaffen. Zu einem überzeugenden
Ergebnis» gelangt man aber, wie jeder Baumeister
bestätigen kann, wenn man berechnet, wieviel unter
ganz gleichen Verhältnissen eine Anstalt kostet und
wie hoch die Bausumme für 2 oder 3 Anstalten kommt,
welche zusammen nicht mehr Personen fassen können
als die eine. Alsdann sind alle Mittel des praktischen
und ärztlichen Betriebes in einer solchen Anstalt grösser
und reicher, das Anstaltsleben im Ganzen ist bedeuten¬
der und anregender. Gewiss, die alte kleinere Anstalt
mit ihrem einheitlichen Geist und patriarchalischen
Anstrich ist im gewissen Sinne ein Ideal und wird
es bleiben, aber neue Zeiten bringen neue Forderungen,
und man kann es den Behörden, welche sehen, dass
es mit den grossen Anstalten geht, nicht übel nehmen,
wenn sie lieber eine grosse als mehrere kleine An¬
stalten bauen. Die grossen Anstalten halte ich jeden¬
falls für besser als solche, die weder gross noch klein
sind. Ich will gerne bekennen, dass ich keine eigene
Erfahrung von grossen Anstalten habe, und die oben dar¬
gelegte Anschauung nur aus vergleichender Beobacht¬
ung abgeleitet ist; mögen daher Collcgen, welche nach
den angedeuteten Richtungen eigene Erfahrung besitzen,
die Güte haben, auch ihre Meinung mitzutheilen. *)
Nun habe ich mir gestattet, in den vorstehenden
Zeilen statt des Wortes „Irrenanstalt“ Ausdrücke wie
„Anstalt für Gehirnkranke“, „Gehirnkrankenhaus“ zu
gebrauc hen. Man kann diese Ausdrücke noch weiter
abändern, indem man sagt „Gchirnheil- und Pflegc-
anstalt“ oder sogar kurz „Gehirnanstalt.“ Bekanntlich
sind die Bemühungen, den Ausdruck „Irrenanstalt“
los zu werden, so alt wie die moderne Irrenpflege,
sagen wir „Gehirnkrankenpflege“ überhaupt. Man
empfindet, dass der Ausdruck „Irrenanstalt“ hart und
sachlich nicht zutreffend ist; die Insassen unserer
Anstalten sind grossentheils nicht „irre“, und die
falschen Vorstellungen, welche das Publikum mit diesen
Anstalten verknüpft, werden durch das Wort „Irre“
und „Irrenanstalten“ wesentlich genährt. Man hat
nun versucht, der Sache abzuhelfen, indem man aus
den Bezeichnungen einfach die Silben „Irren“ fort-
*) Siehe die am Schlüsse dieses Artikels bcigefüfjlen Be¬
merkungen des Herrn Direktor Dr. Alt, Uchtspringe. D. R.
43
lässt und nur von „Landes- oder Provinzial-Heil- und
Pflegeanstalten“ spricht. Oder man gebraucht statt
der Artbezeichnungen Eigennamen und verbindet da¬
mit oft die Bezeichnungen „Asyl“, „Hospital“ u. dgl.
So entstanden Namen wie „Friedrichsberg“ (Hamburg),
„Lindenhaus“ (Lemgo), „St. Jürgen-Asyl“ (Bremen),
„Karl-Friedrich-Hospital“ (Blankenhain) u. a. Man
muss dieselben als wohlgemeint und angenehm be¬
zeichnen, aber sie selbst beweisen eben die Scheu,
welche man empfindet, den eigentlichen Artnamen
„Irrenanstalt“ auszusprechen, und sie erreichen ihren
Zweck nur zum Theil. Ja es wird ihnen sogar zum
Vorwurf gemacht, dass sie die vulgäre Scheu vor den
Irrenanstalten unterstützen. Wie dem sei, so können
jene Eigennamen und alle Bezeichnungen überhaupt,
welche Art und Zweck der Anstalten nicht zum Aus¬
druck bringen, den Gebrauch der Artbezeichnung jeden¬
falls nicht überflüssig machen. Denn man wird immer
wieder genöthigt sein, schriftlich und mündlich den
Begriff der Anstalten durch ein kurzes Wort wieder-
zugeben, und so stellt sich denn immer wieder die
noch ungelöste Frage dar, wie das Wort „Irrenanstalt“
passend durch ein anderes zu ersetzen sei. Das Wort
„Gehirnkrankenanstalt“ mit seinen Ableitungen ist ein
Versuch, diese Frage zu lösen. Ich bitte um w'ohl-
wollende Aufnahme dieses Versuches. Neue Namen
haben zuerst immer etwas Fremdartiges. Aber nur
etwas ganz Neues kann hier zum Ziele führen; der
Name, den ich vorschlage, ist sachlich richtig und
sicherlich aufklärend für das weitere Publikum; man
darf erwarten, dass er ebenso helfen würde, richtigere
Vorstellungen über Geisteskranke und deren Anstalten
zu verbreiten, als der alte Name geeignet ist, falsche
Vorstellungen fest zu halten. Geht man bis zu den
Ausdrücken „Gehirnheilanstalt“, „Gehimpflegeanstalt“,
„Gehirn-Heil- und Pflegeanstalt“, wenn man will auch
kurz „Gehimanstalt“, so hat man Bildungen ganz gleich
wie „Augenheilanstalt“, „Nervenanstalt“ und ähnliche.
Es dürfte nicht gering anzuschlagen sein, wenn durch
allmähliche Einbürgerung und offizielle Anwendung
dieser Bezeichnungen die öffentliche Anerkennung
erreicht würde, dass Geisteskranke Gehirnkranke sind,
und dass Irrenanstalten ebenso wie andere Kranken¬
anstalten Krankenhäuser sind und nichts weiter.
Schaefer-Lcngerich.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Z u der wichtigen Frage, ob es wirtschaftlich zw r eck-
mässig und vom ärztlichen Standpunkte aus un¬
bedenklich sei, Irrenanstalten mit einer Belegungs¬
fähigkeit von 1000 und mehr Kranken zu bauen, hat
der Director der diess. Provinzial-Anstalt Len ge rieh,
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Herr Dr. Schaefer auf eine kurze darauf bezügl.
Ausführung in dieser Zeitschrift Nr. 51 in dem Vor¬
stehenden eine Erwiderung zugehen lassen.
Da sich diese Erwiderung mehr mit der ärztlichen
und vcrwaltungstechnischcn Seite der Frage befasst, so
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4
habe ich in Ergänzung der Ausführungen Dr. Schaefers
vom bautechnischen und finanziellen Standpunkte aus
eine vergleichende Berechnung darüber angestellt, wie
sich die Baukosten einer grossen Anstalt von 1000 Kran¬
ken ergeben, gegenüber zwei getrennten Anstalten von
je 500 Kranken.
Der beigefügten Uebersicht ist in Sp. 1 zu Grunde
gelegt das genaue Abrechnungs-Ergebniss
der Provinzial-Irrenanstalt Aplerbeck, die
mit 500 Kranken belegt ist, in ihren centralen Ein¬
richtungen aber für 600 Kranke ausreicht.
Die Zahlen in Sp. 2, die voraussichtlichen
Kosten der einzelnen Theile und Anlagen
einer Anstalt für 1OOO Kranke, wollen zwar
keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit erheben,
sind aber auf Grund zuverlässiger Unterlagen so er¬
mittelt, dass sie zur Beurtheilung der Frage ausreichend
sein dürften, und auch einer eingehenderen Prüfung
Stand halten werden.
Zur Erläuterung möchte ich mir folgende Bemer¬
kungen gestatten:
Der Grunderwerb wird um so billiger, je grösser
der zusammenhängende Complex ist, zumal der Guts¬
hof, wie er in Aplerbeck mitgekauft wurde, auch bei
einer Anstalt für 1000 Kranke nicht wesentlich grösser
zu sein brauchte. Der angesetzte Betrag von 280000
Mk. ist sogar höher, als in andern Provinzen für
Grunderwerb bei grossen Anstalten gezahlt worden
ist.
Die Kosten der Central ge bäude für Ver¬
waltung und Verpflegung erhöhen sich nicht wesent¬
lich, weil der Raumbedarf in den betr. Gebäuden,
sowie die Zahl der Dienstwohngebäude, abgesehen
von Aerzten und Pflegern, nicht der Krankenzahl
entsprechend steigen wird.
Auch bei den Central -Anlagen tritt, wie jeder
Techniker aus Erfahrung bestätigen wird, bei weitem
keine der Krankenzahl entsprechende Verdopplung
der Kosten ein; doch ist hier, wie auch die Tabelle
zeigt, die Steigerung im Einzelnen procentual sehr
verschieden.
Bei den Krankengebäuden hingegen werden
sich die Ausführungskosten verdoppeln, weil bei doppelter
Krankenzahl sich auch die Anzahl der Gebäude mit
ihren Installations-Einrichtungen an Heizung, Beleuch¬
tung, Be- und Entwässerung verdoppeln wird.
Die Kosten für die Inventarbeschaffung
werden sich ebenfalls annähernd verdoppeln; die Ein¬
richtungen der Centralgebäudc für Verwaltung und
Verpflegung im geringeren Maasse, als diejenigen der
Krankengebäude.
Mögen sich nun auch bei detaillirter Berechnung
die Ausführungskosten der einzelnen Positionen noch
etwas verschieben, das Gesamintergebniss wird das¬
selbe bleiben und -dieses beweist, dass der Bau
einer grossen Anstalt für 1000 Kranke um
fast 900000 Mk. billigerwird, als derzweier
getrennten Anstalten für je 500 Kranke.
Es dürfte auf der Hand liegen, dass dies wirt¬
schaftliche Moment für die Entschliessung der Pro¬
vinzial-Vertretung angesichts der stetigen Steigerung
der Belastung durch die Irrenfürsorge von ausschlag¬
gebender Bedeutung sein musste, nachdem die psy¬
chiatrischen Sachv erständigen den Bau einer so grossen
Anstalt für unbedenklich von ihrem Standpunkte aus
erklärt hatten.
Ich habe geglaubt, durch vorstehende Ausführungen
die Darlegungen des Herrn Dr. Schaefer ergänzen
zu sollen.
Vergleichende KostenUbersicht über den
Neubau von Anstalten mit 500 Kranken und
mit 1000 Kranken.
Die Ausfiih- 2.
rungskosten Die Ausfüh-
der Provinzial- rungskosten
Irrenanstalt zu einer ent-
Aplerbeck, sprechenden
belegt mit 500 Anstalt für
Kranken, haben 1000 Kranke
nach der Ab- würden be-
rechnung be- tragen:
tragen:
Mk. Mk.
i. Grund erwerbskosten
einschl. des alten Gutshofes
(etwa 200 Morgen)
(in Aplerbeck)
105 OOO
2 80 OOO
2. Gebäude für Verwal¬
tung, Verpflegung u. dgl.
a) Verwaltungsgebäude
83 OOO
120000
b) Betsaal (anstossend an a)
36 OOO
50 OOO
c) Wirthschaftsgebäude (in Ap¬
lerbeck für hoo Kr. gebaut.)
200 OOO
240000
d) Kesselhaus mit Central¬
bädern u. 2 Dienstwohn.
91 OOO
I 10 OOO
e) Leichenhalle mit Secir-
Räumen
14 OOO
16 000
f) Director-Wohnhaus
38 OOO
40 OOO
g) Beamten-Wohnhaus
40 OOO
40 OOO
h) Fcstsaal
43 OOO
54 000
i) Dienstgebäude für den Geist¬
lichen, Pfleger, Handwerker
u. s. w.
94 000
(für Ober¬
ärzte)
200 OOO
Pos. 2 zusammen Mk.
639 OOO
870 OOO
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
3. Central-Anlagen
a) Terrain-Regulirung
15 000
25OOOO
b) Pflasterungen , Wege-An¬
lagen, (Anschlussgeleise)
57000
80 OOO
c) Garten-Anlagen
40000
60 OOO
d) Einfriedigungen, Wandel¬
hallen
33000
50 OOO
e) Be- und Entwässerungs-
Anlagen
123 000
210 000
f) Heizungsanlagen, Koch- und
Waschküchen-Einrichtung
277 000
455 000
g) Electrische-Beleuchtung
. 58 000
100000
h) Telephon-Anlage
5000
9 000
i) Blitzableiter-Anlage
13 000
24 000
k) Bauleitungskosten
74 000
130000
1) Insgemein
19 000
33ooo
Pos. 3 zusammen Mk.
715 000
1176 000
4. Gutshof mit Stallge¬
bäuden, Scheunen und 1
Landhaus für Kranke.
104 000
130 000
5. Krank enge-
bäUÜe - Zahl
2 Aufnahme und Beob-
achtungs-Abtheilungen 56
0
2 Gebäude für Unruhige 48
122 OOO
2 „ „ Halb „ 120
22 I OOO
2 „ „ Sieche 56
151 OOO
4 .. ». Ruhige 120
193 OOO
2 Pensionsgebäude, 60
156 OOO
Dazu die Kranken im
Wirthschafts-Geb. und
auf demGutshof zus. 40
zus. ( 500
960 OOO
1900 000
für | Kr.
für 1000 Kr.
45
6. Inventarbeschaffung
für 500 Kranke mit Pflege¬
personal
Zusammenstellung.
1. Grunderwerb
2. Centralgebäude
3. Centralanlagen
4. Gutshof'
5. Krankengebäude
ö. Inventar
227 000
195 000
639 000
715000
104 000
960 000
227 000
430 000
für 1000 Kr.
280 OOO
870000
I 176 OOO
130 000
1900 000
430 OOO
zusammen 2840000 4786000.
Die Kosten betragen also einschl. G runderwerb
und Inventar pro Kopf der Belegung
bei Aplerbeck mit 500 Kranken 5680 Mk.
bei einer Anstalt mit 1000 Kranken 4786 „
Ohne Grunderwerb und Inventar stellen
sich die Kosten wie folgt pro Kopf
bei Aplerbeck mit 500 Kranken 4836 Mk.
bei einer Anstalt mit 1000 Kranken 4076 „
Werden zwei Anstalten von der Grösse und Bau¬
art der Aplerbecker gebaut, so kosten dieselben zu¬
sammen 5680 000 Mk.
Wird für diese 1000 Kranken eine Anstalt gleicher
Bauart errichtet, so kostet diese nur etwa 4786 000 Mk.
Also ergiebt sich als Ersparniss ein Betrag
von 894 000 Mk.
durch den Bau einer grossen Anstalt von
1000 Köpfen gegenüber zwei von je 500 Köpfen.
Diese Minder-Anlagekosten werden sich noch ver-
grössem, wenn die Anstalt, statt für 1000 Kranke,
für 1200 bis 1400 eingerichtet wird.
Münster, den 10. April 1902.
Zimmermann, Landesbaurath.
l^ie von Herrn C<»liegen Schäfer vorstehend ge-
gebene Anregung, den wenig zutreffenden Aus¬
druck „Irrenanstalt“ endgültig auszumerzen und
durch einen in den Augen der Kranken wie des
Publikums minder anstössigen Namen zu ersetzen,
dürfte dem Wunsche der Mehrzahl der Fachgenossen
entsprechen. Aus ganz den gleichen Erwägungen
heraus hat auch der letzte Landtag der Provinz
Sachsen die Bezeichnung Provinzial-Irrenanstalt
beseitigt und dafür allgemein „Landes-Heil- und
Pflege-Anstalt“ eingeführt; auch andere Provinzen
und Staaten sind in gleichem Sinne verfahren. Es
sei zugestanden, dass auch diese Benennung, welche
meines Erachtens immerhin schon einen grossen Schritt
vorwärts bedeutet, verbesserungsfähig ist und in ab¬
sehbarer, hoffentlich baldiger Zeit durch eine noch
treffendere verdrängt wird. In diesem Sinne ist der
Schäfer’sche Versuch sehr zu begrüssen, wenngleich
ich vermuthe, dass der Ausdruck Gehirn krank en-
anstalt, Gehirnheilanstalt oder kurzweg Gehirn¬
anstalt bei Publikum und Kranken wenig Anklang
finden und zur Beseitigung der Scheu vor den Kranken¬
häusern für psychisch Kranke nicht viel beitragen
dürfte. Wenn im gewöhnlichen Leben davon ge¬
sprochen wird, dass Jemand viel mit seinen „Nerven“
zu thun hat, dass seine „Nerven überreizt oder er¬
schöpft“ oder gar „ganz alle“ sind, so wird darunter
keineswegs blos eine Erkrankung der peripheren
□ igitized by Google
Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
46 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
Nerven verstanden, sondern vielmehr eine krankhafte
Schwäche, Ueberreizung oder Erschöpfung des Nerven¬
systems überhaupt, also auch des Gehirns. Erscheint
es nöthig, der Bezeichnung Landes-Heilanstalt noch
einen abgrenzenden Zusatz zu geben, so dürfte die
Vorsetzung des Wortes „Nerven“ jeden Zweifel be¬
heben und dabei dem allgemeinen Sprachgebrauch
vollauf gerecht werden, ohne unrichtig oder anstössig
zu sein. Mir persönlich will übrigens auch das Wort
Anstalt wenig gefallen. Ich habe deshalb vor Jahren
schon einmal einer Verwaltung die Bezeichnung Pro-
vinzial-Nervenklinik vorgeschlagen. Auch das Wort
Nerven -Heilstätte hat vieles für sich. Hoffentlich
geben die Schäfer’schen Ausführungen von Neuem
den Anstoss, einen passenden Namen zu finden (»der
bekannt zu geben.
Die Frage, wie gross sollen neue Anstalten
gebaut werden, ist von mir schon früher wieder¬
holt berührt worden. Ich habe bei jeder sich bie¬
tenden Gelegenheit es für meine Pflicht erachtet, vor
dem unaufhaltsamen Anwachsen derselben zu warnen.
Selbst wenn es vollständig erwiesen sein sollte, dass
entsprechend der Grössenzunahme der Anstalt die
Anlage- und Unterhaltungskosten pro Bett sich nennens-
werth verringerten, die sehr grossen Anstalten abo
erwiesenermaassen wirtschaftlich erheblich vortheil-
hafter wären, dürfte nur bis zu jener Grenze der
Krankenzahl vorgegangen werden, welche eben noch
ohne Gefährdung der Einheitlichkeit der Leitung und
Behandlung zulässig ist. Wo liegt aber diese Grenze ?
Die Antwort hierauf wird von verschiedenen Anstalts¬
leitern wohl nicht ganz gleichlautend gegeben werden,
auch nicht gleichwertig sein. Denn es ist, worauf
Herr Schäfer schon sehr richtig hindeutet, gewiss ein
grosser Unterschied, ob man in solchen Fragen seine
Ansicht blos vergleichend theoretisch ableitet oder
aus eigener praktischer Erfahrung heraus ein Urtheil
zu bilden Gelegenheit hatte. Letzteres darf ich w r ohl
für mich in Anspruch nehmen als langjähriger Leiter
einer unter meinen Augen entstandenen, von Haus
aus für 1000 Kranke bestimmten und — hauptsäch¬
lich auch in Folge glücklicher Entwickelung der Fa¬
milienpflege — auf über 1100 Kranke angew r achsenen
Anstalt.
Ich nehme keinen Anstand zu bekennen, dass
bei dieser Ausdehnung der Anstalt die Uebersicht-
lichkeit und Einheitlichkeit der Verwaltung sehr
gelitten hat, die einheitliche Behandlung der
Kranken gewaltig zu kurz kommt zum Nachtheil der
Kranken. Dieser Ansicht habe [ich bereits in dem
zweiten Verwaltungsbericht mit den Worten Ausdruck
gegeben: „Die Anstalt hat die Aufgabe, die heil¬
baren Kranken möglichst rasch gesund zu machen,
die besse rungsfähigen soweit zu fördern, dass sie
denkbar wenig unter ihrer Krankheit leiden und den
Angehörigen wie ihren Mitbürgern möglichst wenig
zur Last fallen, den unheilbaren und nicht der
Besserung fähigen für die Zeit ihres Lebens und
Leidens gute Pflege zu gewähren und ihnen das Leben
erträglich zu gestalten.
Der Berichterstatter trägt kein Bedenken zu be¬
kennen, dass die Anstalt, in der sich leider auch eine
grosse Anzahl nicht hineingehöriger (verbrecherischer
pp.) Kranker befinden, bisher wegen des rapiden
Anwachsens, der unfertigen und darum vielfach un¬
behaglichen Verhältnisse und der qualitativen Unzu¬
länglichkeit des Personals diese Aufgabe noch nicht
vollkommen gelöst und, weil sie zu gross ist, über¬
haupt niemals in vollkommenster Weise lösen wird.
Die erstgenannten Mängel werden von Jahr zu Jahr
schwinden bezw. weniger fühlbar werden, der letzt¬
genannte lässt sich im Laufe der Zeit durch radkale
Vereinfachung des Geschäftsbetriebes «d weitgehendste
Decentralisation bis za einem gewissen Grade aus-
gleichen. Die hier gemachten Erfahrungen zwingen
zu der Ansicht, dass als zweckmässigste obere Beleg¬
grenze einer gemischten Anstalt die Zahl von höchstens
600 Krankenbetten angesehen werden muss “
Ich kann diese Worte jetzt nach 5 Jahren nur
in allen Stücken vollauf aufrecht erhalten. Der Ge¬
schäftsbetrieb ist, dank dem bereitwilligsten Entgegen¬
kommen meiner Behörde, ganz wesentlich vereinfacht,
eine weitgehende Decentralisation dadurch angestrebt
worden, dass seit Jahren nicht nur zwei — wie Herr
Schäfer fordert — sondern drei Oberärzte ange¬
stellt und mit weitgehender Selbständigkeit betraut
wurden, gleichwohl übersteigen die Directionsgeschäfte
bei weitem die Arbeitsfähigkeit des Dircctors, der der
Krankenbehandlung, der Anleitung der jüngeren Col-
legen und der Ausbildung des Personals nicht an¬
nähernd die wünschenswerthe Zeit und Hingebung
widmen kann. Solange unsere Anstalt die Zahl 600
noch nicht überschritten hatte, kannte ich jeden Kranken
und Angestellten, heute ist das keineswegs der Fall,
und ich muss zugestehen, dass ich den mir über¬
tragenen Pflichten nicht gerecht werden kann.
Es sei gerne zugestanden, dass die Leistungs¬
fähigkeit der verschiedenen Directoren verschieden ist,
ich glaube für mich eine mittlere Befähigung und Ar¬
beitsfreudigkeit in Anspruch nehmen zu können.
Bios auf Uebermenschen die Verhältnisse zu¬
zuschneiden, halte ich für unerlaubt Mit der Ver-
grösserung der Anstalten wird auch die Schwierigkeit,
zur Leitung geeignete Aerzte zu finden, immer grösser.
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I 002.]
Nach meiner Ueberzeugung wird das Wohl der
Kranken erheblich geschädigt, wenn die Persönlich¬
keit des Directors ihnen zu sehr entrückt wird, und
das geschieht bei einer Anstalt mit 1000 Köpfen ganz
entschieden. Deshalb dürfen Anstalten nicht so gross
erbaut w r erden.
Ist es denn thatsächlich erwiesen, dass eine An¬
stalt von 1000 Kranken und darüber wirtschaftlich
in Anlage und Betrieb sich billiger stellt, als eine solche
von 500—600 Kranken? Es liegt für mich nahe
auf die hiesige Erfahrung zurückzugreifen, nach welcher
pro Tag und Kopf bei der jetzigen Ausdehnung der
Anstalt grössere Verwaltungskosten entstehen als zu
der Zeit der halben Grösse. Diese fürs erste etwas
frappirende Thatsache erklärt sich daraus, dass in
Folge der nicht mehr durchführbaren Einheitlichkeit
und Uebersichtlichkeit vieles ungenügend ausgenutzt
wird, manches umkommt, was in einer kleineren An-
staltswirthschaft mit schärferer Controlle nicht ver¬
schwendet worden wäre. Sowie die wirtschaftliche
Verantwortlichkeit auf mehrere Schultern verteilt wird,
kann die sorgfältigste und gewissenhafteste Leitung
und Controlle nicht mehr im einzelnen verfolgen, wo
hätte gespart und vorteilhafter gewirthschaftet werden
können.
Mit dem .Anwachsen des Beamtenheers, das bei
uns proportional der zunehmenden Anstaltsgrösse ver¬
mehrt werden musste, nahm die Unübersichtlichkeit
und Schwerfälligkeit des ganzes Betriebes zusehends
zu.
Nach den hiesigen Erfahrungen ist die Annahme
durchaus unrichtig, dass eine für 1000 Kranke und
darüber eingerichtete Anstalt sich im Betrieb pro Tag
und Kopf billiger stellt, als eine solche von etwa 600.
Bleibt die Behauptung: die erstmalige Anlage ge¬
stalte sich mit zunehmender Grösse pro Bett billiger.
Es sei daran erinnert, dass lange Zeit hindurch die
Lehre aufgestellt und aufrecht erhalten wurde, das
Pavillonsystem sei wesentlich theurer als das Corridor-
system, weil die sehr grossen Gebäude für hunderte
von Kranken entschieden billiger pro Bett seien als
die Pavillons zu etwa 40 —50 Kranken. Dieser Satz
dürfte heute' längst als erschüttert gelten. Ich habe
im Laufe der Jahre mit Dutzenden von Commissionen
aus dem In- und Ausland gerade über diesen Punkt
mündlich und schriftlich verhandelt, die wider¬
sprechendsten Ansichten und Urtheile gehört, und
schliesslich kamen Alle zu der Ueberzeugung, dass
es beim einzelnen Pavillon, wie eine untere, so auch eine
obere Grenze giebt, jenseits welcher das Bett sich
theurer stellt. Und diese Grenze liegt um 40—50
herum. Was für das einzelne Krankengebäude gilt,
47
trifft auch auf die Gesammtgrösse einer Anstalt zu;
auch hier giebt es nach meiner Ansicht, die im lang¬
jährigen regsten Gedankenaustausch mit anstaltserfah¬
renen Bautechnikern und auf Grund eingehender Be¬
rechnungen gebildet ist, eine Grösse, deren Ueber-
schreitung keine Verbilligung sondern Vertheuerung
bedeutet. Und diese Grenze liegt ebenfalls bei
etwa 600.
Wenn eine Verwaltung in die Nothw r endigkeit
versetzt ist 1400 Plätze zu schaffen, so erreicht sie
das nach meinem Dafürhalten am billigsten und
zweckmässigsten, wenn sie 2 Anstalten mit je 600
Anstaltsbetten erbaut, ausserdem bei jeder Anstalt
genügend Wohnungen für Pfleger und niedere Ange¬
stellte, denen zusammen gegen 50 Kranke in Pflege
gegeben werden. Ausser diesen 50 Familienpfleg¬
lingen bei den eigenen Angestellten werden sich gar
bald noch 50 andere Pfleglinge bei fremden Familien
der Nachbarschaft gut unterbringen lassen*).
In der Provinz Westfalen mit ihrer durchschnitt¬
lich sprichwörtlich biederen Bevölkerung muss das
ein leichtes sein, zumal im Sauerland und Münster¬
land.
Die hier in Kürze entwickelte, erst beim Durch¬
lesen der Correctur des Schäfer’schen Aufsatzes in
Nr. 4 der Wochenschrift schnell niedergeschriebene
Ansicht über die zweckmässigste und erlaubte An¬
staltsgrösse entspringt keineswegs blos meiner eigenen
Erfahrung und Ueberlegung.
Wie bekannt sein dürfte, habe ich im Herbst i8q6
an die Directoren der öffentlichen Anstalten Deutsch¬
lands eine Anfrage über das heute beregte Thema
gerichtet. Die in Betracht kommenden Fragen lau¬
teten :
1. Welches ist die zweckmässigste und welches
die — unbeschadet der Einheitlichkeit der Verwaltung
und der ärztlichen Oberleitung — höchste zulässige
Belegzahl einer neu zu erbauenden gemischten Irren¬
anstalt, a) wenn nur Communalkranke, b) wenn gleich¬
zeitig Pensionäre aufgenoramen werden?
2. Bei welcher Grösse der Anstalt ist nach Ihrem
Ermessen der einzelne Platz am relativ billigsten zu
schaffen ? ♦ .
3. Bei welcher Belegzahl gestaltet sich der Betrieb
am vortheilhaftesten und billigsten?
Die weitaus überwiegende Mehrzahl der nahezu
50 Auskünfte bezeichnete 500 — 600 als die „unbe¬
schadet der Einheitlichkeit der Verwaltung und der
ärztlichen Oberleitung höchste zulässige Belcg-
*) Ich habe beispielsweise allein in der benachbarten Kreis¬
stadt Gardelegen zur Zeit 44 weibliche Kranke bei fremden
Familien untergebracht.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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4« PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
zahl“ einer neu zu erbauenden Heil- und Pflege¬
anstalt.
Es würde zu weit führen, alle Antworten hier
wieder zu geben, ich führe nur diejenige des vor 2
Jahren verstorbenen Geh.-R. Professor Dr. Meyer-
Göttingen, einer allseitig anerkannten Autorität für
Anstaltsbauten und Verwaltung an:
„Nach meinen Erfahrungen kann ein Director die
Behandlung der Kranken in einer gemischten Anstalt
bei etwa io°/ 0 frischer Fälle leiten und die Verwal¬
tung dirigiren, wenn die Zahl der Kranken 500 nicht
übersteigt, bei 8% Pensionären. Fallen letztere weg.
so halte ich bis 600 für zulässig, steigen sie, so wird
eine Reduction der Gesammtzahl erwünscht. Bau
und Unterhaltung sind bei diesem Umfang
ebenso vortheilhaft zu stellen, wie bei
einer weit grösseren Anstalt“.
Herr Director Schäfer-Lengerich antwortete:
Lengerich, 15. Septbr. 1896.
„Das alte Ideal, dass der ärztliche Director einer
Irrenanstalt jedes Einzelne in Behandlung der Kranken
und in der Verwaltung selbst treibe, ist durch die
Verhältnisse überholt. Der Director muss schon heute
in den meisten Anstalten seinen Aerzten und Beamten
mehr Spielraum und eine gewisse Selbständigkeit
lassen. Andererseits wird bei den ganz grossen
Anstalten das „Dirigiren“ für den Director
illusorisch, er verliert den Ueberblick,
die Beamten werden entscheidend, die
erstrebte Einheit geht verloren.
Daher ad 1 a bis höchstens 650,
» * ^ » >> 55 °>
„ 2 1000 bis 1500.
„ 3 von 500 an.“
Der von Herrn Geheimrath Prof. Meyer und mir
vertretenen Meinung, dass Bau und Unterhaltung der
Kranken sich bei einem Umfang von 500—600 Betten
ebenso vortheilhaft stelle, wie bei einer weit grösseren
Anstalt steht allerdings die vergleichende Kostenüber¬
sicht des Hem Landesbaurath Zimmermann schroff
entgegen. Indes dürfte einer derartigen Kostenüber¬
sicht doch nur ein sehr begrenzter Wert beizumessen
sein. Es würde zu weit führen, erschöpfend diesen
Kostenvergleich hier zu analysiren. Nur einige
Punkte möchte ich herausgreifen.
Zunächst ist hervorzuheben, dass die Ausführungs¬
kosten von Aplerbeck auf Grund stattgehabter
Abrechnung festgesetzt sind, während bpi der zu
erbauenden Anstalt zu 1000 Köpfen nur erst Kosten-
Voranschläge vorliegen. Es sind Ueberschreitungen
bei dem und jenem Posten gar nicht ausgeschlossen,
die erfahrungsgemäss gerade bei solchen Riesenanlagen
nicht auszubleiben pflegen. Zum mindesten hätten
bei Aplerbeck auch die ursprünglich projectirten
Summen eingesetzt werden müssen.
Wenn bei Aplerpeck mit 500 Kranken das Bett
5680 Mark gekostet hat, so bleibt dann doch die
Frage zu beantworten: „Ist hier nicht viel zu theuer
gebaut werden.“ Ich für meinen Theil finde es
beispielsweise enorm, dass in einer Anstalt für
600 Kranke das Wirtschaftsgebäude ohne Koch-
und Waschkücheneinrichtung 200000 Mark kostet,
während für das Wirtschaftsgebäude in Uchtspringe
für 1000 Kranke mitsammt der ganzen Einrichtung
nur 175000 Mark verausgabt sind.
Soll denn ferner wirklich das gleiche Beamtenhaus
für 40000 Mark sowohl für eine Anstalt mit 1000
Kranken wie für eine solche mit 500 Kranken aus¬
reichen? Muss eine Anstalt für 1400 Kranke mit
300 Angestellten und deren Angehörigen, also insge-
sammt für 2000 Menschen nicht eine eigene Kirche
haben? Ich will mich hierauf beschränken.
Mit der Summe von 4786 Mark, ja mit 4000 bis
höchstens 4500 Mark pro Bett lässt sich eine Anstalt
für 700 Kranke einer Klasse, von denen 600 in
der Anstalt, 50 in Familienpflege bei Anstaltsange¬
stellten und Pflegern in anstaltsseitig gebauten Häusern,
50 andere Familienpfleglinge in fremden Familien
w r ohnen, sehr gut und schön bauen. Wozu also
solche Riesenanstalten,. in denen — wie Herr Direk¬
tor Schäfer früher sehr zutreffend bemerkte — das
Dirigieren für den Direktor illusorisch wird,
die erstrebte Einheit verloren geht?
Uchtspringe, den 23. April 1902.
Konrad Alt.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 49
M 1 t t h e 1
— Jahresversammlung des Vereins der
Deutschen Irrenärzte in München, 14. und
15. IV. 1902. Fortsetzung. Vorträge.
Degenkolb (Neustadt i. H.): Beiträge zur
Pathologie derRindengefässe.
a) Redner definirt den Begriff des kleinzelligen
intraadventitiellen Infiltrats nach Art und Menge der
es zusammensetzenden Zellen. Die Wucherungen von
als solche noch erkennbaren Adventitialzellen müssen
und können davon ausgeschaltet werden. Intraad-
ventitielle Infiltrate im Sinne des Redners finden sich
in diffusen Rindenkrankheiten nur bei Infektionen und
Intoxikationen.
b) Bespricht Redner die Kernlöcher und Kem-
dellen der Intimakerne der Rindengcfässendothelien.
Solche lassen sich als Ausdruck der sogenannten
„fettigen Degeneration“ der Intima ei weisen. Ander¬
weitige Veränderungen können an den befallenen
Kernen oft ganz fehlen, oft auch auftreten. Viele
Einzelheiten der Erscheinung werden besprochen.
Fürstner: Giebt es eine Pseudoparalyse?
F. hatte schon vor 2 Jahren, als er über die spi¬
nalen Veränderungen bei der Paralyse im Verein re-
ferirte, die Befürchtung ausgesprochen, es möchte
durch die Gleichstellung der Syphilis als ätiologischer
Factor für die Tabes und die Paralyse die Aufmerk¬
samkeit der Autoren in einseitiger Weise auf die
Hinterstrangerkrankung gelenkt werden, dass dem¬
gegenüber die Degeneration in den Seitensträngen und
anderen Abschnitten des Rückenmarks geringere Be¬
achtung finden würde, von der kaum in Angriff ge¬
nommenen Erforschung der Veränderungen im peri¬
pheren Nervensystem ganz zu schweigen. Inzwischen
sind in einzelnen Arbeiten Befunde in den Seiten¬
strängen beschrieben, es ist auch der Versuch ge¬
macht worden, dieselben klinisch zu verwerthen, so
in der interessanten Dissertation von Just, die in
Riegers Klinik angefertigt wurde. Dagegen hat ein
anderes Moment erneut die Ueberschätzung der
Hinterstrangdegeneration, was Frequenz des Vor¬
kommens, was Antheil an der Gestaltung des Krank¬
heitsbildes angeht, begünstigt. Mendel hat sich be¬
kanntlich dahin ausgesprochen, dass der Verlauf der
Paralyse gewisse Veränderungen erlitten habe, dass er
milder geworden sei, vor Allem wies Mendel auf die
Erfahrung hin, dass der klassische Verlaufstypus, der
durch C’ombination des eigenartigen progredienten
Blödsinns mit schweren hypochondrischen oder mania-
kalischen, vor allem auch abstruse Grössenideen be¬
tenden Symptomen gekennzeichnet war, immer mehr
verdrängt werde durch die demente Form. Da letz¬
tere aber gerade als eigenthümlich für die Fälle an¬
gesehen wurde, bei denen zu kurzer oder langer
Dauer der Tabes cerebrale Symptome sich gesellten,
so konnte der Ausspruch Mendels k 1 i n i s c h die
Tabesparalyse, anatomisch die Hinterstrangdegene¬
ration als wesentlichstes Forschungsobject erscheinen
lassen. Da nun F. der Meinung ist, dass wenn diese
Auffassung sich immer mehr einbürgern sollte, das
Studium der Paralyse eher geschädigt werden dürfte,
prüft er noch einmal die Momente, die etwa für eine
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1 u n g e n.
Aenderung oder Milderung des Verlaufs geltend ge¬
macht werden können. Die Frage, ob die Frequenz
einen Anstieg aufweist, glaubt F. auf Grund der in
den letzten 9 Jahren in die Strassburger Klinik auf¬
genommenen Paralytischen, 280 Männer, 72 Frauen,
und anderweitiger grösserer statistischer Erhebungen
bejahen zu dürfen, dagegen kann er auf Grund eigener
Wahrnehmungen nicht das Auftreten der Paralyse
schon im jugendlichen Alter bestätigen, würde sich
dieses Resultat ergeben, so müsste die Widerstands¬
fähigkeit des Nervensystems jugendlicher Personen
geringer oder der der Paralyse zu Grunde liegende
Krankheitsprocess intensiver geworden sein. In letz¬
terem Sinne spreche die Verkürzung der Krankheits¬
dauer, die F. in Uebereinstimmung mit Bohr auf
2 Jahre und noch weniger bemisst; ein Resultat, das
den früheren nicht entspricht, das sich nicht deckt
mit der früher allgemein angenommenen Meinung,
dass der dementen Form ein besonders langsamer
Verlauf eigen sei. Weiter glaubt F. im letzten Jahr¬
zehnt den Eindruck gewonnen zu haben, dass der
makroskopisch-anatomische Befund Aenderungen in¬
sofern aufweise, als viel seltener als früher zu con-
statiren seien: hämorrhagische Pachymeningitis in
Hämatomform, hochgradige diffuse oder circumscripte
Atrophie, intensiver Hydrocephalus mit Ependvmitis,
nur vereinzelt treffe man eine früher häufigere Com-
bination von Atrophie mit Hämatombildung, letztere
konnte F. bei 97 Obductionen von Paralytikern nur
6 Mal verzeichnen. Zu gleichen Resultaten ist vor
Kurzem Näcke gekommen, während Schüle in einem
Bericht über 52 Obductionen sich dahin ausspricht,
dass dem dementen Verlauftstypus ein characteristischer
anatomischer Befund nicht gegenüberstände. F. re-
sumirt sich dahin, dass gewisse Momente eher für
eine gesteigerte Intensität des Krankheitsprocesses bei
der Paralyse sprechen und erwähnt die Frage, ob
und inwieweit sich hiermit der Ausspruch Mendels
vereinen lasse. F. erkennt an, dass heute hohe Grade
von intellectueller Schwäche auffallend schnell sich
entwickelten , dass die sonstigen psychischen Begleit¬
erscheinungen meist nur schwach und transitorisch
seien, ganz fehlte auch heute der klassische Typus
nicht; er ist der Meinung, dass — wie uueh bei an¬
deren Formen — die Demenz mindernd wirke auf
die Entstehung der anderweitigen psychischen Symp¬
tome. Dagegen hält F. nicht für erwiesen ein Ueber-
wiegen der Taboparalyse. Früher habe man zu ihr
nur gerechnet Fälle, wo eine Reihe subjectiver und
objectivcr Symptomen die Diagnose Tabes absolut
sicher erscheinen liessen. Heute werden oft Pupillcn-
starre und Fehlen der Patellarreflcxe für genügend
erachtet, es sei ferner keine Rede davon, dass der
ausschliessliche Hinterstrangbefund häufiger geworden
sei, es dominirten nach wie vor die combinirten Er¬
krankungen der Seiten- und Hinterstränge. F. resumirt
sich dahin, dass das Verhältniss der Demenz zu den
psychischen Begleiterscheinungen eine Aenderung er¬
fahren habe, dass aber von einem Prävaliren der Tabo¬
paralyse keine Rede sei. Das characteristische Ge¬
präge erhalte das Schulbild der progressiven Paralyse
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HARVARD UNIVERSITÄT
50 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
durch den eigenartigen, progredienten Blödsinn in Ver- zustande anamnestisch zu verzeichnen , geistige und
Bindung mit körperlichen Symptomen. Die letzteren körperliche Ueberanstrengung, sexuelle Excesse sind
seien zum grössten Theil spinalen Ursprungs, ob auch weiter ätiologisch wirksam, Syphilis nur in einein
Pupillenstarre regelmässig, ob auch Anfälle, wie Just Bruchtheil der Fälle, Pupillenstarre kann wieder ver-
wolle, sei noch fraglich. Es sei zu prüfen, ob es eine schwinden , die fehlenden Patellarreflexe können
paralytische Degeneration gebe (Alzheimer), welche w r iederkehren, aber auch hier häufiger gesteigerte Re-
corticalen oder subcorticalen Bezirke ersterer anheim- flexe nachweisbar. F. weist zum Schlüsse auf die
fallen, in welcher Reihenfolge, bei welcher Localisation. practische Wichtigkeit derartiger Fälle hin; Entmündi-
Bezüglich letzterer zieht F. die neueste Publikation gung, Rentenbemessung. (Autoreferat).
Schaffers heran, w'ären die Resultate derselben richtig, Raecke: Zur Lehre von der Hypochondrie
würden andere Wirkungen den Hauptsitz der Krank- In neueren Lehrbüchern der Psychiatrie existirt
heit enthüllen, als man früher annahm. die Hypochondrie kaum noch als selbständiges Krank-
Noch mehr als die Abgrenzung des Schulbildes heilsbild. Es gewinnt vielmehr die Anschauung an
stossc das Studium der atypischen und Pseudopara- Boden, dass ein hypochondrischer Symptomen komplex
lysen auf Schwierigkeiten. Nach Lissaucr, Alzheimer gelegentlich bei allen Psychosen auftreten kann, dass
würden vor Allem Heerdsymptome eine Rolle spielen; ^ sich dagegen in den übrigen Fällen sogenannter
F. räth in Uebereinstimmung mit Alzheimer die Be- reiner Hypochondrie lediglich um schwere Neu¬
zeichnung atypische fallen zu lassen und direkt zu rasthenieformen handelt. Gegen diese Lehre haben
sprechen von Lissauerscher Paralyse oder von Para- sich bis in die neueste Zeit hinein gewichtige Stimmen
Iyse mit Heerdsvmptomen (Aphasie, Hemianopsie). erhoben (Jolly, Hitzig, Kraft-Ebing u. a.). Zuletzt
Besondere Beachtung verdienten Fälle, wo die tiefen i st vor 2 Jahren Böttiger in einer grösseren Arbeit
Rindenschichten lädirt, die oberen intact waren, weiter ^ ür die Selbständigkeit des hypochondrischen Krank-
die Fälle, w-o sich in den grossen Ganglien degene- heitsbildes eingetreten.
rative Veränderungen fanden; es sei eine Trennung Unter 2800 Aufnahmen der psychiatrischen Klinik
dieser atypischen Paralysen von den Fällen^jgu^^ni Tübingen fanden sich nur 15 einwandsfreie Fälle
streben, wo nach Alzheimer vor Allem daj^Ä^BJeWjteftswHypochondrie, die eine lange Reihe von Jahren
Veränderungen aufw'eise, oder von gewMfn Fällen unvÄlBfelert bestanden hatten. Davon waren b erb¬
seniler Demenz, wo keilförmige DegenerationAf*in lieh sclCffic belastet. 7 w-aren Neuropathen, und in
in der Rinde heständen. Die PseudopatJ|psen seMn-Z ren äussere erschöpfende Momente vorauf-
immer zahlreicher geworden, F. zieht zunächst nur gegartgenr I
die alkoholistische und luetische Pseudop 5 ™fcrfÄui Die ÄC/inkheit begann in der Regel mit Schwäche-
Betracht, und plädirt dafür, die Bezeichnung r^H^j^ÄSfih^^Mrhlaflosigkeit, Verdauungsbeschwerden und
paralyse fallen zu lassen, die ersteren den alkoholisti- zahlreichen Parästhesien im ganzen Körper. Dann
sehen Geistesstörungen, die zweiten den luetischen bildete sich die feste Überzeugung aus, ein ganz be-
Erkrankungen zuzurechnen. Die alkoholistische Pseudo- stimmtes, unheilbares Leiden zu haben, und damit
paralyse trete meist in späterem Alter auf als die trat sekundär eine gewisse traurige Verstimmung ein.
Paralyse, die körperlichen Symptome seien zum Theil Im Übrigen lagen allen einzelnen, mannigfachen
nicht spinalen, sondern neuritischen Ursprungs, die Krankheitsäusserungen stets zw>ei Momente zu Grunde:
Pupillenstarre fehle fast stets, die intellektuelle Schwäche 1) eine veränderte Selbstempfindung, mochte die-
sei nicht conform dem paralytischen Blödsinn. Bei selbe nun mehr den körperlichen oder geistigen Anteil
der luetischen Pseudoparalyse finden sich Symptome, der Persönlichkeit betreffen, und
die nicht einmal der am ersten als luetisch anzu- 2) eine eigenthümlich wohnhafte, jeder Kritik un-
sehenden Paralyse, der Taboparalyse, entsprächen, zugängliche, aber logisch konsequente Verarbeitung
die Patellarreflexe seien oft gesteigert, es beständen jener Sensationen.
Heerdsymptome wie bei den luetischen Eskrankungen, Die Prognose erwies sich meist infaust trotz ge-
die sensiblen Störungen treten auffallend stark hervor. legentlicher, weitgehender Remissionen. Doch tritt
F. will die Bezeichnung Pseudoparalyse einer wie keine Demenz ein.
scheint nicht grossen Gruppe von Erkrankungen vor- Von der Melancholie unterscheidet sich die Hv-
behalten, bei denen ein bestimmter ätiologischer Fac- pochondrie durch die sekundäre Entstehung der
tor nicht besonders hervortritt, w’o die Symptome die traurigen Verstimmung, durch eine geringere Heftig-
Diagnose Paralyse durchaus rechtfertigen, der weitere keit und durch die Unbeständigkeit der Angst, durch
Verlauf aber beweist, dass es sich nicht um eine Re- den Mangel einer Hemmung, das Fehlen von Selbst¬
mission und überhaupt nicht um eine Paralyse ge- vorwürfen und durch die Möglichkeit der Ablenkung,
handelt hat. F. erinnert an andere Pseudoerkrank- Eher erinnert die ausgesprochene Wahnbildung an
ungen dieser Art, multiple Sclerose, gewisse psychische Paranoia. Doch fehlt der Beziehungswahn, das Pro-
Störungen, auch Infectionskrankheiten u. s. w., er jizieren der Sensationen in die Umgebung und die
schildert die Schwierigkeiten, mit denen der einzelne erklärende Wahnbildung der Verfolgung oder der
Beobachter gerade bei Erforschung dieser Form zu Grösse.
kämpfen hat. Anamnestisch kehrt häufig wieder eigen- Die Hysteriker unterscheiden sich wieder durch
artige hereditäre Disposition, psychische Eigenthüm- grössere Suggestibilität, stärkeren Wechsel der Symp-
lichkeiten bei der Ascendenz, beim Kranken selbst tome, Neigung zu bewussten Täuschungen und aus¬
sind transitorisch leichte Depressions- oder Erregungs- gesprochene Stigmata auf somatischem Gebiete. Die
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 51
seltenen Anfälle und Lähmungen der Hypochonder
werden stets durch bewusste Vorstellungen verursacht.
Die manchmal ziemlich ähnlichen psychischen Anfälle
der Katatoniker unterscheiden sich durch ihren auto-
matenhaften Anstrich. Auch lässt sich dann meist
bald ein Intelligenzdefekt nachweisen.
Schwieriger gestaltet sich die Abtrennung von der
Neurasthenie, weil sich die Hypochondrie sehr häufig
auf ihrem Boden entwickelt. Indessen darf man
darum nicht beide Krankheitsformen zusammenwerfen.
Denn einmal braucht nicht der Hypochondrie die
Neurasthenie voraufzugehen, während die meisten
Neurastheniker niemals Hypochonder werden, und
dann hat überhaupt der charakteristische Zug der
Hypochondrie, die kritiklose, wahnhafte Verarbeitung
der Sensationen mit ihrer zwingenden Beeinflussung
des gesammten Handelns, nichts mit dem Wesen der
Neurasthenie gemein. Der letztere Zug rückt die
Hypochondrie unter die Psychosen.
Zum Schlüsse lassen sich daher folgende Sätze
aufstellen:
1. Die Hypochondrie ist eine selbständige, in sich
abgeschlossene Krankheitsform, die aber mit Vorliebe
auf dem Boden der Neurasthenie, seltener der Hysterie
sich entwickelt.
2. Bei scheinbarem Uebergange einer hypochon¬
drischen Psychose in eine andre Irrsinnsform hat es
sich in der Regel nur um das hypochondrische Vor¬
stadium dieser Psychose gehandelt. Die richtige
Deutung solcher Fälle von Pseudo-Hypochondrie
stösst nur im Beginn des Leidens und bei.zu kurzer
Beobachtungsdauer auf Schwierigkeiten. (Autor.efeiat.)
Vogt (Göttingen) giebt sehr interessante*
Mithteifungen über Gesichtsfeldeineng-
ungbei Arter iosklerose des Central verven-
Systems. Es handelt sich um Fälle, deren Symptom¬
bild besonders von Windscheid präcisirt worden ist.
In der charakteristischen Symptomengruppe: Kopf¬
schmerz, Schwindel und Abnahme der geistigen Reg¬
samkeit kann das letztere fehlen, es kann neben den
beiden erstgenannten Erscheinungen eine concentrische
Verengerung des Gesichtsfeldes vorhanden sein, welche
der Abnahme der psychischen Leistungfähigkeit vor¬
ausgeht. Die Hauptsache ist, dass in solchen Fällen
ein dauernder Nachweis der Erscheinung möglich ist
Die Einengung zeigt dann eine Constanz, welche eben
der messbare Ausdruck für den progredienten Process
ist. Dass es sich bei dieser Art von Einengung nicht
um eine vorübergehende functioneile Störung oder
eine solche der Circulation handelt, geht aus der
Constanz der Erscheinung in ausgesprochenen Fällen
hervor. Auf der anderen Seite pflegt bei einer Er¬
krankung des Centralnervensystems, welche als eine
solche arteriosklerotischer Natur anzusprechen ist, die
Gesichtsfeldeinengung nur nachzuweisen zu sein, wenn
auch Erscheinungen anderer Art, besonders Kopf¬
druck und Schwindel bestehen. Die Gesichtsfeldein¬
engung nimmt also bei der arteriosklerotischen Er¬
krankung eine Mittelstellung zwischen Reiz- und Aus¬
fallserscheinungen ein. Daraus geht auch hervor, dass
es sich thatsächlieh um eine durch die Arteriosklerose
bedingte Erscheinung handelt, da den Vortr. auch
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zahlreiche Untersuchungen an Gesunden mit starker
Arteriosklerose, sowie an Geisteskranken mit starker
Arteriosklerose gelehrt haben, dass hier eine Einengung
constant fehlt, solange nicht auch andere für eine
Arteriosklerose des Centralnervensystems sprechende
Erscheinungen vorhanden sind. Bei den untersuchten
Fällen von Geisteskrankheit nicht organischen Charakters
hat es sich natürlich um solche Fälle gehandelt, die
erfahrungsgemäss eine Einengung aus anderer Ursache
ausschliessen liesen. In den untersuchten Fällen von
Arteriosklerose des Centralnervensystems fand sich
fast stets eine starke Sklerose der Temporalarterie,
eine solche der Radialarterie wurde wiederholt vermisst.
Auch die Gefässe des Augenhintergrundes waren
keineswegs stets deutlich arteriosklerotisch. Einerseits
handelte es sich überhaupt um Anfangsstadien des
Processes, andererseits kann offenbar auch bei intacten
Retina-Arterien eine Arteriosklerose des Gehirns aus¬
geprägt sein. Fortgeschrittene Fälle zeigten fast stets
die Einengung, einige Hessen sie aber überhaupt völlig
vermissen. Es soll der Wert der Gesichtsfeldunter¬
suchung nicht überschätzt werden, doch stellt diese
bei vorsichtiger und kritischer Prüfung jedenfalls ein
feines Reagens auf den nervösen Status überhaupt
dar, und verdient daher die Thatsache der amcen¬
trischen Einengung bei Arteriosklerose des Central-
nervensyste.ms als ein kleiner Beitrag zur genaueren
Umschreibung des z. Zt. mit vielem Interesse studirten
Symptomenbildes der Arteriosklerose des Gehirns Be¬
achtung. (Autoreferat.)
; (Fortsetxung folgt.)
.</; '
Referate.
— Rivista sperimentale di Freniatria. Vol. XXVII.
(Fase. I und II), Organ der italienischen Gesellschaft
für Psychiatrie (Societa Freniatrica Italiana), unter
Direction der Professoren Tamburini, Golgi, Morselli,
Tamassia, Tanzi, redigirt von Dr. G. C. Ferrari.
Reggio Emilia. 1901. Verlag Stefano Calderini
& Sohn. Grossoctav 660 Seiten, 14 Tafeln.
Ein kurzer, aber tiefempfundener Nekrolog über
den verstorbenen Professor Giulio Bizzozero, aus
der Feder Prof. Tamburinis bildet die Einleitung zum
ersten Hefte (Fase. I, 339 Seiten). Aus demselben
entnehmen wir, dass durch den frühen Tod dieses
Gelehrten (55 Jahre alt) die italienische Wissenschaft
einen schweren Verlust erlitten hat. Er w f ar es, der
der Pathologie in Italien die experimentelle Richtung
gab und der durch verschiedene, wissenschaftliche Ar¬
beiten von bleibendem Werthe sich und seinem Vater¬
lande eine ehrenvolle Stellung bei der Erforschung
medicinischer Thatsachen erwarb. Bizzozero wurde
im Jahre 1846 in Varese geboren, absolvirte seine
Studien in Pavia, wo er schon im Alter von 21 Jahren
an Stelle Mantegazzas zum Professor der Pathologie
ernannt wurde. Fünf Jahre später kam er in gleicher
Eigenschaft nach Turin, wo er seine experimentell¬
pathologische Schule begründete. Seine bekanntesten
Entdeckungen auf medicinischem Gebiete sind „die
blutbildende Function des Knochenmarks“ und
„die Blutplättchen.“ Als besonders hervorragende
Forschereigenschaften werden ihm na< hgerülunt: „die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
zähe Ausdauer im Forschen,“ „die strenge Vorsicht
in der Schlussfolgerung,“ „die Unabhängigkeit von
irgendwelcher Autorität ausserhalb der gut studierten
und demonstrirten Thatsaehen.“ Als Lehrer zeichnete
er sich durch Klarheit und Praeeision seiner Aus¬
führungen, durch seine Wahrheitsliebe und seinen
Mangel an Vorurtheilen aus. Gegen den Schluss
seines Lebens hatte er sic h social-hygienischen Fragen
zugewandt, worin er ebenfalls als Autorität galt.
Dem Andenken des Psychiaters und Politikers
Silvio Venturi ist ein anderer Nekrolog aus der
Feder Tomini's gewidmet. Mit einer Wärme und
Lebhaftigkeit des Ausdrucks, wie er der italienischen
Sprache in hohem Masse zukommt, wird der Be¬
gründer der Zeitschrift „Manicomio,“ der langjährige
Director der Irrenanstalt Girifalco in Calabrien als
etwas rauher und oft verkannter, aber unabhängiger,
hoc hgesinnter, rastlos thätiger und unantastbarer Mann
gepriesen und seine anfänglich sehr Wechsel vollen
Lebcnssehicksalc beschrieben. Unter seinen Werken
werden besonders: „Die psychosexuellen Entartungen
im Leben der Individuen und in der Geschichte der
Gesellschaft (Le degenerazioni psico-sessuali nella vita
dcgli individui e nella storia della societa)“ und „die
Psychosen des socialen Menschen (Le pazzie delb uomo
soc iale)“ hervorgehoben. In letzterem bespricht Ven¬
turi im Hinblick auf die Ausbreitung des Anarchismus
in den letzten Jahren das anarchistische Verbrechen
als historische oder sociale Thatsache an sich. Er
hält es für irrelevant zu constatiren, ob der
Urheber desselben gesund oder geistes¬
krank sei, sobald die Entstehungsbe¬
dingungen für ein solches Verbrechen im
Milieu derart seien, dass dasselbe auch
durch die Initiative eines Gesunden zu
S t a n d c k o m men k ü n 111 e. Die anarchistische
Lehre ist für Venturi entweder eine krankhafte Idee
(idea pazza), die auch Gesunde ergreifen kann, oder
die Rechtfertigung einer verbrecherischen Neigung.
Das Buch erschien erst nach dem Tode des Ver¬
fassers.
Dem am 5. März 1901 im Alter von 50 Jahren
verstorbenen Director der Provinzialirrenanstalt Como
Dr. A go st i n o B ru 11 a t i, der sich speciell mit der
„Aetiologie des Cretinismus“ beschäftigt hat,
wird ebenfalls ein kurzer Nachruf gewidmet.
Unter den Notizen finden wir einen Gesetz¬
entwurf über die Prophylaxe der Pellagra
erwähnt, der vom Ministerium dem Consiglio Superi-
ore di Sanita vorgelegt und von diesem auf ein Re¬
ferat Tamburini's hin mit einigen Abänderungen an¬
genommen wurde. Nac h diesem Gesetzentwurf ist es
verboten unreifen, schimmeligen oder anderweitig ge¬
sundheitsschädlichen Mais oder daraus hergestelltes
Mehl, Brot oder Gebäck zur Ernährung des Menschen
zu verkaufen. Ferner ist die Einfuhr solchen Maises,
ausser zu industriellen Zwecken und mit Genehmigung
und unter Controlle des Praefcctcn verboten. In den
infieierten Gemeinden sind die Trocknereien, Bäc ke¬
reien des Maises u. s. w. unter amtliche Aufsicht ge¬
stellt und die betreff. Gemeinden müssen einen Dörr¬
apparat zur öffentlichen, unentgeltlichen Benutzung
herstcllen und betreiben. Von Seiten der Aerzte be¬
steht obligatorische'Anzeigepflicht für jeden Fall von
Pellagra. Die curative Ernährung von pellagrösen
Armen in Heilanstalten, oeconomischen Küchen oder
in Ausnahmsfällen durch Vertheilung von Nahrungs¬
mittel in d Wohnungen ist obligatorisch. Zu den
bezüglichen Kosten wird ausser durch private Wohl-
thätigkeit und durch Zuschüsse aus öffentlichen Kassen,
die Provinzial Verwaltung in einem jährlich durch
königliches Dekret festgestellten Masse beitragen. Für
die Unterhaltungskosten armer Kranker, die in Kranken¬
häusern behandelt werden müssen, sorgen Provinz
und Gemeinde zu gleichen Theilen. Im Budget des
Ministeriums des Innern wird eine jährliche Summe
(100000 Frs.) für Beiträge gegen die Pellagra festge¬
setzt. Auch werden den Gutsbesitzern, welche die
Pellagra aus ihren Besitzungen haben verschwinden
lassen, Prämien ertheilt. Der Finanzminister wird
autorisirt, den pellagrösen Annen und ihren Familien
das zur Ernährung nothwendige Salz gratis vertheilen
zu lassen. Den Präfecten wird, nach Vernehmlassung
des Sanitätsrathes der Provinz und des „Comizio
Agrario,“ das Recht gegeben, an mit Pellagra inficirten
Orten die Bebauung der ersten Maisernte, des „qua-
rantino und cinquantino“ (40—50 Tage reifwerdender
Mais) zu untersagen oder einzuschränken , wo die
klimatischen Bedingungen das vollständige Reifwerden
nicht erlauben. Um die Ausführung der Gesetze zu
sichern, werden Strafbestimmungen aufgestellt werden.
— Die Redaction des Riv. sper. spricht den Wunsch
aus, dass dieser wichtige Gesetzentwurf bald zur
Ausführung komme, da durch seine Anwendung „die
schreckliche Plage der Pellagra erfolgreich* bekämpft
und besiegt werden kann.“
Uebcr das „I rr engeset z“ wurde ebenfalls im
Ober-Sänitätsrath (Consiglio Superiorc di Sanita) ver¬
handelt und folgende Tagesordnung dem Ministerium
des Innern vorzulegen beschlossen:
„Der Ober - Sanitätsrath, in Erkenntniss der
dringenden Nothwendigkeit gesetzgeberischer Grund¬
lagen für die wichtige Angelegenheit der Irrenhäuser
und der Irren, die früher ausgesprochenen Wünsche
betreffs Schaffung eines Irrengesetzes (Legge sui Manio-
conii) wieder in Erinnerung rufend, spricht den Wunsch
aus, dass seine Exeellenz der Minister des Innern den
Gesetzentwurf über die Irrenanstalten wieder prüfe,
um ihn beförderlichst den gesetzgeberischen Körper¬
schaften zur Annahme vorzulegen.“ — Daraus ersieht
man, dass auch in Italien massgebende Kreise die Schaff¬
ung eines Irrengesetzes als dringend nöthig erachten.
Notizen über den Psyehiater-Congrcss in Ancona
(2g. Sept. bis Oct.), den internationalen Kriminal-
Anthrop«»logencongress in Amsterdam (9. bis 14. Sept.)
und den internationalen Physiologencongress in Turin
(17. bis 24. Sept.) haben keine aktuelle Bedeutung mehr,
da die betreffenden Organe zur Zeit des Druckes des
II. Heftes noch nicht stattgefunden hatte, wohl aber
als die Riv. sp. in die Hände des Ref. gelangte.
(Fortsetzung folgt).
Für den rcdactionelkn Tlicil \ er.uitwoi tlu h : Olwrarzt Dr. J . Bri-Dcr Kraschnitz, (Sch.csien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heyncmann’sche Buchdmckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch -Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausKPgfiben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. h. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt,
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Prof. Dr. E. Mendel,
Dr. P. J. Möbius,
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Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 5. 3. Mai 1902.
Die ,.Ps y c h i a t r 1 sc h - Neu r ol o p i sch e Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
H»-.tell linken nehmen jede Jiuciihandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden fiir die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaciion sind an Oberar/t Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten
Inhalt. Originale: Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten. Von H. Schlöss (S. 53). —Bromipin. Von Dr. Baucke,
Bonn a. Rh. (S. 56). — Mittheilungen (S. 61). — Referate (S. 62).
Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten.
Von //. Schloss.
TT crr Hoppe (Königsberg) hat sich veranlasst gc-
-*■ sehen, in Nr. 52 dieses Blattes (v. 22. März
1902), einzelne Ansichten, die in meinem auf der
Wandcrversammlung des Vereins für Psychiatrie und
Neurologie in Wien zum Vortrag gebrachten Referat
über „die Alkoholabstinenz in öffentlichen Irrenan¬
stalten“ (siehe diese Wochenschrift Nr. 34, vom 16.
November 1901) enthalten waren, einer Berichtigung
zu unterziehen. Diese Berichtigung veranlasst mich,
zu dem Thema „Alkoholabstinenz in Irrenanstalten“
nochmals das Wort zu ergreifen.
Ich stimme vollkommen mit Hoppe überein, wenn
er eine Verquickung der therapeutischen Anwendung
des Alkohols mit der Frage der Zulässigkeit desselben
als Genussmittel verurtheilt, und ich staune, dass er
mich einer solchen Verquickung beschuldigt. Ein
Blick auf den Wortlaut meines Referates hätte ihn
darüber belehren müssen, dass ich den Alkohol
erstens als therapeutisches Mittel und zweite n s
als Genussmittel besprochen habe, dass also nicht
eine Verquickung, sondern eine stramme Sonderung
der beiden Gebrauchsarten des Alkohols in meinem
Referate stattgefunden hat.
Sehr leid muss es mir thun, dass Herr Hoppe
sich der Widerlegung meiner über die therapeutische
Anwendung des Alkohols geäusserten Ansichten ent¬
zogen hat, denn sicherlich steht der reiche Schatz
seines psychiatrischen Wissens doch wenigstens auf
der Stufe seiner Lust zu kritisiren, und ich hätte eine
Belehrung über dieses schwierige Thema mit grosser
Dankbarkeit quittirt.
Nur in einem Punkte tritt Hoppe aus seiner
Verschlossenheit hervor: Er findet, was ich von den
nährenden Eigenschaften des Alkohols sagte, so her¬
ausfordernd, dass er es nicht unwidersprochen lassen
könne. Ich habe in der Discussion über mein Referat
ganz offen und der Wahrheit entsprechend einge¬
standen, dass ich meine Ansicht über die nährende
Eigenschaft des Alkohols nicht aus eigenen experi¬
mentellen Untersuchungen, sondern gestützt auf die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5 -
Arbeiten verschiedener Forscher gefasst habe, und
ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich behaupte,
dass sich Herr Hoppe in dieser Frage ganz in der¬
selben Lage befindet, wie ich. Ich bin, gestützt auf
diese Autoren, zu der Ansicht gekommen, dass der
Alkohol die Ernährung unterstütze, Herr Hoppe ist,
gestützt auf andere Autoren, zu der entgegengesetzten
Anschauung gekommen. Ob aber diese oder meine
Gewährsmänner Recht haben, ob Herr Hoppe das
Richtige trifft, wenn er jenen folgt, die den Nähr¬
werth des Alkohols leugnen, oder ob ich gut daran
gethan habe, wenn ich ihn behaupte, das muss erst
die Zukunft lehren.
Wenn aber Herr Hoppe meint, Neumann und
Rosemann würden sich gegen die Nutzanwendung,
die ich aus ihren Arbeiten gezogen habe, entschieden
sträuben, so glaube ich doch, dass Herr Hoppe —
vielleicht etwas ängstlichen Gemüthes — in seinen
Befürchtungen zu weit geht. Ich stimme ja doch,
und wer mein Referat aufmerksam gelesen hat,
wird dies zugeben müssen, mit Neumann völlig über¬
ein, wenn er die Verwendung des Alkohols mit Rück¬
sicht auf dessen Giftigkeit eingeschränkt wissen will.
Sehr verwahren muss ich mich dagegen, dass Hoppe
mir zumuthet, den Alkohol als Nahrungsmittel em¬
pfohlen zu haben. Ich habe nur gesagt: „Der Alko¬
hol unterstützt mithin in eminenter Weise die
Ernährung, denn er spart, wenn genügend Nah¬
rung gegeben wird, Fett und Eiwciss“. Der
Alkohol ist also nach meiner Meinung wohl ein Nähr-
mitttel, das heisst eine die Ernährung unterstützende
Substanz, aber kein Nahrungsmittel, da er allein den
Körper nicht ernährt. Sollte dieses Missverständniss
etwa darin seine Aufklärung finden, dass Herrn Hoppe
im Gegensatz zu seinem sonstigen umfassenden Wissen
der Begriff „Nahrungsmittel“ nicht geläufig ist ?
Herr Hoppe kritisirt auch meine Behauptung,
dass ich bei Epileptikern einen schädlichen Einfluss
mässigen Alkoholgenusses auf deren Krankheitsver¬
lauf nicht bemerkt habe. Er citirt diesbezüglich
Kraepelin, welcher behauptet, dass jeder Epileptiker
in höherem oder geringerem Grade intolerant gegen
Alkohol sei und schliesst daran die Bemerkung:
„Ich glaube, dass man dies vollständig unter¬
schreiben kann“. (!) Ich habe in meinem auf der
gleichen Wanderversammlung des Vereines für Psv-
chiatrie und Neurologie in Wien gehaltenen Vortrag t
„Ueber den Einfluss der Nahrung auf den Verlauf
der Epilepsie“ (siehe Wiener klinische Wochenschrift
Nr. 46, iqcu) über meine diesbezüglichen Versuche
berichtet. Zwölf epileptische Kranke (fünf Frauen
und sieben Männer, sämmtlich Fälle von idiopathi¬
scher Epilepsie), die*bisher abstinent gehalten worden
waren, erhielten Alkohol in Form eines leichten
Bieres, und zwar erhielten die Kranken zuerst durch
zwei Monate hindurch abends je 1 / 2 1 Bier, dann
durch sechs Wochen je 1 1 Bier, und zwar mittags
und abends getheilt Wie die auf das gewissen¬
hafteste vor und während des Versuches geführten
Anfallstabellen zeigten, blieb dieser Alkoholgcnuss
ganz ohne Einfluss auf die Zahl der Anfälle, ja es
war sogar während der Zeit des Alkoholgenusses eine
mässige Verminderung der Zahl der Anfälle bemerk¬
bar gewesen. Auch das psychische Verhalten der
Kranken hatte während der Zeit des Alkoholgenusses
keine Aenderung erfahren.
Herr Hoppe, der die Einseitigkeit meiner Citate
tadelt und behauptet, ich citire nur Autoren, die
meine vorgefasste Meinung zu bestätigen scheinen,
citirt nur Kraepelin. Warum nicht auch Jolly und
Bratz ?
Jollv (siehe: Emährungstherapic bei Nervenkrank¬
heiten, von Dr. E. Jolly. Handbuch der Emährungs-
therapie und Diätetik, herausgegeben von L. v. Leyden,
Band III, erste Abtheilung, Leipzig 1898) sagt 1 . c.
pag. 159: „— Keineswegs lässt sich aber die Forde¬
rung rechtfertigen, dass allen, die einmal an Epi¬
lepsie gelitten haben oder die habituell daran leiden,
der Alkohol dauernd zu verbieten sei“. Und auf
derselben Seite: „Bei einer ganzen Anzahl dieser
(sc. epileptischen) Kranken, die vcrhältnissmässig sel¬
tene Anfälle haben und durch dieselben wenig in
ihrem Befinden und in ihrer Leistungsfähigkeit gestört
werden, zeigt die Erfahrung, dass massiger Alkohol¬
genuss ganz ohne Einfluss auf die Krankheit bleibt
und ihnen daher ebenso gut wie Gesunden gestattet
werden kann“.
Ich citire ferner Bratz (Veröffentlichungen über
Epilepsie und Epileptikerfürsorgc. Sammelbericht mit
einigen Bemerkungen von Dr. Bratz, Wuhlgarten,
Berlin. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie,
Band IX, Heft 2, Februar 1901). Dieser äussert
sich 1 . c. pag. 149 folgendermaassen: „Der Bericht¬
erstatter (nämlich Bratz) hat bei 200 geordnet leben¬
den Epileptikern der Anstalt Wuhlgarten, welche
täglich eine Flasche Bier erhielten, die Gesammtzahl
der Anfälle innerhalb neun Monaten zusammenge-
rcchnet, er hat dasselbe Exempel an denselben Per¬
sonen dann die neun Monate nach Einführung der
Abstinenz wiederum angestellt und durchaus keine
Verminderung, sondern eine geringe Vennehrung
constatirt, welch’ letztere sich wohl zwanglos durch
die vennehrte Schulung des Wartepersonals in der
Beobachtung der Anfälle erklärt. Bezüglich der Un-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Schädlichkeit geringer Biergaben für die meisten Epi-
le[>tiker kann der Berichterstatter sich daher dem
JollvVhen Urtheile nur anschliessen“.
Herr Hoppe bemerke dass „solche“ Erfahrungen
— er bezieht sich dabei auf Kraepelin’s Acusscrung,
dass jeder Epileptiker in höherem oder geringerem
Grade intolerant gegen Alkohol und dazu disponirt
sei, durch denselben in schwerere geistige Störung
zu verfallen, sich selbst und Anderen in höherem
Grade gefährlich zu werden — auch in den deutschen
ärztlich geleiteten Epileptikcranstalten (Wuhlgarten,
Uditspringe) dazu geführt haben, den Alkohol als Gc-
nussmittel zu verbannen und zwar mit dem besten
Erfolge. Zunächst Wuhlgarten. Ich habe in Wuhl¬
garten mit Director Hebold über diese Sache ge¬
sprochen. Was Hebold mir damals sagte, stimmt
genau mit dem überein, was sein Assistent Bratz in
obigem Referat an die obcitirte Stelle anschlicsst. Ich
führe* daher Bratz wörtlich an : „Die Einführung völli¬
ger Enthaltsamkeit von geistigen Getränken in grossen
Anstalten erscheint trotzdem sehr wünschcnswerth,
aber aus wesentlich anderen als den hier berührten
Gründen. Das Krankenmaterial der genannten An¬
stalt (Wuhlgarten) umfasst zu einem grossen Theil
Alkoholepileptiker und dem Trünke stark ergebene
Frühepileptiker. So lange nun Bier überhaupt in der
Anstalt und auf den Abtheilungen sich befand, waren
Durchstechereien und damit Alkoholexcesse, patho¬
logische Rauschzustände, ferner der Durst nach mehr
und Ausflüge in die benachbarten Dorfkneipen an
der Tagesordnung. Alle diese Missstände haben eine
wesentliche Minderung erfahren, seit durch Hebold
die Abstinenz für Kranke und Wartcpersonal der
Anstalt eingeführt ist“. So viel über Wuhlgarten.
Und Uditspringe ? Wenn ich der mir unvergesslichen
feuchtfröhlichen Stunden gedenke, die ich während
meines Uchtspringer Aufenthaltes im Kreise der
dortigen unvergleichlich liebenswürdigen Collcgen ver¬
lebt habe, so muss ich wohl zu der Ansicht kommen,
dass diese und mit ihnen ihr rühriger Chef, Herr
Director Alt, davon noch recht weit entfernt sind,
überzeugungstreue Anhänger der absoluten Alkohol¬
abstinenz zu sein, und wenn Alt die Abstinenz für
die Pfleglinge und Pflegepersonen seiner Anstalt obli¬
gatorisch gemacht hat, so haben ihn sicherlich —
wie Hebold — Erwägungen administrativer Natur
dazu geführt, nicht aller „solche“ Erfahrungen, wie
sie Kraepelin gemacht haben Soll. Und wenn Hoppe
glaubt, das was Kraepelin oben sagt, vollständig
unterschreiben zu können, so will ich ihm nur den
collegialischen Rath geben, mit seiner Unterschrift
künftighin etwas vorsichtiger umzugehen.
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Meine Ansicht, man müsse, da eine allgemeine
Bezeichnung jener Fälle, in welchen ein geringes
Alkoholquantum gegeben werden könne, nicht mög¬
lich sei, individualisiren, hat keine Gnade in den Augen
Hoppe’s gefunden. Er meint: „Ja warum denn in
aller Welt?“ Weil ich meinen Pfleglingen gegenüber
an dem Princip der freien Behandlung festhalte, das
heisst, ich schränke grundsätzlich die Freiheit der mir
anvertrauten Kranken nicht mehr ein, als es deren
Zustand unbedingt erfordert. Wenn nun ein Pfleg¬
ling der Anstalt, der von früherher an ein beschei¬
denes Alkoholquantum gewöhnt war, dieses in der
Anstalt gleichfalls verlangt, tritt an mich die Frage
heran, ob dieses bescheidene Alkoholquantum bei
dem vorhandenen psychischen und somatischen Zu¬
stand des Kranken diesem schaden kann oder nicht.
Ist ersteres der Fall, dann gebietet es mir meine
ärztliche Pflicht, dem Kranken jeden, auch den be¬
scheidensten Alkoholgenuss zu versagen.
Ist aber letzteres der Fall, dann will ich nicht
aus blosser Principienreiterci dem Patienten, der ja
ohnedies der Freiheit beraubt, herausgerissen aus
seiner Familie, aus seinen gewohnten Verhältnissen,
in dem Gefühle des Verlustes alles dessen, was ihm
gewohnt und lieb und theuer war, sich unglücklich
fühlt, einen so bescheidenen, im speciellen Falle un¬
schädlichen Genuss versagen und ich glaube, jeder
Antsaltsarzt muss mir recht geben, dem nicht ein
blinder Fanatismus in der Abstinenzfrage Herz und
Hirn geschädigt hat oder dem — wie dies leider
auch vorkommt — eine kritiklose Nachäffung der in
einzelnen Anstalten eingeführten Abstinenz das ein¬
zige Motiv der gleichen Einführung in der von ihm
geleiteten Anstalt ist. Die Naivetät zu glauben, dass
auch schon ein mässiger Alkoholgenuss, wie Hoppe
sagt, auf das Centralnervensystem des gesunden und
kräftigen Mensc hen einen deutlich schädigenden Ein¬
fluss besitzt, der „aller Wahrscheinlichkeit nach“ bei
einem kranken Gehirn mit seiner gesteigerten Erreg¬
barkeit und den vielfac h gestörten Circulationsverhält-
nissen noc h viel stärker ist, besitze ich nicht,* und ich
behaupte daher nach wie vor, dass ich im Laufe
meiner vieljährigen psychiatrisc hen Praxis thatsächlich
manchen Kranken gesehen habe und noch sehe, dem
ein mässiger Alkoholgenuss nichts geschadet hat.
Dafür den Beweis zu erbringen ist wirklich nicht
schwer.
Nun komme ich noch zu jenem Punkte meines
Referates, den Hoppe als die Quintessenz desselben
bezeichnet. Bei der Widerlegung dieser Quintessenz
ist Herrn Hoppe ein kleiner Lapsus passirt. Er, der
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5^
in seiner ganzen, zum grössten Theile meiner Wenig¬
keit gewidmeten Arbeit für die obligatorische Alkohol¬
abstinenz in Irrenanstalten eintritt, der so überzeugt
davon thut, dass selbst massiger Alkokolgenuss jedem
Menschen überhaupt, umsomehr dem Geisteskranken
schadet, der es als eine Pflicht des Arztes bezeich¬
net, allen Geisteskranken den Genuss des Alkohols
zu entziehen, findet auf einmal, dass unter den männ¬
lichen Geisteskranken durchschnittlich 56°/^ „unter
allen Umständen“ der Alkohol versagt werden muss.
Hoppe giebt also wohl selbst in einem Anfall
von Aufrichtigkeit zu, dass er 44 °/ 0 männlicher
Geisteskranker gezählt hat, denen der Alkohol nicht
„unter allen Umständen“ entzogen werden muss. Er
„glaubt“ aber — man möchte seinen Augen kaum
trauen — dass in anderen Anstalten die Zahl jener,
denen der Alkohol „unter allen Umständen“ ent¬
zogen werden muss, kaum unter 30°/ ft heruntergehen
wird. Dort wären also sogar 70 °/ 0 , denen der Alko¬
hol nicht „unter allen Umständen“ entzogen werden
muss! Aber selbst dort, wo 20° 0 oder selbst nur
10°/ 0 jener Kranken vorhanden sind, denen der
Alkohol „unter allen Umständen“ entzogen werden
muss, fordert Hoppe die Alkoholabstinenz für alle
Pfleglinge. Hoppe macht es mir leicht, die Quint¬
essenz meines Referates zu vertheidigen, indem er
schreibt: „Schloss wird vielleicht sagen, dieser 10%
kann ich doch den übrigen 90% gegenüber nicht
so hart sein, ihnen den gewohnten Alkoholgenuss zu
[Nr. 5.
entziehen“. Hoppe hat mich mit grossem Scharfsinn
durchschaut, denn dies sage ich wirklich.
Und nun zum Schluss: Meine Ansichten über die
Alkoholabstinenz in Irrenanstalten habe ich in meinem
Referat niedergelegt und halte fest daran, denn sie
entsprechen meiner Ueberzeugung. Die NothWendig¬
keit der Einführung der Alkoholabstinenz in einer
Irrenanstalt hängt von localen Verhältnissen ab. Nur
nebenbei will ich bemerken, dass mich die Besorgniss
selbst abstiniren zu müssen in meinen Ansichten über
die Einführung der Alkoholabstinenz nicht beeinflusst,
denn ich war immer ein Gegner der Unmässigkeit
und würde durch die Abstinenz nur zu geringer Ent¬
behrung verhalten sein. Dass ein mässiger Alkohol¬
genuss selbst dem gesunden und kräftigen Menschen,
umsomehr jedem Geisteskranken schade, widerspricht
meiner Erfahrung. Jenen Kranken, denen ein mässiger
Alkoholgenuss — denn es kann hier nur immer von
einem solchen die Rede sein — in psychischer oder
somatischer Beziehung nur möglicherweise schaden
könnte, versage ich denselben. Den anderen gestatte
ich ihn dann, wenn sie darum bitten. Einen Nach¬
theil für diese habe ich nie beobachtet. Bis jetzt ist
es mir in der seit mehr als fünf Jahren meiner Lei¬
tung unterstehenden Anstalt (Ybbs) noch immer ge¬
lungen, jene meiner Patienten, denen die Alkohol¬
abstinenz auferlegt wurde, auch wirklich dazu zu ver¬
halten. Würde mir dies nicht möglich gewesen sein,
so hätte ich die Abstinenz allgemein eingeführt.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Bromipin.
Von Dr. Bauche , Bonn a. Rh.
T 3 romipin ist eine chemische Verbindung des Broms
mit dem durch seine leichte Verdaulichkeit be¬
kanntem Sesamöl, in der sich Brom an die Fettsäure
des Oeles additionell angelagert hat. Die Verbindung
ist haltbar und erinnert bezüglich ihres Geruches und
Geschmackes in keiner Weise an Brom. Sie kommt
in zwei Formen in den Handel, als 1 oprozentiges
und als 33 1 / 8 prozentiges Bromipin. Ersteres stellt
eine hellgelbe, leicht dicke, ölige Flüssigkeit dar von
1,008 spec. Gew. bei 20° C. Das hochprozentige
Präparat ist ein zähes, dickes Oel von hellbrauner
Farbe, von einem spec. Gew. von 1,311 bei 20° C.
Wegen seiner Konsistenz lässt es sich nicht gut ein¬
nehmen, man verordnet es daher in Kapseln a 2 gr
oder applicirt es per Rectum.
Nach Winternitz wird das Bromipin zum
weitaus grösserem Theile in den Muskeln, der Leber,
dem Knochenmark und in dem Unterhautzellgewebe
abgelagert. Der therapeutische Effect des Bromipins
beruht zum grossen Theil darauf, dass ein sehr er¬
heblicher Prozentsatz des in ihm enthaltenen Broms
mit abgelagert und erst an der Ablagerungsstätte durch
Oxydation sowie durch Einwirkung des alkalischen
Blutes und der alkalischen Gew'ebssäfte nach und
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
57
nach abgespalten wird. Die Abspaltung geht sehr
successiv vor sich — Brom lässt sich weit länger im
Ham nachweisen’, als bei der Zufuhr von Brom¬
alkalien — es kann sich in Folge dessen ein die the¬
rapeutische Wirksamkeit des Broms bedingendes grösseres
Bromdepot im Körper ansammeln. In noch höherem
Maasse als bei den Bromsalzen wird man demnach
hier zu erwarten haben, dass die Wirkung auf das
Centralnervensystem erst nach einer gewissen Zeit sich
voll entfaltet.
Ein weiterer Vorzug, den das Bromipin vor den
Bromsalzen hat, besteht darin, dass es den Verdauungs-
tractus selbst bei lange fortgesetztem Gebrauch nicht
belästigt Das Bromfett wird vom Magen nicht re-
sorbirt, die event unter Einwirkung des Darmsaftes
abgespaltene Bromalkalimenge ist so minimal, dass
eine Alteration des Darms durch Salzwirkung nicht
anzunehmen ist.
Von allen Autoren wird übereinstimmend hervor¬
gehoben, dass bei Darreichung von Bromipin die hart¬
näckigen Erscheinungen von seiten der Haut in Ge¬
stalt von Akneknoten und Pusteln, wie sie in Folge
von längerem Gebrauch der Bromide auftreten, fasst
gänzlich fehlen. Nur in ganz vereinzelten Fällen hat
sich eine geringe, gutartige Akne gezeigt.
Von Fere wurde eine Erschlaffung und Lähmung
der Darmmuskulatur — bedingt durch eine dauernde
Zufuhr von Bromsalzen —, die eine Resorption gif¬
tiger Stoffe begünstigt, für die Akne verantwortlich
gemacht. Da nun durch Bromipin kein Reiz auf den
Darm ausgeübt wird, vermag auch bei dessen An¬
wendung keine Akne aufzutreten.
Bromipin wird vorzugsweise bei der Behandlung
der Epilepsie angewendet; die Zahl der klinischen
Mittheilungen über die therapeutische Wirkung des¬
selben ist bereits eine ganz beträchtliche. Leider ist
die diesen Veröffentlichungen zu Grunde liegende
Casuistik häufig nicht eben zahlreich. Wulff be¬
richtet über einen Fall von Epilepsie, bei dem Brom¬
kalium und Bromnatrium in mässiger Dosis nicht ver¬
tragen wurde, da sie den Appetit verminderten, Ab-
geschlagenheit, Müdigkeit und Apathie im Gefolge
hatten und Akne in ausserordentlicher Weise zu Tage
treten Hessen. Auch andere Verordnungen, spec. Bella¬
donna resp. Atropin mussten ausgesetzt werden, da
sie nicht vertragen wurden. Erlenmeyersches Brom¬
salzwasser, das in kleinsten Dosen gut vertragen wird,
hatte eine heftige, unangenehme Bromakne trotz aller
dagegen versuchten Maassnahmen im Gefolge, die
epileptischen Anfälle wurden nur mässig beeinflusst.
Es wurden io°/ u Bromipin gereicht, anfangs täglich 2mal
i Theelöffel voll, später, als dies gut vertrageit wurde,
tägHch 3 mal i Theelöffel voll. Die Anfälle nahmen
schnell an Häufigkeit und Intensität ab, nach Verlauf
von 7 Wochen wurde der letzte beobachtet. Die vor¬
handene Bromakne verschwand, das Allgemeinbe¬
finden, besonders der Appetit hob sich zusehends.
In einem 2. Fall von Epilepsie bei einem n jährigen
Kinde, wo andere therapeutische Verordnungen bisher
nur geringen Erfolg hatten, traten nach längerem Ge¬
brauche von Bromipin keine Anfälle mehr auf. F r e u s -
d[orf theilt einen Fall von traumatischer Epilepsie mit,
dessen häufige Anfälle mit verschiedenen Bromsalzen
zw r ar eingeschränkt wurden, wobei aber allmählich
eine so heftige Bromintoxikation eintrat, dass diese
Ordination ausgesetzt werden musste. Nach Bromi-
pinbehandlung verschwanden die Anfälle, das Allge¬
meinbefinden war das beste. Leubuscher con-
statirt, dass Bromipin fast durchweg gern genommen
wurde, dass unangenehme Nebenwirkungen gänzlich
fehlten, und dass es selbst in solchen Fällen gut zu
wirken im Stande ist, wo andere Brompräparate ver¬
sagen. Gessler empfiehlt das Bromipin auf Grund
eines günstig verlaufenden Falles: ein hochgradiger
Epileptiker, von häufigen Anfällen heimgesucht, seit¬
her vergeblich mit Adonis und Bromnatrium behandelt,
erhielt täglich 3 Esslöffel voll von 10% Bromipin,
die Anfälle minderten sich sehr und ber Patient blieb
nachher für längere Zeit anfallsfrei.
Derartige vereinzelte Fälle, wo Bromipin auf die
Anfälle und das Allgemeinbefinden besser wirkte als
die Bromsalze, beweisen jedoch nicht eine grössere
antiepileptische Valenz des Bromipins. Eis ist ja be¬
kannt, dass gerade bei der Epilepsie fast jedes neue
Mittel, welches gegen diese Krankheit empfohlen wurde
— und deren giebt es eine ganze Reihe — anfangs
mit mancherlei Erfolg gekrönt war. Es sei mir ge¬
stattet über einen Fall aus der Bonner Heil- und
Pflegeanstalt zu berichten, an dem dies sehr schön
zu Tage tritt: Ein 18jähriger Kaufmannslehrling, erb¬
lich nicht belastet, Entwicklung normal, bekommt mit
dem 17. Jahre epileptische Krämpfe. Am 20. V.
1896 in die Anstalt recipirt, hatte er täglich 1 — 2
Anfälle. Am 23. V. wird die Flechsig’sche K ur
eingeleitet, am 27. V. hat er noch 2 Anfälle, wird
zunehmend benommener. Am 2. VI. keine Anfälle
mehr. 11. VI. kommt psychisch voran. 20. VI. sehr
viel freier und besser. Am 23. VI. erster Anfall, am
24. VI. 4 Anfälle, am 28. VI. Bromkali. Am 5. VII.
noch 4 epileptische Krämpfe, deren Zahl wird bald
geringer, am 25. VII. ohne Anfälle, hält sich gut,
freundliches, offenes Wesen. Am 26. VIII. ein An¬
fall, dieselben häufen sich trotz des Gebrauchs von
Bromkali bis zu 7,0 g p. D., Patient wird zusehends
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5.
5 *
dementer. Am 20. I. 1897 erhält er Adon. vem.,
die Anfälle nehmen ab, es geht ihm psychisch eben¬
falls besser. Im Oktober wird die Medication von
Adon. vem. ausgesetzt, Patient ist bis zum Januar
1898 fast anfallsfrei auch ohne Medikation. Seit
dieser Zeit werden die epileptischen Krämpfe häufiger,
er erhält wieder Adon. vem., jedoch mit wenig Er¬
folg. Am 10. V. wird ihm Bromalin verabreicht,
die Anfälle häufen sich noch mehr, Patient wird sehr
unruhig, geht psychisch sehr zurück. Nach 4 wöchent¬
lichem Gebrauch wird Bromalin durch Bromkali
ersetzt. Die Anfälle vermindern sich, sein geistiger
Zustand wird ein besserer. Im September erhält
Patient Broraipin; schon nach 11 tägigem Ge¬
brauch desselben ist er längere Zeit anfallsfrei, später
treten die Krämpfe nur ganz vereinzelt auf, psychisch
geht es dem Kranken sehr gut, er arbeitet fleissig, so
dass er im Dezember beurlaubt werden kann. An¬
fang Januar zurückgekehrt, häufen sich wiederum die
Anfälle mehr und mehr, auch psychisch geht er sehr
zurück, liegt apathisch im Bett. Es wird ihm Brom¬
kali ordinirt, die Krämpfe werden allmählich seltener,
er beschäftigt sich wieder. Patient bittet wiederholt
um die Arznei, die er vor seiner Beurlaubung erhalten
habe (gemeint ist Bromipin). Am 19. Juli erhält er
dieselbe. Die Anfälle mehren sich nach Bromipin,
Patient geht psychisch immer mehr zurück, liegt ganz
stuporös im Bett, lässt sich die Fliegen in den Mund
kriechen, ist unreinlich mit Urin. Am 22. VIII. er¬
hält er wiederum Bromkali. Schon am 1. IX.
treten für längere Zeit keine Anfälle mehr auf, der
Kranke wird etwas freier, erholt sich allmählich.
Später treten nur noch vereinzelte Krämpfe auf, psy¬
chisch ist er wieder hergestellt. Dieser Zustand hält
iV 4 Jahr an. Ausgang Januar 1901 treten gehäuft
Krämpfe auf, am 3. II. bis zu 19 Anfällen, Patient
erhält Amylenhydrat; am 4. II. ohne Anfall, ganz
stuporös, reagirt nicht auf Anrede. Am 5. II. Exitus.
Wir sehen, dass alle ordinirten Mittel — ausgenommen
Bromalin, das in diesem Falle gar nicht wirkte —-
anfangs mit Erfolg angewendet wurden, schliesslich
aber versagten. Mit Bromkalium wurde das meiste
erreicht. Nach dem ersten Gebrauch des Bromipins
verringerten sich die Anfälle, Patient w r urde psychisch
freier, als er es war bei der Application von Brom¬
kali. Zum 2. mal angew-endet, trat gerade das Gegen -
theil ein, die Anfälle häuften sich sehr, der Kranke
wmrde bedenklich stuporös, erst nach Gebrauch von
Bromkali wurde er von seinen epileptischen Insulten
fast gänzlich befreit, bis er schliesslich nach längerer
Zeit im Status epilepticus zu Grunde ging.
Zimmermann hat das Bromipin bei 10 Pa¬
tienten in Dosen von 3 Theelöffel bis 4 Esslöffel ver¬
ordnet. Vor allen Dingen scheint ihm der Vortheil
des Bromipins in dem Fehlen von Eruptionen von
Seiten der Haut zu bestehen, sowie in dem Aus¬
bleiben von Magen-Katarrhen und Darmaffectionen.
Nach seinen Angaben, denen sich auch Cr am er
und Schulze anschliessen, soll es mehr auf die An¬
fälle wirken als die gleichwerthige Menge Bromkaliums.
Letztgenannter Autor berichtet in seiner Dissertation
über 6 Epileptiker, die er mit Bromipin behandelte.
Es waren sämmtlich alte Fälle und dabei schwerer
und schwerster Art. Er stieg allmählich, mit geringen
Gaben beginnend, auf 20 — 25 gr, bei einem Patienten
bis 35 gr pro Dosi. Hierauf wurden die Tagesgaben
wrieder auf 25, 15, 10 gr vermindert Er konnte selbst
bei Patienten, die seither täglich unter den heftigsten
Anfällen zn leiden hatten, anfallsfreie Pausen bis zu
14 Tagen beobachten. Gleichzeitig soll der geistige
Zustand der Kranken eine wesentliche Besserung er¬
fahren haben, die auch nach Herabsetzung der Tages¬
dosen von Bestand blieb. Nach Schulze ist Bromi¬
pin in entsprechender Menge gegeben nicht nur dem
Bromkali gleichwerthig an sedativer Kraft, sondern
es hat sich als wirksamer erwiesen in Fällen, wo die
Bromsalze versagten. K o t h e hat 6 Fälle von reiner
genuiner Epilepsie mit Bromipin behandelt. In Fällen,
in welchen das ölige Präparat per os nicht gern ge¬
nommen wird, verordnet er es in Form rectaler In¬
ject ion. Zu Anfang injicirt er 15 gr, steigt innerhalb
6—7 Wochen auf 30 selbst auf 40 gr, jedoch immer nur
bis zu jener Dosis, die hinreicht, die Convulsionen
und etwaige Aequivalente zum Verschwinden zu bringen.
Auf dieser Höhe bleibt er mindestens 2 —3 Wochen
stehen, um dann in den nächsten 6— 7 Wochen zur
ursprünglichen Dosis zurückzukehren. Diese Methode
hat der Autor mindestens ebenso wirksam gefunden,
als die Medication per os. Darmreizung oder sonstige
unangenehme Nebenwirkungen werden auch bei dieser
Darreichung nicht beobachtet. Nach Kothe be¬
seitigt Bromipin, in täglichen Gaben von 15—40 gr,
bei Epileptikern angew r endet, sicher und für längere
Zeit die Krampfanfälle und w'irkt direct günstig auf
Psyche und Intelleet ein. Nicht ganz so günstig wie
Schulze und Kothe spricht sich über die Bromipin-
wirkung Laudenheimer aus. Seine Erfahrungen
beziehen sich auf einige 30 Patienten. Um einen
Maassstab für die antiepileptische Kraft des Mittels
zu erhalten, substituirte er bei Kranken, die erfahrungs-
gemäss.durch ein gewisses Tagesquantum Bromnatrium
von ihren Anfällen befreit wurden, von einem be¬
stimmten Zeitpunkt an die dem Bromgehalt nach
äquivalente Menge Bromipin. Dabei traten nach dem
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
59
Wechsel in mehreren Fällen, insbesondere wo vor¬
her hohe Bromsalzdosen zur Unterdrückung der An¬
fälle nöthig gewesen waren, von Neuem Anfälle auf,
die selbst durch eine überwerthige Bromipindosis
nicht unterdrückt werden konnten. Umgekehrt da¬
gegen kehrten niemals bei einem unter Bromipin an¬
fallsfrei gewordenen Patienten die Krämpfe wieder,
wenn äquivalente Mengen Bromnatrium eingesetzt
wurden. Sicher sprechen diese Versuchsresultate nicht
für eine weit grössere Activität des Brommolecüls,
welche Schulze und andere dem vermittels des Bromi-
pins in den Körper gelangten Brom vindiciren. Lauden-
heimer fand ferner, dass die ursprünglich von Winter¬
nitz vorgeschlagene Tagesdosis von höchstens 3 Thee-
löffel voll, in Uebereinstimmung mit Binswanger
viel zu niedrig gegriffen sei. Bei weniger als 2 Ess¬
löffel von io°/ 0 Bromipin pro die sah er überhaupt
keine deutliche antiepileptische Wirkung; bei schweren
Fällen stieg er sogar auf 4 Esslöffel. Selbst in diesen
hohen Gaben wurde Bromipin wochenlang ohne jeg¬
liche Nebenwirkung vertragen. Dies bestätigen auch
Verhoogen, Bodoni und Losio. Laudenheimer
weist, um auch das noch zu erwähnen, darauf hin,
dass Bromipin das einzige Brompräparat ist, das auch
subcutan einverleibt werden kann, was unter Um¬
ständen, z. B. bei der Behandlung renitenter geistes¬
kranker Epileptiker, von Bedeutung sein kann. Er
kommt zu dem Resultat, dass das neue Präparat,
wenn es auch nicht ein den altbewährten Bromsalzen
überlegenes Antiepileptikum ist, doch für eine Reihe
leichter und mittelschwercr Epilepsiefälle therapeutisch
ausreicht. Lorenz schliesslich berichtet über 34
Fälle von Epilepsie, welche einer Behandlung mit
Bromipin unterzogen wurden. Von diesen zeigten
13 eine deutliche, mehr oder weniger beträchtliche
Verminderung der Zahl der epileptischen Insulte
während der ganzen Dauer der Behandlung. Eine
vorübeigehende war bei 3 Patienten im Beginne der
Medication aufgetreten, eine geringe Vermehrung der
Anfälle wurde in 1 Falle beobachtet. Bei 17 Kranken
erfuhr die Zahl der Anfälle gegenüber der früheren
Behandlung keine Aenderung. In ähnlicher Weise
wie die Anfälle wurde das Verhalten der Kranken
im günstigen Sinne beeinflusst. Der Autor hat mit
Bromipin bessere Erfolge erzielt als mit der Flechsig’-
schen Opium- und Brombehandlung.
Dass Bromipin sich ebenfalls wie die übrigen Brom¬
präparate bei denjenigen nervösen Zuständen, in denen
das Brom überhaupt seine Heilkraft entfaltet, bewähren
würde, war vorauszusehen. Dornblüth reichte
Bromipin mit Erfolg gegen das nächtliche, nervöse
Herzklopfen der Neurastheniker, das bereits nach
mehrmaligen abendlichen Dosen von 1 Theelöffel voll
des 10% Präparates sistirt wird. Wochenlange Bromi-
.pingaben bewirkten in verschiedenen Fällen ein an¬
haltendes Ausbleiben dieser Erscheinungen. Es leistete
ihm gute Dienste bei hysterischen Patienten, bei
Patienten mit neurasthenischen Angst- und nervösen
Erregungszuständen. Wolff glaubt, dass die Bedeutung
des Bromipins hauptsächlich auf dem Gebiete der
Bekämpfung nervöser, insbesondere hysterischer und
neurasthenischerZustände liegt. Freusdorf ordinirte
Bromipin mit Erfolg bei verschiedenen Fällen von ner¬
vöser Erregbarkeit, F reib erg bei unerträglichem Herz¬
klopfen und bei Schwindelanfällen, Bass bei quälenden
nächtlichen Erectionen der Gonorrhoiker. Wulff ver-
ordnete das Präparat erfolgreich bei nervöser Schlaflosig¬
keit, ferner gelegentlich einer 2 monatlichen Seereise
auch gegen die Seekrankheit. In 2 Fällen wendete er es
prophylaktisch an bei Passagieren, die ihm mittheilten,
dass sie bisher noch bei jeder Seetour erkrankt seien,
beide erkrankten nicht. Bei bereits ausgebrochener
Seekrankheit zeigte Bromipin eine entschieden günstige
Wirkung. Losio erzielte in einem Fall von seither
erfolglos behandelter Trigeminusneuralgie mit diesem
Mittel anhaltende Besserung. Man will endlich bei
Anwendung von Bromipin Besserung gesehen haben
bei Chorea, Paralysis agitans, Ischialgie und bei cere¬
bralen Formen der Neurasthenie.
Auf Grund seiner unzweifelhaften Vortheile, die
das Bromipin gegenüber den Bromsalzen dadurch be¬
sitzt, dass es keine Störungen des Verdauungstractus
und keine Hauteruptionen hervorruft, wird man es
anwenden bei Epilepsie in allen Fällen, in denen die
leider so oft folgeschweren Erscheinungen des Bromis¬
mus weitere Bromsalzmedication verbieten, also bei
schweren Erscheinungen von Seiten des Magendarm¬
kanals und bei hartnäckigen Fällen von Bromakne.
Bromipin ist ferner zu empfehlen bei leichten,
mittelschweren und frischen Fällen von Epilepsie,
zu versuchen in Fällen, bei denen man mit Brom¬
salzen keine nennenswerthe Erfolge erzielte.
Bei nervösen Beschwerden der verschiedensten
Nervenkrankheiten und der Neurasthenie leistet es
gleich den andern Brompräparaten ausgezeichnete
Dienste.
Von fast säramtlichen Patienten wird das 10%
Bromipin ohne Widerwillen eingenommen, es erinnert
bezüglich seines Geschmackes und Geruches in keiner
Weise an Brom. Um seinen öligen Geschmack zu
verdecken, versetze man das Präparat mit einer Spur
01 . Menth, pip., oder reiche es in warmer Milch.
In Fällen, in denen es aus diesem oder jenem Grunde
per os nicht gegeben werden kann, empfiehlt sich die
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6o
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5.
rectale oder subcutane Injektion. Sollen hohe Dosen
in Anwendung kommen, so verordne man das 3378 %
Bromipin in Kapseln oder applicire dasselbe per Rectum.
Benutzte Litteratur über Bromipin.
1. Bass, A. Ein Beitrag zur Anwendung des Bromipins,
Allgem. Wiener Medicinische Zeitung 1900, Nr. 41.
2. Bodoni. Das Bromipin in der Behandlung der Epilepsie,
Riv. di pat. nerv, e ment. Fase. IX. 1899.
3. Cramer. Versuche mit dem Bromipin bei Epileptikern,
Neurol. Centralblatt 1899, Nr. 11 — und Allgemeine Zeit¬
schrift f. Psychiatrie, Band 56.
4. DornblUth. Ueber Bromipin Merk, Aerztliche Monats¬
schrift 1899, Heft 5.
5. Freiberg. Ueber Bromipin Merk, Medico, 1901, Nr. 44.
6. Frensdorf. Zwei neue Heilmittel, Bromipin und Jodipin,
Der practische Arzt 1900, Nr. 5.
7. Gessler. Zur therapeutischen Wirkung des Bromipins,
Württemb. Medicinisches Correspondenzblatt 1898, Nr. 46.
8. Hesse. Ueber Bromipin und seine therapeutische Be¬
deutung, Allgem. Medicin. Central-Zeitung 1900, Nr. 21.
9. Hirsch ko in. Die Therapie der Nervenkrankheiten, Wien
1900,
10. Kothe. Zur Behandlung der Epilepsie, Neurol. Central¬
blatt 1900, Nr. 6.
11. Laudenheimer. Ueber einige neuere Arzneimittel und
Methoden zur Epilepsiebehandlung, Therapie der Gegen¬
wart. Juli 1900.
12. Laudenheimer. Ueber den Chlor- und Bromsalzstoff¬
wechsel der Epileptiker, Monatsschrift für Psychiatrie und
Neurologie 1901, X. 3.
13. Leubuscher. Beiträge zur Kenntniss und Behandlung
der Epilepsie, Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie
1899, Bd. V, Heft 5.
14. Lorenz. Zur Behandlung der Epilepsie mit Bromipin,
Wiener klinische Wochenschrift 1900, Nr. 44.
15. Los io. Bromipina e Jodipina, Gazzetta medica, delle
Marche 1899, 1 und 2.
16. Schulze. Einige Versuche über die Wirksamkeit des
Bromipins bei Epilepsie, Inauguraldissertation, Göttingen
1899.
17. Verhoogen. Sur le traitement de l’Epilepsie. Journal
mldical de Bruxelles 1900, Nr. 45.
18. Wolff. Einige Erfahrungen über Bromipin, Allgemeine
Medicinische Central-Zeitung 1901, Nr. 35.
19. Wulff. Die Wirkung des Bromipins, zugleich ein Beitrag
in Bezug auf die Seekrankheit, Aerztliche Monatsschrift,
1899, Heft 11.
20. Zimmermann. Ueber die Anwendung eines neuen
Brompräparates, Bromipin, Allgemeine Zeitschrift für Psy¬
chiatrie Band 56, — Neurol. Ceptralblatt 1899, Nr. 11.
Mittheilungen.
— Jahresversammlung des Vereins der
Deutschen Irrenärzte in München, 14. und
15. IV. 1902. Fortsetzung. Vorträge.
Vorschläge zur Schaffung einer Centralstelle für
Gewinnung statistischen Materials über die Be¬
ziehungen der Geisteskranken. Referent: Herr Prof.
Dr. Ho che in Strassburg i. E. (Dieser Vortrag er¬
scheint demnächst in der Wochenschrift).
)Discussion zum Vortrag Hoche.
Herr Pelman schlägt dem Verein vor, die Anträge
Hoche’s anzunehmen. In Bezug auf die Personen¬
frage möchte er in erster Linie den Vortragenden
in Vorschlag bringen, dann ein Mitglied des Vorstandes,
und zwar im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse
Herrn Fürstner. Auch die Summe könnte etwas
reichlicher bemessen und vielleicht auf 400 M. zu
erweitern sein.
Herr Siemens: Ich möchte auch dringend em¬
pfehlen, die Anträge H.’s anzunehmen. Da der Press¬
firma, welche das Material liefern soll, immerhin das
eine oder das andere Vorkommniss im Reiche ent¬
gehen kann, möchte ich die Vorschläge dahin erweitern,
dass auch Sie alle, m. H. Coli, im ganzen Reich,
sich mit Eifer an der Sammlung authentischen Materials
unaufgefordert betheiligen möchten.
Herr Jolly schliesst aus dem Beifalle, den der
Vortrag des Red. gefunden hat, dass auch diese Vor¬
schläge allgemeine Zustimmung finden werden. Auch
der Vorstand sei der Meinung, dass ein Vorgehen
in diesem Sinne wünschenswerth sei. Als Name für
die betreffende Commission sei vorzuschlagen: „Statisti¬
sche Commission.“ Die Delegation eines Vorstands¬
mitglieds in die Commission müsse in dem Sinne er¬
folgen, dass dieses Mitglied in allen Fällen, in welchen
activ die Presse benutzt werden solle, die Entscheidung
zu treffen haben.
Herr Pelman bittet, seinem Vorschläge noch
den Zusatz zu geben, dass der zu wählende Ausschuss
das Recht der Cooptation erhalte.
Herr Hoche dankt den Herrn Vorrednern für
ihre zustimmenden Worte. Die Interessirung aller
deutschen Irrenärzte für die Sammlung würde von
Seiten der Centralstelle durch besondere Aufforde¬
rungen, die event. in geringen Zwischenräumen zu
wiederholen wären, zu erfolgen haben. Die activen
Mitglieder der Commission wären am besten auf ver¬
schiedene Bezirke Deutschlands zu vertheilen. H.
selbst ist gerne bereit, eine auf ihn fallende Wahl
als Mitglied der geplanten „statistischen Commission“
anzunehmen.
Die Versammlung beschliesst, dass eine statistische
Commission eingesetzt werden soll. Es wird zunächst
Herr Hoche gewählt mit dem Rechte, weitere Mit¬
glieder zu cooptiren. Als Vorstandsmitglied wird*
Herr Fürstner in die Commission delegirt.
Herr Fürstner: Ich bin bereit die Hemmschuh-
Rolle zu übernehmen, wenn es mir gestattet ist, die
practische Ausführung von dem Beschlüsse des Vor¬
standes abhängig zu machen.
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P 5 YCH 1 ATR 1 SCH-NFAJROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. ( i
Discussion zum Vortrag Flirstner.
(siehe Mittheilungen in No. 4)
Herr Schüle: Der soeben gehörte Vortrag, ist
so reich in seinem Inhalt, dass es unmöglich erscheint,
auf alle Punkte einzugehen. Redner müsse deshalb
nur das eine hervorheben, für das sein Namen auf¬
gerufen wurde. Er kann nach seiner summarischen
Erinnerung bestätigen, dass auch ihm die eigentlich
schweren pathologisch-anatomischen Befunde bei Para¬
lyse nicht mehr so häufig zu Gesicht kommen als
früher. Er möchte übrigens diese pathologisch-ana¬
tomische Seite der Paralyse-Frage nicht für sich be¬
trachtet und verglichen wissen, sondern auch immer
in Beziehung zur Aetiologie. Stadt- und Landbe¬
völkerung haben im Grossen und Ganzen verschiedene
Ui suchen zur paralvstischen Erkrankung; danach wird
sich auch die Verschiedenheit in Form und Intensität
des anatomischen Prozesses richten. Ferner kann
Redner — allerdings abermals in summarischem Ueber-
schlag — dem Satz des Vorredners beitreten, dass
der tabische Rückenmarksbefund keineswegs der prae-
valirende ist, vielmehr die combinirte Rückenmarks¬
erkrankung.
Für sehr wichtig hält Redner mit dem Vor¬
tragenden die genauere Erforschung der klinischen
und anatomischen Frage der sogen. Pseudoparalyse, •
und zwar ausser nach der diagnostischen und pro-
gostischen Seite, namentlich nach ihrer Bedeutung
für die Therapie und spec. für die Pathogenese. Wie
wenig genaues wir darin wissen, trotz der jahielangen in¬
tensiven makro- u. mikroskopischen Arbeit, erhellt schon
daraus, dass bekanntlich alle histologischen Bestandtheile
des Gehirns der Reihe nach für die letzte Ursache des
Paralyse-Prozesses verantwortlich gemacht und immer
wieder verlassen wurden. Gerade aber durch die
genauere Kenntniss der Pseudo-Paralyse, in welcher
die Natur gleichsam das Gegenexperiment einer heil¬
baren Paralyse uns vorlegt, würden wir nach dieser
interessantesten Seite unserer Erkenntniss tiefer zu
dringen lernen. Spec. die alkoholistische Gruppe der
Pseudo-Paralyse habe der Vortragende nach des
Redners Ansicht klinisch differentiell richtig und scharf
gezeichnet. Redner empfiehlt den Aufruf des Vor¬
redners zu einem gemeinsamen Vorgehen in dieser
Frage genauester Einzelforschung angelegentlich. Zum
Schluss erwähnt er die von ihm früher schon
veröffentlichte Beobachtung, wo eine klinisch-
symptomatologisch in jeder Hinsicht gesicherte Para¬
lyse nach Auftreten von einer Otitis media mit reich¬
lichem Eiterausbruch zurücktrat und jetzt seit 20
Jahren nicht wiedergekehrt ist. Der betr. Offizier
hat sich verheirathet und ist bisher gesund geblieben.
Herr Gau pp: Das Krankheitsbild, das Herr F.
heute als echte Pseudo-paralyse beschrieben hat, hat
die Heidelberger Schule bei ihren jährlichen Nach¬
forschungen nach dem Schicksale ihrer früheren
Kranken ebenfalls kennen gelernt. Er weist genau
die Züge auf, welche Herr F. geschildert hat: an¬
scheinend typische Symptome körperlicher und psy¬
chischer Art, aber keine Progression. Die Schaffer¬
sdien Untersuchungen, die Herr F. kurz erwähnte,
werden in einer Kritik, die Nissl im Centralblatt für
Nervenheilkunde über das Buch veröffentlichen wird,
als nicht beweisend dargethan werden Ich möchte
an den Herrn Vortragenden die Frage richten, ob er
jetzt auch der Ansicht ist, dass der paralytischen
Pupillenstarre spinale Veränderungen zu Grunde liegen,
und dass die Opticus-Atrophie nur bei den tabischen
Paralysen, nicht bei den Formen mit reinen Seiten¬
strangs- oder gemischten Strangerkrankungen vorkommt.
Als ich 1898 diesen Standpunkt vertrat, fand ich bei
den Fachgenossen wenig Beifall. Seither haben sich
die Stimmen gemehrt, die meine Auffassung von der
spinalen Localisation der Pupillenstarre und der
tabischen Natur der Opticus-Atrophie theilen.
Herr J olly erörtert zunächst die Fiage, ob eine
Aenderung des Bildes der Paralyse im Sinne Mendels
anzunehmen ist. Er ist der Meinung, dass die Aende¬
rung nur darin beruhe, dass die Fälle der dementen
Form zugenommen hätten, dass dies aber z. T. auf
der Erweiterung der Diagnose beruhe. Robertson’-
sche und Westphal’sche Phänomen seien erst in der
2. Hälfte der 70er Jahre bekannt und seitdem all-
mählig für die Diagnose der Paralyse verwerthet w orden.
Mit der Zunahme dieser Diagnose sei auch das Bild
der Paralyse verschw-ommener geworden, und dadurch
einerseits eine relative Veränderung der anatomischen
Befunde, andererseits das Bedürfniss, Pseudoparalysen
zu unterscheiden, zu Stande gekommen. Bezüglich
der pathalogischen Befunde bestätigt J. das seltene
Vorkommen des Haemotoms der Dura, dies sei aber
auch früher selten gew esen. Es sei möglich, dass
gelegentliche Häufung in früherer Zeit traumatisch
zu erklären sei als Resultat der Zellenbehandlung.
Eine absolute Abnahme des Vorkommens der Ven¬
trikelerweiterung und der Ependymitis kann J. nicht
constatiren, bezüglich der Pseudoparalyse bestätigt er
das Vorkommen von Fällen, wie sie der Referent
zuletzt angeführt hat, er möchte aber auch die syphi¬
litische Pseudo-Paralyse nicht ganz beseitigen, da
vereinzelte Fälle vorkämen, in welchen bei ganz
typischer Form der Paralyse durch Quecksilberbe¬
handlung Heilung oder dauernde Besserung erzielt
wurde.
Herr Hitzig hält es nach seinen Erfahrungen
für zweifelhaft, ob der Verlauf und der Symptomen -
komplex der Paralyse gegen früher sich wesentlich
geändert hat, will jedoch sein Material —- gleich Jolly
— nach dieser Richtung hin prüfen lassen.
Herr Jolly antwortet auf eine Frage des Herrn
Schüle, dass er durchaus keine besonderen Modifika¬
tionen der Quecksilberbehandlung vorgermmmen, son¬
dern die gewöhnliche Schmierkur angewendet habe.
Die günstigen Fälle seien selbstverständlich selten, aber
sie prägten sich eben deshalb um so mehr dem Ge¬
dächtnis ein.
Herr Fürstner (Schlusswort): Es lässt sich gewiss
nicht leugnen, dass zunächst der subjective Eindruck
bei dieser Frage eine grössere Rolle spielt, als das
objective Beweismaterial. Wir werden aber zunächst
auf Grund der ersteren gewisse Resultate abstrahieren
und dann dieselben mit letzteren vergleichen.
Was die Lues-Fälle angeht, so meine ich, dass
die Fälle, wo die specifische Behandlung Heilung er-
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62 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 5.
zielte, nicht Paralysen waren, sondern Fülle von cir-
cumscripten Veränderungen, die das Bild der Para¬
lyse vortfuischten. Bei letzteren selbst habe ich auch,
wo Lues feststand, keinen Erfolg mit Schmierkuren
gehabt. Die Haematome durchaus als traumatisch
aufzufassen, erscheint mir nicht gerechtfertigt. Die
gleichzeitige hochgradige Atrophie scheint dafür zu
sprechen, dass auch der Krankheitsprozess eine Rolle
spielt.
Bezüglich der Optikus-Atrophie glaube ich , dass
sie nur bei reinen Tabesfüllen, nicht bei kombinirten,
vorkommt. Die Pubillcnstarre wird in manchen Füllen
abhüngen von spinalen Veränderungen* in anderen
aber von cerebralen. Nur die Sprachstörung würde
in ersteren noch cerebral sein.
Referate.
— P. I. Möbius. Ueber den physiologischen
Schwachsinn des Weibes. 3. Aufl. *) Halle a. S.
Carl Marhold. Preis 1,50 Mk.
Das für eine wissenschaftliche Brochüre seltene
Glück, in kurzer Zeit mehrere Auflagen zu erleben,
dürfte in diesem Fall nicht zum wenigsten in dem
eigenartigen, ins Auge fallenden Titel zu suchen sein,
sodann darin, dass der behandelte Gegenstand schon
lange weitere Kreise bewegte, die fraglos geistreiche
Art der Behandlung des Thema alter durch viele Be¬
hauptungen und Hypothesen zahlreiche Conterversen
verursachte. Hinzugefügt wurden hier ein 31 Seiten
langes Vorwort und der Abdruck verschiedener Kritiken.
Das Vorwort führt in des Verfassers. bekannter an¬
regenden Weise dessen besonderen Standpunkt noch
weiter aus und bildet so gewissermassen eine weitere
Ergänzung der Schrift selbst; wir ersehen auch aus
ihm, dass M/s Philippikst gegen die Frauenbewegung
sich vorzugsweise gegen die unnatürlichen, unweiblichen
Emanzipationsbestrebungen richtete. Den Individualis¬
mus des Weibes nennt M. pathologisch, auf Nervo¬
sität beruhend; man könnte ihn auch als Theil der
Degeneration bezeichnen (Ref.). Merkwürdig erscheint,
dass die Aufhebung der Frauenklöster als ein Verlust
für die Frau bezeichnet wird; ebenso eigenartig berührt
der Satz: „Die Lüge ist durchaus berechtigt, so lange
es sich um Nothwehr handelt u. s. w.“ andererseits
tadelt er aber die Lüge beim Weibe. Auch sonst
findet sich noch Manches, was als Widerspruch auf¬
fällt. — Die eigentliche Schrift wird unverändert
wiedergegeben und giebt keinen Anlass, an der
früheren Besprechung in dieser Zeitschrift etwas zu
ändern. Kellner- Hubertusburg.
— Edel. U eb c r be merk en swerthe Se 1 bst-
be schädigungsversuche. Berl. Klin. W.-Sehrift.
11)02, IV. Verf. berichtet unter Anderem über einen
Vergiftungsversuch mit 5 Milligramm Atrop. sulfur.
An denselben sc hloss sic h ein hochgradiger Angstzu¬
stand mit ausserordentlicher Erregung, in welcher die
Kranke um sich schlug und biss. Unter den Sinnes¬
täuschungen traten Gefühlsstörungcn besonders in den
Vordergrund: sie glaubte sich gestochen und mit
*) soeben in 4 . Aufl. erschienen.
Messern bedroht. Beruhigung und relative Luc iditüt,
trat schon nach der 1. Nacht und nach Injection
von 0,01 Morphium ein, indess bestajid noch in der
2. Nacht ein ausserordentlic h lästiges Hautjucken und
das Gefühl, von Ungeziefer gestochen zu sein. Mattig¬
keit und Klagen allgemeiner Natur, besonders seitens
des Digestionsapparates, waren noch längere Tage
vorhanden. E. lobt die Anwendung von Morphium,
das in diesem Fall 2111a! zu je 0,01 gr. injicirt wurde.
Kellner (Hubertusburg).
— Rivista sperimentale di Freniatria. Vol. XXVII.
(Fast'. I und II), Organ der italienischen Gesellschaft
für Psychiatrie (Socictä Freniatrica Italiana), unter
Direction der Professoren Tamburini, Golgi, Morselli,
Tamassia, Tanzi, redigirt von Dr. G. C. Ferrari.
Reggio Emilia. 1901. Verlag Stefano Calderini
Sohn. Gross 8 0 öbo S., 14 Tafeln. (Fortsetzung.)
Unter den Mittheilungen ist eine solche von
A. Tamburini (194—202) über Psychosen mit emo¬
tivem Ursprung wegen ihren wirtschaftlichen Folge¬
rungen von grossem Interesse. Die Basis zu den
Ausführungen bietet ein Fall von Abneigung gegen
die Entlassung nach Hause, einem Symptom, das schon
1881 von Salerni Pace „Oicophobie“ genannt wurde.
Aehnliche Fälle wurden auch von Verga (1882—83)
und Ferrari (1897) beschrieben und kritisch beleuchtet.
Bei Tamburinis Fall handelt es sich um eine ledige
Bäuerin von 47 Jahren in Reconvalescenz einer Manie,
die bei der zufälligen Bemerkung des Arztes, sic
könne bald heimgehen, in eine intensive Angst ver¬
fällt, zwei Monate mit der Sonde ernährt werden
musste und Symptome von Stupoi zeigte. Nach und
nach kommt sie wieder zu sich, zeigt aber Tics und
stereotypes Lächeln; Tamburini glaubt, dass es sich
um einen Fall von Venturis „Pazzia delF uomo soc i¬
ale“ handelt, wie sie hervorgehen aus der Unfähigkeit
für den Kampf ums Dasein. Es sei eines jener
immer zahlreicher werdenden Geschöpfe, die instinctiv
den Schutz der Irrenanstalt suchen, wo sie ein regel¬
mässiges Leben ohne Initiative und Verantwortung
führen können. Schon die trübe Aussicht diesen Schutz
nicht mehr zu haben, bringt sie aus dem Gleichgewicht.
„Das moderne Irrenhaus“ ist also das Mittel um so
viele dieser Unglücklichen vor grösseren Uebeln zu
schützen, worunter der Selbstmord und schwere Re-
actionshandlungen gegen andere zu nennen sind, wo¬
zu sich auch die Schwachen manchmal gedrängt
fühlen.“ Aber das moderne Irrenhaus hat die Auf¬
gabe diese Kräfte durch Arbeit für sich und die
Gesellschaft nutzbar zu machen. Tamburini hält das
amerikanische System für das Beste, nach welchem
jedes Irrenhaus, eben durch die Arbeit dieser social
unbeholfenen Elemente, sich selbst erhalten sollte. Er
glaubt auch, dass die Zunahme der Irren in den
letzten Jahrzehnten auf dem vermehrten Zufluss solcher
Elemente zum Irrenhaus beruhe. Man sollte daher
die Irrenhäuser durch Dotation mit Werkstätten und
agricolen Colonien als Arbeitsfelder ausstatten, wo
diese Arbeitskräfte Verwendung finden könnten. Ref.
hält dies für eine glückliche Idee die auch auf Ver¬
hältnisse anderer Länder Anwendung finden sollten.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902*.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 63
Von den Originalarbeiten zeichnen sich durch die
originellen Methoden, die dabei zur Anwendung kamen,
die interessanten Resultate und die allgemein patho¬
logische Bedeutung, die experimentell -patho¬
logischen Untersuchungen von Dr. Carlo
Ceni in Reggio-Emilia über Reproductionskraft und
Vererbung bei der experimentellen Pellagra aus. Re¬
ferent betont ihre Bedeutung besonders für ähnlich e
Untersuchungen mit exogenen Giften (Al-
cohol, Morphium).
Ceni experimentirt am Huhn, weil es sich zu der¬
artigen Untersuchungen besonders eignet, weil seine
Zeugungsproducte zu jeder Zeit in den verschiedensten
Stadien der Entwicklung untersucht werden können.
Auch kann die Zahl der Beobachtungen beliebig ge¬
steigert werden. Besonders wichtig ist, dass man zahl¬
reiche Beobachtungen in den ersten Entwicklungs¬
stadien machen kann.
Die Einführung des pellagrösen Virus geschah auf
dem natürlichen Wege der Ernährung mit verdorbenem
Mais in Form von Körnern, Mehl und auch schim¬
meligen Maisbrei. In drei verschiedenen Hühnerställen
wurden je ein Hahn und sieben Hennen, junge Thiere
von der Landrasse, einer verschiedenen Ernährung
unterworfen: Im Stall A lediglich mit verdorbenem
Mais, im Stall B mit gemischter Nahrung von ver¬
dorbenem Mais und normalen Nahrungsmitteln, im
Stall C mit gutem Mais und anderer normaler Nahrung
zum Controllversuch.
Schon eine achtmonatliche Beobachtung (Juli 189Q
bis Februar 1900) dieser verschiedenen Emährungs-
bedingungen unterworfenen Hühner zeigte, dass
zwischen den Experimentthieren und Controllthieren
deutliche Unterschiede auftraten. Die „Pellagrahühner“
(Stall A u. B) wurden nach und nach kachcktisch,
Hessen Gewichtsabnahme (bis 600 gr.), rauhe runzelige
Hautveränderungen mit stellenweisen erythematösen
Flecken, Federausfall, Abnahme des Metallglanzes
(Hähne) der Federn, ziegelfarbene Verfärbung und
Anaemie der Kämme nachweisen. Bei verschiedenen
Exemplaren der Experimentierhühner traten auch
Diarrhoeen und Appetitlosigkeit während einiger Tage
ein, dagegen nie wesentliche Aenderungen im psy¬
chischen Verhalten.
Die Zeugungsfähigkeit betreffend war schon von
vornherein auffallend, dass die „Pellagra-Hühner“ erst
im April begannen Eier zu legen (im März nur ein
Ei), während die Controllhülmer damit schon im
Dezember begonnen hatten. Die Proliferationsperiode
(Zeit des Eierlegens) dauerte bei den ersten bis Sep¬
tember, bei den andern bis October. Auch die Durch¬
schnittszahl der gelegten Eier für jede Henne war für
die beiden Abtheilungen verschieden (Controllhenne
98, Pellagrahenne 19).
Die rein klinische Beobachtung ergab also, dass
die Fütterung mit verdorbenem Mais, die Sexualperi¬
ode der Hühner verkürzte und die Sexualprodukte
verminderte. Bevor wir zu den Resultaten der em¬
bryologischen Untersuchungen übergehen, möge noch
der Verlauf und Ausgang der Erkrankung näher be¬
trachtet werden, die dem Ref. von kritischem Werte
zu sein scheint.
Digitized by Google
Die im Februar 1900 deutlich, gewordene krank¬
hafte Veränderung der Hühner A u. B steigerte sich
noch successive bis im Mai. Besonders ausgesprochen
war sie bei hellfarbigen Hühnern, bei welchen in zwei
Fällen ein der menschlichen Pellagra sehr ähnliches
desquamatives Ervthem an freien Stellen sichtbar
war. Vom Mai an klangen die Erscheinungen nach
und nach ab und zwar trotz fortgesetzter Ernährung
mit verdorbenem Mais. Vom Monat October weg
nahmen die Hühner an Gewicht zu und schon im
Dezember hatten sie trotz der schlechten Maisnahrung
das Aussehen gesunder Hühner gewonnen und die
Hähne zeigten sogar Metallglanz. Nur eine der hell¬
farbigen Hennen mit Erythem erlag Ende August der
Krankheit und bot bei der Autopsie folgenden Be¬
fund: „Ausgesprochene Muskelatrophie besonders der
Pectorales, leichte Hyperaemie der Pia und der Hirn¬
substanz, leichte Fettdegeneration des Myocards. S uba -
cuter, diffuser D ün ndarmcatarrh mit allge¬
meiner Hyperaemie des Intestinaltractus. Niere und
Lungen gesund. Bakteriologischer Befund negativ.
Ceni betont noch speziell, dass die beobachteten
Phänomene mit denjenigen, die Lombroso an Hühnern
fand, die einem ähnlichen Regime unterworfen waren,
übereinstimmen. Nur sah er nie weder Convul-
sionen noch Contracturen und andere moto¬
rische Symptome.
Die sowohl von Controll- als von „Pelagrahühnem“
gelegten Eier wurden nur zum Theil durch Gluck¬
hennen ausgebrütet, zum Theil eine bestimmte Zeit
lang im Brutofen gehalten, um verschiedene Stadien der
Entwicklung zu studiren. Die Resultate waren folgende:
Von den Controlleiern zeigten 88,12 %, von den
Eiern der „Pellagrahühner“ blos 29,92 °/ 0 eine nor¬
male Entwicklung. Die Vorgefundenen Abnormitäten
bestanden in granulösen und evstösen Degenerationen
der Keime, Abwesenheit jeglicher Entwicklung oder
Verlangsamung derselben (um 12—20 Stunden ver¬
spätet), auch Absterben in früheren Entwicklungs¬
stadien (50—70 Stunden), teratogene Bildungen wie
retroflexio capitis, Fehlen beider Hemisphärenbläschen,
Atrophia capitis, Monophthalmus, Blutergüsse in den
Hirnblasen, Amnionhydrops.
Von den siebzehn von der Gluckhenne bebrüteten
„Pellagraeiern“ blieben neun steril, die ausgeschlüpften
acht Hühnchen waren wenig lebhaft, zwei davon starben
in den ersten drei Tagen, die übrigen zeigten verlang¬
samte Entwicklung bis zum sechsten Monat. Sechs
Controlleier ergaben dagegen fünf normale Hühner.
Höchst interessant ist eine gewisse Progredienz
der Degenei ation, indem von den April- und Mai-
Eiern .56,32 °/ 0 (auch bei den „Pellagraprodukten“)
normale Entwicklung zeigten, während August- und
September-Eier gar keine normalen Embryonen er¬
gaben. Ceni meint, es handle sich mehr um eine
Folge der physiologischen Abnahme der geschlecht¬
lichen Productionskraft, deren grössere Schwäche sich
durch eine vermehrte Empfänglichkeit gegenüber patho¬
logischen Momenten documentirt, als um Zunahme der
pathologischen Anlagen, w r elche durch die zu dieser
Zeit schon eintretende Erholung wieder ausgeglichen
w ürde.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
64
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5 -
Ceni zieht aus seinen Experimenten den Schluss,
dass die Ernährung von Oviparen mit verdorbenem
Mais sowohl auf die Reproductionsorgane als auf ihre
Produkte Einfluss haben kann, der sich documentirt als:
I. Erschöpfung der Keimfähigkeit (Sterilität,
verlangsamte und partielle Entwicklung und
Absterben.)
II. Entwicklungshemmungen.
III. Hereditäres Siechthum, besonders der Gefässe.
(Hacmorrhagien).
„Ueber den Character der teratologisch heredi¬
tären Thatsachen bei der experimentellen Pellagra“
betitelt sich der zweite Theil seiner Arbeit (pag. no),
worin das rein embryologische abgehandelt wird. Ceni
beschränkt sich dabei auf die drei hauptsächlichsten
Anomalien, die er bei Pellagraembryonen entdeckt hat:
I. Monophthalmie, die er als im wahren Sinne
des Wortes hereditär bedingt ansieht, und nicht etwa
als Abweichungen von der normalen Entwicklung be¬
dingt durch accidentelle Momente.
II. Die punktförmigen Haemorrhagien sollen Folgen
einer Gefässerkrankung sein und oft den frühzeitigen
Tod des Embryos herbeiführen, indem sie acciden¬
telle Zerstörungen und deren Folgen nach sich führen.
Es handle sich um einen allgemeinen krankhaften
Zustand des primitiven Gefässsystems auf here¬
ditärer Basis.
III. Die Ancncephalie mit compensiiender Ma-
krophthalmie soll nach Ceni eine Folge der mangel¬
haften Entwicklung der Amnionfalte auf hereditärer
Basis sein. Durch die Verkümmerung dieses Adnexes
wird das vordere Ende und damit das Gehirn am
Wachsthum nach vom verhindert und die seitlich
stehenden Augenblasen treten stärker hervor und
wachsen.
Ref. bemerkt noch, dass die genialen Ideen in dieser
Arbeit nicht an innerm Werth verlieren, wenn auch dei
Beweis, dass die hier vorliegenden Krankheitszustände
wirklich Pellagra sind, nicht als erbracht betrachtet werden
kann. Es musste ausgeschlossen sein, dass eine En¬
teritis aus andern Ursachen nicht zu ähnlichen Be¬
obachtungen Anlass geben könnte. Zum mindesten
wäre es wünschenswerth gewesen, wenn Controllhühner
mit Enteritis ohne verdorbene Nahrung oder
wenigstens ohne verdorbenem Mais zum
Vergleich herangezogen worden wären.
Dr. med. D. Bezzola.
Ri vista speri mentale di Freniatria
Vo 1. XXVII Fase. I.
Verzeichniss der Originalarbeiten.
Schupfer-Ferruccio: Ueber Kopftetanus.
Gonzales-Piero: Ein Fall von diffuser Ichthyosis
bei einem Imbecillen.
Ugolotti-Ferdinando: Beitrag zum Studium der
Pyramidenbahnen beim Menschen.
Mingazzini-Giovanni: lieber die Symptomatologie
der Verletzungen des Linsenkerns.
Ceni-Carlo: Untersuchungen über die Zeugungs¬
kraft und die Erblichkeit bei der experimentellen
Pellagra.
Ceni-Carlo: Ueber den Character der teratologischcn
Thatsachen bei der experimentellen Pellagra.
Donaggio-Arturo: Ueber die Anwesenheit dünner
Fibrillen zwischen den Maschen des peripheren Reti-
culums der Nervenzelle.
Lo Monaco-Domenico e Tomassi-Felice: Ueber
die Physiologie der inner» Oberfläche des Gehirns.
Sperino-Giuseppe: Das Gehirn des Anatomen
Carlo Giacomini.
Cavazzani-Emilio: Ueber den negativen Einfluss
einiger Lymphagogen auf die Bildung der Cerebro¬
spinalflüssigkeit
Vaschide N. e VurpasCl.: Von einigen characte-
ristischen Stellungen somatisch-pathologischer Intro-
spection (Innenbetrachtung).
Rivista speri mentale di Freniatria.
Vo 1 . XXVII Fase. II.
Verzeichniss der Originalarbeiten.
Ferrai-Carlo: Ueber die sensorielle Compensation
bei Taubstummen.
Ceni-Carlo : Ueber die Pathogenese desOthämaloms
bei den Irren.
Schupfer-Fcrruceio: Ueber Kopftetanus (Fortsetzung
und Ende).
Rossi-Cesare: Ueber die Dauer des elementaren
und unterscheidenden psychischen Processes (einfache,
Unterscheidungs- und Wahlreaction) bei den Taub¬
stummen.
De Pastrovich-Guglielmo: Hypoglossuslähmung aus
wahrscheinlich alcoholischer Ursache.
Guizzetti-Pietro: Neuer Fall von tötlicher Chorea
mit Septico-Pyämie durch Staphvlocoecus pyogenes
aureus.
Bellei-Giuseppe: Ueber die intellectuelle Fähigkeit
von Knaben und Mädchen, die die fünfte Elementar¬
klasse besuchen.
Ferrari-Giulio-Cesare: Einfluss der Gemütsbe¬
wegungen auf die Entstehung und den Verlauf der
Delirien und einiger Psychosen.
Mingazzini-Giovanni: Ueber die Symptomatologie
der Verletzungen des Linsenkems (Fortsetzung).
Lo Monaco-Domenico e Tomassi Felice: Ueber
die Physiologie der inneren Oberfläche des Gehirns.
Tamburini-A., Badaloni-G., Brugia-R.: Individual¬
psychologische Forschungen bei einem Fall von bürger¬
licher Unfähigkeit (Dispositionsunfähigkeit).
Sperino-Giuseppe: Das Gehirn des Anatomen Carlo
Giacomini. (Fortsetzung und Schluss).
Hir den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Brcsler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herautKegeben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt,
UrhtApnnt» (AUmarlr. Gra*. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Barlin.
Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel,
Berlin Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 6. io- Mai. __ 1902.
Die ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
H~tellnng*>n nehmen jede Buchhandlung, di« Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaitige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschi ift«-n für die Kedartion sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien). Zu richten-
Inhalt. Originale: Die statistische Commission des Vereins deutscher Irrenärzte (S. 65). — Dionin (S. 69). — Mittheilungen
(S. 75). — Referate (S. 76).
Die statistische Commission des Vereins deutscher Irrenärzte.
|^er Verein deutscher Irrenarzte hat in
seiner diesjährigen Jahresversammlung in München
am 15. April 1902 die Gründung einer „statistischen
Commission“ beschlossen, deren Wesen und Ziele
aus nachstehendem von Prof. Hoche zur Einleitung
der Discussion gehaltenen Referate erhellen.
„Meine Herren!
Mein Vortrag wird weder nach Inhalt noch nach
Ausdehnung den Anforderungen entsprechen, die Sic
berechtigt wären, an ein „Refciat“ zu stellen; was ihm
zu dieser zwar ehrenvollen, aber exponirten Stelle im
Programme der heutigen Versammlung verholfcn hat,
ist einmal die Thatsache, dass die Vorschläge, die
ich hier zu machen gedenke, dem Vorstände unsres
Vereines zur Begutachtung Vorgelegen haben, und
zweitens der Umstand, dass dieselben Gegenstand der
Beschlussfassung werden sollen.
Die Vorschläge dienen, um es zunächst einmal
kurz zu formuliren, dem Zwecke, systematisch
und in grossem M aassst abe B e w e i s in a t e -
r i a 1 herbeizuschaffen für alle die z a h 1 -
Digitized by Google
reichen und verschiedenartigen Miss¬
stände, mit denen die irrenärztlichen Be¬
strebungen zum Beste nderGeisteskranken
allerorts zu kämpfen haben. In welcher Weise
dieses Material dem gedachten Zwecke dienstbar zu
machen sei, darüber werden wir später zu reden
haben, wenn wir es erst einmal besitzen. —
Es wäre ein müssiges Geschäft, in dieser Ver¬
sammlung ausführlich auf unsre mannigfachen irren¬
ärztlichen Beschwerdepunkte einzugehen; einem Jeden
von uns drängen sie sich täglich von Neuem auf.
Ich will deshalb nur Einiges berühren, was mit meinen
Vorschlägen in näherer Beziehung steht.
Einem unbefangenen Beobachter, der nicht wie
wir durch die lange Gewohnheit abgestumpft wäre,
müsste eines sehr auffallen: die ganz abnorme
Stellung, welche die Irrenärzte in der öffentlichen
Meinung einnehmen, die Stellung, für die wir bei keiner
anderen Berufsart eine Parallele finden. Die Oeffentlich-
keit, soweit sie durch das Publikum, einen Theil der
Presse und die Mitglieder unserer Parlamente re-
Original from
HARVARD UNIVEf SITY
66
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6.
präsentirt wird, trifft sich den Irrenärzten und ihrem
Thun gegenüber in einer ziemlich einheitlichen Auf¬
fassung, die im Einzelnen sich auf der Linie von
völliger Verständnisslosigkeit bis zum offenen
Misstrauen bewegt. Der Verständnisslosigkeit be¬
gegnen wir bis in Kreise hinein, bei denen man sie
billigerweise nicht sollte befürchten müssen, z. B. selbst
bei eizelnen academischen Vertretern klinischer Dis-
ciplinen. Das Misstrauen, mit dem wir beehrt werden,
gilt, wie uns allen bekannt, nicht allein unsrem Können
und Wissen, sondern gar nicht so selten unserer Ge¬
sinnung, unsren Motiven, und es hat für den Kenner
der Verhältnisse etwas Tragikomisches, wenn von
diesem Standpunkte aus in gesetzgebenden Körper¬
schaften in aller Selbstverständlichkeit und Harmlosig¬
keit über Maassregeln diskutirt wird, die geeignet
sein sollen, wie es dann heisst „das Publikum vor
den Irrenärzten zu schützen.“ Diese Auffassung gilt
als so natürlich, dass bei solchen parlamentarischen
Verhandlungen vielleicht wohl vom Regierungstisch,
nicht aber aus der Versammlung heraus auf irgend
ein Wort der ruhigen Vernunft oder der Abwehr zu
rechnen ist. Ihr natürliches Echo finden diese Dinge
dann in der Presse, von der ein Theil mit grosser
Bereitwilligkeit jeder den Psychiatern unfreundlich ge¬
sinnten Darstellung ihre Spalten zu öffnen pflegt. Es
wäre falsch, darin eine böse Absicht zu vermuthen;
die Presse theilt eben die Vorurtheile der gebildeten
Laien und glaubt, bei solchen Veröffentlichungen eine
Pflicht gegen das Publikum zu erfüllen. — Wir Irren¬
ärzte könnten alles Dieses wohl ertragen, und die
Geschichte der Irren heilkunde ist ein
lebendiger Beweis dafür, dass Verkennung und Uebel-
wollen die Vertreter unserer Wissenschaft niemals
müde oder in ihren Bestrebungen unsicher gemacht hat;
das Schlimme ist aber, dass die allgemeine Auffassung
an allen Ecken und Enden ein dauernder Hemmschuh
ist bei Verwirklichung der nothwendigen täglichen
Maassregeln zum Besten der Geisteskranken, ebenso
wie aller weitergehenden Forderungen für Zukünftiges.
Diejenigen, die leichten Herzens in der Presse
und von der Tribüne des Reichstages herunter in
systematischer Weise die Saat des Misstrauens gegen
die Irrenanstalten und die in ihnen arbeitenden Aerzte
ausstreuen und pflegen, haben gar keine Ahnung
davon, welche Verantwortung sie damit auf sich
laden. Das gedruckte Wort, namentlich wenn es oft
genug wiederholt wird, übt seine Wirkung; alte ver¬
breiteten Vorurtheile, das Bedürfniss nach Sensation
bereiten den Boden, auf dem jene Saat reichlich auf¬
geht, und so kommt es, dass bis weit in die soge¬
nannten gebildeten Kreise hinein Vorstellungen über
Digitized by Google
Geisteskrankheiten und Irrenärzte von einer gradezu
finsteren Rückständigkeit die Herrschaft ausüben, und
die Entschliessungen gegebenenfalls maassgebend be¬
stimmen.
Den Schaden tragen in erster Linie die Kranken.
Die Kosten der systematischen Aufhetzung zahlen
die Fälle, die wegen der Scheu der Familie vor
dem Worte Anstalt zu spät oder gar nicht zur
Aufnahme gelangen, oder ungeheilt wieder herausge¬
nommen werden; es zahlen sie Staat und locale
V er bände, Kran kenkassenu.s.w. in der vermehrten
financiellen Belastung durch unheilbar Gewordene; es
kommt auf dieses Conto ein grosser Theil der Fälle
der Selbstmorde mit oder ohne Tötung von
Angehörigen, der Fälle von schwerer Körper¬
verletzung durch Geisteskranke oder schwere sociale
und financielle Schädigungen der Familie,
kurz alle die den Irrenärzten nur zu bekannten Er¬
eignisse , die jeder von uns in kurzen Zwischen¬
räumen immer wieder erlebt, und die, wenn sie
systematisch gesammelt würden, in ihrer Gesammtheit
ein Bild geben würden, das dem Gefolge der be¬
kannten Agitatoren mit ihren paar unbewiesenen
alljährlich wiederkehrenden Fällen von angeblicher
widerrechtlicher Freiheitsberaubung, Entmündigung
u. s. w. doch vielleicht zu denken geben würde.
Die durchschnittlich grundfalsche Auffassung vom
Wesen der Geistesstörungen, wie sie auch bei den
gebildetsten Laien vorherrscht, übt noch an einer
anderen Stelle ihre verderbliche Wirkung aus, ich
meine in der Rechtspflege. Ich selbst bin, wie
ich bei wiederholten Gelegenheiten bekundet habe,
weit davon entfernt, alle bei der Berührung von Rechts¬
pflege mit Irrenheilkunde sich ergebenden Misshellig¬
keiten den Juristen allein zur Last zu legen; ich bin
der Meinung, dass in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle ein guter Sachverständiger vor Gericht ge¬
nügenden Einfluss hat und den Richter zu seiner
Auffassung eines bestimmten Falles bekehrt. Dazu
ist aber vor Allem noth wendig, dass überhaupt ein
Sachverständiger zugezogen und um seine Meinung
befragt wird. Noch jetzt zeigt die Statistik alljährlich
eine erschreckende Zahl von Verurtheilungen
von Geisteskranken und Schwachsinnigen,
die zum grösseren Theile von keinem Arzte untersucht
worden sind deswegen, weil dem Richter entweder
an dem Betreffenden nichts Abnormes auffiel oder
weil er sich selber genügend coinpetent erschien zur
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit. Eine bessere
psychologische Schulung der Juristen ist des¬
wegen eine Forderung, in der sich alte Wünsche
der Irrenüizte mit stellenweise sehr lebhaft geäusserten
Original frum
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
67
neuen Wünschen einzelner einsichtiger Strafrechtslehrer
(z. B. H. Gross) begegnen. Bei dem passiven Wider¬
stande, den bis jetzt die Mehrzahl der Juristen, auch
der juristischen Fakultäten noch leistet, da sie selber bei
ihrer Ausbildung diesen Mangel nicht empfinden, wäre
es nothwendig, eine intensive Sammlung alles in diese
Kategorie gehörigen Materials vorzunehmen, wie dies
vor Kurzem auch Frank in seinem Karlsruher
(1901) Vortrag als Forderung aufgestellt hat. Mit
einbeziehen müsste man, soweit als möglich, dabei
die militärischen Verhältnisse mit ihren zahlreichen
Bestrafungen und Selbstmorden Schwachsinniger, und
natürlich auch alle diejenigen Fälle, in denen sachlich
wohl begründete ärztliche Gutachten, z. B. vor dem
Schwurgerichte, ignoriert worden sind. — Die Sammlung
würde zugleich Gelegenheit geben, einer vom Vereine
deutscher Irrenärzte wiederholt aufgestellten aber bisher
nie erfüllten Forderung gerecht zu werden, nämlich Fälle
zusammenzustellen, die als Be w'eismaterial dienen
können für die Nothwendigkeit der Einführung der
verminderten Zurechnungsfähigkeit. — Zu
sammeln und eingehend zu prüfen wären endlich
diejenigen Vorkommnisse, die in kurzen Zwischen¬
räumen den Zeitungsleser erschrecken, ich meine die
Fälle von -Internirung oder Entmündigung
angeblich Geistesgesunder und ähnliche derartige
Ereignisse. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie oft
dem Einzelnen bei der Lektüre der Tagespresse
Notizen aufstossen, die die bisher berührten Punkte
betreffen, so kann man sich eine Vorstellung davon
machen, w r as bei einer möglichst vollständigen Zusam¬
menstellung von allem Hierhergehörigen im Laufe eines
Jahres Zusammenkommen würde. — AufwelcheWeise
wäre nun das gedachte Material zu beschaffen? Es
kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht und
wir werden natürlich jeden Weg zu gehen haben, der
zu dem gewünschten Ziele führen kann. Wenig
Nutzen dürfen wir von vornherein von den Ergeb¬
nissen der amtlichen Statistik erwarten; sie
werden erst spät zugänglich und sind nicht von den
Gesichtspunkten aus gewonnen, die für uns maass¬
gebend sein werden; Einzelnes aus der Criminal-
statistik wird für uns brauchbar sein; Einiges werden
wir aus den Anstaltsberichten entnehmen können;
ein vollständiges Bild werden diese indessen
niemals geben können; keineswegs alle deutschen
psychiatrischen Institute geben Berichte aus, und uns
kommt es ja ausserdem in erster Linie auf Dinge an,
die sich ausserhalb der Anstaltsmauem abspielen.
Man könnte weiterhin daran denken, die frei¬
willige Mitwirkung aller deutschen Irrenärzte
in der Weise in Anspruch zu nehmen, dass Jeder in
Digitized by Google
seinem geographischen Bezirk auf alle in Frage
stehenden Ereignisse ein Augenmerk hat und
darüber an eine Centralstelle berichtet; ich würde
es für nützlich halten, wenn ein Versuch in dieser
Richtung nicht unterlassen wird. Ausschliesslich
darauf lässt sich aber die geplante Sammlung nicht
stützen. Man weiss, wie es mit dergleichen Neben¬
anforderungen leicht geht; eine Weile würden prompt
Berichte eingehen, dann w ? ürde es hier und dort
langsam einschlafen, und die Vollständigkeit wäre so
nie gewährleistet. Eine letzte Möglichkeit endlich,
und das ist meines Erachtens diejenige, die am
meisten Aussicht auf Erfolg bietet, ist die syste¬
matische und ausgedehnte Benutzung der Tagespresse.
Kraepelin hat im Jahre 1898 im kleinen Maasstabe
für seinen Aufnahmebezirk den Versuch gemacht,
aus den Tageszeitungen alle Vorkommnisse bestimmter
Richtung (Körperverletzungen im Rausch, Selbstmorde
u. dgl.) zu sammeln; ein Vergleich mit controllierbarem
amtlichem Material hat damals ergeben, dass ihm
etwa nur J / 4 der Fälle entgangen war. Dieses Er-
gebniss ist in Anbetracht der unvermeidlichen Un¬
vollkommenheit der Methode sehr beachtenswerth.
Es schadet ja auch nichts, wenn man bei solchen
quantitativen Zusammenstellungen, die etwas Be¬
stimmtes beweisen sollen, die Sicherheit hat, dass die
wirkliche Zahl der betreffenden Vorkommnisse immer
noch grösser ist, als die auf dem Papiere stehende.
Bei der heutigen Art der Publicistik kann man
mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, dass kein
Fall von Selbstmord, namentlich wenn er mit Tötung
von Angehörigen verbunden ist, kein Attentat Geistes¬
kranker, keine angeblich widerrechtliche Freiheitsbe¬
raubung oder Entmündigung, keine strafrechtliche Ge¬
richtsverhandlung, bei der psychiatrische Sachverständige
mitwdrkten, namentlich wenn gegen ihr Gutachten
entschieden wurde, dem Schicksal entgeht, in der
Presse besprochen zu werden. Das Publikum bezieht
aus diesem Material zum guten Theile seine An¬
schauungen und Vorurtheile; so möge uns dasselbe
Material, im richtigen Sinne verwendet, dazu dienen,
dieser Vorurtheile allmählich Herr zu werden.
Ich denke mir also eine Sammlung aller im
geographischen Bezirk von Deutschland in
den Tageszeitungen erscheinenden thatsäch-
lichen Angaben über die uns interessirenden oben
erwähnten Fragen. Es ist das heute nicht mehr
schwer zu erreichen; es existiren geschäftliche Unter¬
nehmungen, deren Thätigkeit darin besteht, gegen
Bezahlung alles über ein beliebiges Thema Erscheinende
zu sammeln und in Originalausschnitten an den Be¬
steller einzusenden. Ich bin mit verschiedenen der-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY^
68
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6.
artigen Unternehmungen in Verbindung getreten (auf
die Kostenfrage komme ich noch zurück), habe mir
auch eine Zeit lang unter Angabe eines Themas
Probesendungen machen lassen, und ich muss sagen,
ich bin erstaunt gewesen, wieviel an positivem Material
in ganz kurzer Zeit zusammengekommen ist. Ich
habe dabei gesehen, dass es die Arbeitskraft eines
Einzelnen übersteigen würde, allein diese zunächst
ungesichtete Masse, wie sie etwa der Lauf eines
Jahres bringen würde, zu bewältigen. Es würde sich
deswegen empfehlen, demjenigen, dem Sie etwa die
geplante Unternehmung übertragen werden, das Recht
zur Cooptation weiterer Mitglieder nach Maassgabe
des Bedürfnisses zu geben. Die von Ihnen zu er¬
wählende Persönlichkeit wäre der eigentliche Träger
des technischen Theiles der Arbeit der Commission.
Ausserdem würde zweckmässiger Weise, im Interesse
der financiellen und sonstigen Verantwortlichkeit, ein
Vorstandsmitglied der statistischen Commission
angehören. —
Die Bearbeitung des eingehenden Materials
würde darin zu bestehen haben, dass in jedem Falle
versucht wird, mit Hilfe der den betreffenden Ereig¬
nissen local am nächsten wohnenden Irrenärzte über
die Thatsachen Authentisches zu erfahren, was in
der Mehrzahl der Fälle möglich sein dürfte; die Be¬
arbeitung würde weiter darin zu bestehen haben, dass
über gewisse Zeitabschnitte, etwa von einem halben
oder ganzen Jahre, in Be rieht form Rechenschaft
abgelegt würde, wozu z. B. diese Frühjahrs Versamm¬
lung jedesmal die geeignete Gelegenheit wäre.
Gegenstand späterer Beschlussfassung, wenn der
ganze Versuch sich als practisch durchführbar und
zweckmässig erwiesen haben wird, muss es sein, in
welcher Weise die Ergebnissse für die Oeffentlich-
keit nutzbar gemacht werden sollen; in Betracht
kämen dabei, um auch hierin mit vorläufigen Vor¬
schlägen zu kommen, die Bearbeitung in Brochüren-
form, geeignet zur Uebermittlung an Regierungen
und Parlamente und die Interessirung wiederum der
Tagespresse. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen,
dass die ehrliche und intelligente Presse die beste
Bundesgenossin der irrenärztlichen Bestrebungen
werden wird, sobald die Dringlichkeit des vorliegenden
Nothstandes überzeugend nachgewiesen sein wird; von
der Tagespresse aus wird allmählich die Aufklärung des
Publikums ausgehen. — Was die jährlichen Kosten
anbetrifft, so glaube ich Zusagen zu können, dass ein
von der Versammlung bewilligter Credit in der Höhe
bis zu 300 M. die Ausführung des Planes in dem
eben kurz umrissenen Umfange ermöglichen wird;
ich würde dies für eine voraussichtlich nutzbringende
Kapitalsanlage halten. —
Ich bin weder im Allgemeinen so optimistisch
veranlagt, noch in dieses specielle Project so blind
verliebt, dass ich nicht eine ganze Reihe von Ein¬
wänden sähe, die sich dagegen erheben Hessen, auf
die ich aber, um der Discussion nicht vorzugreifen,
jetzt noch nicht eingehen will. Nur eines möchte
ich vorweg betonen; man sagt wohl hier und da, es
sei würdiger und vornehmer, zu schweigen. Nun,
wir haben lange genug vornehm geschwiegen und wir
sehen, w r as dabei herausgekommen ist; der Versuch,
mit energischem Zugreifen weiter zu kommen, ist so¬
mit wohl der Mühe werth.
Erwähnen will ich nur, dass natürlich auch für
benachbarte Themata, für die in der Versammlung
Interesse vorhanden wäre, bei dieser Gelegenheit
Material gesammelt werden könnte, und ich würde
mich über dahingehende erweiternde Vorschläge nur
freuen; nur möchte ich bitten, das noch nicht einmal
vom Stapel gelaufene Fahrzeug nicht gleich von
vornherein bis zum Untersinken zu belasten.
Wenn Sie mich nun fragen, warum ich grade jetzt
mit diesem Projecte komme, so könnte ich im Allgemeinen
antworten, dass es damit immer zu spät, niemals aber
zu früh sein kann. Es existirt aber auch ein direct
drängendes Moment: die über kurz oder lang
doch zu erwartende reichsgesetzliche Reglung
aller mit dem Irrenwesen zusammenhängenden Dinge,
speciell die einheitliche Gestaltung des Auf¬
nah me verfahre ns. W T ir haben die Erfahrung ge¬
macht, dass die Wünsche der eigentlich Sachverstän¬
digen, der Irrenärzte, bei solchen gesetzlichen Fest¬
legungen keinesw'egs immer auf das nothwendige
Maass von Berücksichtigung rechnen können; häufig
sind wir auch zu uneinig gewesen oder überhaupt zu
spät aufgestanden, um die sachlichen Nothwendigkeiten
mit dem erforderlichen Nachdruck vertreten zu
können. Kommt cs in nächster Zeit, so lange die
jetzigen Auffassungen im Publikum und bei den
Parlamentarien noch bestehen, zu einem Reichsgesetz,
so können wir mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen,
dass nichts Besseres kommt, als wir es jetzt haben,
dass im Gegentheil sehr bedenkliche und gefährliche
Zustände für lange Zeit gesetzlich fixirt werden
können. Da erscheint es mir nun nicht nur nützlich,
sondern eine nothwendige That der Sclbsterhaltung,
dass von dieser Versammlung aus, der Vertretung
der gesammten deutschen Irrenärzte, etwas Einheitliches
geschieht, nicht Lamentationen innerhalb der vier
Wände oder Proteste in der Fachpresse, sondern eine
positive Leistung, Beschaffung eines erdrückenden
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
69
Beweismateriales über Art und Ausdehnung der Miss¬
stände, die wir zu beklagen haben. Mit dieser
Sammlung erst dann zu beginnen, wenn die Vor¬
bereitungen zu einem Irrengesetz merkbar werden,
das wäre nun freilich wieder viel zu spät.
Ueberhaupt sind jetzt die Aussichten, die Ge-
sammtheit der deutschen Irrenärzte zu grösserer Ein¬
heit zusammenzuknüpfen, besser, als jemals; die Voll¬
endung der Einheitlichkeit des Rechtes nöthigt uns
wenigstens auf gewissen Gebieten zu einer gemein¬
samen Sprache und die Einführung des Staatsexamens
wird allmählich die erwünschte Nebenwirkung haben,
dass die jetzige babylonische Verwirrung in der psy¬
chiatrischen Nomenclatur durch weise Beschränkung
jedes Einzelnen einer besseren Verständigungsmöglich¬
keit Platz macht. —
So bitte ich Sie, diesem von mir kurz skizzierten
Projecte, dessen technische Einzelheiten erst die Er¬
fahrung entwickeln muss, einem Projecte, in dem
nichts Trennendes, sondern nur Gemeinsames ent¬
halten ist, zum Leben zu helfen. Ieh hätte sie erstens
tim ihre principielle Zustimmung, zweitens um die
Wahl der Persönlichkeiten für die statistische Com¬
mission und drittens um Geld.“
Die Versammlung erklärte nach einer Discussion,
über deren Einzelheiten der officielle Sitzungsbericht
Auskunft giebt*), einstimmig ihre Zustimmung, und be¬
willigte den beantragten Credit. Zum technischen
Leiter der geplanten Sammlung wurde Prof. Hoche
ernannt, mit dem Rechte weitere Mitglieder zu coop-
tieren; ausserdem wurde aus der Reihe der Vorstands¬
mitglieder Prof. Fürstner in die Commission gewählt.
— Weitere Mitteilungen an die Collegen in ganz
Deutschland mit der Bitte um ihre tatkräftige Unter¬
stützung des Unternehmens werden demnächst erfolgen.
*) s. den Bericht in voriger Nr.
Dionin.
| \as Dionin, ein salzsaures Aethylmorphin, ist
ein weisses, geruchloses, bitter schmeckendes,
kr)’stallinisches Pulver. Es löst sich unter neutraler
Reaction leicht im Wasser (14:100).
Nach v. Me ring verhält sich Dionin bei Kalt-
und Warmblütlem im Wesentlichen wie Codein, seine
Wirkung erscheint aber etwas stärker und von längerer
Dauer. Das Dionin dürfte seine Stellung als thera¬
peutisches Agens zwischen Codein und Morphin ein¬
nehmen.
Nach übereinstimmendem Urteile aller Autoren
äussert Dionin, selbst in grösseren Mengen gegeben,
kaum unangenehme Nebenerscheinungen. Infolge
dessen eignet es sich besser als das Heroin als Ersatz¬
mittel des Morphins. Es hat sich das Heroin im
Allgemeinen als weit toxischer erwiesen als das Morphin,
es sind wiederholt üble Zustände selbst nach Gaben
von 0,005 gr Heroin, mur. beobachtet werden.
Hoff constatirte beim Kätzchen, dem er 0,01
Dionin intravenös injicirte, eine Verlangsamung der
Atmung mit verlängerter Ex- und Inspirationsdauer.
Es konnte somit die atmosphärische Luft längere Zeit
mit den Lungencapillaren in Berührung bleiben, der
Effect der Lungen Ventilation wurde also erhöht In
einer von Winternitz an Menschen angestellten
Versuchsreihe, in welcher er die Wirkung des Dionins,
Codeins und Heroins mittels des Zuntz-Geppert’schen
Respirationsapparates auf die Atmung feststem, kommt
genannter Autor zu folgenden Resultaten: Dionin
und Codein setzen wieder die Athemgrösse noch die
Athemfrequenz herab, sie beeinträchtigen in keiner
Weise die Erregbarkeit des Athömcentrums. Heroin
dagegen zeigt eine schon bei sehr kleinen Gaben
ausgeprüfte Morphinwirkung, das Atemvolumen sank
bei einer Versuchsperson, deren Respiration durch
0,06 gr Dionin unbeeinflusst blieb, nach 0,007 n r
Heroin, hydroch. in kurzer Zeit um mehr als 1 Ltr.,
dabei verminderte sich die Athemfrequenz, während
die Tiefe des einzelnen Atemzuges nur unerheblich
zunahm; die Erregbarkeit des Athemcentrums da¬
gegen erfuhr eine beträchtliche Herabsetzung. In 2
Versuchsreihen von Winternitz und Damisch
wurde 1—2 Std. nach Application des Dionin eine
Steigerung des Athemvolumens um 1 — 1 l j 2 Ltr. p.
Min. beobachtet.
Nach diesen durch das Experiment gewonnenen
Thatsachen sind dem Dionin als Heilmittel von vorn¬
herein 2 Wirkungskreise eröffnet; man w’ird es erstens
anw'enden als bestes und unschädliches analgetisches
und narkotisches Ersatzmittel des Morphin überall
da, wo man glaubt von der Ordination des Morphin
absehen zu müssen; man wird es zweitens verabreichen
bei verschiedenen Erkrankungen der Athemwerkzeuge.
Die klinischen Mitteilungen, welche das Dionin
in dieser Anw endung als ein vorzügliches Mittel loben,
sind sehr zahlreich.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
o
Nach Bloch kommt dem Dionin eine exquisit
schmerzlindernde Wirkung zu und überragt es in dieser
das Morphin und Codein an und für sich, haupt¬
sächlich aber aus dem Grunde, weil es infolge des
Fehlens der mit den andern Morphinpräparaten
verbundenen Nebenwirkungen und der geringen
Giftigkeit einerseits bis zu einem gewissen Grade die
Steigerung des antalgischen Effectes durch Erhöhung
der Gaben gestattet, anderseits, was wohl für
die Indication der Schmerzstillung von grosser Be¬
deutung ist, mit Rücksicht auf seine leichte Löslich¬
keit und die dadurch bedingte rasche Diffusion in
die Blutbahn in kürzerer Zeit als die früheren der¬
artigen Präparate seinen Heilzweck erfüllt. Nach den
Mittheilungen von Zirkelbach aus der II. internen
Klinik der Budapester Universität wurde die schmerz¬
stillende Wirkung des Dionins erprobt unter anderen
bei 2 Fällen von Angina pectoris; hier linderte Dionin
zwar die Schmerzen, aber es konnte die Häufigkeit
der Anfälle nicht beeinträchtigen. Das Dionin be¬
währte sich als gutes Analgeticum bei Carcinom des
Magens 3 mal, bei Ulcus ventriculi 2 mal, ebenso bei
Cardialgie 2mal; in 3 Fällen von Leukaemie (ein
Fall mit Tabes complicirt) linderte es die in den
platten Knochen sitzenden und die durch die Milz¬
anschwellung entstehenden Schmerzen für mehrere
Stunden. In 5 Fällen von Tabes dorsalis verminderte es
für 2—5 Std. die laücinirenden Schmerzen wesentlich;
von 2 orises gastriques hörten Uebelkeit, Erbrechen
und Magenkrärapfe nach Dionin bei einem Fall
gänzlich auf, beim anderen, wurden sie massiger.
Sehr gut reagirten auf Dionin die Schmerzen bei
Syringomyelie (2 Fälle), Ischias (3), bei verschiedenen
Neuralgien (5) und je in 1 Falle von Polyneuritis
acuta rheum. und Carcinoma mammae. Zu ähnlichen
Ergebnissen kam B o r n i k o e 1 , der die Beobachtungen
aus der III. medic. Klinik in Berlin mittheilt: Es
wurde Dionin bei den verschiedensten Erkrankungen
mit gutem Erfolge angewendet, insbesondere bei einer
grossen Zahl von schmerzhaften Affectionen des weibl.
Genitalapparates (Parametritis, Carcinoma uteri u. a.)
— Walter und Isenburg wendeten mit demselben
guten Erfolg Dionin bei diesen Krankheiten an. —
Bei Pleuritis, Ulcus und Carcinoma ventriculi Hess
Dionin nie im Stich. Salzmann rühmt ebenfalls
die in hohem Grade analgetischen Eigenschaften
dieses Mittels und wendete es unter anderem bei
Cholelithiasis und Nephrolithiasis an. Heim ge¬
brauchte Dionin als schmerzstillendes Mittel bei
Cholelithiasis, Ulcus und Carcinoma ventriculi, Neural¬
gie, Appendicitis, Gastralgie und Pleuritis; die Wirkung
sei eine eclatante gewesen. Melzer wendet Dionin
[Nr. 6.
als schmerzlinderndes Mittel an bei 20 Fällen und
constatirt 2 mal Misserfolg, in den 18 anderen rasche
Beseitigung oder Linderung der Beschwerden ähnlich
wie beim Morphin. Auch er betont wie fast alle
Autoren, dass Dionin in seiner analgetischen Wirkung
etwas milder wirke als Morphium, dagegen die üblen
und unangenehmen Nebenerscheinungen desselben
nicht zeigt Während Hönigschmied das Dionin
bei pleuritischen Schmerzen mit ausgezeichnetem Er¬
folge anwendet, konnte er ihn bei Schmerzen im
Magen, bei Kolik und Peritonitis für sich allein weniger
wahmehmen. Er verabreichte bei Magenschmerzen
und Erbrechen Dionin mit Cocain, bei Kolik in Ver¬
bindung mit Laudanum, bei Gelenkrheumatismus mit
Natr. salicyl., bei Ischias mit Agathin und con-
statirte, dass die Schmerzen früher nachliessen, als
wenn die genannten Mittel ohne Dionin für sich
allein gegeben wurden.
Dionin wurde verordnet, um Schlaf zu erzielen,
sowohl in Fällen, wo die Insomnie durch grosse
Schmerzen verursacht war, als auch in den Fällen, in
welchem der Schlaf dem Kranken in Folge allgemeiner
Unruhe fehlte. Die Dosis von 0,015—0,028 gr ge¬
nügte meistens. Ein tiefer, betäubungsartiger Schlaf
wurde auch nach grösseren Gaben nicht beobachtet.
Uebcr Kopfschmerzen, Eingenommensein des Kopfes
klagten nur wenige Patienten; der Schlaf ist als ein
erquickender zu bezeichnen.
Als Ersatzmittel des Morphium fand Dionin auch
Aufnahme bei den Psychiatern und Neurologen. Nach
den von Freimuth und Sturmhöfel gemachten
Erfahrungen hatte Dionin bei Psychosen fast keinen
Einfluss auf Erregung und Schlaf, von Krömer ist es
auch bei Angstzuständen der Melancholiker ohne Erfolg
versucht worden. Hoppe verspricht sich bei Er¬
regungszuständen der Melancholiker ähnlichen Erfolg,
wie ihn das Morphium hat, weil dies ja indirect durch
Linderung der. physischen und psychischen Schmerzen
Schlaf und Beruhigung bringe. Ransohoff bestätigt
diese Erwägung durch seine Versuche. Bei 3 Pat.
mit vorwiegend melancholischer Verstimmung, von
denen das Morphium nicht vertragen wurde, erzielte
er sehr befriedigende Resultate mit Dionin, in weiteren
6 Fällen war der Erfolg gut, dem des Morphiums
gleichwerthig; bei weiteren 2 Kranken wirkte Dionin
nicht, wohl aber Morphin; endlich in 2 Fällen starker
Erregung versagten beide Mittel. Melzer hat
Dionin fast stets mit bestem Erfolge bei Erregungs¬
und Angstzuständen leichteren und mittleren Grades
angewendet. Nach Z i r k e 1 b a c h ist die narkotische
und sedative Eigenart des Dionins wohl geringer als
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
7i
die des Morphin, aber entschieden intensiver als die
des Heroins oder Codeins.
Da Dionin ebensowenig wie Codein Euphorie
oder ähnliche Zustände hervorruft, wohl aber ein Ab¬
klingen der Abstinenzerscheinungen bewirkt, da es
ferner vor dem Codein den Vorzug hat, dass seine
Lösungen neutral sind und daher bei der Injection
keine Schmerzen verursachen, so eignet es sich als
vorzügliches Mittel bei Morphiumentziehungskuren und
ist als solches mit bestem Erfolge von Fromme und
Heinrich verwendet worden. Nach den Erfahrungen
des letztgenannten Autors eignet sich kein anderes
Opiumalkaloid, auch das Codein. phosphor. nicht in
so hohem Maasse zur Linderung des Morphiumhungers
als das Dionin. Eine Angewöhnung an das Dionin,
ein Dioninhunger, ist nie beobachtet worden.
Zahlreich sind die klinischen Mittheilungen, welche
die Heilwirkung des Dionins bei Erkrankung der
AthemWerkzeuge bestätigen. Körte lobt es als
allgem. schmerzlinderndes und schlafbringendes Mittel
bei Phthisis pulm., bei chronischer Bronchitis, Lungen¬
emphysem und Bronchialasthma. Er erklärt es für
zuverlässig zur Bekämpfung des Reizhustens bei be¬
ginnender Lungen phthise; auch beeinflusse es die
Nachtschweisse günstig und erleichtere in hohem
Maasse die Expectoration. Dieselben günstigen Erfolge
erzielte Janisch beim Gebrauch des Dionins bei
chronischer Bronchitis, bei Emphysem, Asthma, bei
Phthisis der Lungen und des Kehlkopfes. Schröder
sagt: Bei einer Krankheit, deren Verlauf sich über
Monate hinzieht, ist der Wuns'ch]nach einem Wechsel
therapeutisch wirksamer Mittel von Seiten der Aerzte
und der Patienten gleichberechtigt. Je mehr gleich
oder ähnlich wirkende Mittel man daher an der
Hand hat, desto besser wird man den Anforderungen
der Praxis entsprechen können. Bei seinen Versuchen,
die er an einer grösseren Reihe von Phthisikern mit
Dionin, Codein, Peronin und Morphin anstellte,
kommt er zu folgenden Resultaten: Dionin beseitigte
oder linderte den Reizhusten und verschaffte besseren
oft anhaltenden Schlaf, die Kranken fühlten sich be¬
haglicher und ruhiger. In manchen Fällen war die
Wirkung des Dionins entschieden günstiger und aus¬
geprägter, als die kleinen Dosen Codein; es leistete
vielfach dasselbe, was wir von den entsprechenden
Dosen Morphin zu sehen gewohnt sind, ohne indessen
im allg. dessen unangenehme Nebenwirkung zu theilen.
Erschwerte Expectoration, Uebelkeit, Neigung zu Ob¬
stipation wurden nur ganz vereinzelt beobachtet, ein¬
mal trat vermehrte Schweisssecretion auf.
Gleichfalls bei acuten und chronischen Leiden
-der Athmungsorgane haben Kramolin, Higier,
Melzer, Isenburg und Bornickoel mit bestem
Erfolge das Dionin verabreicht; sie fanden, dass nach
dem Gebrauche dieses Mittels der Husten fortbleibt,
die Dyspnoe abnimrat und der Auswurf erleichtert
wird. Schmidt, der Dionin in sehr zahlreichen
Fällen bei chronischen und acuten Krankheiten der
Lungen gegeben hat, rühmt die günstigen Eigen¬
schaften und die gute und prompte Wirkung desselben.
Von Zirkelbach ist Dionin als hustenstillendes
Mittel bei 74 Kranken angewendet, bei einem Theil
der Fälle hörte der Husten vollständig auf, bei anderen
verringerte er sich erheblich; bei Lungen- und Rippen¬
fellentzündungen mässigte es das lästige Seitenstechen
und erleichterte den Auswurf. Bei Asthma in 5 Fällen
gegeben, vermindert es sowohl die Intensität, wie
auch die Zahl der Anfälle. 12 mal bei Dyspnoe,
dargereicht, deren Ursachen in 7 Fällen ein Herz¬
fehler, in 5 Fällen Emphysem war, sicherte Dionin,
ausgenommen 1 Fall, den Patienten einige ruhige
Stunden durch Mässigung der Athemnoth.
Auch in der Kinderpraxis, besonders bei Keuch¬
husten, ist Dionin mit einigem Nutzen angewendet
worden. Hoff berichtet: Ich habe noch von keinem
Mittel eine solch’ günstige Beeinflussung des Keuch¬
hustens, wie von der Combination Dionin mit Anti-
pyrin, gesehen. Bei schweren Fällen von Glottis¬
krampf ist der Effect immer gut lind sicher. Schmidt
rühmt die Wirkung des Dionins bei Keuchhusten
mit folgenden Worten: Ich machte die Beobachtung,
dass Dionin die häufigen spasmatischen Anfälle sofort
mildert und auch vermindert, und dass die Krank¬
heit ohne Nachfolgen in viel kürzerer Zeit verläuft
als ehedem. Gottschalk behandelte 32 Kinder
meist tägl. 4—6 Wochen lang und zwar auf dem
Höhepunkt der Krankheit mit Dionin. Bei 13 Kindern
war die Wirkung ohne jeden Einfluss auf den Verlauf
der Krankheit, d. h. weder die Anzahl der Anfälle
noch ihre Stärke wurden günstig beeinflusst, darunter
waren 5, bei denen als Complication eine Pneumonie
auftrat, 2, bei denen das vorher angewandte Bromo-
form und Belladonna auch keine Besserung verschafft
hatten. In 9 Fällen wurden Stärke und Anzahl der
Anfälle deutlich gebessert. Bei 10 Kindern nahmen
mindestens die Anzahl der Anfälle deutlich ab. Bei
der Hälfte der Kinder gaben die Mütter an, der
Husten sei viel loser geworden. Eine Beeinflussung
der Dauer des Keuchhustens durch Dionin sah der
Autor nicht. Das Mittel wurde gern und im allgem.
selbst wochenlang ohne ungünstige Nebenerscheinungen
genommen. Ohne ein Specificum zu sein, ist es jeden¬
falls ein angenehmes Narcoticum, und es ist seine Ver¬
wendung bei Keuchhusten unbedenklich zu empfehlen.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Resumiren wir kurz, so kann man die allgemeine
Verwendung des Dionins als Ersatzmittel des Morphin
nur empfehlen; es leistet als Analgeticum — weniger
als Narcotieum — in der Mehrzahl der Fälle Alles,
was man erwarten darf. Wo Dionin versagt, wird
man nach wie vor zu dem stärker wirkenden Morphium
greifen müssen. Da Dionin die Reizbarkeit der Luft¬
wege herabzusetzen vermag, ohne die Athemthätigkeit
zu beschränken, und da es die Expectoration be¬
günstigt, ist es bei allen mit Reiz einhergehenden
Erkrankungen der Respirationsorgane anzuwenden.
Dionin wird ordinirt in der Regel in Dosen von
0,01—0,04 gr.
Eine eigentümliche Wirkung des Dionins und
auch des Peronins auf das menschliche Auge beschrieb
als Erster Wollfberg; er fand, dass Dionin dem
Conjunctivalsack applicirt folgende Symptome verur¬
sacht: Bei schwacher Lösung tritt nach wenigen
Augenblicken, bei starker Lösung und bei Dionin¬
pulver sofort das Gefühl von heftigem Brennen und
Prickeln auf, das etwa 2 —3 Min. anhält. Hierauf
stellt sich bis zu einem gewissen Grade Anacstliesie
ein, der durch eine Augenkrankheit etwa bedingte
Schmerz schwindet. Schon einige Secunden nach der
Application tritt Injection der Conjunct. bulbi auf und
stärkeres Thränen, die Injection pflanzt sich fort auf
die Conjunct. palpebrae, die Lider schwellen mächtig
an, die Lidhautvenen sind erweitert. Die Schwellung
reicht oft bis auf Stirn und Wange. Die Conjunct.
bulbi ist geröthet, chemotisch geschwellt, die Chemosis
ist am deutlichsten um die Cornea herum. Letztere
ist glatt, stark glänzend, etwas anaesthetisch. Nach
ca. 3—5 Std. sind alle diese Erscheinungen schmerz¬
los geschwunden. Darier hat ausser mit Dionin
Versuche mit Morphin, Heroin und Codein angestellt;
nach ihm ruft Morphin als Pulver in den Bindehaut-
sack gebracht zwar ebenfalls wie Dionin eine be¬
trächtliche Chemosis hervor und entfaltet eine kräftige
analgetische Wirkung, ist aber wegen der eminenten
Vergiftungsgefahr nicht empfehlenswerth; dasselbe gilt
vom Heroin. Codein scheint keine analgesirende
Wirkung zu haben. Vermes hat diese Mittel einer
Prüfung unterzogen und nichts anderes als die Füllung
der Gefässe gefunden, doch eine Ophthalmie wie die
durch Dionin bewirkte, konnte er nicht constatiren.
Es ist anzunehmen, dass die bedeutende Durch¬
feuchtung und Auflockerung der der Dioninwirkung
ausgesetzten Gewebe die Resorption pathologischer
Entzündungsproducte zu fördern und zu beschleunigen
im Stande ist. Luniewski konnte durch einen
Thierversuch diese Voraussetzung bestätigen. Er inji-
cirte einem Hunde in das Corpus vitreum beider
[Nr. 6.
Augen japanische Tusche, liierauf wurde in das eine
Auge Dioninpulver eingestäubt 40 Minuten darauf
wurden beide Bulbi enucleirt Schon makroskopisch
zeigen Schnitte durch das dioninisirte Auge stärkere
Färbung in der Gegend des Corpus ciliare, des
Ligamt. pectin. und der Iris, als die durch das andere
Auge geführten Schnitte. Die Resultate der mikro¬
skopischen Untersuchung fasst der Autor in folgende
Sätze zusammen: „Der Strom, der die Tusche¬
partikelchen fortschwemmt, ist im dioninisirten Auge
stärker, es kommt hier zur venösen Stauung, die
Lymphstomata sind hier erweitert Das Dionin ruft
eine stärkere und lebhaftere Lymphcirculation in der
vorderen und hinteren Lymphbahn hervor.“
Da die durch Lymphe überschwemmten Gewebe
einer besseren Ernährung ausgesetzt sind, wird man
annehmen dürfen, dass sie eine erhöhte Vitalität ent¬
wickeln können.
Als erster betont Darier die eigenartige tiefe
und lange anhaltende analgesirende Wirkung des
Dionin — local angewendet — bei schmerzhaft er¬
kranktem Auge, während es anaesthesirend nur
ganz gering wirke. Es bestehe ein directer Gegen¬
satz zwischen der Wirkung des Dionins und des
Cocains; un oeil calme de ses douleurs profondes
par la Dionine sentira tres bien le contact, la picqüre,
le pincement 011 les cauterisations. C’est exactement
le contraire de ce qu’on observe pour la cocaine qui,
en meine temps quelle eteint la sensibilite periphe-
rique, excite et stimule les centres psychomoteurs.
Auch Soulier, gestützt auf experimentelle Unter¬
suchungen und klinische Beobachtungen, rühmt es
als analgetisches Mittel: on doit reconnaitre a la
Dionine dans la plupart des affections douloureuses
de l’oeil la propriete analgesiante profonde et de lon-
gue duree.“ Man hat verschiedentlich nach einer
Erklärung dieser auch von vielen andern Autoren
constatirten Thatsachen gesucht. Luniewski sagt:
„Die überfüllten Lymphstomata üben einen Druck auf
die Nervenendigungen aus, führen vielleicht sogar dadurch
zur temporären Parese derselben — daher die anal¬
getische Wirkung und die leichter erfolgende Mydri-
asis. Nach Wicherkiewicz ist die analgetische
Wirkung vielmehr der Effect einer durch Dionin ge¬
besserten Lymphcirculation, als der der Einwirkung
auf Nervenendigungen. Auch Darier erkennt in der
gebesserten Lymphcirculation nach Anwendung dieses
Mittels einen Grund für seine schmerzlindernde
Wirkung: Nest-ce pas lä moyen bien simple d’ex-
pliquer la duree de l’analgesie: sublata causa, la
douleur ne reparait pas. Einen andern Grund sieht
er in der dem Morphin und seinen Derivaten — also
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1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
auch dem Dionin -— zukommenden beruhigenden
Wirkung auf die psychomotorischen Centren.
Endlich sei noch erwähnt, dass dem Dion in von
Darier eine antiseptische Wirkung zugeschrieben wird.
Vermes trat dieser Frage experimentell näher. Er
bereitet sich 10% Dion in-Nährboden aus Agar,
Gelatine und Bouillon, impfte diesem sowohl als auch
einfachem Nährboden Sccret der Blenorrhoea sacci
lacrymalis auf. Schon am folgenden Tage zeigte sich
auf dem einfachen Nährboden eine Kultur mit be¬
deutender Vitalität, auf dioninem Nährboden dagegen
liess sich Aehnliches nicht beobachten, oder doch
viel später und auch da nicht mit der Tendenz rascher
Fortentwicklung. Der Autor sagt: meine Eifahrungen
Vonkludiren dahin, dass das Dionin auch einen
gewissen Grad antiseptischer Wirkung besitzt.
Diese 3 dem Dionin zugeschriebenen resp. zuzu¬
schreibenden Eigenschaften und Vorzüge lassen es
als ein wichtiges Heilmittel erscheinen bei den ver¬
schiedenen Augenaffectionen. Nach seinen an überaus
zahlreichen klinischen Beobachtungen gemachten Er¬
fahrungen kommt Wullfberg zu folgenden Resul¬
taten : I. Die Lymphüberschvvemmungdes Auges macht
Dionin zu einem wichtigen Hilfsmittel in der Be¬
handlung aller Hornhautleiden, speciell solcher, welche
nicht von Bindehautleiden abhängig sind. 2. Dion in
ist für die Wundbehandlung nach allen Bulbusope¬
rationen und bei allen Verletzungen des Augapfels
sowie des Bindehauttraxus zu empfehlen. 3. Dionin
ist ein Unterstützungsmittel für die Behandlung des
grünen Stars. Man muss jedoch stets sich vergegen¬
wärtigen, was erreicht werden soll: bei frischen Horn¬
hautwunden der Schutz einer bereits vorhandenen oder
künstlich herbeigeführten prima intentio gegen In-
jection — bei inficirten Hornhautwunden eine Kräfti¬
gung der Vitalität des normalen Gewebes gegenüber
den Infectionskeimen, — bei Homhautleiden Ver¬
minderung des Schmerzes und beschleunigte Heilung,
— beim Glaukom Verminderung des Schmerzes,
Klärung der Hornhaut und Herabsetzung der Tension.
Graefe spricht sich gegen eine Anwendung des
Dionins nach Eröffnung des Bulbus aus. Er versuchte
Dionin in 4 Fällen von Staroperationen, 2 Fälle
heilten normal, in dem einen der 2 andern Fälle riss
bei Anwendung des Dionins durch heftiges Niesen
die Wunde, im 4. war das Atrium 5 Min. nach der
Einträuflung mit Blut gefüllt. Während dieser Autor
in 200 Fällen 40 mal heftiges bis 30 mal hinterein¬
ander erfolgendes Niesen fand, beobachtete Wol lfberg
unter 600 mit Dionin behandelten noch nicht einen,
der nieste. Luniewsky, welcher Beobachtungen an
über 100 Fälle anstellte, konnte ebenfalls entgegen
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den Beobachtungen von Graefe keinen Niesreiz con-
statiren. Wicherkiewicz hingegen bemerkte bei
einigen Personen nach Conjunctivaleinträuflungen
Niesen. Wol lfberg glaubt, die Art der Anwendung
sei schuld daran, dass in den Gräfe’schen Fällen das
Niesen eine so häufige Erscheinung war, er werde
selbstverständlich die eigenthümliche Beobachtung
Graefes ferner im Auge behalten, trete aber nach wie
vor für die Anwendung des Dionins bei der ersten
Wundbehandlung Staroperirter und auch sonst in
dem von ihm veröffentlichten Sinne ein. Darier
schliesst sich den von Wol lfberg aufgestellten
Indicationen in seiner letzten Arbeit an: Je puis
affirmer que l’action lymphagogue de la Dionine, jointe
ä son action antisepte tres manifeste, fait de cet agent
un moyen plus precieux pour häter la cicatrisation des
plaies et prevenir les infections. Je suis heureux aussi
de reconnaitre avec Wollfberg que la Dionine rend les
plus grands Services dans le traitement des operes de
cataracte. Ausserdem empfiehlt er die Anwendung
dieses Mittels bei quellenden Linsenmassen nach
Discision, bei Exsudaten und Haemorrhagien zur
rascheren Resorption, bei Iridochorioiditis mit Syne¬
chien, als schmerzstillendes Mittel ausser bei Kerati¬
tiden und Glaukom auch bei Iritiden und Cyklitiden.
Graefe wendet Dionin an bei Conjunktivitis, Iritis,
Iridocyklitis, Chorioretinitis, üpacitas corporis vitrei.
Luniewski fand bei Application des Dionins wenig
oder keinen Erfolg bei Conjunctivitis acuta und phlyc-
tenulosa, bei Trachom, Blepharitiden, bei Corneo-
skleral - Wunden, bei alten Maculae corneae, bei
acuten und chronischem Glaukom, hin wiederum günstige
Wirkung bei frischen Maculae corneae und Keratitis
parcnchymatosa, bei traumatischer Keratitis, bei Opa-
citates corp. vitr. und bei Ablatio retinae. Geradezu
segensreich ist der Erfolg der Dionintherapie bei
Iritis; es mildert den Schmerz, unterstützt und be¬
schleunigt die Atropinwirkung. In Fällen, in denen
trotz Cocain und Atropin die Pupille eng blieb, trat
sofort nach io°/o^o er Dioninlösung Erweiterung ein,
ja noch mehr, bereits vorhandene Synechien wurden
zerrissen. Diese letztgenannte Eigenschaft des Dionins
wurde ebenfalls von Darier und Soulicr hervorge¬
hoben. Nicolaier und ähnlich Wicherkiewicz
beobachtete, dass nach Anwendung von Dionin eine
Pupillen Verengerung eintritt, die dann nach Atropin
einer um so prompteren und ergiebigeren Erweiterung
Platz macht. Terson berichtet über einen Fall
von Glaukom nach Bright’scher Retinitis und über
3 andere von typisch haemorrhagischen Glaukom,
bei denen nach Application von Dionin die heftigsten
unstillbaren Schmerzen nachliessen und verschwenden.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 6.
„Im Kampfe gegen diese pemiciöse Form des Glaukoms,
hei der eine Iridectomie wirkungslos und geradezu
gefährlich ist, bei der auch Punctionen im Stiche
lassen und das Auge fast sicher der Enucleation ver¬
fallen ist, sofern man sich nicht zu der eingreifenden
Operation einer Resection dcsSympathicus entschliesscn
kann, ist Dionin ein werthvolles therapeutisches Mittel“.
Nach den Erfahrungen von Vernes steht der Nutzen
des Dionins über allem Zweifel bei Leiden der Hornhaut
aller Art, — ausgenommen diejenigen, welche durch
Erkrankungen der Bindehaut bedingt sind —, ferner
bei Krankheiten der Regenbogenhaut und des
Strahlenkörpers, wo es in Verbindung mit Mydriaticis
angewendet werde.
Bei Erkrankungen des Auges empfiehlt sich die
Anwendung des Dionins:
1. In allen Fällen, in denen man die heftigen
Schmerzen lindern will, auf welche die bekannten
localen anaesthesirenden Mittel ohne Wirkung sind,
so bei Keratitis, Iritis, Iridocyclitis, Glaukom u. a.
2. In allen Fällen, in denen die Ernährung der
Gewebe unterstützt, die Resorption von Exsudaten
und Entzündungsproducten befördert werden soll, und
3. in denen man eine sichere Atropinwirkung er¬
zielen will.
Ob man Dionin bei der Wundbehandlung, besonders
bei Staroperationen anwenden soll, ferner ob dem
Präparat antiseptische Wirkung zukommt, um diese
Fragen entscheiden zu können, werden noch mehr
Beobachtungen nöthig sein.
Dionin wird ordinirt als Augentropfen in 2 °/ 0 bis
5 °/ 0 wässriger Lösung; als Pulver angewendet, bringt
man etwa eine kleine Messerspitze voll ins Auge.
Wollfberg empfiehlt folgende Medication:
Rp. Dion. 0,25
Ol. cacao 1,0
Fiat massa, e qua form, baeilli Nr. 10.
S. tägl. 1 bis mehrere Stäbchen ins Auge zu bringen.
Benutzte Litteratur über Dionin.
1. Bloch, Therap. Monatsh. 1899, VIII.
2. Bloch. Aerztlicher Centralanzeiger, Wien 1900, Nr. 21 u. 22.
3. Bol teil stern. Allgcm. Med. Cential-Zeitung 1901, Nr.
15 u. 16.
4. Bornikoel. Therap. d. Gegenw. 1900.
5. Bresler. Psychiatr. Wochenschr. 1899, Nr. 39.
6. Darier. La Clinique ophtalm. 1899. Nr. 23.
7. Darier. La Clinique ophtalm. 1900, Nr. 6.
8. Darier. La Clinique ophtalm. 1902, Nr. 1.
9. Danenberger. Wochenschrift f. Therapie und Hygiene
des Auges 19C0, III. Nr. 32.
10. Fromme. Berl. klin. Wochenschr. 1899, Nr. 14.
11. Fromme. Allgem. med. Central-Zeitung 1900, Nr. 34
u- 35 -
12. Gottschalk. Aerztl. Rundschau 1901, Nr. 31.
13. Graefe. Deutsche med. Wochenschrift. 1900, Nr. 12.
14. Gunzburg. Journal medical de Bruxelles 1900, Nr. 11
15. Heim. Klin. therap. Wochenschrift 1899, Nr. 46.
16. Heinrich. Wiener med. Blätter 1899, Nr. 11.
17. Hesse. Pharmaceut. Centralhalle 1899, Nr 1.
18. Higier. Deutsche Medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 441
19. Hönigschmied. Aerztliche Central-Zeitung, Wien 1900
Nr. 51.
20. Hoff. Aerztl. Central-Anzeiger, Wien 1899 IX, Nr. 31.
21. Isenburg. Medico 1900, Nr. 20.
22. Janisch. Münchener medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 51.
23. Körte. Therap. Monatshefte 1899, I.
24. Kramolin. Therap. Monatshefte 1900, XI. 2.
25. Luniewski. Verhandlg. der IX. poln. Aerzte- und
Naturiorscherversammlung, Krakau 1900, Heilkunde 1902,
Heft 2.
26. Meitzer. Münch. Medicin. Wochenschrift 1899, Nr. 51.
27. Nicolaier. Wochenschrift f. Therapie u. Hygiene des
Auges 1899, III. Nr. 13.
28. PI es sner. Therap. Monatsh. 1900, Februar.
29. Ransohoff. Psychiatr. Wochenschrift 1899, Nr. 20.
30. Rosenfeld. Aerztl. Central-Zeitung 1900, Nr. 17.
31. Salzmann. Wiener med. Presse 1900, Nr. 24.
32. Schmidt. Aerztliche Central-Zeitung 1901, Nr. 34.
33. Schröder. Therap. d. Gegenw. 1899, III.
34. Simi. Bolletino d'Oculistica 1900, Nr. 11.
35. So ul ier. Th&se de Lyon 1900.
36. Terson. Ophtalm. Klinik 1901, Nr. 17.
37. Umber. Therapie der Gegenwart 1900, Februar.
38. Vermes. Orvosi Hetilap 1900.
39. Walther. Zeitschr. f. pract. Aerzte.
40. Winternitz. Therapeut. Monatsh. 1899, IX.
41. Winternitz. Monatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie
1900, Bd. VII.
42. Wollfberg. Wochenschrift f. Therapie und Hygiene des
Auges 1899, BL Nr. 4 und 1900 III. Nr. 16.
43. Wollfberg. Therap. Monatsh. 1900, Heft 5.
44. Zirkelbach. Orvosi Hetilap 1901, Nr. 37.
E. Baucke-Bonn.
Go^ >gle
<+ 11
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
1902.]
75
Mittheilunge n.*)
— Die Jahresversammlung der Irrenärzte
und Neurologen französischer Zunge. (11.
Sitzung zu Limoges. Ann. Med.-psych. Sept. — Oct.
1901.)
Der vom 1. bis 7. August stattgehabte Congress darf
den gelungensten beigezählt werden. Die Vorberei¬
tungen waren rechtzeitig getroffen worden, Stadt und
Aerzte von Limoges bereiteten den Gästen einen
vortrefflichen Empfang, und unter den Theilnehmem
herrschte, schon durch das nahe Zusammenwohnen
begünstigt, ein cordiales Einvernehmen.
In der Eröffnungssitzung bewillkommte zuerst der
Maire (Bürgermeister) die Versammlung, indem er
dem Wunsche Ausdruck gab, es möchten immer mehr
Mittel gefunden werden, die Geisteskrankheiten zu ver¬
hüten, und nach ihm der Director der medicin. Facultät.
Ihm antwortete Ballet, der Präsident der Versammlung,
selbst aus der Schule von Limoges hervorgegangen;
er wies auf die ruhmvolle, artistische und litte-
rarische Vergangenheit der festgebenden Stadt hin,
besonders aber auf die berühmten Aerzte und Ge¬
lehrten des vorigen Jahrhunderts, Dupuytren, Gay-
Lussac und Cruveilhier, und besprach dann Methoden
und Hilfsmittel der jetzigen Psychiatrie und deren
Mitarbeit an der Umformung des Strafrechtes. —
Nachdem in der Nachmittagssitzung desselben
Tages das Büreau conslituirt war, hielt Carrier sein
Referat über das Delirium acutum. —
Er characterisirt dasselbe als einen Symptomen-
complex, der sich ebensosehr durch seine überaus
rasche Entwicklung, als durch seine Gefährlichkeit
kennzeichnet, auf Infection beruht, nach einem Pro¬
dromalstadium von schreckhaften Hallucinationen, Angst
und allgemeinem Unbehagen, ein Stadium der Auf¬
regung und dann ein solches des Collapses aufweist.
Psychisch stehen im erstem allgemeines Delir mit
völliger Incohärenz, somatisch völlige Anorexie, Fieber,
Dyspnoe und sehr frequenter Puls im Vordergründe,
im letztem, das am 8. Tage zu beginnen pflegt, Stupor,
Lähmungserscheinungen und Coma. Dasselbe bleibt
aber aus, wenn der Fall sich bessert, um entweder
ganz abzuheilen oder in Verrücktheit überzugehen.
Ist aber das D. a. nicht ein primäres, sondern ein
secundäres, so endet es meist tödtlich. — Verf. be¬
spricht an der Hand von 2 eigenen Beobachtungen
1) die patholög-anatomischen Befunde, bes. der Nerven¬
zellen des Gehirns, 2) die Aetiologie, welche er in
der nervösen Veranlagung des Individuums, in er¬
worbener Erschöpfung und in der Toxi-Infection findet,
deren Natur allerdings erst zu finden ist.
In der Discussion wird bald mehr die Intoxication,
bald mehr die Infection betont. Und als practische
Folgerung verlangt Regis, dass die betreffenden Kran¬
ken nicht in die Irrenanstalten, sondern in besondere
Isolirabtheilungen der Spitäler geschickt werden, was
die Versammlung als Desiderat adoptirt.
Am 2. Tage fuhr die ganze Gesellschaft, wozu
diesmal auch Damen gehörten, nach einem benach¬
barten Dorfe, hielt im Schulhause eine Vor- und eine
Nachmittagssitzung ab, nahm zwischen beiden das
Frühstück und nach beendeter Arbeit das Festessen
in ländlich schöner Gegend unter Bäumen ein, um
beim Mondscheine nach Limoges zurückzukehren.
Folgende Vorträge wurden gehalten:
Bourneville: Ueber Hämorrhagien der Haut als
Folge epileptischer Anfälle.
Meige: Ueber symmetrische Bewegungen der Glieder
und Spiegelschrift.
Dicay: Ueber Psychosen post operationem.
Hartenberg: Ueber die nutritive Wirkung des hypo-
dermatisch applicierten Lecithins.
Roubinowitsch und Philippet: Ueber Hcdonal,
das sie als inoffensiv bezeichnen.
Dontrebente: Unterstützt die Petition von 150 An¬
staltsangestellten, dahingehend, dass künftighin
Oekonomen und Rendanten aus ihrer Mitte und
nicht aus Leuten gewählt würden, die dem An¬
staltsdienste bisher gänzlich femgestanden — was
von der Versammlung adoptirt wird.
A. Man haud: Ueber einen Fall von Spindelzellen¬
sarkom des Flocculus bei einem Epileptiker.
Martin: Ueber hysterischen Torticollis und dessen
Behandlung durch Gymnastik.
Pailhas: Ueber Degenerirung (der Bevölkerung) in
alten (abgelegenen) Ortschaften.
Devay: Ueber juvenile Paralyse.
Der 3. Sitzungstag wurde zum grösseren Theil
durch das von Crocq, Professor in Brüssel, erstattete
Referat über Tonus, Reflex und Contractur und durch
die daran sich schliessende Discussion in Anspruch
genommen. Crocq resümiert: In der grossen Mehr¬
heit der Fälle gehen Tonus und Sehnenreflexe pa¬
rallel, doch nicht immer, und gerade dadurch erweist
sich auch ihre anatomische Unabhängigkeit.
Dann wurde Grenoble als Sitz des Congresses
für 1902 gewählt, und wurden folgende Themata und
Referenten bestimmt.
1. Ueber Angstzustände bei Geisteskrankheiten. La-
lanne.
2. Ueber den Tic. Nogues.
3. Die Selbständiger in forensischer Beziehung.
Dupre. —
Endlich wurden noch Mittheilungen gemacht von:
Justin Lemeitre über Pseudotumoren des Bauches, bei
Hysterie und Neurasthenie durch Gasentwicklung
vorgetäuscht.
Joffroy über Temperatursinkungen bei 2 Para¬
lytikern (bis 29 resp 25,5°),
von Bourneville: über Syphilis, Alkoholismus und
ungesunde Berufsarten als Ursache des Idiotismus,
und endlich von Raymondaud über Zig oder
Phantogenie, d. h. phantastische Gesichtsillusioncn. —
Der folgende Tag, ein Sonntag, war der Gesellig¬
keit gewidmet; der Präsident hatte die Versammlung,
Herren und Damen, zu einem Frühstück in Saint-
Goussaud eingeladen, das sehr belebt verlaufen zu
sein scheint. —
Der folgende Tag brachte das Referat von Taguet
*) Wegen längeren Aufenthalts des Red. im Auslande machte sich leider eine Unterbrechung des Berichts der Münchener
Versammlung nöthig; die Fortsetzung wird aber demnächst erfolgen. Red.
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76.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6.
über das Personal der Angestellten in den Irrenan¬
stalten, also hauptsächlich die Wärter frage. Das Seine¬
departement (Paris) habe die Besoldungen der Wärter
beinahe verdoppelt, mit Pensionsberechtigung nach
20 oder im Krankheitsfälle schon nach io Dienst¬
jahren. Nur sollte der Directoi und nicht der Präfect die
Wärter ernennen. Als Postulatc wurden aufgestellt:
Fachunterricht des Wartpersonales; Theilung des
Personales in solches für den Tag und solches für
die Nacht; i Wärter auf io Kranke als Maximum.
Besoldung von frs. 360 an, mit Berücksichtigung der
Familien Verhältnisse.
Die Frage eines ständigen Secretärs wurde einer
bes. Commission zur Begutachtung überwiesen. —
In der Nachinittagssitzung folgten r5 Mittheilungen
thcils casuistischen, theils anatomisch-physiologischen
Inhaltes; z. Th. mit Projectioncn von Radiographien.
Am Abend officielles Banket im Stadthause. —
Damit war der eigentliche Congress geschlossen.
Am folgenden Tage wurde von einer Anzahl Theil-
nehmern die Irrenanstalt Naugeat besichtigt, zu
welchem Bchufe vom Anstaltsgeistlichen eine die
Entwicklung und den gegenwärtigen Bestand der
Anstalt beschreibende Brochiirc verfasst worden war. —
G. Burchhardt.
Referate.
— Bruns, die träum. Neurosen, Unfalls-
n cu rosen. Wien 1901. Alfr. Holder. 13 1 Seiten,
Lexicon-Octav. 3,20 M.
B. hat bei der Definition des Krankheitsbegriffes
auch die einfachen Psychosen und die Mischformen
zwischen Neurosen und Psychosen berücksichtigt, da¬
gegen die organischen Erkrankungen ausgeschlossen,
sodann auch den Begriff des Unfalls unserer Unfalls¬
gesetzgebung entsprechend präcisirt, nac h einer guten
historischen und Litteraturübcrsicht kommt er zur Be¬
sprechung der Actiologie, Symptomatologie, Simulation
einzelner Symptome und ihrer Erkennung, des Schlafes,
Schwindel, der Krampfanfälle, Gefühls- und Sinnes¬
störungen, Lähmungen, Contracturen, Gchstörungen,
des Verhaltens der Sehnenreflexe, des Zitterns, der
Herzerscheinungen und des allgemeinen Verlaufs.
An der Hand einer kleinen, aber sehr beweiskräf¬
tigen Zahl von Fällen gelingt es B. ein ziemlich
scharf characterisirtcs Krankheitsbild zu entwerfen,
nur bei dem Punkt: Simulation, sc heint mir bedenk¬
lich, dass Verf. nachweisbare Vortäuschung, nicht nur
Uebertreibung eines Systems noch nicht für ausrei¬
chend hält, um den Patienten der Simulation ver¬
dächtig erscheinen zu lassen.
Sehr werthvolle Angaben enthält das nächste Ka¬
pitel über Diagnose, forensische Fragen, Bestimmung
des Grades der Erwerbsfähigkeit und Abfassung der
Gutachten, insbesondere stellt er sich zu Strümpell in
Gegensatz, indem er bei der Exploration die Ein¬
ziehung von Leumundszeugnissen zur Bcurtheilung der
Zuverlässigkeit der Angaben für irrelevant hält, da
ein sehr weuig achtenswerther Mensch doch krank
sein kann.
Bei der Bemessung der Rente partiell Arbeitsun¬
fähiger weist B. auf den therapeutischen Wert der
Arbeit als häufig einziges Heilmittel hin und steht
somit auf dem Boden Strümpells.
Zum Sc hluss nach kurzer Würdigung von Prognose
und Therapie streift B. noch einmal die Frage der
Simulation, insbesondere auch vom strafrechtlichen
Standpunkt und zeic hnet sic h auc h hier durch grosse
Milde der Auffassung aus.
Die Ansc haffung des Buches kann allen, die über
Unfallsneurotikcr zu urtheilen in die Lage kommen,
seiner sehr eingehenden Behandlung dieses theilweisc
noch recht schweren Gegenstandes wegen empfohlen
werden. Weist.
— Dr. Hell ms u. A. Möller, Irrenhaus oder
Pri vatpf 1 ege? Hamburg. Grabow. 40 S. Indem
sie das Verständniss und Interesse für die Geistes¬
kranken in allgemein fasslicher Weise zu erwecken
suchen, wenden sie sich gegen die verbreiteten Vor-
urtheile und Anklagen gegen die Irrenheilanstalten.
Ob einer naturgemäss nur auf einen engen Kreis
verbreiteten Brochüre ein besonderer Erfolg blüht,
wird bezweifelt. Mehr noch als es bisher geschieht,
sollten cs sich die vielerorts entstandenen Irrenhilfs¬
vereine angelegen sein lassen, durch Vorträge und
Verbreitung ähnlicher Broc hüren aufklärend und der¬
gestalt helfend zu wirken. Kellner (Hubertusburg).
— Treitel. Uebc r Ago raph ob i e und ver¬
wandte Zustände bei Erkrankungen des Ohres
Sainml. zwangl. Ablidl. a. d. Gebiet d. Nasen-, Ohren-
etc. Krankheiten. |c)oi, Nr. 8. Halle a. S., C. Marhold.
Verf. weist auf jene Fälle von A. hin, welche an durch
Schwindel vcranlasstc wirkliche Unfälle anknüpfen. Be¬
sonders von Frankreich aus hat man einen directen
Zusammenhang von A. mit dem Ohrcnschwindel con-
statirt. Tr. betont aber unter Heranziehung mehrerer
kasuistischer Fälle, dass der Ohrenschwindel resp. das
Ohrcnleidcn allein nicht genügt, dass vielmehr stets
eine gewisse nervöse Disposition vorhanden sein müsse,
wenn im Anschluss an jenen A. auftreten solle. Da¬
nach muss die Therapie auch von der Behandlung
des Allgemeinzustands ausgehen.
Kellner (Hubertusburg).
— „Mädchenopfer“ nennt sich eine Schrift von
H. J. Brandes (H. Walther, Berlin 1902), welche „die
Schwesternpflege an Männern“ behandelt, wie sic
mehr und mehr besonders in den ärztlichen „Gross¬
betrieben“ aufflammt und sich leider auf die Pflege
auch der Geschlechtskranken ausdehnt, eine Thatsachc,
welche aus Rücksicht auf Pflegerin wie auf den Kran¬
ken kaum nothwenclig ist. Insofern birgt die „An¬
klageschrift“ einen wahren Kern, besonders wenn die
dort geschilderten Begebenheiten auf Thatsachen be¬
ruhen. Wo der für den Pflegeberuf hohe sittliche
Ernst fehlt, birgt der erstere überhaupt und besonders
in der Ausübung an Männern zahlreiche Gefahren.
Und entbehren möchten wir die weibliche Pflege doch
nicht.— Was auf 77 Seiten gesagt wird, dafür hätten
10 Seiten genügt. Die breite und pikante Wieder¬
gabe des gesammelten „Materials“ dürfte auf einen
buchhändlerischen Erfolg abzielen. Kellner.
l'ür den rcdactiouelU-u Tlu-il \ ci antum tiu li : Oberarzt l)r. J. Jirisler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahnie 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
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Psychiatrisch 'Neurologische
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Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
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Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt,
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Prof. Dr. E Mendel. Dr. P. J. Möbiufl, Director Dr. Morel,
Berlin Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-AdresM: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 7. 17 - Mai. 1902.
Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
ß**«trlliinieen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ertnaiaigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten
Inhalt. Originale: Eine interessante Nachricht aus der Schweiz. Von A. Grohmann, Ingenieur in Zürich (S. 77). — „Schutz
des Publikums vor den Psychiatern.“ Von Dr. Pfausler, Director, Valduna (S. 80). — Mittheilungen (S. 83). — Referate
(S. 87). — Personalnachricht (S. 88).
Eine interessante Nachricht aus der Schweiz.
Von A. Grohmann , Ingenieur in Zürich*).
A Veranlasst durch Möbius hat sich eine Gesellschaft
* von Männern zusammengefunden ? die daran¬
gehen will, in einer schönen Gegend der Schweiz ein
grosses alkoholfreies Landgut — sie wollen ihm den
Namen „Colonie Friedau“ geben — zu errichten, um
Nervenkranken und Alkoholkranken zu einem gesunden
und nützlichen Leben zu verhelfen.
Die Patienten sollen sich also aus zwei allerdings
sehr grossen Gruppen von Kranken recrutiren, für
die. es bis heute, abgesehen von sehr kleinen Ver¬
suchen, an ausreichenden Heil- und Linderungsmitteln
gefehlt hat, obwohl es doch an Krankenhäusern der
verschiedensten Art wahrlich nicht fehlt.
Die „Colonie Friedau“ soll den lantlwi ithschaf t-
*) Herr Gr., der von Hause aus eine ungewöhnliche An¬
lage für psychologische Beobachtung besitzt, hat sich als Leiter
einer Beschäftigungsanstalt für Nervenkranke und im Verkehr
mit sachverständigen Aerzten ganz eigenartige, werthvolle Er¬
fahrungen erworben. Er ist jetzt Secretär des Gründungs-
comitfcs für „Colonie Friedau“. Die Redaction.
liehen Betrieb, besonders Gartenarbeit, sowie den Be¬
trieb der eigenen Hauswirthschaftseinrichtungen so
führen, dass sie ihre Bedürfnisse soviel wie möglich
selbst befriedigt. Auch das Personal soll alkoholfrei
und die Kranken sollen als Hilfskräfte verwendet
werden, soweit und soviel es geht.
An ihrer Spitze soll ein sachverständiger Arzt stehen,
neben ihm ein Verwalter für die öconomischcn An¬
gelegenheiten, beide dem Vorstand des Vereins ver¬
antwortlich.
Alkohol wird in der Colonie nicht geduldet werden,
und von Jedem wird nach Kräften und Vermögen
Theilnahme an den Arbeiten in Feld, Garten und
Haus erwartet. Die Colonie will aber keine Trinker¬
heilanstalt sein, sondern nur Alkoholkranke aufnehmen,
die einer Trinkerheilstätte noch nicht oder nicht mehr
bedürfen, für die aber der Verbleib in ihrer gewohnten
Umgebung Gefahr bringt.
Durch die Schaffung einfacher, natürlicher Lebens-
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78
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
und Arbeitsverhältnisse soll die Hilfe gleichzeitig besser
und billiger werden.
Dabei soll die Colonie weder auf den reinen Er¬
werb zugeschnitten noch eine reine Wohlthätigkeits-
anstalt sein in dem Sinne, dass sie ihre Errichtung
und ihren Betrieb nur Schenkungen verdankt — wenn
auch letztere natürlich nicht ausgeschlossen sind, —
sondern sie soll nach beiden Richtungen auf eigenen
Füssen stehen, da die Gründer zu beweisen wünschen,
dass dies möglich sei. Und durch diesen Beweis
möchten sie veranlassen, dass auch an anderen Orten
ähnliche Anstalten entstehen, um das Los mancher
Nervenkranken und solcher, die längere Zeit in al¬
koholfreier Umgebung leben sollten, zu verbessern.
Wenn es mir, einem Laien, gestattet ist, mit einigen
skizzenhaften Ausführungen die Krankheitsgruppen
zu schildern, denen die Colonie wird dienen können,
so möchte ich dies wie folgt thun, indem ich mich
an die Bedürfnisse halte, von deren Vorhandensein
ich mich im Verkehr mit geistesdefecten Menschen
überzeugt habe.
Da nenne ich vor allem die nicht gewohnheits-
mässigen „psychopathischen Trinker“ mit nur seltenen,
aber schweren Excessen, und dann die grosse Zahl
derer, bei denen sich, besonders in jugendlichen Jahren,
noch kein Alkoholismus ausgebildet hat, die aber ihre
Willensschwäche nach dieser Richtung gezeigt haben.
Ihnen soll durch lange Gewöhnung gezeigt werden,
dass der Mensch am besten ohne Alkohol lebt.
Diese beiden Gruppen sind sow'ohl rein, wie auch
in allen denkbaren Schattierungen in Verbindung
mit allen anderen Erscheinungen nervöser und geistes¬
kranker Natur vorhanden. Sie gehören in eine al¬
koholfreie Umgebung und sie gehören unter sach-
ständige Leitung.
Die Ueberfüllung der Irrenanstalten, die Scheu
vor ihnen und die Unvollkommenheit unserer Irren¬
gesetze gestatten nur in den Fällen die Ueberführung in
Irrenanstalten, die fast geradezu als Nothfälle bezeichnet
werden müssen. Sind es gerichtliche Fälle, so ist ihr
Schicksal schon durch die Sachlage mehr oder weniger
festgelegt. Für viele andere dieser Patienten aber ist
es ein Bedürfniss, ausser den Irrenanstalten Anstalten
zu haben, die alkoholfrei betrieben werden, den In¬
sassen Arbeitsgelegenheit geben und dabei genügend
billig sind, um auch bei bescheidenen Verhältnissen
einen längeren, ja auch dauernden Verbleib in der
schützenden Umgebung zu ermöglichen.
Dann denke ich an die vielen Menschen, die ohne
eigentlich krank zu sein, doch in irgend einer psy-
• -bischen Richtung schutzbedürftig sind: characterolo-
gisch Abnorme mit leichten und für Andere nur w enig
[Nr. 7 .
gefährlichen Trieben, Gelüsten, Stimmungen und
Schwachen, für die alle jene leichte Correctur des
Schicksals erwünscht wäre, wie sie nur innerhalb einer
specifisch eingerichteten frei lebenden Gemeinschaft
möglich ist Weder das gewöhnliche Leben noch
das in der Irrenanstalt ist für sie das richtige, das
eine bietet ihnen zuviel, das andere zu wenig von
jenem Zw'ang zu Pflicht und Arbeit und gesellschaft¬
licher Anpassung, den jeder Mensch haben muss.
Weder die Aussenw r elt noch die Irrenanstalt kann
ihnen, den Mittehverthigen, das richtige Maas geben.
Eine sehr grosse Gruppe, von der ich aufrichtig
wünsche, dass sich die Aufmerksamkeit der Sachverstän¬
digen ihr eingehend w r idme, und für die die Colonie
Friedau gerade das Rechte werden dürfte, sind die in ge¬
ringem Grade Schw achsinnigen. Ich habe in einer kleinen
Schrift (Ernstes und Heiteres aus meinen Erinnerungen
im Verkehr mit Schwachsinnigen, Verlag Melusine,
Zürich 1902) eine Reihe von solchen Fällen für
Eltern und Lehrer beschrieben. Es ist meine feste
Ueberzeugung, dass aus den meisten Leichtschwach-
sinnigen bei guter Behandlung sehr viel mehr nützliche
Arbeit herauszugewinnen ist, als es geschieht. Der
Schwerpunkt liegt hierbei meist in dem Nichterkenncn
des Schwachsinnes als solchen. Auch haben die
Irrenärzte bis jetzt zu wenig von diesen Kranken
bekommen als dass sie viel Aufklärung über dieses
Gebiet hätten verbreiten können. Am meisten Elend
erzeugt hier der Reichthum. Reiche lassen, als
ob es selbstverständlich wäre, ihre Söhne studieren,
ob sie unfähig sind oder nicht; es wird ihnen nicht
ein genügend primitiver Beruf und es werden nicht
genügend einfache allgemeine Lebensverhältnisse ge¬
boten. Die Patienten geben Veranlassung zu den
aufreibensten Aergemissen mit psychologisch unbe¬
gabten Eltern. Bei andern geht es nach einem gründ¬
lichen Verpfuschtsein zwar nicht so tragisch zu, aber
selbst wenn sie eben wegen dieses Verpfuschtseins
etwa Irrenärzten in der Consultationsstunde vorgeführt
werden, die Schwerberathbarkeit der Eltern giebt da
nicht mehr lösbare Aufgaben auf. Da möchte ich nun
das grösste Gewicht darauf legen, dass die praktischen
Aerzte über die Absichten des „Colonie Friedau“-Ver¬
eins informirt werden, damit sie — fast die Einzigen,
die solche Fälle in den Familien kennen lernen — daran
denken mögen, recht frühzeitig daran zu gehen, vor
zu hochgegriffenen Berufen zu warnen und im Falle von
Unfrieden zwischen Eltern und Kindern — eines der
bequemsten Zeichen für die Wahrscheinlichkeit von
Schwachsinn bei letzteren, wenn nicht bei beiden —
zunächst wenigstens ein „zeitweiliges Ausspannen“ und
eine mehrmonatige Beobachtung bei praktischer Arbeit
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
79
IQ02.]
wie sie die Colonie bieten wird, vorschlagen. Wer
heutzutage in diesen „leichten“ Fällen die Beobachtung
durch einen Irrenarzt vorschlägt, kann mit Sicherheit
auf Misserfolg rechnen. Untersuchung und Be¬
obachtung dieser jungen Leute ausserhalb der ge¬
wohnten Umgebung des Elternhauses wird, darauf
rechne ich nach meiner Erfahrung mit Sicherheit,
zeigen, mit wie einfachen Mitteln besonders manche
dieser jungen Männer von 16 bis 20 Jahren auf den
rechten Weg zu bringen sind. Denn während der
geistig begabte, gebildete, ältere, aber geistig abge-
ai beitete Nervöse oft nur schwer von seinen geistigen
Interessen abzulenken ist, kann dies — aber immer
nur in richtiger Umgebung — oft spielend leicht
beim jugendlichen Unbegabten geschehen.
Kommen nun noch die Neurosen im engern Sinne,
Hysterie und Neurasthenie, über die ich trotz ihrer
Bedeutung hier nichts sagen will, hinzu, so mag mit
dieser Reihe ein ungefähres Bild des zu erwartenden
Patientenstandes angedeutet sein.
Aus verschiedenen Gründen ist zu erwarten, dass
die Irrenärzte sich für das Unternehmen „Colonie
Friedau“ interessiren werden, und aus ihren^ Reihen
dürfte auch der ausführende Oberarzt der Colonie
hervorgehen: Nur unter den Irrenärzten sind Männer,
die eine langjährige Schulung durchgemacht haben in
der Organisation, in der Verpflegung und in der Be¬
schäftigung geistesdefecter Menschen in grosser Zahl.
In der Entwicklung des praktischen Irrenwesens zeigen
sich zwei Tendenzen, die stetig anwachsen und
nur scheinbar im Gegensätze stehend: Das Eine ist
die zunehmende Zahl der Menschen, die in Irren¬
anstalten versorgt werden — das Schreckgespenst so
Vieler, — das Zweite das stetig zunehmende Verlangen,
dem Patienten innerhalb der Anstalt immer mehr und
mehr Freiheit zu geben: das Verlangen und Ziel der
Irrenärzte. Der Kranke verliert im Einen die Freiheit,
um sie im Andern nur anders wieder zu erhalten.
Die Bevormundung Hülfloser und Schädlicher verliert
an Intensität, nimmt zu an Extensität. Wurden früher
nur Kranke versorgt, deren Gefährlichkeit Jedem im
Volke einleuchtete, so kommen jetzt Leute ins Irren¬
haus, von denen oft die „Gebildetsten“ nicht einsehen
wollen, das dies nöthig sei. Dass diese zwei Tendenzen
nicht von den Irrenärzten gemacht, sondern aus den
gesellschaftlichen Zuständen erwuchsen sind, das geht
auch aus der Thatsache hervor, dass beide dem Irren¬
ärzte vermehrte Last und Verantwortung aufbürden:
Auf der einen Seite Zunahme von Arbeitslast durch
Vollstopfen der Anstalten weit über ihr richtiges
Fassungsvermögen hinaus und starker Patientenwechsel,
auf der andern Seite Lockerung der Aufsicht, Er-
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schwerung der Uebersicht, vermehrte Berührung der
Kranken mit der Aussenwelt, vermehrte Gelegenheit
zu gefährlichen Handlungen durch Werkzeuge, offene
Fenster und Thüren, Möbel und Hauseinrichtungen
aller Art nach den Gepflogenheiten der Aussenwelt.
Denkt man weiter an die mo.lernen gänzlich
„freien Abtheilungen“, die vollständig freien „Irren¬
kolonien“ und Irrendörfer, so zeigen sich am Ende
dieser langen Reihe von Aenderungen und Ent¬
wicklungen, zu der es mehrerer Menschenalter bedurfte,
zwei Arten von Anstalten:
1. Die Anstalt mit geschlossener Centrale, um¬
geben von lauter mehr oder weniger offenen Ab¬
theilungen, alle mit sehr verschiedenen Einrichtungen
— für die Geisteskranken im engem Sinne, zum theil
vorgeschlagen, zum theil schon bestehend, für Menschen
mit zeitweiliger oder steter Gefährlichkeit.
2. Die völlig offene Anstalt, ebenfalls auf dem
freien Lande, ebenfalls mit landwirtschaftlichem Be¬
triebe, aber mit vermehrten, und reicher entwickelten
Beschäftigungsgelegenheiten, — die noch nicht be¬
steht, — die für Nervenkranke bestimmt sein mag,
und die jetzt das Ziel der Gesellschaft „Colonie
Friedau“ sein wird.
Aber ausser den zwei schon genannten Tendenzen
könnte man noch eine dritte Tendenz annehmen, die
allerdings nicht allein die Irrenärzte angeht, sondern an
der auch Andere theilnehmen, aber die von Irren¬
ärzten verhältnissmässig viel mehr unterstützt wird, als
von den Vertretern irgend eines andern Berufes oder
irgend einer anderen Gesellschaftsgruppe: die Alkohol-
abstinenzbew'egung. Wer die Literatur der Ab-
stinenzbew'egung ansieht, stösst immer wieder auf
Irrenärzte als Führer der Massen sowohl als auf
Autoren der besten Werke, obwohl die Irrenärzte
nur etwa den 100000. Theil der Bevölkerung aus¬
machen. Die beste experimentelle Arbeit über die
Wirkung des Alkohols auf die psychischen Leistungen
ist von einem Irrenarzt, und der Mann, dem w r ir die
werkthätigste Abstinenz-Propaganda verdanken, ist
auch wieder ein Irrenarzt. Und noch eine Brücke
besteht zwischen dem Irrenarzte und der geplanten
Anstalt: Zahlreich sind die Fälle in Irrenanstalten,
wo ein Patient in der Hauptsache zwar als geheilt
oder gebessert, oder als ungebessert, aber ungefährlich
gew’orden zu entlassen ist, ohne dass man ihm die
Kraft zumuthen kann, dass er sich in der nächsten
Zeit w’erde halten können. Er bedarf eines leichten
Schutzes, der sehr verschiedener Art ist — beim Einen
die Abstinenz, beim Andern anderes, — den ihm die
Irrenanstalt entweder nicht bieten kann, oder insofern
nicht bieten darf, weil sie ihn nicht zurückbehalten
Original from
HARVARD UNIVERSITY
8 o
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 7-
darf. Uebcrgangsstationen zwischen Irren¬
anstalt und Freiheit haben wir bis jetzt noch nicht
gehabt Manche Patienten sollten aus der Hut des
einen Psychiaters in die Hut eines andern Psychiaters
kommen; auch hier: vermehrte Freiheit, — aber auch
Erhaltung des nützlichen Restes von Erwerbsfähigkeit.
Das Leiden oder die Gefahr des Rückfalles ist ge¬
blieben und die Erkenntniss dieser Gefahr ist psy¬
chiatrischer Natur.
In Summa ist also zu sagen: die Colonie Friedau
erstrebt in erster Linie Arbeit und Abstinenz für
Nervenkranke, in zweiter Linie: Es soll doch
endlich einmal, Und zwar mitten in einem an
Trinkern reichen Lande eine Insel erstehen,
wo nicht getrunken wird, und auf der die Ab¬
stinenz nicht gepredigt, sondern geübt wird.
In gewissem Sinne ist die Schweiz ein Sanatorium
für ganz Europa und die Augen der Welt sind auf
dies schöne Land gerichtet: Die Colonie Friedau
wird daher gerade in der Schweiz am rechten Platze
sein.
„Schutz des Publikums vor den Psychiatern.“
Von Dr. PfausUr, Director, Valduna.
TT in k. k. Justiz-Min.-Erlass (vom Februar 1 . J.), nach
welchem bei Begutachtungen von in den An¬
stalten befindlichen Geisteskranken die Beiziehung der
ordinirenden Anstaltsärzte zu vermeiden sei, hat unter
einem Theile der österreichischen Irrenanstalts-Aerzte
eine begreifliche Erregung hervorgerufen. Da es auf
den ersten Blick den Anschein hatte, dass dieser Er¬
lass einem irgendwie veranlassten Misstrauen gegen¬
über den betroffenen Anstalten entsprungen sein
könnte, so wurde eine Umfrage an alle cisleithani-
schen Anstalts-Direktionen gerichtet.
Das Ergebniss war ein verschiedenes. Einzelnen
Anstalten wurde ein gleicher Erlass schon vor Jahren
zugemittelt, anderen war ein solcher bekannt, aber
nicht intimirt worden, wieder anderen war er bisher
fremd geblieben.
Zweck dieses kurzen Aufsatzes soll sein, die Irren¬
anstalts-Aerzte zu einer gemeinsamen Auffassung und
Stellungnahme in dieser wichtigen und folgenschweren
Angelegenheit zu veranlassen.
Zur Orientirung muss vorausgeschickt werden,
dass bisher mit Ausnahme der Orte, in denen den
Behörden eigene Gerichts-Psychiater zur Verfügung
stehen, wie in Wien und Prag, bei den civilgericht-
lichen Begutachtungen von in den Anstalten befind¬
lichen Geisteskranken bis zum Zeitpunkte genannten
Erlasses meist ein — und dann in Gemeinschaft mit
dem Gerichtsarzte — seltener 2 Anstaltsärzte als be¬
eidigte Sachverständige herangezogen wurden, und
dass dieser Vorgang zu keinen erwiesenen oder sonst
wie bekannt gewordenen Unzukömmlichkeiten, viel
weniger Ungesetzlichkeiten geführt hat. Abgesehen
davon, dass in der berufenen Oeffentlichkeit niemals
eine Klage hierüber laut geworden, wurde den als
gerichtliche Sachverständige selbst durch Jahrzehnte
fungirenden Anstaltsärzten wiederholt für ihre gewissen¬
hafte und sachgemässe Durchführung der Begutach¬
tungen sowohl mündlich wie schriftlich die Aner¬
kennung der zuständigen Gerichtsbehörden bekannt
gegeben.
Da uns vorerst die Beweggründe für diesen
Ministerialerlass nicht bekannt waren, stellten wir
uns zunächst die Frage, schafft der Erlass Besseres?
Als Maassstab zur Beurtheilung muss der § 273
a. b. G. B. nebst der Ministerial-Verordnung vom
14. Mai 1874 herangezogen werden. Der genannte
Paragraph bestimmt: „Für wahn- oder blödsinnig
kann nur derjenige gehalten werden, welcher nach
genauer Erforschung seines Betragens und nach Ein¬
vernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu
verordneten Aerzte gerichtlich dafür erklärt wird“,
und in der zur Erläuterung herausgegebenen Mini¬
sterial-Verordnung vom 14. Mai 1874 wird ausge¬
führt: „den zur Amtshandlung wegen Constatirung
der Geistesstörung der in eine Irrenanstalt gebrachten
Personen berufenen Gerichten wird im Sinne des
Gesetzes obliegen, dieser Amtshandlung ihre vollste
Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich befähigter
Commissionsleiter und erprobter, vollkommen befähig¬
ter und gewissenhafter Experten zu bedienen, jede
Verschleppung der diesfälligen Erhebungen hintanzu¬
halten und sofort nach erfolgter Constatirung der
Geistesstörung das weitere Erforderliche einzuleiten,
im entgegengesetzten Falle aber dafür zu sorgen, dass
der Curande ohne Verzug wieder in den vollen Ge¬
brauch seiner bürgerlichen Freiheit versetzt werde.
Da es häufig vorkommt, dass Experte wiederholte
Beobachtungen und somit Aufschub ihres Gutachtens
verlangen, besonders wenn sie die Geistesstörung für
heilbar erachten, so ist von den Gerichten mit aller
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
Energie zunächst auf den Ausspruch, ob die angeb¬
liche Geistesstörung wirklich vorhanden sei, zu dringen
und jeder nicht unvermeidlich sich darstellende Auf¬
schub in dieser Beziehung hintanzuhalten. Für wei¬
tere und wiederholte Beobachtungserstreckungen zum
Zwecke des Ausspruches über die Heilungsmöglich¬
keit lässt sich zwar im vomhinein ein Termin nicht
bestimmen, es wird jedoch Aufgabe des Gerichtes
sein, auch hier auf thunlichste Beschleunigung zu
dringen, grundlosen Verschleppungen entgegen zu
treten, und endlich zum Zwecke des Gebrauches für
das Pfleggericht und den Curator darauf zu sehen,
dass das Gutachten der Experten über die Heilungs¬
möglichkeit in möglichst bestimmter und klar ver¬
ständlicher Weise abgegeben werde“.
Nach dem neuen Erlasse treten wenigstens in der
Provinz, ausserhalb der Universitätsstädte, an die
Stelle der ordinirenden Anstaltsärzte der k. k. Be¬
zirksarzt mit einem praktischen Arzte als gerichtliche
Sachverständige. Wenn wir nun ersterem das nöthige
Maass psychiatrischer Kenntnisse zusprechen wollen,
so können wir das beim practischen Arzte wohl in
den seltensten Fällen voraussetzen und dies nmsomehr,
als überhaupt erst die jüngeren Aerzte ein Colleg über
Psychiatrie gehört haben und auf Grund dessen wohl
selbst kaum den Anspruch erheben werden, ein im
Sinne der schon erwähnten Ministerial-Verordnung
vom Jahre 1874 „erprobter und vollkommen befähig¬
ter Experte“ zu sein. Die Frage nach der Gewissen¬
haftigkeit im Sinne obiger Verordnung kann wohl
auch nicht aufgeworfen werden, will man nicht etwa
die lächerliche Annahme machen, der Eid des Fach¬
mannes sei minderwerthiger anzuschlagen, als der eines
k. k. Amtsarztes oder eines mit der Psychiatrie wenig oder
nicht vertrauten praktischen Arztes, dem überdies die
bevorzugte Eigenschaft ein „erprobter und vollkom¬
men befähigter Experte zu sein“, nicht oder nicht in
dem Maasse wie dem Anstaltsarzte zugesprochen
werden kann.
Da nach dem Erlasse keine durchwegs besser
qualificirte Sachverständige an die Stelle treten, so
ist wohl auch kaum zu erwarten, dass deren gutacht¬
liche Leistungen über jene der ordinirenden Anstalts¬
ärzte zu stellen seien.
Nach der oben angeführten Ministerial-Verordnung
zum § 273 a. b. G. B. haben sich die Sachverstän¬
digen im gegebenen Falle vorzüglich darüber zu
äussern, ob und welche Geistesstörung vorliegt, ob
der Kranke trotz seiner Geistesstörung noch geschäfts¬
fähig, ob seine Erkrankung eine heilbare und in wel¬
cher Zeit sie dieses sei.
Diese für die Curatels-Bestellung, wie für den Schutz
der persönlichen Freiheit gl eich wichtigen Fragen wer¬
den wohl nur die Anstaltsärzte, denen neben ihrer
psychiatrischen Ausbildung die tägliche Beobach¬
tung des Kranken den sichersten Ueberblick über
jene gewährt, zur vollen Zufriedenheit der Gerichts¬
behörden zu beantworten in der Lage sein, nicht
aber Aerzte, denen sowohl die fachmännische Aus¬
bildung, sowie die tägliche Beobachtung fehlt und
die dem Kranken nur flüchtig bei Gelegenheit ihrer
Gutachtenabgabe gegenübertreten.
In der Consequenz des neuen Erlasses ist doch
auch die Benutzung des Krankengeschichten-Materials,
welches von den ordinirenden Anstaltsärzten stammt ^
ausgeschlossen; denn sind die in den Krankengeschich¬
ten niedergelegten Befunde und Beobachtungen der
Anstaltsärzte für die Begutachtung von Belang, warum
soll dann nicht auch fernerhin deren fachmännisches
und objectiv unparteiisches Gutachten für die Behör¬
den maassgebend sein?
Sind aber die nach den Krankengeschichten ver¬
fassten Gutachten nicht hinreichend vertrauenswürdig,
so sind die Krankengeschichten für die begutachten¬
den Aerzte irrelevant. Hierbei muss noch darauf
hingewiesen werden, dass die begutachtenden Aerzte
in einer Stunde 3 — 6 Fälle „abthun“ und in jenen
Fällen, wo ihnen inconsequenter Weise die Kranken¬
geschichten zur Verfügung gestellt werden, in ihren
Gutachten meist einfach diese abschreiben und dann
noch das Gutachten, das sie sich von den Anstalts¬
ärzten geben lassen, anfügen.
Dass ein solcher Vorgang für die begutachtenden
Aerzte wenig ehrenvoll ist, wie er für den fachmän¬
nischen Anstaltsarzt im hohen Grade kränkend und
sein Ansehen schädigend wirkt, liegt auf der Hand.
Dass aber auch Fälle falscher Beurtheilung von
grösserer Tragweite noch häufiger Vorkommen wer¬
den, mag nur durch einen Fall unserer Erfahrung
kurz beleuchtet werden.
Am 8. Januar 1901 wurde der 46jährige F. aus
D., ein wohlhabender und früher intelligenter Ge¬
schäftsmann, mit den Zeichen einer vorgeschrittenen
progressiven Paralyse in unsere Anstaltsbehandlung
aufgenommen. Nach den verlässlichen anamnestischen
Erhebungen durch einen Bruder des F. Hess sich der
Krankheitsbeginn auf 2 Jahre sicher zurückführen.
F. hatte, nachdem ihm im Juni^iqoo seine erste
Frau gestorben war, sich schon im September 1900
mit der zweiten verheirathet. Kurz vor der Auf¬
nahme hatte F. seine Frau durch Erbvertrag zur Uni-
versalerbin eingesetzt. F. wurde in der Anstalt als
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Gck >gle
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HARVARD UNIVERSITY
82 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7 .
mit progressiver Paralyse behaftet begutachtet und
unter Curatel gestellt.
Nun wollten die Anverwandten des F., nachdem
dessen Frau auch keiner Nachkommenschaft entgegen¬
sah, die Rechtsgiltigkeit seines Erbvertrages auf Grund
unseres Gutachtens anfechten. F. wurde indessen,
trotzdem sein Leiden auch seiner Frau unverkennbar
war (zeigte er doch bei all’ den characteristischen
Symptomen des Leidens auch die für den Laien auf¬
fälligen Erscheinungen verschiedener Grössen-Ideen
und schwerster Intelligenz-Defecte), von dieser am
11. III. 1901 gegen Revers aus der Anstalt nach Hause
übernommen, dort von pract. Aerzten, denen unser
ausführliches Gutachten Vorgelegen hatte, für gesund
erklärt und aus der Curatel entlassen. Daraufhin
wurde die Rechtsgiltigkeit des Erbvertrages von den
Anverwandten des F. nicht weiter bestritten.
Am 19. III. 02 wurde nun F. zum zweiten Male
der Anstaltsbehandlung übergeben. Die Frau des F.
liess uns berichten, wir möchten den Mann nun be¬
halten, er wäre schon ganz blöd. F. zeigt das Bild
der progressiven Paralyse in einem entsprechend weiter
vorgeschrittenen Maasse, als bei der ersten Aufnahme.
Die Frau des F. ist inzwischen im April 1902 nieder¬
gekommen; es dürfte aber in diesem Falle doch auch
die Vaterschaft des F. in Zweifel gezogen werden,
nachdem die Frau schon bei der ersten Aufnahme
von der Impotenz ihres Mannes berichtete. —
Wir wollen hiermit etwa keineswegs den pract.
Collegen den Mangel psychiatrischer Kenntnisse zum
Vor würfe machen, erwarten aber, dass sie sich unter
diesem Hinweise als psychiatrische Experte nicht für
berufen erachten. Von noch schwerwiegenderen Folgen
ist der Erlass bei Begutachtungen in strafgerichtlichen
Fällen, und sind bei der neuen Art der Expertise
die schwersten Schädigungen des persönlichen Wohles
der Geisteskranken keineswegs auszuschliessen, wie
sie auch für die durch die moderne humane Psy¬
chiatrie schon theilweise errungene Auffassung in erster
Linie den Verbrecher und nicht das Verbrechen zu
be- bezw. verurtheilen, wohl unzweifelhaft einen Rück¬
schritt bedeuten muss. Nachdem nun nachgewiesener-
maassen durch den neuen Ministerial - Erlass nichts
Besseres geschaffen wird, kann derselbe auch nicht
als gerecht bezeichnet werden, da er ja gerade für
den Fachmann eine Zurücksetzung, eine kränkende
Ausnahmestellung gegenüber jedem anderen Arzte
bedeutet, wie eine solche sich am allerwenigsten aus
dem Wortlaute oder Sinne des $ 273 a. b. G. B. ab¬
leiten lässt.
Da dieser Erlass offensichtlich nichts Besseres
schafft, fragt es sich nun, ist derselbe vielleicht durch
äussere Umstände hervorgerufen und begründet?
Sind vielleicht Fälle bekannt geworden, in denen An¬
staltsärzte gegen ihr Wissen und Gewissen zu Gunsten
einer Person oder Sache die Interessen der ihnen
anvertrauten Kranken, in erster Linie auch den
Schutz der persönlichen Freiheit ausser Acht gelassen ?
Darauf haben wir nur eine Antwort: Niemand wird
dem Stande der Psychiater selbst beim Fehlen einzelner
Bew'eisfälle die Schmach der Käuflichkeit anwerfen
wollen.
Wenn aber das Justiz-Ministerium auf eine Gegen¬
vorstellung seinen Erlass durch nichts anderes zu
begründen wusste als, man müsse auch den „Schein
der Befangenheit der Sachverständigen“ vermeiden,
so stellen wir dem die Frage entgegen, haftet den
Krankengeschichten, nach denen auch von den An-
staltsärztcn die Gutachten verfasst worden sind, der
„Schein der Befangenheit“ nicht mehr an, wenn sie
der k. k. Amtsarzt und ein mit der Psychiatrie wenig
oder nicht vertrauter pract. Arzt in ihren Gutachten
abschreiben ? Die österreichischen Anstaltsärzte werden
darum neben dem Eintreten für die grösstmög-
lichste Wahrung aller Interessen der ihnen an ver¬
trauten Kranken zur Wahrung ihres Ansehens ge¬
zwungen sein, gegen einen Erlass gemeinsam Stellung
zu nehmen, welcher auf jene Linie eines unberech¬
tigten und unbegründeten Misstrauens zu stellen ist,
dessen Endziel „Schutz des Publikums vor den Psy¬
chiatern-* mit obigem Erlass wohl schon erreicht ist.
M i t t h e i
— Die XXVII. Wander-Versammlung der
südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte
wird am 24. und 25. Mai in Baden-Baden im Blumen¬
saale des Conversationshauses abgehalten werden.
Die erste Sitzung findet Samstag, den 24. Mai,
vormittags von 11 bis 1 Uhr statt. Etwaige Demon¬
strationen von Kranken sollen in dieser Sitzung statt¬
finden.
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1 u n g e n.
In der zweiten Sitzung am gleichen Tage nach¬
mittags 2 bis 5 1 ; 2 Uhr wird das Referat erstatten:
Herr Prof. H oche-Strassburg: Differentialdiagnose
zwischen Epilepsie und Hysterie.
Daran sollen sich anschliessen die dazu gehörigen
Vorträge sowie die zur Discussion zu machenden Be¬
merkungen.
Die dritte Sitzung findet Sonntag, den 25. Mai,
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HARVARD UN1VERSITY
i«io2.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 83
vormittags von o —12 Uhr statt mit Einschaltung
oder Anschluss von Demonstrationen mikroskopischer
oder sonstiger Präparate.
Auf die zweite Sitzung folgt nachmittags 6 Uhr
ein gemeinsames Essen im Restaurant des ConVer¬
sal ionshauses.
Die Unterzeichneten Geschäftsführer laden hiermit
zum Besuche der Versammlung ergebenst ein und
bitten diejenigen Herren, welche an dem gemeinsamen
Essen thcilzunehmen beabsichtigen, um eine betreffende
baldgefällige Mittheilung.
Bis jetzt sind folgende Vorträge angemeldet:
1. Prof. Dr. Erb (Heidelberg): Bemerkungen zur
pathologischen Anatomie der Syphilis des centralen
Nervensystems.
2. Prof. Dr. v. Strümpell (Erlangen): Neurologische
Mittheilungen.
3. Prof. Dr. Dinkler (Aachen): Ueber acute Myelitis
(Verdacht auf Abscess; Versuch operativer Be¬
handlung).
4. Prof. Dr. Schwalbe (Strassburg): Ueber Windungs¬
protuberanzen des Schädels.
5. Prof. Dr. Fürstner (Strassburg): Zur Kenntniss der
vasomotorischen Neurosen.
6. Prof. Dr. Edinger (Frankfurt a. M.): Zur ver¬
gleichenden Anatomie des Gehirns: Das Vogel-
gehim.
7. Dr. Bayerthal (Worms): Zur Diagnose der Thala¬
mus- und Stimhirntumoren.
8. Prof. Dr. Schultze (Bonn): a) Weitere Mittheilungen
über operativ behandelte Geschwülste der Rücken¬
markshäute. b) Das Verhalten der Zunge bei
Tetanie.
9. Prof. Dr. Hoffmann (Heidelberg): Ueber tonischen
Facialiskrampf.
10. Dr. Ebers (Baden-Baden): Demonstration eines
durch Operation geheilten Falles von chronischem
Krampf der Nacken- und Halsmuskulatur.
11. Dr. Blum (Frankfurt a. M.): Ueber experimentelle
Erzeugung von Geisteskrankheiten.
12. Prof. Dr. Gerhardt (Strassburg): Zur Anatomie
der Kehlkopflähmungen.
13. Dr. Link (Freiburg): Demonstration von Muskcl-
präparaten bei Myasthenia gravis.
14. Dr. Vulpius (Heidelberg): Muskelüberpflanzung
bei spinaler Kinderlähmung.
13. Prof. Dr. Nissl (Heidelberg): Ueber einige Be¬
ziehungen zwischen der Glia und dem Gefüss-
apparat.
[6. Dr. Schröder (Heidelberg): Die Katatonie im
höheren Lebensalter.
17. Prof. Dr. Kraepelin (Heidelberg): Die Arbeits¬
kurve.
Um gefällige Verbreitung dieser Einladung und
um Anmeldung weiterer Vorträge wird gebeten.
Eine Zeitdauer für die einzelnen Vorträge ist in
den Statuten nicht festgesetzt. Doch erscheint es
auf Grund, der bisherigen Erfahrungen und mit Rück¬
sicht auf den Zweck der Versammlung gerechtfertigt,
wenn wir an die Herren Vortragenden die Bitte richten,
die Dauer des Vortrages über ein Thema, soweit
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thunlich, auf 15, höchstens 20 Minuten, bemessen
zu wollen.
Die Geschäftsführer:
Prof. Dr. Kraepelin, Dr. Fr. Fischer,
Heidelberg, Pforzheim,
Mai 1902.
— In geisteskrankem Zustande verurtheilt
und nach 6 l / % Jahren freigesprochen. Vor fast
sieben Jahren, am 23. August 1895, wurde vom
Dresdener Landgericht der Versicherungsinspector
Johannes Otto Ludwig Philippsohn, ein Sohn des
damaligen Bankiers Ph. zu Dresden, wegen Ur¬
kundenfälschung, falscher Anschuldigung und Nöthi-
gung zu zwei Jahren Gefängniss und fünfjährigem
Ehrenrechtsverlust verurtheilt. Auf Grund von That-
sachen, die schon damals auf einen mangelhaften
Geisteszustand des Ph. hindeuteten, erfolgte die Ver¬
urteilung zu der genannten Strafe. Das Urtheil
wurde rechtskräftig, die Straf verbi'issung konnte in¬
dessen nicht eintreten, weil der Verurteilte wegen
Geisteskrankheit entmündigt wurde. Sein damaliger
Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Thieme, der zu seinem
Vormund bestellt wurde, hatte schon damals den
Zustand seines Pfleglings erkannt, konnte jedoch die
Verurteilung nicht von ihm abwenden, da ein dies-*
bezügliches medicinisches Gutachten derzeit nicht zu
erlangen war. Trotzdem ist er fortgesetzt bemüht
gewesen, ein Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen.
Diese seit sieben Jahren fortgesetzten Bemühungen
waren schliesslich von Erfolg. In der am 29. April
Abend anberaumten neuen, unter Ausschluss der
Ocffentlichkeit geführten Verhandlung erfolgte kosten¬
lose Freisprechung von der gegen Ph. am 23. August
1805 erhobenen Anklage, und zwar auf Grund eines
vom Hofrath Dr. med. Buch erstatteten Gutachtens,nach
dem der Geisteszustand Philippsohns bei Begehung
der Strafthat im Jahre 1895 keim normaler gewesen
ist und es ihm (Ph.) damals an der nöthigen Einsicht
und Erkenntniss gefehlt hat. Für den Angeklagten
ist die nachträgliche Rehabilitirung von um so grösserer
Wichtigkeit, weil seine Entmündigung seit Kurzem
aufgehoben und er in Berlin als Commissionär thätig
ist. Die im Jahre 1895 von Ph. bezahlten Gerichts¬
kosten u. s. w\ werden ihm jetzt aus der Staatskasse
in vollem Umfange zurückvergütet.
— Ueber Geisteskrankheiten bei Eisenbahn¬
beamten wird der „Kölnischen Volksztg.“ (16. 4.02)
von fachmännischer Seite folgende beachtenswerthe
Mittheilung gemacht: ,.Das Eisenbahnunglück bei
Altenbeken kam vor einigen Tagen in den Verhand¬
lungen des Abgeordnetenhauses nochmals zur Sprache,
und es wurde dabei von verschiedenen Mitgliedern
des Hauses der Minister um eine möglichst milde
Beurthcilung der dabei Angestellten gebeten. Gewiss
mit Recht, denn wie die Gerichtsverhandlungen er¬
gaben, ist der schreckliche Unglücksfall zum grössten
Theil die Folge einer verhängnissvollen Kette un¬
glücklicher Umstände gewiesen, und die Sc hwele der
Bestrafung kann daher zu einer Verminderung der
Eisenbahnunglücksfülle gewiss nicht viel beitragen.
Das letztere ist neben einer steten Verbesserung der
technischen Einrichtungen w'ohl nur möglich durch
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HARVARD UNIVERSUM
«4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7 .
die Sorge für Heranbildung eines möglichst tüchtigen
und wachsamen Personals. Auch in dieser Hinsicht
ist ja in den letzten Jahren manches zweckmässige
geschehen. Es ist die Arbeitszeit gekürzt worden, es
finden seitens der Bahnärzte körperliche Unter¬
suchungen, speciell der Augen auf Farbenblindheit statt,
cs sind neuerdings Abstinenz vereine gegründet
worden u. s. w. Auf einen Punkt, welcher der Be¬
rücksichtigung gewiss werth ist, dürfte ärztlicherseits
wohl die Aufmerksamkeit gerichtet werden: das ist die
Gefahr, die bei beginnender Geisteskrankheit von
Bahnangestellten dem reisenden Publikum erwachsen
kann, wie mich vielfache Beobachtungen aus letzter
Zeit gelehrt haben. Wiederholt fanden sich in der
poliklinischen Sprechstunde für Nervenkranke Bahn¬
angestellte (meist Weichensteller) ein, welche, theils
aus freien Stücken, theils auf Anrathen des Bahn¬
arztes, der zu einer Diagnose nicht gekommen war,
sich wegen allgemein nervöser Beschwerden in Be¬
handlung begaben, und es zeigte sich bei der Unter¬
suchung — dem Sachverständigen zuweilen auf den
ersten Blick — dass man es mit einer beginnenden
Geisteskrankheit, meist einer Gehirnerweichung, zu
thun hatte. Die Prüfung der Intelligenz ergab dann
eine erhebliche Gedächtnisschwäche u. s. w. Die
Rranken klagten vielfach selbst, dass sie die Zeiten
der fälligen Züge nicht mehr behalten könnten, viel¬
fach auch über Schlafsucht, deren sie sich selbst am
Tage nicht recht erwehren könnten. Welch unabsehbare
Folgen aus derartigen Momenten resultieren können,
leuchtet wohl ein, und es dürfte namentlich in An¬
betracht der zweifellos zunehmenden Erkrankungen
an Gehirnerweichungen — auch epileptische Dämmer¬
zustände wurden wiederholt beobachtet — wohl an¬
gezeigt sein, auch nach dieser Richtung der Gefahr vor¬
zubeugen. Wie dies zu geschehen hat, ist Sache der
massgebenden Stellen. In erster Linie kämen ja die
Bahnärzte in Betracht, welche von Zeit zu Zeit die
in ihren Revieren Angestellten auch in dieser Hin¬
sicht zu untersuchen hätten; aber einem vielbeschäf¬
tigten Bahnarzt fehlt es w’ohl meist an der zu einer
solchen Prüfung nothwendigen Zeit, einzelnen vielleicht
auch an den erforderlichen specialistischen Kennt¬
nissen. Es müssten deshalb mit solchen Unter¬
suchungen fachmännisch ausgebildete Neurologen oder
Psychiater betraut werden. Wie beim Militär neuer¬
dings die beginnenden geistigen Störungen gebührend
gewürdigt werden als Ursache mancher Soldaten¬
misshandlungen u. s. w. und wie man dort mit der
Beobachtung solcher Kranken demnächst psychiatrisch
erfahrene Aerzte zu betrauen gedenkt, so wäre das
in gewiss gleichem Maasse bei den Angestellten der
Bahn erforderlich. Es könnte manches Unheil da¬
durch verhütet werden.“
— Am 14. April ist in Berlin, im Garten der
Königl. Charite vor der neuen Ncrvenklinik, die Büste
Wilhelm Griesingers feierlich enthüllt worden.
Die von Lührssen geschaffene Büste, die sich auf
einem Sockel von rothem Granit erhebt, war von
einer Hülle in den württembergischen Farben um¬
geben. In Vertretung des Kultusministeriums waren
der Geh. Ober-Regierungsrath Naumann und Sani-
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tätsrath Dr. Aschenborn erschienen. Das Heimaths-
land des Gefeierten, Württemberg, wurde durch den
Bimdesrathsbevollmächtigten, Präsidenten Schricker ver¬
treten. Die Universität Tübingen, an der Griesinger
einst gewirkt, hatte den Dekan der medicinischen Fakul¬
tät, Prof. Döderlein, mit einem Kranze entsand. Nach¬
dem die Kapelle der Eisenbahnbrigade das nieder¬
ländische Dankgebet gespielt hatte, liess Stabsarzt
Dr. Buttersack, der die Anregung zur Errichtung des
Denkmals gegeben, nach kurzer Ansprache die Hülle
fallen und übergab die Büste der Charite, während
Generalarzt Schaper das Denkmal übernahm. Als
Amtsnachfolger Griesingers und derzeitiger Vertreter
der Nervenheilkunde an der Charite feierte Geh. Rath
Jolly Griesinger als den Mann, der zuerst eine Ver¬
einigung der Psychiatrie mit der Nervenheilkunde ge¬
schaffen. Aus Anlass der Feier waren auch mehrere
Drahtungen eingegangen. Der württembergische Kultus¬
minister Weizsäcker drahtete: „Zur heutigen Feier be¬
glückwünsche ich Sie und die übrigen Herren des Denk-
malskomites zu der pietätvollen Ehrung des Andenkens
an den genialen Arzt und Forscher und den berühmten
Sohn des schwäbischen Landes.“ — Der Wiener Verein
für Psychiatrie und Neurologie benutzte diese feierliche
Gelegenheit, um seiner tief empfundenen Verehrung
für den Begründer der modernen Nervenheilkunde
Ausdruck zu geben.
— Der IX. Internationale Congress gegen
den Alkoholismus wird im Jahre 1903 nach dem
Beschlüsse des voijährigen Wiener Congresses in
Deutschland stattfinden und zwar in den Tagen vom
14.— iq. April 1903 in Bremen. Dort ist bereits der
vorbereitende Ortsausschuss seit mehreren Monaten in
Thätigkeit, um zunächst den Verlauf des Congresses im
äusseren Rahmen feststellen zu können. Der Vorsitzende
dieses Ausschusses ist Dir. Dr. med. A. Delbrück,
Bremen, Humboldtstr. 127, an den auch alle
Anfragen zu richten sind. Die Internationalen Con-
gresse gegen den Alkoholismus fordern zur Theilnahme
alle auf, die in der Bekämpfung des Alkoholismus
und der Trinksitten eine wichtige Aufgabe erkennen.
Sie richten ihre Einladungen an alle socialen Schichten,
an die Hand- und Kopfarbeiter, an Männer und
Frauen, an Alt und Jung. Es handelt sich nicht um
ein Unternehmen besonderer Tendenz, sei es der
Massigkeit, sei es der Totalenthaltsamkeit; vielmehr
sollen die Anhänger aller verschiedener Richtungen
zu gegenseitigem Meinungsaustausch, zu gemeinsamer
Arbeit zusammengerufen werden. Nach dem vor¬
jährigen Wiener Beschlüsse werden die von ersten
wissenschaftlichen Autoritäten zu haltenden Vorträge
vom Organisationskomitee festgesetzt; wir werden
bereits in den nächsten Wochen in der Lage sein,
darüber nähere Mittheilungen machen zu können.
— Vom 1.—7. September 1902 findet in Ant¬
werpen ein Internationaler Congress für Irren¬
fürsorge und speciell für Familienpflege Geistes¬
kranker statt unter dem Ehrenvorsitz des belgischen
Justizministers und dem Vizeehrenvorsitz von dessen
Vorgänger (Lejeune) sowie unter Betheiligiing zahl¬
reicher anderer höherer belgischer Staatsbeamter.
Anmeldungen sind zu richten an Herrn Dr. F. Sano,
Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 85
Antwerpen, me Montebello 2. Theilnehmerbeitrag
20 Frcs.*) Aus dem Einladungsschreiben geben wir
Folgendes wieder:
„Au demier Congres International de l’Assistance
familiale, tenu ä Paris en octobre 1901, la section
psychiätrique dut constater que le travail considerable
qu’elle venait d’entamer ne pouvait etre mene ä bonne
fin que par la Constitution independante d’une nouvelle
session, ou les problemes pourraient etre soumis a un
examen plus approfondi.
Cette nouvelle session aura lieu du premier au
sept septembre prochain, ä Anvers. Elle sera consacree
ä l’etude de l’assistance des alienes et specialement
de leur assistance familiale.
L’asile ferme est actuellement le principal mode
d’assistance des alienes. Le nombre de ceux-ci est
trop eleve pour qu’on puisse songer ä les placer tous
autrement. Du reste beaucoup d’entre eux ont besoin
d’un traitement regulier et d’une surveillance suivie,
que l’asile ferme est seul capable de leur foumir.
Aussi ces refuges ne se comptent-ils plus: on en
construit de nouveaux tous les jours. L’on agrandit
ceux qui existent; on les modifie dans leur forme
exterieure: on constmit des quartiers independants,
des cottages, des fermes-asiles, des colonies de travail.
Le regime interieur a ete adouci: on donne aux
malades des occupations, des distraction, des fetes,
un plus grand degre de liberte, des sorties k titre
d’essai; pour quelques-uns memes les portes restent
ouvertes. Ce sont la les signes d’une louable tendance
ä se rapprocher de la vie sociale.
Gheel, oü des centaines de malades jouissent
depuis des siecles de la liberte et de la vie de
famille, Gheel fut considere longtemps comme
une simple curiosite. un singulier village.
L’exemple de l’Ecosse, qui applique depuis de
longues annees l’assistance familiale ä de nombreux
malades, ne trouva pas d’imitateurs. Une croisade
passionnee, dont le docteur Baron Mundy fut le
Pierre 1 ’Ermite, ne reussit pas ä fixer d’une maniere
durable l’attention des medecin et des administrateurs,
et 1’internement des alienes resta la regle generale.
Le flot de la folie montant toujours, on se trouva
en face de l’encombrement general, avec tous ses
inconvenients. II fallut s’imposer de nouveaux efforts.
Les depenses augmentaient, mena<;ant l’equilibre des
budgets.
On finit, par se dire qu’il y a des malades qui
ne sont pas dangereux, qui n’ont besoin ni d’un
traitement, ni de soins speciaux, et qui ne demandent
qu’ä vivre dans la societe. Depuis vingt ans des
essais d’application du patronage familial se font un
peu partout. La Belgique a reproduit ä Lierneux le
modele de la colonie de Gheel; la Russie est depuis
longtemps ralliee au Systeme; la France a fonde les
colonies de Dun-sur-Auron et d’Ainay-le-Chäteau; la
Prusse constmit des asiles speciaux auxquels eile
annexe des colonies; des pays limitrophes se preparent
*) Die Herren Collegen aus Deutschland, welche dem Con-
gresse anwohnen wollen, sind gebeten, dem Mitherausgeber
dieser Wochenschrift, Director Alt-Uchtspringe, Mittheilung zu
machen, der auch bereitwilligst Auskunft ertheilt. D. R.
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ä l’imiter; l’Autriche a mis pratiquement ce Systeme
a l’etude; la Hollande entre, timidement encore, dans
la voie, et l’Amerique du Nord continuedes experiences
qui se font dans les conditions les plus desavanta-
geuses . .
II est impossible d’examiner le regime des colonies
sans toucher directement au regime des asiles fermes.
C’est pour cette raison que la commission organi-
satrice s’est cm autorisee k etendre le programme du
congres. Tout en portant specialement son attention
sur i’assistance familiale, eile n’a voulu exclure aucune
des questions qui peuvent interesser l’assistance des
alienes en general . . . “
— Programm der 69. ordentlichen General-
Versammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am Samstag den 7. Juni 1902, Nach¬
mittags 1 Uhr in der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt
Galkhausen bei Langenfeld.*) Vor der Sitzung Imbiss
in der Anstalt. 1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Auf¬
nahme neuer Mitglieder. Zur Aufnahme in den Verein
haben sich gemeldet: Dr. Baucke-Bonn, Dr. Hummels-
heim-Bonn, Dr. Huth-Ahrweiler, Dr. Jannes-Eschweiler,
Dr. Löwenstein-Bendorf, Dr. Pfahl-Bonn, Dr. Rusak,
Medicinalrath, Cöln, Dr. Weichelt-Andernach.
3. Vorträge.
a) Hoflmann-Elberfeld (Gast): Ein Fall von indu-
cirtem Irresein.
b) Schultze-Andernach: Bemerkungen zur Sach-
verständigen-Thätigkeit.
c) Foerster und Baucke-Bonn: Sectionsbefund bei
zwei Geisteskranken: Syringomyelie und disse-
minirte Encephalomyelitis.
d) Lückerath-Galkhausen: Diebeiden ersten Jahre
in Galkhausen.
4. Rundgang durch die Anstalt.
Gemeinschaftliches Mittagessen 4 1 / 2 Uhr im Festsaal
der Anstalt.
Die Bewirthung der Theilnehmer hat Herr Landes¬
hauptmann der Rheinprovinz in liebenswürdiger Weise
übernommen. Die Mitglieder sind gebeten, ihre
Theilnahme bis spätestens den 30. Mai er. bei dem
Direktor Herting, Prov.-Heil-Anstalt Galkhausen,
Langenfeld (Rhld.), anzumelden.
Pelman. Oebeke. Umpfenbach.
— Die Soci6t6 m6dico -psychologique de
Paris feiert am 26. Mai d. Js., 4 Uhr, in ihren
Sitzungsräumen, 12 me de Seine, ihr 50jähriges
Bestehen. Dr. Ritti, medecin de la Maison nationale
de Charenton, Saint-Maurice (Seine) und Dr. Motet,
161 rue de Charonne, laden, zur Theilnahme ein
(Theilnehmerbeitrag 20 Fr.). Banquet um 7 Uhr,
Restaurant Marguery, boulevard Bonne-Nouvelle.
— Jahresversammlung des Vereins der
Deutschen Irrenärzte in München, 14. April
1902. Fortsetzung.
Alzheimer (Frankfurt a. M.). Die auf arte¬
riosklerotischer Grundlage entstehenden
*) Eisenbabnstrecke Cöln-Düsseldorf:
Zug von Cöln 11 88 Vormittags,
„ „ Düsseldorf io 60 Vormittags,
„ nach Cöln ; t7 Nachmittags,
., „ Düsseldorf 7 13 Nachmittags.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
86 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 7.
Geistesstörungen. V( >n der progressiven Paralyse
sind mit den Fortschritten der anatomischen lind
klinischen Forschung verschiedene Krankheitsbilder
abgetrennt worden, die man Pseudoparalysen genannt
hat. Lieber verschiedene davon ist das Urtheil heute
noch nicht abgeschlossen. iSqi beschrieb Klippel
eine arthrit isclie Pseudopara 1 yse. Diese arthri-
tische Pseudopanilyse ist identisch mit dem, was
Binswanger u. A. später als a r t e r i o s k 1 e r o t i s c h e G e-
hirndegeneration beschrieben. Die im Zusammen¬
hang mit Arteriosklerose auftretenden psychischen
Störungen lassen sich in verschiedene Gruppen ein-
theilen. 1. Eine einfache, wenig progrediente
Form, bei der es nur zu nervösen Erscheinungen,
Kopfweh, Schwindelanfällen, leichter Ermüdbarkeit,
Gedächtnisssrhwäche oder wenigstens Erschwerung
der Reproduktionsfähigkeit kommt. Im Gehirn finden
sich keine schwereren Veränderungen, aber Zeichen chro¬
nischer Stauung. 2. Eine schwere progrediente
Form. Hier verursacht die verschiedene Localisation
des arteriosklcr» »tischen Degenerationsproccsses verschie¬
dene klinische Bilder. Der arteriosklerotische Degene¬
ration sprozess kann sich in zerstreuten Herden über
das ganze Gehirn ausbreiten (gewöhnliche Form), oder
vorzugsweise auf das Hemisphäremnark beschränkt
bleiben (Encephalitis subcorticalis chronica diffusa
Binswangcrs), sich nur auf die Rinde ausdehnen
(senile Rindenverödung), oder allein das Gefässge-
biet irgend einer grösseren Hirnarterie betreffen. 3.
Audi manche im späteren Alter auftretenden Fälle
v< m Epilepsie müssen als durch Arteriosklerose ver¬
ursacht angesehen werden. Es giebt zwei solcher
Formen. Die eine, cardiovasale, ist fast regelmässig
mit Herzkrankheiten kompliziert, die zweite mit ar¬
teriosklerotischen Herden in Zusammenhang zu bringen.
Der Vortrag wird durch Zeichnungen erläutert.
Discussion zum Vortrag Alzheimer.
Herr Fürstner weist zunächst darauf hin, dass
die Arteriosclcrosc oft schon in jungen Jahren zu
constatiren sei, dass dabei regionäre und familiäre Ver¬
hältnisse eine grosse Rolle spielen. Man trifft in
denselben Familien nicht nur besondere Grade der
Arteriosclcrosc sondern auch Auftreten bei mehreren
Mitgliedern in jungen Jahren. Unter diesen Umständen
können natürlich auch schwere Erkrankungen des
Centralncrvcnsystems schon in jungenjahren beobachtet
werden. Sodann macht Herr A. mit Recht einen
Untersc hied zwischen der Erkrankung des Marklagers,
wie sie bei der Arteriosclcrosc in rechter Linie in
Betracht kommen und Erkrankungen, wo die Rinde
in erster Linie betroffen, wie bei der Senilen-Verödung
A.’s F. fragt, ob A., wie es nach den Zeichnungen
scheint, Verbindung der Spinnenzellen direct mit den
Gefässen annimmt, was Weigert früher nicht that.
Endlich unterscheidet auch F. bei der alkoholischen
Epilepsie Fälle, wo arteriosclerotische Herde die Ur¬
sache, von den häufigeren Fällen, in denen die Him-
veränderungen Folgen der Toxen sind.
Herr Degen kolb: Ich habe nur Rindengefässi
untersucht, und weiss nicht, wie die Beantwortung
der Frage sich bei einem umfassenden Ueberblirk
über den ganzen Gefässapparat stellen würde. Mit
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diesem Vorbehalte glaube ich, dass sich an den
Rindengefässen die hyaline Gefässdegeneration von
der Rindengefäss-Arteriosclcrose doch trennen lässt,
wie dies ja Robertsons Ansicht entspricht, dessen
Schema freilich für die Mehrzahl der Fälle nicht aus¬
reicht (vergl. die Gefässerkiankung bei Dem. sen.).
Bezüglich der Artcriosclerose der Paralytiker möchte
ich Herrn A. beistimmen.
Herr Hänel fragt an, ob ein Befund von peri-
vasculärer Injection mit Rundzellen an den kleinsten
Gefässen bei Arteriosclerose der mittleren und grossen
auf den arteriosclcrotischen Prozess zurückgeführt
werden kann, oder ob man in solchen Fällen noc h
einen parallel gehenden, entzündlichen, encephalitischen
Prozess annehmen muss.
Herr D e g e n k o 1 b: Rundzelleninfiltrate kommen
bei, (sc. reiner) Arteriosclerose kleiner Himgefässe nicht
vor ausser (secundär) im Bereiche sehr schwerer
localer Veränderungen z. B. alter Knoten. Trennt
man scharf die Adventitialzellenwucherungen von den
Rundzelleninfiltraten, so haben mir Litteraturstudien
ergeben, dass solche nur bei Intoxikationen und In-
fectionen Vorkommen, vermuthlich nur bei Infection.
Herr A 1 z h e i m e r (Sc hlusswort): Ich glaube, dass
man nicht sagen sollte, das und das kommt nicht vor.
Thatsächlich findet man garnicht so selten, z. B. bei
der Paralyse, offenbar arteriosclerotische Gefässver-
änderungen, bei welchen eine starke kleinzellige In¬
filtration zu sehen ist. Im Allgemeinen findet man
bei der Arteriosclerose in der Regel keine Infiltration,
zuweilen aber starke Wucherung der Adventitia.
Dr. Brosius, Savn: Der Mangel an Irren-
Patronaten in Deutschland.
Redner erinnert daran, dass vor nahezu 27 Jahren,
im Herbst 1875, als der Verein der Deutschen Irren¬
ärzte auch in München tagte, auf seiner Tagesord¬
nung dasselbe Thema stand, das er heute in aller
Kürze zur Spiache bringe. Der damalige Referent,
Dr. August Zinn, Eberswalde, war verhindert in
München zu erscheinen, und der Vorsitzende verlas
den von ihm schriftlich übersandten Antrag: Die Irren-
hülfsvereine, wie sie in der Schweiz und in Deutsch¬
land bestehen, sind wirksame Mittel zur Förderung
der Irrenpflegc, und der Verein empfiehlt seinen Mit¬
gliedern, die Bildung solcher Vereine überall da an¬
zustreben, wo sie noch fehlen. Diese Resolution
wurde ohne Debatte einstimmig angenommen. Nun
ist es unverständlich und befremdend, dass, während
von 1872 ab bis 1875 5 Patronate in Deutschland
gegründet wurden, mit 1875 nach der Münchener
Resolution eine 5 Jahre lang dauernde Stagnation
eintrat, und erst in 1880 die Gründung zweier Irren-
hülfsvercinc zeigte, dass der patronale Gedanke nicht
erloschen war. Auch die nachfolgende Zeit beweise,
dass das „Ucberall“ in Zimvs Anträge nur zu einem
seltenen „Hier und da“ geworden sei. Man möge
ihm daher nicht verargen, dass er heute an die Mün¬
chener Resolution erinnere, mit dem Wunsche, dass
die Frage der Patronate auf der Tagesordnung des
Vereins der Deutschen Irrenärzte bleibe.
Discussion zum Vorträge Brosius:
Herr Siemens: Der warme Apell des Collegen
Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 87
1902.]
Brosius legt wohl jedem von uns die Veipflichtung
auf sich zu fragen, ob und in wiefern wir dieser
Verpflichtung nachgekommen sind. Die Frage der
Patronisirung und Unterstützung der Geisteskranken
ausserhalb der Anstalten liegt* in den verschiedenen
Ländern verschieden. In Provinzen, welche, wie
z. B. der Reg.-Bez. Cassel und die Provinz Pommern, die
ganzen Kosten für Verpflegung der Heilbaren oder ge¬
meingefährlichen Geisteskranken übernehmen ( Pommern
bezahlt sogar die Reisekosten dieser Kranken und
ihrer Begleiter zur Anstalt), ist die Noth nicht so
dringend, zumal der Landeshauptmann bei uns
auch noch einen Fonds zur Unterstützung entlassener
Pfleglinge hat. Einen Theil der Pflichten hat bei
uns auch der Verein für innere Mission übernommen.
Herr Beckh fragt an, welche Vereine B. meint,
und was er mit den Patronaten meint. Er theilt mit,
dass in Nürnberg und in Fürth und auch sonst noch
in Franken grosse Vereine zur Bezahlung der Pflege
der Kranken in den Irren-Anstalten bestehen.
Herr Kreuser: Den Mittheilungen von Siemens
gegenüber ist der Brosius’sche Apell zu unterstützen
da es doch einen wesentlichen Unterschied bildet,
ob eine weitere Fürsoige für der Anstaltspflege nicht
mehr Bedürftige anderen Behörden überlassen wird
oder in den Händen der Irren - Acrztc verbleibt.
Durch letzteren Modus werden die Beziehungen
zu den früheren Pfleglingen sehr viel lebendiger
erhalten, und gewinnen wir den Vortheil über das
spätere Schicksal der Anstaltspfleglinge weit mehr und
zuverlässigere Nachrichten zu erhalten.
Herr Peretti unterstützt den Brosiusschen Apell,
da die Hilfsvereine nicht nur den Zweck der Geld¬
unterstützung, sondern der Hebung des gesammten
Irrenwesens haben.
Herr Siemens: Auf die Verschiedenheiten in
den einzelnen Provinzen und Ländern habe ich ja
aufmerksam gemacht und zur Erklärung dessen, dass
bei uns ein solcher Verein noch nicht besteht, die
günstigen Verhältnisse angeführt, welche die Gründung
nicht so dringlich erscheinen Hessen.
Herr Pelm an spricht sich ebenfalls zustimmend
zu dem Brosius’schen Apell aus.
H. Gudden, München: Beiträge zur topo¬
graphischen Anatomie des Hirnstammes.
Vortr. demonstrirt mit dem Projektionsapparat
Schnittpräparate durch die normale medulla oblongata
und den Hirnstamm, die durch eigenartige Schnitt¬
führung, Verbindung von horizontaler mit sagittalcr,
frontaler mit horizontaler u. s. w. Richtung verschie¬
dene Bündel in sehr übersichtlicher Weise zur Dar¬
stellung bringen. Die Methode erscheint geeignet,
nicht nur über den Verlauf bekannter Bahnen genauere
Aufklärung zu schaffen, sondern auch bisher wenig
gekannte und noch unbekannte Fasersysteme aufzu¬
decken.
Wolff (Basel). D ie ph ys io logische Grund¬
lage der Lehre von den Dege n er ationszcichen.
Da die Lehre von den Degenerationszeichen einen
Zusammenhang zwischen geistiger beziehungsweise
nervöser Anomalie und körperlichen Missbildungen
annimmt, so führt die Frage nach der physiologischen
Grundlage dieser Lehre in letzter Linie auf die ent-
wieklurigsphysiol«»gische Frage: hat das Nervensystem
einen Einfluss auf körperliche Entwicklungsvorgänge ?
Diese Frage ist in der ersten Plälfte des vorigen
Jahrhunderts intensiv diseutirt worden; später scheint
das Problem völlig liegen geblieben zu sein, bis es
gegen Paule des vorigen Jahrhunderts wieder aufge-
nommen und auf experimentellem Wege zu lösen
versucht wurde. Der Erste, welcher, wenigstens für
wirbellose Thiere, den positiven Nachweis lieferte,
dass das Nervensystem einen Einfluss auf Entwicke¬
lungsvorgänge haben könne, ist K. Herbst, welcher
zeigte, dass bei Krebsen das abgeschnittene Auge
nur regenerirt wird unter dem Einflüsse eines vom
Ganglion opticum ausgehenden nervösen Reizes. An
Wirbelthieren hat der Vortragende in den letzten
Jahren die P'rage experimentell studirt und feststellen
können, dass bei Tritonen die Regeneration einer
abgeschnittenen Extremität nur erfolgt unter dem Ein¬
fluss eines durch das Rückenmark vermittelten ner¬
vösen Reizes, dass bei Unterbrechung der nervösen
Verbindung mit dem Rückenmark eine Regeneration
nicht erfolgt bezw. ein bereits eingcleitcter Regene¬
rationsprozess unterbrochen wird, und dass bei mangel¬
hafter nervöser Verbindung das Regenerationsproduct
Missbildungen zeigt, die sich in der Reduction der
Zehenzahl kundgeben.
(Schluss folgt.)
Referate.
— The Journal of mental Science. April iqoi.
Duckworth giebt eine Ucbersieht über die Rolle, die
die Toxämie in der Hervorbringung geistiger Störungen
spielt. Die Toxine können im Körper selbst entstehen,
oder sie werden von den von aussen eingedrungenen
Mikroorganismen erzeugt, oder sie kommen durch or¬
ganische Gifte zustande, oder sie sind das PLrgebniss
des gewohnheitsmässigen Gebrauchs von Alkohol,
Morphium, Cocain, Chloral. Wirken diese Gifte auf
ein hereditär belastetes und geschwächtes Gehirn, so
entstehen verschiedene Arten des Irreseins. Diese Prä-
disposition ist aber nicht in allen Fällen nothwendig.
Verf. führt nun verschiedene Krankheiten an, in denen
die Wirkung der Blutvergiftung auf das Gehirn und
die sich daraus ergebenden psychischen Störungen
bekannt sind, wie Urämie, Diabetes, Bleivergiftung
etc. und schliesslich das grosse Gebiet der Infektions¬
krankheiten.
Lewis Jones meint, dass in manchen Fällen von
Irresein die Elektrizität ein nützliches Heilmittel sei.
Ihre gute Wirkung auf die Atmung, die Wärmepro¬
duktion und die Ausscheidung von Harnstoff ist be¬
kannt. Sie wird also besonders da angewendet werden
müssen, wo wir den Allgemeinzustand bessern wollen,
in Füllen, von Schwäche, Anämien, Appetitlosigkeit,
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HARVARD UNIVERSITY
88
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 7-
Schlaflosigkeit. Hier bessert sich dann oft zugleich
mit dem physischen der psychische Zustand des
Kranken. Verf. empfiehlt das elektrische Bad mit
Stromunterbrechung.
Richard Brayn giebt eine kurze geschichtliche
Uebersicht über die Fürsorge für verbrecherische Geistes¬
kranke in England im verflossenen Jahrhundert. Vor
1800 war das Verfahren sehr schwankend und un¬
sicher. Bald wurden sie wie gewöhnliche Geisteskranke
behandelt, bald ins Gefängniss oder Zuchthaus gesteckt,
bald einfach laufen gelassen. Die erste gesetzliche Be¬
stimmung über die Unterbringung geisteskranker Ver¬
brecher in Irrenanstalten rührt vom 28. Juli 1800
her und war die direkte Folge eines Attentats auf
Georg III. Darnach hatte der König das Verfügungs¬
recht über die Unterbringung geisteskranker Verbrecher.
Da es aber unbestimmt gelassen worden war, wer die
Kosten zu bestreiten hatte, so scheint es, als seien die
geisteskranken Verbrecher nach wie vor dem Gefäng¬
niss überwiesen worden. 1807 wurde eine Commission
ernannt, die sich mit der Frage der verbrecherischen
und armen Geisteskranken zu beschäftigen hatte. Sie
empfahl die Errichtung einer besondem Anstalt für
die, die wegen eines Verbrechens, begangen im Zu¬
stand der Geisteskrankheit, verurtheilt worden waren.
1814 wurden im Anschluss an das Bethlem Hospital
Abtheilungen für 60 verbrecherische Geisteskanke ge¬
schaffen und der ärztlichen und sonstigen Leitung des
Hospitals unterstellt. Die Kosten trug die Regierung.
Bald reichten die Plätze in Bethlem trotz der dop¬
pelten Vergrösserung nicht mehr aus, und so schloss
die Regierung 1849 einen Vertrag mit den Eigen-
thümem des Fisherton House, die überzähligen ver¬
brecherischen Geisteskranken aufzunehmen. Aehnliche
Verträge wurden mit verschiedenen Irrenanstalten, wie
denen zu Camberwell und Dumfries, abgeschlossen.
Derweilen war 1835 aus dem House of Lords eine
Kommission gewählt worden, um sich über den Stand
des Gefängniss- und Zuchthauswesens zu unterrichten.
Das Gutachten lautete: „Personen, bei denen das
Verfahren vorläufig eingestellt worden ist, oder die
zwar verurtheilt, wegen Geisteskrankheit aber nicht
bestraft werden können, sollen nicht im Gefängniss
oder Zuchthaus untergebracht w'erden.“ Nach einer
Bestimmung von 1838 ist jemand, der ein Verbrechen
im geisteskranken Zustand begeht, oder im Begriff
ist zu begehen, nach dem Urtheil zweier Richter und
auf Grund eines ärztlichen’ Gutachtens einer Irren¬
anstalt zu überweisen. Eine Bestimmung von 1840
dehnte die Bestimmung von 1800, wonach des Hoch-
verraths, des Mordes, kurz der schweren Verbrechen für
schuldig befundene Geisteskranke in einer Irrenanstalt
unterzubringen sind, auch auf die aus, die nur ein
Vergehen begangen hatten. Bei der Ueberfüllung der
Abtheilungen zu Bethlem und Fisherton kam man auf das
Gutachten der Comission von 1807 zurück und beschloss
den Bau einer besonderen Anstalt für geisteskranke Ver¬
brecher. So w-urde 1856 der Plan für die Anstalt zu
Broadinoor entworfen. Noch während des Baues (1860)
äusserte sich eine vom Unterhaus erwählte Commission
dahin: „Solche Personen mit andern Kranken zu¬
sammenzubringen, ist von Uebel. Es ist für sie selbst
und die andern Kranken schädlich. Sie aber im Ge¬
nesungsstadium als selbstverständlich frei zu lassen, ist
ein noch grösseres Uebel und kann wegen der
grossen Gefahr für die Gesellschaft nicht gebilligt wer¬
den “ 1863 wurde Broadmoor eröffnet. Die Anstalt
bestand ursprünglich aus 6 Pavillons für Männer mit
400 Plätzen und einem Pavillon für Frauen mit 100
Plätzen. Jetzt sinds 480 Plätze für Männer und 187
für Frauen. 1884 w'urden eingehendere Bestimmungen
erlassen über die Begutachtung, Unterbringung, Ueber-
führung, Behandlung und Entlassung der geisteskranken
Verbrecher. Die Behandlung dieser Individuen unter¬
scheidet sich nur insofern von der der übrigen Geistes¬
kranken, als besondere Sicherheitsmaassregeln und
eine grössere Zahl Wartpersonal nötliig sind. Es sind
auch des Nachts eine grössere Zahl Zellen erforder¬
lich als in einer gewöhnlichen Irrenanstalt. Die Zellen
sind beliebt, da viele Kranke es vorziehen, allein zu
schlafen.*) Der schwierigste Punkt ist die Frage nach
der Entlassung der geisteskranken Verbrecher, nament¬
lich der Mörder. Selbst wenn in der Anstalt die äusseren
Symptome der Geisteskrankheit geschwunden sind, ist
die Gefahr des Rückfalls in dem freien, ungebundenen
Leben ausserordentlich gross. In Broadmoor werden
die geeigneten Kranken gewöhnlich bedingungsweise
und gegen Bürgschaft eines Verwandten oder Freun¬
des entlassen. Diese übernehmen alsdann die Obhut
und verpflichten sich, regelmässig Berichte über den
physischen und psychischen Zustand ihres Schützlings
an den Staatssekretär einzusenden, damit der Kranke
rechtzeitig beim Eintreten verdächtiger Symptome
wieder eingeliefert werden kann. Auch die verhei-
rathete Frau, die während ihres puerperalen oder
sonstigen Irreseins ihre Kinder umbrachte, rechnet
Verf. zu den gefährlich bleibenden Geisteskranken.
Er macht eine zarte Andeutung, ob man sie in dem
Falle nicht „sterilisieren“ sollte.
Zum Schluss verweist Verf. auf den häufigen Zu¬
sammenhang zwischen Sinnestäuschungen und Mord.
Eine Statistik über die vom 31. 12. 1899 in Broadmoor
anwesenden Insassen ergab, dass es sich in 83,3 ü / 0
um Mord und Mordversuche handelte, wovon auf die
Männer 8 i ,2°/ 0 und auf die Frauen 9,7°/ f) entfielen.
*) Sind das auch „Tobzellen“ ?
(Fortsetzung folgt.)
Personalnachricht
(Um Mitteilung von Personalnachrichten etc- an die Redaktion
wird gebeten.)
— Dr. Bartels, Besitzer der Heilanstalt für
Nervenkranke „Kurhaus Villa Frieda“ in Ballenstedt
a. Harz ist zum Sanitätsrath ernannt.
Für den redactionel len Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Üresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heyneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wnlff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herau*«*Keb«n von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Quttatadt,
Urhuprin^ (Altmarlri Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath. Barlin.
Prof Dr. E. Mendel. Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel,
R«*rlin Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhotd Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 3572.
Nr. 8. _ 24 . Mai. _ 1902.
Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
B»-**te1!nn*en nehmen jede Buchhandlung, die Pn«t (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3»paltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Errnässigung ein.
ZuM-hriHen für die Kedaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Die Irrenfürsorge in Baden. Von Oberarzt Dr. Max Fischer -1 Henau (S. 89). — Mittheilungen (S. 92). —
Referate (S. 95).
Die Irrenfürsorge in Baden. *)
Von Oberarzt Dr. Max Fischer- Illenau.
T^ie gegenwärtige Irren Versorgung im Grossherzog-
thum Baden zeigt folgende Verhältnisse:
Das Grossherzogthum besitzt bei einem Flächen -
raum von 15081 qkm und einer Einwohnerzahl von
1 867944 (Volkszählung vom 1. Dezember 1900) zu
Zwecken der Irren Versorgung an staatlichen öffent¬
lichen Irrenanstalten: die Heil- und Pflcgcanstalten
in Illenau mit 500, Emmendingen mit 1025 und
Pforzheim mit 650, sowie die beiden Irren kl iniken in
Heidelberg und Freiburg mit je 110 Plätzen ; zusammen
Ende des Jahres 1900 als nominelle Höchstziffer
2395 Plätze für Geisteskranke in öffentlichen Anstalten.
Es kommt danach in den Heil- und Pllcgeansialten
*) Vorliegende Arbeit ist der gekürzte erste Theil der
von der badischen Sachverständigencommission ausgearbeiteten
„Denkschrift über den gegenwärtigen Stand der
Irrenfürsorge in Baden und deren künftige Ge¬
staltung“, mit einer neuen Einschaltung, weiche, weil zu
sehr ins Detail gehend, in der Denkschrift nicht zum Abdruck
gekommen ist
des Landes ein Platz auf 780 Einwohner, resp. auf
1000 Einwohner 1,28 Plätze.
Der thatsächliche Krankenbestand betrug Ende
1900 in diesen fünf Anstalten zusammen 2407 Pfleg¬
linge.
Diese Zahl geht also über die obige nominelle
höchste Belegziffer von 231)5 um 12 hinaus.*)
Mit der angegebenen Belegziffer von 2395 sind
aber sämrntliche Anstalten bereits als bedeutend
überfüllt zu betrachten, wenn man die Räume nach
den heutigen Grundsätzen der Hygiene und des
technisch-ärztlichen Betriebs ausmisst. Wir werden
auf diesen Punkt später noch zuiückkommen.
Als den staatlichen Anstalten zugehörig ist ferner
die A b t h e i 1 u n g für geisteskranke Ver¬
brecher des H a up tk ran kenha uses des
L a n d e sg e f ä ngnisses in B r 11 c h s a 1 mit 2 8
*) Seit dieser Aufstellung haben sich die Belegungsverhäll-
nisse noch ei lieblich verschlechtert.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
90
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT*.
[Nr. 8.
Plätzen zu rechnen; der Krankenbestand beträgt dort
durchschnittlich 20 Kranke.
Da jedoch nur akut geistig erkrankte Sträflinge,
während ihrer Strafzeit, Aufnahme finden und der
Krankenbestand sich nur aus der Zahl der Sträflinge
ergänzt, also der Wechsel allein intern sich vollzieht,
so kommt diese Plätzezahl für unsere Aufstellung der
für die Landesirrenfürsorge verfügbaren Plätze nicht
in Betracht.
Zu den staatlichen Institutionen der öffentlichen
Landesirrenanstalten kommen hinzu die soge¬
nannten Pr i vatirr en anstalt en. Als solche sind
zu zählen :
I. Die Ko r porati on s an s tal t en, die der
privaten Wohlthätigkeit ihre Entstehung ver¬
danken und zum Theil Staatszuschüsse zum Bau und
Betrieb erhalten.
Diese Wohlthätigkeitsanstaltcn sind:
a) das St. Josefs haus in' Herthen, Amt
Lörrach, in welchem Schwach- und Blödsinnige, Idio¬
ten und Kretinen Aufnahme finden; am 31. Dezember
1900 befanden sich daselbst im Ganzen 394 Kranke
(davon 9 unter 6 Jahren, 121 von 6—14 Jahren, 101
von 14—21 Jahren und 163 über 21 Jahren).
Die nominelle Belegziflfer beträgt 450 Betten.
b) . Die Anstalt für schwachsinnige Kinder in
Mosbach, welche für schwachsinnige Kinder und
jugendliche Personen im Alter von 6 —18 Jahren be¬
stimmt ist; am 31. Dezember 1900 befanden sich
darin 138 Pfleglinge (und zwar 5 unter ö Jahren,
57 von 6—14 Jahren, 59 von 14—21 Jahren und
17 über 21 Jahren).
Die nominelle Belcgziffer beträgt 140 Betten.
c) Die Heil- und Pflegeanstalt für epi-
lepti sehe Kinder in Kork, welche Epileptiker,
und zwar in erster Linie jugendliche, aufnimmt, die
älteren nöthigenfalls beibehält und in zweiter Linie
auch Erwachsenen Aufnahme gewährt. Der Kranken¬
bestand betrug am 31. Dezember 1900 73 Pfleglinge;
davon ist 1 unter 6 Jahren, 22 im Alter von 6—14
Jahren, 40 im Alter von 14—21 Jahren und 10 über
2 1 Jahre alt.
Die nominelle Belegziffer beträgt 75 Betten.
In diesen drei Anstalten zusammen wurden am
31. Dezember 1900 605 Kranke und zwar in der
überwiegenden Mehrzahl jugendliche Geisteskranke
(Schwachsinnige, Idioten, Kretinen und Epileptiker) und
zwar 215 unter 14 Jahren und 200 vom 14.—21.
Lebensjahre, aber daneben auch 190 erwachsene
Geisteskranke über 21 Jahren derselben Art verpflegt.
Die Belegziffer dieser unter 1 genannten Anstalten
zusammeiigercclmet ist öh 5 Plätze.
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2. Die Pri vatirr enanst alt für v ermög¬
liche Kranke von Dr. Richard Fischer in
Neckargemünd mit 42 Plätzen. Der Krankenbestand
Ende 1900 war 33.
Die zur Verfügung stehenden Plätze in allen Privat¬
irrenanstalten (1 und 2 zusammen) betragen 707.
Wenn wir den in den staatlichen Irrenanstalten
verfügbaren Plätzen (2395) noch diese in den Privat¬
irrenanstalten vorhandenen (707) hinzurechnen, so er-
giebt das eine Gesammtzahl von 3102 Plätzen für
Zwecke der Irren Versorgung, d. h. 1 Platz auf 602
Einw'ohner oder auf 1000 Einwohner 1,66 Anstalts¬
plätze.
Von diesen insgesammt 3102 Plätzen treffen so¬
mit 2395 oder 77,2 °/ 0 auf die staatliche Irren Ver¬
sorgung und 707 oder 22,8 % auf die Privatirren¬
anstalten.
Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass, abge¬
sehen von der Privatanstalt für Vermögliche in Neckar¬
gemünd, die Mehrzahl der in den Privatirrenanstalten
verpflegten Kranken, also insbesondere derjenigen der
genannten drei Wohlthätigkeitsanstalten jugendliche
Pfleglinge und nach Krankheitskategorien Schwach¬
sinnige, Idioten, Kretinen und Epileptiker
sind, so dass also den Privatanstalten vorwiegend
dieFürsorge fü r die Jugendlichen, den öffent¬
lichen Irrenanstalten aber die Fürsorge für
Erwachsene zufällt.
Wir haben des Weiteren noch zu erwähnen die
Kreispflegeanstalten — unter der Selbstver¬
waltung der Kreise stehende Krankenanstalten —
einestheils für körperlich Sieche (auch Taubstumme),
andemtheils für Kretinen, Epileptiker, Idioten, Imbezille
und andere chronische Geisteskranke. In diesen neun
Kreispflegeanstalten des Landes wurden nämlich am
31. Dezember 1900 ausser 1154 körperlich Siechen
und Taubstummen 1146 chronische Geisteskranke (mit
angeborener Geistesschwäche, auch Kretinen, oder er¬
worbener Geistesstörung) und 97 Epileptiker, zusam¬
men 1243, verpflegt. Es sind danach 52 °/ 0 der In¬
sassen der Kreispflegeanstalten, also über die Hälfte,
Geisteskranke, Kretinen und Epileptiker, wobei die Ge¬
lähmten (an Gehirn- oder Rückenmarkslähmung Lei¬
denden) und die Alkoholiker, unter welchen Kate¬
gorien wohl auch eine Anzahl den Geisteskranken
zuzurechnen sein dürfte, nicht mitgezählt sind.
Diese Anstalten dienen hauptsächlich für der
Armen Versorgung anheimgefallene Kreisangehörige,
ausnahmsweise auch für zahlungsfähige Kranke.
Nach den Statuten sind nun in diesen Anstalten
von Geisteskrankheiten und verwandten Zuständen
nur aufnahmeberechtigt:
Original from
HARVARD UNIVERSUM
t 902.] _ PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
i. UnheJiibare Geisteskranke, sofern sie ruhig sind,
keiner besonderen Wartung bedürfen und der Local¬
versorg\mg überwiesen wurden.
Idioten, Kretinen, Blödsinnige höheren Grades,
w eiche auf so niederer geistiger Stufe stehen, dass
sie sich nicht selbst überlassen werden können.
3. Personen, welche bis zur Arbeitsunfähigkeit mit
Epilepsie oder anderen schweren Nervenleiden (wie
Veitstanz, Hysterie und Katalepsie) behaftet sind.
Nach den Aufnahmebestimmungen, wonach die
Kreispflegeanstalten ausdrücklich nur solche Kranke,
welche sich ebensogut auch für die Loca Versorgung
♦eignen, aufnehmen, der irrenärztlichen Behandlung
-aber noch irgendwie bedürftige Irre nicht beherbergen
-sollen, gehören diese Krankenanstalten aber nicht in
die Reihe der eigentlichen Irrenanstalten und dienen
nicht den Zwecken der Irren Versorgung und Irrenbe¬
handlung in dem Sinne, wie die vorhergenannten
öffentlichen und privaten Institutionen. Die in den
Kreispflegeanstalten von Kranken dieser Art einge¬
nommenen Plätze können bei dieser Sachlage auch
bei einer Aufstellung der für die geordnete Irrenver¬
sorgung verfügbaren Plätze nicht mitgezählt werden. *)
Den öffentlichen Irrenanstalten fällt nun in der
Landesirrenversorgung folgende Aufgabe zu:
Zunächst gliedern sich diese:
1. in vorwiegend Aufnahme- oder Heilan¬
stalten (Illenau und die beiden Irrenkliniken), und
2. vorwiegend Pflegeanstalten (Emmendingen
und Pforzheim).
Die ersteren allein nehmen prinzipiell Kranke aus
dem offenen Lande auf, während die letzteren zur
Entlastung der Aufnahmeanstalten dienen, d. h. nur
aus diesen Kranke aufnehmen sollen, mit Ausnahme
der Wiederaufnahmen und eventuell der Epileptiker.
Das ganze Land ist nun in Aufnahmebezirke
für diese drei Aufnahmeanstalten (Illenau, die Irren¬
kliniken in Freiburg und in Heidelberg) eingetheilt,
so dass jeder dieser Anstalten alle der Anstaltsbe¬
handlung bedürftigen Kranken zunächst aus diesem
Bezirke Zufällen; ausnahmslos gilt dies für die auf
öffentliche Kosten (Gemeinde-, Kreis- oder Staats¬
kosten) Verpflegten. Vermögliehe können sich die
Heilanstalt wählen.
Der Aufnahmebezirk der Anstalt 111 e n a u umfasst
die Mitte des Landes und die südöstliche abliegende
Bodenseegegend, d. h. die Kreise Baden, Offenburg,
Villingen und Konstanz, letzteren mit Ausschluss des
*) Zur Frage der Kreispflegeaiistalten nimmt der Verf.
im übrigen, wie er bereits an andern Orten betonte, von jeher
die gleiche Stellung ein wie früher Roller und neuerdings Krä-
pelin, Ludwig und mit ihnen wohl die meisten Psychiater.
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Amtsgerichtsbezirkes Radolfzell, ferner vom Kreise
Karlsruhe die Amtsbezirke Karlsruhe, Durlach und
Ettlingen, zusammen mit einer Einwohnerzahl von
7 1 5 3 7 ° (Volkszählung vom 1. Dezember 1900).
Illenau hat bei etwa 500 Plätzen eine jährliche
Aufnahmeziffer von 385 (Durchschnitt der letzten 5
Jahre); im Jahre 1900 hatte es 434 Aufnahmen.
Die Irrenklinik in Heidelberg hat zum Auf¬
nahmebezirk den vom Illenauer Bezirke nördlich ge¬
legenen Landestheil, nämlich die Kreise Mosbach,
Heidelberg und Mannheim, und vom Kreise Karls¬
ruhe die Amtsbezirke Pforzheim, Bretten und Bruch¬
sal, zusammen mit einer Einwohnerzahl von 712488.
Sie vollzieht bei einer Plätzezahl von 110 Betten
pro Jahr 314 Aufnahmen (Durchschnitt der letzten
5 Jahre); im Jahre 1900 hatte sie 383 Aufnahmen.
Die Irrenklinik in Freiburg hat zum Aufnahme¬
bezirk den übrig bleibenden südlichen Theil des
Landes, d. h. die Kreise Freiburg, Lörrach und Walds¬
hut, und vom Kreise Konstanz den Amtsgerichtsbe¬
zirk Radolfzell mit zusammen 440086 Einwohnern.
Sie vollzieht bei einer Plätzezahl von 110 im Jahre
ca. 180 Aufnahmen (Durchschnitt der letzten 5 Jahre);
im Jahre 1900 hatte sie 220 Aufnahmen.
Kranke, welche die Kliniken aus Platzmangel etwa
nicht aufnehmen, fallen der Anstalt Illenau zu. Epi¬
leptiker können von den Kliniken und von Illenau
direct nach Emmendingen überwiesen werden.
Man ersieht daraus, dass die Irrenkliniken ausser
ihrer vornehmsten Aufgabe, der Lehraufgabe, noch
einen erheblichen Theil der Landesirrenfürsorge über¬
nehmen, da sie, trotz ihrer der Belegungsfähigkeit der
Anstalt Illenau (500) gegenüber verhältnissmüssig ge¬
ringeren Bettenzahl (je 110), für eine Einwohnerzahl
von 1 152594, d. h. 61,7 °/ 0 des Landes, als Auf¬
nahmeanstalten dienen, und mit 494 Aufnahmen pro
Jahr 56,2 °/ 0 aller Aufnahmen in Heilanstalten voll¬
ziehen.
Die Anstalten Emmen dingen und Pforzheim
sollen, entsprechend ihrem vorwiegenden Character
als Pflegeanstalten, frische Fälle aus dem offenen
Lande nicht aufnehmen, haben also auch keinen Auf¬
nahmebezirk, sondern nehmen den Heilanstalten Illenau,
Heidelberg und Freiburg die chronisch gewordenen
Fälle ab, und zwar Emmendingen, das als koloniale
Anstalt im Pavillonstyl mit Ackerbaubetrieb erbaut ist,
die noch geistig und körperlich rüstigeren und zugleich
arbeitsfähigeren Kranken, und Pforzheim die Blöd¬
sinnigen hohen Grades, die Idioten und Kretinen.
Beide Anstalten nehmen ihre Pfleglinge nur nach
diesen Krankenkategorien und aus dem ganzen Lande
Original from
HARVARD UNIVERSITY
9 2
auf, nicht unterschieden nach dem Heimaths- oder
Wohnort.
Von der beabsichtigten Vereinheitlichung der Auf-
nahmequalification gleichmässig für alle Pflegeanstalten
ist in der Denkschrift später die Rede.
Emmendingen vollzieht auf diese Weise bei
einer Plätzezahl von 1025 im Jahr 168 Aufnahmen
(Durchschnitt der letzten 5 Jahre); im Jahre 1900
waren es 170 Aufnahmen.
Pforzheim, bei einer Plätzezahl von jetzt (>50, im
Jahr 86,6 Aufnahmen (Durchschnittder letzten 5 Jahre);
im Jahre 1900 waren es 75 Aufnahmen.
Der ganze Gang der Irrenversorgung setzt aber
nun, wenn er in Wirklichkeit umgesetzt und regel¬
mässig eingehalten werden soll, voraus, dass
1. die Pflegeanstalten immer in der Lage sind,
die angemeldeten Kranken aus den Heilanstalten in
nicht zu langer Frist aufzunehmen, und dass
[Nr. 8.
2. die Aufnahme- oder Heilanstalten
immer über genügend freie Plätze verfügen, um jeweils
dem Andrange der Aufnahmen von aussen stattgeben,
d. h. die anstaltsbedürftigen Kranken aus dem offenen
Lande unverweilt und ohne Zeitverlust, der ihre Aus¬
sichten auf Heilung nur beeinträchtigen und schwere
Unzuträglichkeiten in der Aussenwelt schaffen würde,
aufnehmen und einer sachgemässen Behandlung zu¬
führen zu können, so dass dadurch — in Verbindung
mit einem beschleunigten Aufnahmeverfahren, wie wir
es in Baden besitzen, — die ungenügende, auch nur
vorübergehende Unterbringung der Geisteskranken in
Spitälern und städtischen Krankenhäusern und ebenso
andere Inconvenienzen in der Verwahrung und Be¬
handlung der Geisteskranken v o r ihrer Anstaltsver¬
bringung vermieden werden.
(Fortsetzung folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— 37. Versammlung des Vereins der Irren-
Aerzte Niedersachsens und Westfalens.
Die Versammlung fand statt am 3. Mai ds. Jahres
in Hannover, im Conferenz-Saale des dem Aerztever-
cin gehörigen Hauses. Dieselbe w*ar sehr zahlreich
besucht. Nachmittags 3 Uhr eröffnete der Vorsitzende
Herr San.-R. Dr. Gerstenberg -Hildesheim die
Versammlung. Nach Erledigung einiger geschäft¬
licher Angelegenheiten trat die Versammlung in die
wissenschaftlichen Verhandlungen ein, dieselben füllten
den ganzen Nachmittag bis 7 Uhr aus, worauf sich
die Theilnehmer bei einem gemeinschaftlic hen Diner
im Hotel Kasten vereinigten.
Vor Eintritt in die Tagesordnung theilte Herr
Cramer-Göttingen mit, dass sich in Göttingen
eine forensisch-psychologische Vereinigung con-
stituirt habe. Interessenten wird der Beitritt zu der¬
selben nahe gelegt.
Die wissenschaftliche Tagesordnung bot folgende
Punkte:
1. Herr Bruns-Hannover: Neuro patho¬
logische Demonstrationen.
Vortr. besprach an der Hand zweier Fälle, von
deren einem das makroskopische Präparat demonstrirt
wurde, die Diagnosenstellung des Kleinhirnabscesses.
Die Symptome decken sich vielfach mit denen bei
Erkrankungen des inneren Ohres, namentlich des hin¬
teren Theils. Doch lässt sich heute die Diagnose
sicherer stellen als dies Oppenheim angiebt. Diffe¬
rentiell wichtig sind die Erscheinungen, welche auf
die Medulla obl. himveisen, sowie ein Ausschluss
einer Aflfection des Schläfcnlappens.
Weiterhin demonstrirte Vortr. das Präparat eines
subduralen Tumors, der die 2. und 3. Stirn- und die
1. Central-Windung comprimirt hatte. Der Tumor,
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wahrscheinlich sarcomatöser Natur, war fast hühner¬
eigross.
Pat. hatte 1803 ein Trauma erlitten, ein Jahr
später traten allgemeine epileptische Anfälle ein, deren
Frequenz zunahm. Später (1895) zeigten die An¬
fälle partiellen Charakter. Objectiv war nichts nach¬
weisbar, nur bestand eine geringe Glycosurie. Seit
1899 nahmen die nunmehr beständig partiellen An¬
fälle sehr zu. Dem Rath, sich operiren zu lassen, war
P. nic ht gefolgt, Tod 1900. Der Fall ist merkwürdig
einmal durch die lange Dauer, ferner dadurch, dass
der Tumor an der Stimwindung allgemeine epilep¬
tische Anfälle zuerst hervorrief, und dadurch, dass
erst Dysarthrie, Paraphasie erst ganz zuletzt bestand.
Der Mann konnte bis in die allerletzte Zeit schrei¬
ben. Zuletzt bestand auch atactischer Gang. Die
Allgemeinerscheinungen waren auffallend gering.
Es folgte die Besprechung eines Falls von Klein¬
hirntumor, der im Leben durch merkwürdige Gefäss-
geräusche und ausgesprochenes Hervortreten von
Halbseitenerscheinungen ein Aneurysma einer art. basi-
laris vorgetäuscht hatte, und weiterhin eines Falls von
Tumor der rechten Frontal windung mit typischem
Svmptomcomplex. Der Fall ist mit Erfolg operirt
worden.
Den Schluss bildete die Demonstration eines Prä¬
parats eines freien Cysticercus im 4. Ventrikel, der
intra vitam diagnostizirt worden war. Die Symptome
waren: heftige Schmerzen 2 —3 Wochen lang, Schwin¬
del bei Bewegungen des Kopfes, P. konnte sich nur
langsam umdrehen, cs bestand Doppelsehen. Kein
Zucker im Urin. Wenn der P. den Kopf rasch
drehte, so fiel er um und erbrach. Tod sehr plötz¬
lich, vielleicht grade in Folge der freien Beweglich¬
keit des Cysticercus.
Original from
HARVARD UNIVER5ITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Discussion: Herr Löwenthal-Braunschweig
erwähnt zum letzten Fall einen von ihm beobachte¬
ten ganz analogen Fall. Besonders eharacteristisch
waren 2 Symptome: I. Bild einer Erkrankung der hin¬
teren Schädelgrube, aber passagerer Natur, wie sonst
nur bei Hirnlues. 2. Die Erscheinungen bei Lage¬
veränderung in ihrer Combination mit den ersteren
Symptomen.
Herr Alt-Uchtspringe hat gleichfalls eine
einschlägige Beobachtung zu verzeichnen, welche durch
intennittirendes Auftreten von Zucker im Harn auf
die Diagnosenstellung hinlenkte.
Herr Bruns (Schlusswort). Da Schwindel auch
bei Kleinhimtumoren, deshalb hier kein ganz sicheres
Moment für die Diagnose. Auch muss man an hy-
drocephalische Erscheinungen — hier fehlt freilich
die starke Remission — denken, sowie an schwere
Meniere'sche Symptome intermittirenden Charakters.
2. Herr Alt-Uchtspringe: Ueberden Ein¬
fluss der Kost auf die Anfälle der Epilep-
ti sehen.
Toulouse und Richet, welche bei einfacher, salz¬
armer Kost eine Abnahme der Anfälle erreichten, er¬
klärten dies damit, dass der im Körper entstehende
Salzhunger eine begierige Aufnahme und Ausnutzung
des nun in geringeren Mengen darzubietenden Broms
verursache. Alt hat bei 24 Kindern in 3 Gruppen
systematische Versuche angestellt, bei welchen unter
Beobachtung eines genügend langen Zeitraums die
Summe der Anfälle für vegetabilische Kost, für Milch¬
kost und für gemischte Kost (mit Fleischdarreichung)
notiert und mit dem Ergebniss bei gewöhnlicher,
nicht abdosirter Kost verglichen wurde. Es zeigte
sich dabei, dass die Anfälle bei gewöhnlicher Kost
am zahlreichsten waren, sie verminderten sich schon
während der genauen Kostdosirung, noch mehr in
der vegetabilischen Periode, und am meisten und
zwar sehr erheblich während der Milchperiode. Kin¬
der, die sich bei vegetabilischer oder Milchkost nicht
gut befanden, zeigten, wenn statt gewöhnlicher Milch
sterilisirte gereicht wurde, gleichfalls ein den übrigen
entsprechendes Resultat. Die Zufuhr von N. bei der
Fleischkost kann nicht das wesentliche sein, da nach
genauester Berechnung die Kinder bei Milchkost mehr
N. erhielten. Auch hat Alt durch Darreichung von
nucleinfreiem Eiweiss gezeigt, dass die Harnsäure
keine Rolle dabei spielt: es fehlte hier eine Zunahme
der Anfälle. Vortr. weist darauf hin, dass schon in
früherer Zeit die Bedeutung einfacher Kost für die
Epileptischen bekannt war. Eine genaue detaillirte
Erklärung dieser Thatsache ist z. Z. noch nicht mög¬
lich, jedenfalls aber spielt nicht die Salzentziehung,
sondern die Kostvereinfachung auch in den Versuchen
der Franzosen die entscheidende Rolle.
Discussion: Herr Hesse-Ilten: fragt, ob man
dabei Brom fortgeben könne, und ob die beschrie¬
benen Verhältnisse auch für Erwachsene Geltung
hätten.
Herr Alt: Die Kinder blieben bei ihrer Medi¬
kation. Ein Kind (seit 2 Jahren) ist geheilt. Exakte
Versuche habe Vortr. bisher nur von Kindern, gleich
gute Resultate aber auch bei Erwachsenen.
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Herr Löwcnthal-Braunschweig: hält die
Angaben der Franzosen zunächst noch nicht für wider¬
legt: er habe bei Salzentziehung gute Erfolge ge¬
sehen unter Berücksichtigung individualisirender Be¬
handlung.
Herr A 1 1 (Schlusswort) betont, dass den Kindern
in seinen Versuchen abgewogene Mengen Salz fort-
gegeben und doch die mitgetheilten Resultate, welche
demnach nur auf die Vereinfachung der Kost be¬
zogen werden können, erzielt sind.
3. Herr Sn eil - Hildesheim: Irren hilfs¬
vereine. (Erscheint auch als Originalartikel in dieser
Zeitschrift).
Anknüpfend an die Thatsache des Vorurtheils,
welches gegen aus Anstalten Entlassene ungerechter
Weise besteht, betont Vortr. die Nothwendigkeit sol¬
chen Menschen Unterkunft, Unterstützung und Weiter¬
hülfe zu gewähren. Vor allem ist die rasche Flüssig¬
machung von Geldmitteln nothwendig. Die Geschichte
der Irrenhilfsvereine, welche Vortr. bespricht, zeigt die
Nothwendigkeit dieser Institute. Die bestehenden
Vereine in Deutschland, obwohl verschieden organisirt,
haben alle den gemeinsamen Zweck, den Irren das
Wiedereinleben in das praktische Dasein zu erleich¬
tern oder überhaupt zu ermöglichen. Die Vereine
haben z. Th. namhafte Summen aufgebracht. Eine
weitere wichtige Aufgabe der Vereine besteht in der
Aufklärung des Publikums über die Irrenpflege über¬
haupt. Es wird die Wichtigkeit der Einsetzung von
Vertrauensmännern betont, welche einen gewissen
Einblick in die Irrenpflege besitzen müssen. Die
Müheverwaltung der Aerzte vermehrt sich dadurch,
aber es wird ihre Institution sich in vielfacher Weise
lohnen:
1. Wird die Ueberführung der Kranken in die
Anstalt zur rechten Zeit erfolgen können.
2. Es wird die Gewinnung brauchbaren Warte¬
personals eine Unterstützung erfahren.
Vortr. betont zum Schlüsse, dass die Leitung der
Vereine in der Hand der Anstaltsärzte liegen müsse.
Discussion. Herr Cramer-Göttingen betont
die Nothwendigkeit der Gründung neuer Vereine und
beleuchtet die Schwierigkeiten, welche besonders die
Leitung derselben bieten werde, deren Trennung
von den Anstalts-Direktionen er für nothwendig hält.
Herr Alt-Uchtspringe berichtet, dass in Sach¬
sen die Gründung eines Vereins seit längerem geplant
sei. Er bezeichnet die Fürsorge als eine Art erwei¬
terter Familienpflege, welche, wenn die Behörden die
nöthigen Geldmittel bereitstellen, es gestatte, eine
Reihe von Kranken zu entlassen, welche jetzt als
Ballast der Anstalten mit fortgeschleppt werden
müssen.
Herr Gerstenberg-Hildesheim erinnert
daran, dass früher ein Etat-Posten für entlassene
Kranke vorhanden war. Die Behörden würden kaum
sich bereit finden für entlassene Kranke die Für¬
sorge zu übernehmen, es werde daher die Inanspruch¬
nahme der öffentlichen Wohlthätigkeit geboten sein.
Herr Sn eil (Schlusswort) schlägt die Inanspruch¬
nahme beider Theile vor.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY ,
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 8.
4. Herr Cramer-Göttingen: Ueber krank-
kafte Eigenbeziehung und Beachtungs-
w a h n.
Vortr. geht aus von der Beobachtung, dass eine
Ueberschätzung der Bedeutung, welche die Vorgänge
der Aussenwelt in Bezug auf die eigene Person haben,
zu einer Trübung des Urtheils und einer Störung des
Bewusstseins der Persönlichkeit führt Die krank¬
hafte Eigenbeziehung manifestirt sich in doppelter
Art. In der ersten Gruppe von Krankheitsfällen be¬
sitzen die Kranken keine Einsicht in ihren Zustand
(paranoischer Typus). In einer zweiten Gruppe sind
die Kranken sich des Krankhaften ihres Zustandes
bewusst (Typus vom Charakter der Zwangsvorstell¬
ungen). Es spielen derartige Zustände bei den ver¬
schiedensten Psychosen, so der Melancholie, dann
der Paranoia (als Einleitung zur chronischen Form
z. B.) eine Rolle, dann aber bei allen mit einer Stö¬
rung des Bewusstseins einhergehenden Erkrankungen,
also bei Epilepsie, Hysterie, im traumatischen Irre¬
sein, bei der Paralyse. Dazu kommen Zusände ner¬
vöser Natur: Neurasthenie, degenerative Psychosen,
Nervosität, Schwindelerscheinungen und Schwerhörig¬
keit.
Für die Genese der krankhaften Eigenbeziehung
zieht Vortr. die bei Gesunden zu beobachtende
falsche Eigenbeziehung in veranschaulichender Weise
heran und erläutert sie durch zahlreiche Beispiele.
Den krankhaften Boden, auf dem die Erscheinung
entsteht, können falsche Berichte über die Organge¬
fühle, viscerale Veränderungen, Störungen des Be¬
wusstseins, die Angst oder schweres Krankheitsgefühl
abgeben. Es wird ein Gefühl von eigener Insufficienz
die Folge sein, das in Folge der Projection der ver¬
änderten Empfindungen nach aussen, zu einer schar¬
fen Beobachtung der Umgebung führt.
Vortr. erläutert die Prognose der krankhaften Ei¬
genbeziehung, welche natürlich in unmittelbarer Be¬
ziehung zu der Psychose steht, bei der sie auftritt,
sodass also die Genese einen Anhaltspunkt abgiebt für
die Prognose.
Discussion. Herr Alt erwähnt im Anschluss an
den vertigo ab aure laeso, die Platzangst etc., dass
man in allen solchen Fällen, in denen es sich nicht
um schwer degenerirte Personen handelt, also allen
Grund zu genauer körperlicher Untersuchung habe.
Man hat dann ev. neben der psychischen Beein¬
flussung noch den Vorth eil der körperlichen The¬
rapie.
Herr Bruns erwähnt die Zustände der Alkoho¬
liker mit Eigenbeziehung und Zwangsvorstellungen.
Herr Berkhan-Braunschweig: Das sich
Immer-wieder-Aufdrängen der BeziehungsVorstellung
führt schliesslich zur Zwangsvorstellung.
Herr Cramer (Schlusswort) betont, dass eine
analoge Erscheinung für die berührten Zustände der
Höhenschwindel bei Leuten, welche erst im späteren
Lebensalter zum ersten Mal auf hohe Berge kommen,
abgebe. Hier ist die Unfähigkeit Höhendifferenzen
abzuschätzen, w r elche aber nur als Angst zum Bewusst¬
sein kommt, Ursache davon, dass sofort eine Be¬
ziehungsvorstellung zu dem Ort, an dem der Höhen¬
schwindel empfunden ward, eintritt Am gleichen
Orte stellt sich daher später auch stets die Angst
wieder ein.
5. Herr Web er-Götti ngen: Ueber einige
Neubauten der Göttinger Irrenanstalt.
(Der Vortrag soll im Original in dieser Wochenschrift
erscheinen).
Zur Unterbringung siecher, Dekubitus-vei dächtiger
Kranker wurde ein leichter Barackenbau als Lazarcth-
abtheilung eingerichtet und dort alle derartigen Kran¬
ken, namentlich Paralytiker, Epileptiker pp. unterge¬
bracht. Die Station wird zur Hälfte als 2. Wach¬
station mit Nachtwache betrieben und dadurch das
Vorkommen von Dekubitus, Verunreinigung pp. besser
als durch künstliche Mittel vermieden.
Auf der bisher nur aus Einzelzimmern bestehen¬
den Zellstation wurde durch Entfernung von 4 sog.
Tobzellen Raum für einen Schlafsaal von 10 Betten
gewonnen, in dem eine Anzahl bisher isolirter Kran¬
ker untergebracht werden konnte.
Vortr. betont, dass allenthalben das Bestreben
nach Verminderung der Isolirung besteht, hält jedoch,
wenigstens für die grösseren Anstalten mit chroni¬
schem Krankenmaterial, die völlige Abschaffung der
Zellen für nicht zweckmässig. Nicht die grosse Zahl
der wenn auch erregten Neuaufnahmen, wie vielfach
behauptet w'ird, sondern gewisse chronische Kranke
mit Neigung zu Erregungszuständen und Gewaltthätig-
keiten machen die Beibehaltung einiger Zellen für
Anstalten mit derartigen Kranken nothwendig.
(Autoreferat).
6. Herr Vogt-Göttingen: Ueber die Be¬
ziehungen zwischen Aphasie und Demenz.
Vortr. bespricht den Einfluss, welchen Ausfalls¬
erscheinungen im Gebiete der Sprache ausüben auf
den normalen Ablauf des Denkprocesses. Es kom¬
men hierbei natürlich nur Störungen im Sprachge¬
biet in Betracht, sofern dieselben nicht subcortical,
sondern durch Läsionen höherer Gegenden bedingt
sind. Einer allgemeinen Erörterung der Frage stellt
sich die gerade hier so erhebliche Breite der indivi¬
duellen Verschiedenheit hindernd in den Weg. Es liegt
dies bekanntlich daran, das§ das Verhältniss zwischen
rein begrifflichem und sprachlichem Denken sich im
einzelnen Falle ganz verschieden gestaltet Es kommt
hierbei ganz besonders in Betracht, dass demjenigen,
der sprachlich denkt, sich die Gedanken schon in
einer bestimmten Formulirung zu präsentiren pflegen
und dass diese Formulirung der Worte zu geordneten
Sätzen, der Lautcomplexe zu Worten im Sprachfelde
vor sich geht. Es ist daran zu denken, dass der
Wortbegriff selbst schon eine Associationsgruppe dar¬
stellt, sowie dass der psychische Werth des ganzen
Sprachfeldes nur in seinen associativen Verbindungen
liegt. Dies zeigen gerade die sog. unreinen Fälle
von Aphasie am deutlichsten. Es lässt sich dies zu¬
weilen sogar für den Unterschied feststellen, den der
sprachliche Associationscomplex für concrete und ab¬
strakte Begriffe hat, analog wie Sachs dies für das
normale Denken auseinander gesetzt hat. Eine wei¬
tere Beziehung ergiebt sich bei Herderkrankungen,
welche in dem Gebiete der Sprache einen Ausfall er-.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 95
zeugen, durch die Femwirkungen. Diese können
natürlich nach irgendwo gelegenen Herden auftreten
und äussem sich in einem Ausfall von Functionen
benachbarter oder entfernt gelegener Rindenpartien
•oder aber in einer allgemeinen Functionsherabsetzung
der Hirnrinde überhaupt, welche letztere bei dem
gleichzeitigen Functionsausfall der sprachlichen, für das
Denken und die Begriffsbildung nöthigen Componen-
ten besonders leicht zu einer dauernden Schädigung
führen und besonders deutlich in Erscheinung treten
wird. (Schluss folgt.)
— Jahresversammlung des Vereins der deut¬
schen Irrenärzte in München. Nachzutragen ist
dem Bericht noch, dass Prof. Westphal unter Vor¬
führung zahlreicher Projectionsbilder über Syringomyelie,
Prof. Hitzig über Störungen des Gesichtsfeldes bei
Hunden sprach, denen das Hinterhirn entfernt worden
ist. —
— Zur „reichsgesetzlichen Regelung des
Irrenwesens“ wird der „Kölnischen Ztg.“ von
sachverständiger Seite geschrieben: „Die bevorstehende
oder wenigstens vom Reichstag lebhaft gewünschte
reichsgesetzliche Ordnung des Irrenwesens scheint,
nach dem, was bisher darüber geschrieben und ge¬
sprochen worden ist, auf die Festlegung der Auf¬
nahme- und Entlassungsvorschriften für Geisteskranke,
Epileptische und Idioten in und aus Anstalten und auf
die Aufenthaltsverhältnisse solcher Personen in Anstal¬
ten sich beschränken zu wollen. Es wäre eine arge Ver-
säumniss, wenn nicht gleichzeitig andere Unsicherheiten
(z. B. die Krank encorrespondenz), insbesondere aber
ein Missstand beseitigt würde, der in aller Stille immer
weiter Platz greift Das ist die Gepflogenheit von
Provinzen und Communen, Pfleglinge der genannten
Art, die der öffentlichen Fürsorge anheimgefallen
sind, nicht in eigenen, sondern in privaten An¬
stalten unterzubringen. Das Gesetz vom 11. Juli 1891,
welches die Unterbringung der Pfleglinge „in geeigneten
Anstalten“, nicht in eigenen, den Armenverbänden
zur Pflicht macht, hat damit eine Lücke gelassen,
durch die sich Missbräuche in die Handhabung des
Gesetzes einschleichen konnten. Wenn man schon
nicht so weit gehen will, wie im Anfang vorigen
Jahrhunderts Professor Dr. Reil in Halle a. S., ein
Bahnbrecher auf diesem Gebiete, der für Unter¬
bringung der Geisteskranken u. s. w., auch der wohl-
situirten, überhaupt ausschliesslich Staatsinstitute als
zulässig betrachtete — diese Forderung ist neuerdings,
auf dem Programm der Socialdemokratie wieder zutage
getreten —, so muss man dieser Ansicht, soweit sie
sich auf die der öffentlichen Armenpflege anheimge¬
gebenen Personen eistreckt, voll und ganz beipflichten.
Der Gründe sind es zu viele, als dass darüber ge¬
stritten werden könnte. Die Verbände vergeben die
Lieferungen für ihre eigenen Anstalten auf dem Sub¬
missionswege, so dass sich jeder interessirte Steuer¬
zahler um die Lieferungen bewerben kann; nicht so
bei den von den Verbänden benützten und subven-
tionirten Privatanstalten, welche die Lieferungen nach
eigenem Belieben und nach Willkür ohne Ausschreibung
übertragen. Da von manchen Verbänden bis tausend
Pfleglinge in Privatanstalten untergebracht sind, so
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ist das keine geringfügige Sache (bei tausend Köpfen
mindestens etwa 430000 M. Verpflegungsgelder pro
Jahr!, dazu kommen die Subventionen für Neubauten
und dergl.). Wenn ferner die Wartpersonalfrage, wie
sattsam bekannt, einen schwierigen Punkt in der
Irren-, Epileptiker- und Idiotenpflege bildet und
immer bilden wird, so wird sie dadurch geradezu als
nicht vorhanden ignorirt, dass die Verwaltungen ihre
Schutzbefohlenen in Privatanstalten Pflegepe reonen
überantworten, die gar nicht in der Discipünargew'ait
der öffentlichen Verwaltungen stehen; am schlimmsten
macht sich das bei den kirchlichen Anstalten geltend,
wo das Wartpersonal nicht einmal dem leitenden
Arzte unterstellt ist, sondern kirchlichen Personen, die
neben und über der Krankenpflege noch ganz andere
Interessen bethätigen. Während in den Privatanstalten
die Kranken besserer Stände nicht viel oder keine für
den ökonomischen Betrieb der Anstalt nützliche Ar¬
beit leisten, ist dies bei den mitverpflegten Provinzial¬
oder Communalkranken in hohem Maasse der Fall —
ein Grund, bei der Frage der Entlassungsfähigkeit der
letztem unbewusst eigennützige Motive mitspielen zu
lassen. Bei all diesen Punkten — es könnten noch
mehr angeführt werden — haben weltliche und
kirchliche Privatanstalten voreinander nicht den ge¬
ringsten Vorzug, ja die letztem stehen insofern zurück,
als unvermeidlich der eigentliche Zweck der Anstalt
leiden muss, wenn noch Sonderinteressen kirchlicher
bezw. religiöser Natur vorgespannt oder auch nur
an gehängt werden. Dass der Betrieb einer kirchlichen
Anstalt nicht auf Erwerb ausgeht, wird kaum jemand
die Naivetät besitzen zu glauben, nämlich auf den
Erwerb von Geldern, um die ganze Anlage ad raajo-
rem dei gloriam zu vergrössern, eine Neigung, unter
der, wie verschiedene Beispiele gelehrt haben, der
Betrieb der Krankenpflege ebenso leiden kann wie
unter der Gewinnsucht eines einzigen weltlichen Be¬
sitzers einer Privatanstalt, der überdies fast ausnahms¬
los selbst Arzt ist und durch seine ärztliche Bildung
und sein ärztliches Gewissen in allzu eigennützigen Be¬
strebungen corrigirt wird. — Zurückziehung der Pro¬
vinzial- und Communalpfleglinge aus den weltlichen,
Säcularisirung der kirchlichen Anstalten für Geistes¬
kranke, Epileptische und Idioten ist die Aufgabe, vor
welche sich die Reichsirrengesetzgebung wird gestellt
sehen, will sie nicht nur halbe Reformen schaffen.“
Referate.
— The Journal of mental Science. April
1901. (Fortsetzung.)
John Baker schreibt über Epilepsie und Verbrechen.
Nachdem er sich gegen das Bestreben von Lombroso
und seinem Anhang, den Begriff der Epilepsie möglichst
weit auszudehnen, gewendet hat, stellt er eine Statistik
zusammen über die epileptischen Insassen von Broad-
moor. Seit seiner Eröffnung 1863 bis Oktober 1900
werden 2435 Kranke aufgenommen, 1860 M. und
575 Fr., darunter 139 = 7,5 °/ 0 männliche und 26 ==
4,5 °/ ft weibliche Epileptiker. Was die Art der von
den Epileptikern verübten Verbrechen anbelangt, so
handelte es sich in 117 Fällen um Verbrechen gegen
die Person, w r oran 96 M. und 21 Fr. betheiligt waren,
und in 48 Fällen um Verbrechen gegen das Eigenthum,
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
96 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8.
und zwar bei 43 M. und 5 Frauen. Das Verhältnis
der Männer zu den Frauen bei den epileptischen In¬
sassen beträgt 85 ° 0 M. und 15% Frauen. Es ist
also das Vcrbältniss der epileptischen Verbrecher zu
den Epileptikern überhaupt bei weitem grösser als das
der epileptischen Verbrecherinnen zu den Epilep-
tikerinnen. Feiner übersteigt das Verhällniss der
Männer, die ein Verbrechen im geisteskranken Zu¬
stand begehen, um vieles das der Frauen. *)
Nach der Art des Verbrechens überwiegen im Ver¬
gleich zu den Verbrechen gegen das Eigenthum die
gegen die Person, wie folgende Notiz zeigt:
M. Fr.
Verbrechen gegen die Person . . 69% 81 “/ 0
„ _ „ das Eigenthum 31 °/ 0 19%
Bei den Verbrechen gegen die Person handelt es
sich meist um Mord und Mordversuche, bei den Ver¬
brechen gegen das Eigenthum um Diebstahl und Brand¬
stiftung.
Die Erregung und psychische Störung kann beim
Epileptiker eintreten: 1) vor dem Anfall, 2) nach dem
Anfall, 3) zwischen den Anfällen und 4) als Ersatz
für den Anfall. In allen 4 Stadien kann der Epilep¬
tiker gefährlich werden. Verf. bringt zum Beweise
hierfür einige Krankengeschichten und bespricht im An¬
schluss daran verschiedene klinisch wichtige Erschei¬
nungen. Die psychische Störung, die dem Anfall vor¬
ausgeht, äussert sich oft in einer unerklärlichen Furcht, in
schreckhaftigen Illusionen und Halluzinationen, in Eifer¬
suchtswahnideen, oder Verfolgungswahnideen. I11 an¬
deren Fällen wiederum folgt auf den Anfall ein Zu¬
stand der Reizbarkeit und des sinnlosen Betragens,
mit Neigung zu falscher Beschuldigung. Oft steigert
sich der Zustand zur Manie oder zum furor epilepticus,
mit dem Trieb zu Mord und Selbstmord. Oft endigt
ein blosser Verdacht, der sich vor dem Anfall im Gehirn
festsetzte, nach dem Anfall im furor mit einem Ver¬
brechen. In einem solchen Fall besteht manchmal
nicht einmal Verlust des Bewusstseins oder Gedächt¬
nisses. Eigenthümlich sind Fälle wie der, wo die Mutter
ein Stück Brot schneiden will, plötzlich einen Anfall
bekommt und gleich darauf den Arm ihres Kindes
abschneidet. Verf. macht noch auf die Schwierigkeit
aufmerksam, Amnesie festzustellen, namentlich dann,
wenn der Kranke bereits durch Freunde bearbeitet,
oder durch das Gericht verhört worden ist.
Dass der Alkohol den an sich schon gefährlichen
Epileptiker noch gefährlicher macht, ist bekannt.
Eine Abhandlung von Alexander Robertson be¬
schäftigt sich mit den einseitigen Halluzinationen, ihrer
relativen Häufigkeit, ihren Beziehungen und ihrer Pa¬
thologie. Während einseitige Halluzinationen schon lange
die Aufmerksamkeit der Forscher auf dem Continente
erregt hatten, konnte Verf. 1874, als er bei einem
Kranken linksseitige Gehörshalluzinationen nachwies,
nirgends in der englischen Litteratur eine Erwähnung
*) Vom 1. IV. 99 — 31. III. 1900 wurden in den eng¬
lischen Gefängnissen 86 M. uud 30 Fr. als geisteskrank begut¬
achtet. Bei 6 Männern und nur bei einer Frau bestand Epilepsie.
dieser Erscheinungen finden. Darauf untersuchte Verf.
250 Kranke und fand bei 34 deutlich nachweisbare
Illusionen oder Halluzinationen eines oder mehrerer
Sinne. Von den 34 hörten 31 Stimmen. 29 hatten
ausserdem Gesichtshalluzinationcn. 2 litten an Ge¬
schmackstäuschungen, 1 Kranker an Geruchstäuschung.
Diese 3 hatten keine Gesichs- und Gehörstäuschung.
Ein Kranker hatte nur Geschmackstäuschungen, Ge¬
ruch, Gesicht und Gehör waren intact. 14 klagten noch
über Empfindungsstörungen. Von den 31 Fällen, in
denen Gehörstäuschungen vorhanden waren, hörten 5
die Stimmen nur auf dem linken Ohr, 5 auf dem
linken Ohr mehr als auf dem rechten, einer hörte sie
nur rechts und zwei rechts deutlicher als links. Die
andern Sinnestäuschungen waren beiderseitig. Nur
einer sah die Gegenstände mit dem rechten Auge deut¬
licher als mit dem linken. Bei den 0 Fällen mit ein¬
seitigen Gehörshalluzinationen war in 5 Fällen der
Alkohol die Ursache der Krankheit.
Seit 1874 hatte Verf. noch 15 Fälle von einseitigen
Halluzinationen gesammelt. Immer war der Gehör¬
sinn daran betheiligt, und zwar irf 12 Fällen links.
Verf. konnte keinen reinen Fall von einseitiger Ge¬
sichts-, Geschmacks- und Geruchstäuschung finden.
2 Kranke sahen die imaginären Gegenstände mehr
mit dem einen als mit dem andern Auge.
Um sich das Entstehen einseitiger Sinnestäuschungen
verständlicher zu machen, erinnert Verf. an einseitige
Krankheitssymptome des Nervensystems überhaupt,
wie sie in konvulsiven, choreatischen und paralytischen
Zuständen Vorkommen, z. B. I»ei der Hysterie.
Was die Pathologie anlangt, so sind bei den doppel¬
seitigen Halluzinationen anatomisch bereits Verände¬
rungen der Nerven oder Centren gefunden worden.
Also, schliesst Verf., werden solche sich auch bei den
einseitigen finden, wenn sie auch noch nicht nachge¬
wiesen worden sind. Um sich das einseitige Entstehen
der Sinnestäuschung zu erklären, nimmt Verf., an, dass
das eine Centrum schwächer organisiert sei als das andere,
seis von Geburt ab, oder durch Krankheit bedingt.
Toxische Stoffe, wie der Alkohol, werden dann vor allem
dies schwächer organisierte Ceiitrum angreifen.
(Fortsetzung folgt.)
Druckfehlerberichtigung.
In Nr. 5 dieser Wochenschrift sind in dem Aufsatz von
H. Schlöss: Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten
durch ein Versehen der Druckerei einige störende Fehler ent¬
halten. Auf pag. 55 soll es heissen statt „collegialischen
Rath 4 * „collegialen Rath 44 , auf pag 56 statt „dieser io ü / 0 kann
ich 44 „dieser io°/ 0 wegen kann ich“ . . .
Der Herr Minister für Handel und Gewerbe hat
die von König Friedrich Wilhelm IV gestiftete Staats-
medaille in Bronce mit der Inschrift „Für gewerb¬
liche Leistungen“ der (auch für viele Anstalten liefern¬
den) Firma
Rosenzweig A: Bau mann in Kassel,
Kasseler Farben-, Glasuren- und Lackfabrik
verliehen.
Für den redactionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. liresler Kraschnitz, (Sch esien).
Krscheint jeden Sonnabend <— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Mar hold in Halle a. S
Hevtiemann'sche Pi < .ielidriicker#i (Cehr. \V\iiflf) in Halle a. S
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Original frnm
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direetor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt
Uchtspringe ( Altmarkt. Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin.
Prof. Dr. E. Mendel Dr. P. J. Möbius, Direetor Dr. Morel,
B« r| in. Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 9. 31 . Mai. 1902.
Die ..Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift" erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaitige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Frage der grossen Irrenanstalten. Von Dr. Starlinger, Wien (S. 97). — Die Irrenfürsorge in Baden.
Von Oberarzt Dr. Max Fischer -1 Henau (S. 102). — Ein Wort zur Recension des Herrn Gaupp über die „Denkschrift über
die badische Irrenfürsorge" (S. 104). — Mitteilungen (S. 106). — Referate (S. 108).
Zur Frage der grossen Irrenanstalten.
I ."'s ist sicher kein bloss akademischer Trieb gewesen,
' der vorstehendes Thema kürzlich in diesem
Blatte wieder aufleben liess.*) Das Thema ist actuell
und seine Besprechung drängt sich mancherorts
wieder von selbst hervor, um so mehr als durch die
Erfahrungen der letzten Jahre an den schon bestehen¬
den grossen Irrenanstalten auch neue Gesichtspunkte
sich zu ergeben scheinen.
Bisher wurde nur immer die Frage ventilirt, wie
gross soll # eine Irrenanstalt sein und zwar mit Rück¬
sicht auf die einheitliche Leitung deutscher Art, wo
in die Hand des Direktors die gesammte ärztliche
und administrative Verantwortlichkeit in der Anstalt
gelegt ist. Nun ergiebt sich das Interessante: Wäh¬
rend über die Grösse der Irren-Anstalten hin und
her disputirt wurde und wird, wurde die ganze Frage
durch die Thatsachen überholt. Man fragt meist in
praxi gar nicht mehr, wie gross darf die Anstalt
sein, sondern wie gross muss sie sein, um den
zahlenmässigen Anforderungen zu genügen. So ent¬
steht eine tausender Anstalt um die andere, oder
*) ver gl. Nr. 4 dieses Jahrganges.
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wird zum mindesten so angelegt, dass ihre Vergrösse-
rung auf diese Zahl in Bälde zu gewärtigen ist. Eine
Anstalt für 1000 zählt aber nach den bisherigen Be¬
griffen gewiss schon zu den grossen, wenigstens soweit
man damit die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit der
einheitlichen Leitung sich damit bereits verbunden
denkt.
Die stattliche Reihe dieser grossen Irrenanstalten,
die in den letzten Jahren so unter der Hand ent¬
standen ist, und man kann noch beifügen, sehr häufig
noch dazu gegen die herrschende Anschauung der
dabei thätigen ärztlichen Experten entstanden ist, ist
es vor allem, die das Thema der grossen Irren-An¬
stalten neuerdings als aktuelle Frage an’s Licht rückt.
Die organisatorischen Folgen der Anhäu¬
fung von Kranken an einer Stelle drängen sich vor
und werden in Hinkunft vielleicht die ganze Frage
dominiren. Damit ist meines Erachtens die ganze
Angelegenheit in ein neues Stadium getreten, das
noc h mancher Besprechung warten wird, ehe die Lö¬
sung befriedigen dürfte. Die grosse Irren-Anstalt
wird kaum mehr verschwinden, ich fürchte nur, dass
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98
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 9.
sie eher noch grösser werden wird, und erlaube mir,
da ein illustrirendes Beispiel anzuführen.
Es dürfte wenig Länder geben, die ihr Anstalts¬
wesen in den letzten Jahren mehr gehoben haben,
als Nieder-Oesterreich, und der Opfersinn des Landes
steht in bewundemswerther Parallele mit der hoch¬
liberalen Einsicht seiner Vertreter. Just zu derselben
Zeit, als sie die neue Anstalt in Maueröhling eröff¬
net, legt sie den Grundstein zu einer neuen
grossen Anstalt in Wien.
Die gegenwärtige Wiener Irren - Anstalt nimmt
nur einen Theil der hauptstädtischen Kranken
auf, und hat bei einem Krankenstand mit stets über
1000 schon jetzt eine jährliche Aufnahme von circa
13 — 1400 Zuwächsen zu bewältigen. In Hinkunft
aber sollen alle von Wien kommenden Geisteskranken
sammt den Geistessiechen in den Aufnahms-Bereich
der Wiener Anstalt fallen, es ist also sicherlich nicht
übertrieben, wenn zur Aufnahme aller dieser Geistes¬
kranken ein Belegraum von 2000 Plätzen angefordert
wurde.
Nun konnte für die neu zu errichtende Anstalt
nur ein einziges Terrain von ca. 100 ha Grösse
in Betracht gezogen werden, ja es musste schon als
ganz besonderes Glück angeschlagen werden, dass im
Gemeindegebiete von Wien ein so grosser Complex
parcellenweise arrondiert werden konnte.
Ueber die Gemeindegrenze hinauszugehen war
wegen der Erschwerung der Besuche und insbeson¬
dere wegen der ausreichenden Wasserbeschaffung un¬
möglich.
An den gesetzten Bedingungen, auf einem Platze
Raum für 2000 Plätze zu schaffen, war schlechter¬
dings nichts mehr zu ändern und die Experten für
den Entwurf eines entsprechenden Bauprogrammes
mussten sich damit abfinden.
Die erste Frage war natürlich auch hier, ob die
genannte Zahl von Plätzen auf eine oder zwei An¬
stalten zu vertheilen sind. Vom ärztlichen Stand¬
punkte wurden vorerst zwei Anstalten ins Auge ge¬
fasst und zwar eine Heil- und eine Pflege-
Anstalt.
Aber die ärztlichen Forderungen wurden, wie es
ja anderwärts auch geschieht, schliesslich aus admi¬
nistrativen und finanziellen Bedenken*), in zweite
Linie gestellt und die Errichtung einer grossen Irren-
Anstalt für 1700 Geisteskranke beschlossen, in wel¬
chem Sinne dann auch die betreffenden Entwürfe
zum Bauprogramm formulirt wurden.
Das Hauptbedenken, das sich gegen die Erricli-
*) Von den Verwaltung!»- und Bauexperten wurde eine
grosse als absolut empfehlenswerther hingesiellt.
tung einer Anstalt erhob, war natürlich die Unmög¬
lichkeit in einer Person eine solche Anstalt ärztlich,
wie bisher, zu übersehen und zu leiten.
Ein Ausgleich, ohne principielle wichtige Punkte
aufgeben zu müssen, schien schwierig, aber bei
der Uebertragung der Organisation für allgemeine
Krankenhäuser auf die Irrenanstalt nach den bis¬
herigen Erfahrungen in grossen Anstalten nicht un¬
möglich.
Unter diesem Gesichtspunkte bleibt auch für eine
grosse Irrenanstalt eine einheitliche Leitung gewahrt,
obgleich sich dieselbe fast ausschliesslich auf die ad¬
ministrativen Agenden wird beschränken müssen.
Die Irrenanstalt der allgemeinen Krankenanstalt
immer mehr zu nähern, bildet das sichtliche Bestre¬
ben der Gegenwart und eines ihrer schönsten Früchte
bildet wohl das Kranken-Zimmer mit der Bettbehand¬
lung, um von anderen dahinzielenden Neuerungen
abzusehen. Wie weitgehend diesem Zuge zu huldi¬
gen gesucht wird, beweist das Gefallen an gitterlosen
Anstalten und die Opferwilligkeit mit der dieser
„Gipfelpunkt“ freier Behandlung zu erreichen gesucht
wird. Obwohl noch kein Mensch von den Gittern
einen Schaden erlebt hat, wohl aber dem Mangel
derselben ein solcher von der Fama schon Öfters in
die Schuhe geschoben wurde. Was immer daran
sein mag, wenn man schon solchen Details sogenann¬
ter krankenhausmässiger Vorzüge eine so hohe Wich¬
tigkeit beimisst, so muss es meines Erachtens als ein
um so bedeutenderer Fortschritt im Irrenanstaltswesen
erachtet werden, wenn ein Hauptfactor der Kranken -
Anstalt, ihre Organisation, für die Irren-Anstalten
copirt wird.
Die Bedeutung eines solchen Novums in den her¬
kömmlichen Anstaltsregeln und ihre Möglichkeit und
Durchführung für die grossen Irrenanstalten, sollen
die folgenden Zeilen darzulegen versuchen.
Da durch das Anwachsen der Anstalten in erster
Linie die Leitung tangirt wird, so ist es nahe liegend,
zuerst ihre Stellung näher zu untersuchen.
Nach der allgemeinen Stellung ihrer Leiter, thei-
len sich gegenwärtig die Anstalten in 3 Gruppen und
zwar:
1. solche mit nur ärztlicher,
2. solche mit beamteter und endlich
3. mit gemischter Oberleitung d. h. paritätische
Trennung der Verwaltung von der Direktion.
Wenn man den Werth einer Institution nach
ihren Erfolgen misst und das ist speciell auf unserem
Gebiete eine beliebte Methode, dann bietet gerade
die Nebeneinanderstellung dieser Leitungen recht an¬
schauliche Gegensätze.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1902.]
Es ist gewiss kein Zufall, dass dort, wo die grösste
ärztliche Freiheit in der Leitung zu Tage tritt, wie in
Deutschland, auch das Anstaltswesen auf der höchsten
Stufe steht, ja allmählich anfängt für die ganze Welt
mustergiltig zu werden und dass dort, wo der Arzt
den geringsten Einfluss hat auf die Administration,
wie in Frankreich, auch das Anstaltswesen die gröss¬
ten Rückstände aufweist. Gerade letzteres Land ist
ein schlagender Beweis für das eben Gesagte. Denn
dasselbe Land, das heute trotz der Höhe seiner son¬
stigen culturellen Einrichtungen auf dem Gebiete des
Anstaltswesens vielleicht um l l 2 Jahrhundert zurück¬
geblieben ist, war einst der Lehrmeister auf demsel¬
ben Gebiete. Freilich standen damals noch die
Aerzte an der Spitze. Eine Ausnahme bildet die
Familien pflege. Die Familienpflege der Stadt Paris
steht auf voller Höhe und ist musteigiltig. Sie ist
aber eine Schöpfung der Aerzte und von Haus aus
ihrer ausschliesslichen Leitung übergeben worden.
Genau dasselbe lehrt die Geschichte Gheels und
der Gheeler Irrenpflege. Mit dem Momente, als die
Aerzte Leitung und Einfluss gewannen, mit dem Mo¬
mente wurde das Gheeler System mustergiltig und
nachahmungswürdig.
Diese Dinge muss man von Zeit zu Zeit wieder
an’s Licht rücken, sonst wird gegen dieselben gesün¬
digt, und wen treffen die Sünden ? Die Allerunschul¬
digsten und Allerärmsten. Die Kranken werden da¬
von betroffen. Eines darf man nie vergessen. Für
die Anstalten und das Anstaltswesen überhaupt bleibt
nur der Kranke und seine Bedürfnisse maassgebend
und dort, wo diese Bedürfnisse nicht gewürdigt oder
gewerthet werden können, geschieht es zum Schaden
der Kranken und des Landes. Die Bedürfnisse der
Kranken brechen sich ja schliesslich doch Bahn und
dann setzt es neue Auslagen, Auslagen, die durch die
nöthigen Modificationen geschaffen werden.
Wo immer die rein administrativen Bedenken all¬
zu viel auf den ärztlichen Intentionen lasten, so viel
ist sicher, es geschieht mehr zum Nachtheil als zum
Nutzen des berechtigten und gesunden Fortschrittes.
Wie zwingend die Erfahrungen dieser Anschau¬
ung Recht geben, sieht man schön illustrirt an den
österreichischen Militärspitälern. Bekanntlich haben
in denselben die ärztlichen Leiter nicht die Com-
mandogewalt gehabt und man hat stets eine Reihe
von Gründen hierfür in’s Feld geführt. Aber selbst
der starre Militarismus hat sich zur besseren Einsicht
bekehrt und neuestens den Aerzten die volle Leitung
anvertraut.
Dieselbe Wandlung vollzieht sich ja auch in den
Irren-Anstalten von Tag zu Tag mehr, und sicher
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wird auch da eines Tages der natürliche Zustand sich
einstellen, wie er der Natur nach sich einstellen muss.
Man kann ruhig der Entwicklung Zusehen, was kom¬
men muss, wird kommen, der Natur vermag sich nie¬
mand auf die Dauer zu widersetzen.
Es ist somit kein Zweifel, dass auch die Ober¬
leitung der grossen Irren-Anstalten in der Hand
einer Person sein und dass diese Person ein Arzt
sein und bleiben soll.
Die Thatsache, dass das moderne Anstaltswesen
von Deutschland ausgegangen ist, spricht nicht wenig
auch zu Gunsten seiner organisatorischen Verhält¬
nisse, anderseits aber müssen und können unbescha¬
det des allgemeinen Wirkens der Direktion eine Reihe
von Detail - Agenden derselben abgenommen und
einzelnen Personen zur vollen Verantwortung über¬
lassen werden. Dahin gehören beispielsweise die
Kassengebahrung, Verpflegskostenbetreibungen und
ähnliches auf der rein administrativen, und ärztliche
Behandlung der Kranken und dergleichen auf die
ärztliche Seite. Wird die Direktion solcher Art er¬
heblich entlastet, wird sie freier für die allgemeinen
Fragen der Irrenpflege, der Hygiene des Anstalts¬
wesens, der fortschrittlichen Reformen der Irrenfür¬
sorge in und ausser der Anstalt etc.
Dass eine solche Wandlung in der Stellung der
leitenden Personen einmal zu erwarten war, lehrt,
wie schon Schäfer hervorgehoben, auch die ganze
Geschichte des Anstaltswesens, unaufhaltbare Zu¬
nahme des Anstaltswesens an In- und Extensität
seiner Agenden.
Alle Irrenanstalten gingen anfänglich aus kleinen
Verhältnissen hervor. Vorher musste oft bloss eine
Abtheilung des allgemeinen Krankenhauses zur Auf¬
nahme der Geisteskranken genügen. Die ehemaligen
Abtheilungsvorstände wurden nicht selten die nach¬
maligen Anstaltsdirektoren. Was Wunder, wenn sieh
die Abth eil ungs-Organisation mit der noth-
wendigen einheitlichen Leitung auch auf die
Irren-Anstalten übertrug und sich dieser Modus trotz
des Weiterwachsens der Anstalten sich bis heute er¬
hielt, aber endlich musste sich eine Grenze von selbst
ergeben. In Praxi ist es ohnehin häufig nicht mehr
der Fall, dass der Direktor auch zugleich der Chef¬
arzt seiner Schützlinge sein kann, wenigstens nicht
mehr an den Anstalten der Grossstädte, wo die An¬
stalten bereits längst über die Belegzahl 1000 hin¬
ausgewachsen sind. Uebrigens ist es nicht der Be¬
legraum allein, der für Leitung und Uebersicht maass¬
gebend ist, es kommt vielmehr noch der Wechsel
und die Aufnahmezahl in Betracht
Die hiesige Frauen-Abtheilung, deren Vorstand
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HARVARD UNIVERS1TY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. o
Schreiber ist, hat einen durchschnittlichen Belegraum
von 350 Kranken und einen jährlichen Zuwachs von
ebensolcher Höhe (1901). Ich kann nur das Eine
sagen, ich habe Mühe mich im Laufenden zu erhalten,
so zwar, dass ich alle meine Kranken im Gedächt-
niss habe und ich jederzeit in der Lage bin über jede
meiner Kranken Auskunft zu geben, ohne erst die
Krankengeschichte zur Hülfe nehmen zu müssen,
dass ich aber während der Urlaubszeit des Direktors,
den ich als II. Arzt zu vertreten habe, jedesmal eine
Lockerung meiner Uebersicht bemerke, trotzdem ich
fast jeden Tag Visite auf meiner Abtheiiung mache.
Meines Erachtens ist es schon unmöglich vollen
Einblick in die Kranken zu gewinnen, wenn man nicht
mehr in der Lage ist, die Kranken auch selbst auf¬
zunehmen oder doch eingehender zu untersuchen.
Aus der geschriebenen Kranken-Geschichte allein ver¬
mag man das niemals. —
Ich kann mir dennoch nicht vorstellen, wie es
denn möglich wäre das 3 fache in dem Detail zu
umfassen, wie es das bisherige Statut verlangt, wo¬
nach die Leitung der Anstalt in allen ärzt¬
lichen Angelegenheiten dem Direktor
übertragen ist.
Die Zeit, wo dieser Anforderung entsprochen
werden konnte und musste, ist längst entschwunden
und sie scheint um so weiter zurückzuliegen, als seit¬
her so vieles im Anstaltswesen anders geworden ist.
Einstens war der leitende Arzt nicht selten der
einzig psychiatrisch gebildete Arzt und zudem meist
Autodidact — so lange es keine Kliniken gab. Heute
hat jede grössere Anstalt einen ganzen Stab vorge¬
bildeter Psychiater und ältere Anstaltsärzte, die auch
mit dem Anstaltswesen wohl vertraut sind. Damals
erschwerten die Direktion auch noch keineswegs
andersartige Thätigkeiten. Heute ist dies anders.
Die umfangreichen Anstalten, die vermehrte Ad¬
ministration, die vielen schriftlichen Arbeiten etc.
nehmen nach und nach die ganze Person des Direk¬
tors, besonders in Grossstädten, völlig und derart in
Anspruch, dass ihm überhaupt für eine ärztliche
Thätigkeit keine Zeit mehr übrig bleibt.
Andrerseits war auch die ärztliche Thätigkeit
in der Zeit des Restraint und der ersten Zeit des
no-Restraint nicht so vielseitig und die Behandlung
einfacher als heute. Wie hat sich dagegen Behand¬
lung, Pflege im modernen Sinne mit dem gesammten
Rüstzeug der heutigen Medicin und dem freien in-
dividualisirenden Vorgehen bei jedem Einzelnen ge¬
hoben und verbreitet. Sie erfordert den grössten
Fleiss und ungeheure Belesenheit, um sich im Lau¬
fenden zu erhalten. Wenn grössere administrative
Agenden die Hingabe einschränken, ist es unmöglich,
dieser Pflicht im ganzen Umfange gerecht zu werden.
So drängt sich von allen Seiten bei grossen Anstalten
die Unhaltbarkeit der herkömmlichen Anstaltsordnung
hervor und verlangt eine entsprechende Reform und
Arbeitstheilung.
Man könnte einwenden, dass gerade in Irrenan¬
stalten die ärztliche und administrative Seite sich
schwer trennen lässt, dass beide auf’s innigste zusammen
hängen. Gewiss, wenigstens mehr als in einem ge¬
wöhnlichen Krankenhause. Aber damit ist nicht ge¬
sagt, dass sie sich nicht soweit trennen lassen, dass
sie unter allen Umständen auch von einer und der¬
selben Person besorgt werden müssen. Nach meiner
eigenen Erfahrung geht dies ganz wohl. Diejenigen
Agenden und Anordnungen administrativer Art, die
direct mit der Behandlung Zusammenhängen, lässt
man auch ruhig vereint in der Hand des behandelnden
Arztes, wie z. B. die Bewilligung des Ausganges, die
Kostverschreibung, Versetzung des Kranken und des
Pflegepersonals innerhalb seiner Abtheilung und der¬
gleichen. Während hingegen alle Veränderungen, die
Auslagen setzen, wie Neuanschaffungen, Adaptirungen,
Aenderungen in der Hausordnung und ähnliches selbst¬
verständlich in das Ressort des Diijectors fallen.
Ich bin überzeugt, dass der Direction eine Reihe
von Agenden werden abgenommen werden können,
ohne deren Autorität zu gefährden, und ich bin weiters
überzeugt, dass sich diese besser den Abtheilungsvor¬
ständen zutheilen lassen, und dort die Berufs- und
Schaffensfreude erhöhen werden, abgesehen davon,
dass damit zugleich eine Menge anderer störender
Quellen verstopft werden, die Friede und Eintracht
nicht gerade fördern.
Die Direction bleibt damit vor allem die Ueber¬
sicht über die ganze Anstalt gewahrt, die so bei der
Ueberlastung mit Detailarbeit manchmal verloren geht.
Dagegen braucht die Direction die Uebersicht
über den Kranken allein nicht, die es in grösse¬
ren Anstalten mit grossem Wechsel so wie so nicht
mehr hat und naturgemäss nicht haben kann.
Die Irrenanstalten gehen, ob man will oder nicht,
den Weg des Krankenhauses. Und was immer in
dem Sinne an der Irren-Anstalt gemodelt wird, wird
durchdringen und Bestand haben, das zeigt klar und
deutlich ihre Geschichte. Auch in unserer Frage ist
dies nicht zu verkennen.
Auch in den grösseren Krankenhäusern waren in
früheren Jahren, und in den kleineren sind noch heute
die Leiter auch die behandelnden Aerzte. Während
in den grösseren Krankenhäusern die Directoren ein¬
fach Administratoren geworden sind. Die Wendung
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Original frum
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
IOI
hat sich sang- und klanglos vollzogen, als natürliches
Gebot und wenig anders wird es in den Irren-An¬
stalten der Grossstädte werden.
Wie die Irren-Anstalten der Grossstädte immer
durch ihre Grösse von den andern sich unterscheiden,
und nicht durch eigenen Trieb, sondern durch den
Zwang der Verhältnisse dazu genöthigt wurden, so
wird das auch in Hinkunft kaum anders werden.
Niemals werden die Kranken der Stadt einfach
aufs Land verlegt werden können, sie müssen und
werden zum Grossthcil in deren Stadt, oder deren
unmittelbarer Nähe wenigstens untergebracht werden,
und die Anzahl der Kranken wird sich zunehmend
vergrössem.
Man hat vor gar nicht zu vielen Jahren noch 600
als die Maximalzahl des Belegraumes einer Irren-An¬
stalt hingesiellt, aber in Anbetracht der einheitlichen
administrativen und ärztlichen Leitung. Ich halte
selbst diese Zahl schon für zu gross, aber eine noch
grössere Anzahl, selbst ohne grossen Wechsel, lässt
sich von einer Person unmöglich mehr im detail so
überblicken, dass sie überall spontan bald da bald
dort helfend oder corrigirend eingreifen könnte. Diese
Anschauung wurde auch, soweit ich zurückblicke,
nirgends bekämpft, und trotzdem sind die Anstalten
gewachsen trotz aller ärztlichen Bedenken, ja sogar auf
dem Boden selbst, wo die litterarischen Vorfechter
solcher Prinzipien gesehen sind. Wie kommt dies?
Einfach deshalb, weil die Wucht der Verhält¬
nisse es erzwungen hat und unabwendbare
Thatsachen über Theorie und Praxis ein¬
fach hinweggeschritten sind.
So sind die Anstalten bis 1000 und 1500 ent¬
standen und so wird in Wien eine solche noch da¬
rüber hinaus entstehen und in Zukunft ? wird es nicht
weniger der Fall sein und vielleicht entstehen einmal
dort, wodie örtlichen Verhältnisse nur nach
einer Seite hindrängen, eben solche Irrenan¬
staltsviertel, wie heute schon Krankenhausviertel da¬
runter entstanden sind.
Wie immer man die Frage der grossen Irren-
Anstalt dreht und wendet und von welcher Seite
immer man die modernen Anstaltsverhältnisse mit
den alten starren centralistischen Irrenhausorganisationen
in Einklang zu bringen sucht, immer kommt man zu
dem Resultat: Es geht nicht mehr, die Irrenanstalten
wachsen und werden wachsen und ihre Agenden
lassen sich immer weniger nach dem Style der frühe¬
ren, kleinen Anstalten bewältigen. Gerade das be¬
zeugen auch die Geständnisse Schäfer’s und machen
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seine Veröffentlichungen hierüber doppelt werthvoll.
Schäfer hat nicht blos als erster den Muth gehabt,
die Unzulänglichkeiten der alten Irrenanstaltsordnung
aus eigener Erfahrung zu erhärten, sondern hat ande¬
rerseits auch in der verantwortungsvollen Uebertrag-
ung der ärztlichen Behandlung auf die Abtheilungs¬
leiter practisch bereits den Weg gewiesen, wie wenigstens
nach der rein ärztlichen Seite eine Abhilfe angebahnt
werden kann.
Eine Anschauung für die, wie schon früher er¬
wähnt, auch anderen Orts dieselben günstigen Erfah¬
rungen zu sprechen scheinen.
Bis vor etwa 2 Dezenien konnte auch in der
Wiener Irren-Anstalt die Direction gemäss dem An¬
stalts-Statute noch eine gewisse ärztliche Thätigkeit
entfalten. Ja selbst der 1895 verstorbene Director
Gauster hat noch öfters eine ärztliche Visite geleitet
und hin und wieder einen Patienten genauer unter¬
sucht und ärztlich aufgenommen, klagte aber wieder¬
holt, dass ihm eine ärztliche Thätigkeit immer mehr
unmöglich wird infolge des Anwachsens der admini¬
strativen Agenden, zuletzt musste er sich völlig auf
die Administration beschränken.
Seither ist die administrative Arbeitslast wiederum
erheblich gestiegen, und musste demgemäss die ärzt¬
liche Selbständigkeit der Abtheilung sich ausgestalten.
Während in früheren Jahren wiederholt ärztliche
Anträge, wie Entlassung, Ausgänge, Beurlaubung von
Patienten der einzelnen Abtheilungsleiter persönlich
von der Direction überprüft, modifizirt und auch
zurückgestellt wurden, geschieht dies in den letzten
5—7 Jahren höchst selten und es geht eben so gut
wie früher, wenigstens ist niemals hieraus irgend ein
Schaden entstanden.
Ich glaube solche practischen Ergebnisse sprechen
mehr als noch so vorzügliche Abhandlungen und
Gegenstände wider die ärztliche Selbständigmachung
der einzelnen Abtheilung.
Aus demselben Grunde braucht wohl auch die
Furcht vor den grossen Anstalten ärztlich keinen so
hohen Grad anzunehmen, dass man unter allen Um¬
ständen nur kleinere Anstalten befürworten könnte,
ohne jede Rücksicht auf die Vortheile und Einrich¬
tungen in anderen Gebieten des Anstaltsw'esens.
Fasse ich meine Anschauungen zusammen, so
glaube ich, dass sich das Anwachsen der Irren-An¬
stalten nicht mehr aufhalten lässt, namentlich nicht in
den Grossstädten und dass jedes Andrängen dagegen
nutzlos ist, zumal der herrschende Pavillonstyl durch
das bequeme Dazubauen von einem Pavillon nach
dem andern eine directe Verführung dazu abgiebt.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
102
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wir sollen daher, um eine einheitliche administrative
Oberleitung weiter zu ermöglichen, eine zweckent¬
sprechende Reorganisation nach dem Muster der
allgemeinen Krankenhäuser anstreben, bei der die
[Nr. 9.
administrative Oberleitung der Direction gewahrt
bleibt und dafür unter anderem die Abtheilung ein¬
heitlicher und selbständiger werden soll.
Dr. Starlinger-Wien.
Die Irrenfürsorge in Baden.
Von Oberarzt Dr. Max Fischcr-\\\enaM.
(Fortsetzung).
Nur bei einer solchen Regelung des ganzen Ver¬
fahrens wird allen Ansprüchen an die staatliche Irren¬
versorgung sowohl hinsichtlich des Wohls und der
Heilung der Kranken selbst, als auch hinsichtlich
des nöthigen Schutzes der Gesellschaft vor den
Krankheitsäusserungen der Irren Rechnung getragen.
Leider sind wir von diesem Ziele zur Zeit weit
entfernt. Und der einzige Grund dieser Erscheinung
ist die relative und absolute Ueberfüllung
aller bestehenden staatlichen Irrenan¬
stalten, sowohl der Heil- und Aufnahmeanstalten
als der Pflegeanstalten.
Die Anstalt bei Emmendingen, auf die man
seiner Zeit alle,Hoffnung auf Aufhebung jeder Noth
in der Irrenversorgung des Landes setzte, ist ausge¬
baut auf 1000 Plätze und ist über diese Zahl hinaus
voll besetzt. Die Anstalt Pforzheim, deren Schliessung
mit der Erbauung von Emmendingen bezweckt war,
besteht mit ihren veralteten und ungenügenden Ein¬
richtungen weiter und ist sogar, um der allgemeinen
Nothlage zu begegnen, durch neue Plätze vermehrt
worden. Beide sind ständig überfüllt, können von
ihrem Krankenmaterial wenig entlassen und daher
ihrem ersten Zweck, die Heilanstalten zu entlasten
und aufnahmefähig zu erhalten, kaum oder wenig
genug nachkommen.
Die Aufnahme- und Heilanstalten selbst
aber sind ebenfalls dauernd überfüllt, können nur unge¬
nügend evacuiren d. h. von ihren chronischen Kranken
an die Pflegeanstalten abgeben und siud dadurch in
ihrer Hauptaufgabe, die frischen Kranken aus dem
Lande aufzunehmen, dauernd und in erheblichem
Maasse behindert.
So bestehen in allen Anstalten alle die Miss¬
stände, die eine anhaltende Ueberfüllung mit sich
bringt, unvermindert fort.
Um die Verhältnisse des Einzelnen darzulegen,
so sind die Kliniken, welche über nominell 100 bis
110 Plätze verfügen, zur Zeit absolut und relativ
überfüllt und vermögen ihren Frischaufnahmen kaum
zu genügen. Manche Kranke müssen wohl rascher
Digitized by Go, ole
wieder entlassen werden, als es der Kurplan wünschens-
werth machte, nur um Raum zu schaffen. Und doch
sollte jede der Kliniken, um ständig für frische Fälle
gerüstet zu sein, vornehmlich auch des Lehrzwecks
wegen, stets einige Plätze frei haben und daher nicht
über einen Bestand von 100 Kranken an wachsen.
Nicht besser steht es mit 111 en a u. Bei ihren nominell
500 Plätzen ist die Anstalt oft nicht gerade absolut,
immer aber relativ überfüllt, insofern ganze Abtheil¬
ungen andauernd einen zu hohen Stand aufweisen,
besonders auf der Frauenseite, und namentlich in den
für den Betrieb wichtigsten Stationen: in den Be-
obachtungs- und unruhigen Abtheilungen. Der Er¬
satz durch die Neubauten in Illenau wird hierin nur
vorübergehend Erleichterung schaffen.
Wollten wir aber erst für Blenau Verhältnisse
herrichten, wie sie nach hygienischen und anstaltstech¬
nischen Grundsätzen gefordert werden, so würden
wir nach einer jüngst hierüber ausgeführten Ausmess¬
ung und Berechnung nur noch über 420 Plätze ver¬
fügen dürfen; die Anstalt wäre also mit ihrem gegen¬
wärtigen Bestände von nominell 500 Plätzen schon
um 80 Kranke übersetzt und auch nach Er¬
öffnung der Neubauten mit zusammen etwa 60 Plätzen
w'ürde das Mehr über das zulässige Mass immer noch
20 betragen. Wir hätten also in Wirklichkeit trotz
der baulichen Erweiterung noch nicht einen neuen
Platz gewonnen, sondern nur bis jetzt Fehlendes zum
Bestand ergänzt. Dabei ist noch gar nicht mitge¬
rechnet, dass einzelne Abtheilungen Illenaus veraltet
sind und eigentlich schon lange geräumt und aus dem
Belegplan hätten ausgeschieden werden sollen. Rechnet
man aber noch etwa 20 Plätze ab, die in der ganzen
Anstalt im Interesse eines ungehinderten Betriebs zu
ständiger Verfügung für Neuaufnahmen und für mo¬
mentane Verlegungen frei stehen müssten, so kommen
wir für Illenau bei normalen Verhältnissen zu einer
Belegziffer von höchstens 460 Plätzen, worin die Plätze
der Neu- und Umbauten mitgerechnet sind. Die
jetzige Belegziffer wäre somit immer noch um 40 zu
hoch gegriffen.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
iqo 2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 103
Auch Emmendingen ist absolut und relativ
mit 1028 Kranken als für normale Verhältnisse zu
reichlich belegt zu bezeichnen, da die sog. koloniale
Behandlung der Kranken eine besonders freie Be¬
wegung und leichte Verschiebbarkeit in den einzelnen
Pavillons erfordert. Wenn wir unter der heutigen
Raumbedrängniss sämmtlicher Anstalten einstweilen
an der Fortdauer der z. Zt bedeutend erhöhten (und
vielleicht noch zu erhöhenden) Aufnahmekraft von
Emmendingen festhalten müssen, so wird dafür eine
künftige Normirung an Emmendingen nicht über
920 — 950 Insassen zutheilen dürfen, also dessen
jetzigen nominellen Bestand (von 1025) für später
um ca. 100 Köpfe entlasten müssen.
Auf die Pforzheimer Verhältnisse einzugehen,
halten wir für zwecklos, da unzweifelhaft feststeht,
dass diese Anstalt durch eine neue ersetzt werden
muss. Auf den schwierigsten und entsagungsvollsten
Posten gestellt, wird Pforzheim bis zur Eröffnung
seines Ersatzbaues w’ie bisher seine Schuldigkeit thun.
Aus diesen Angaben geht hervor, dass die in
Betracht kommenden Anstalten bei ihrer gegenwärtig
angenommenen Belegziffer (ganz zu schweigen von
dem noch höheren Krankenstände) über die nach
richtiger* hygienischen Grundsätzen angestettte Be¬
rechnung hinaus (die Kliniken zusammen um 20,
Illenau um 40, Emmendingen um 100) insgesammt
um 160 Plätze übersetzt sind.
Der geschilderten, ungünstigen Entwicklung der
Irrenfürsorge und des Anstaltswesens unseres Landes
hat sich die Grossh. Regierung zu keiner Zeit ver¬
schlossen. Noch während des Ausbaus von Emmen¬
dingen ist sie mit neuen Erwägungen und Vorschlägen
über die Vervollkommnung und Erweiterung der staat¬
lichen Anstaltsfürsorge für die Geisteskranken hervor¬
getreten.
Zunächst war nur ein Neubau für die veraltete
Pforzheimer Anstalt in Gestalt einer grossen Landes¬
anstalt in Aussicht genommen. Die Verhandlungen
der Landtagssession 1899/1900 haben aber allerseits
rasch die Ueberzeugung gefestigt, dass damit allein
keine, auch nur für die nächste Zeit ausreichende
Abhilfe der drängenden Nothlage geschaffen wäre.
Es wurde daher damals im Landtage die Resolution
gefasst: „Die Anstalt in Pforzheim sei aufzuheben
und zum Ersätze sollen zwei Anstalten errichtet werden,
die eine in Pforzheim oder sonst irgendwo im Unter¬
lande, die andere im Landeskommissariatsbezirke Kon¬
stanz".
Für die Belegung der geplanten Neuerstellungen
ergiebt sich nun aber aus den vorstehenden Aus-
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führungen das Resultat, dass neben dem Ersätze für
die 650 Plätze der Anstalt Pforzheim, wenn man zu¬
nächst nur die bestehende Ueberfüllung der vor¬
handenen Anstalten um 160 Plätze beseitigen will,
auf eine Schaffung von neuen 160 + 650 =
in Summai 810 Plätzen zu dringen wäre.
Diese 810 Plätze, die in ihrer Zahl für
sich allein ohne alles weitere eine voll
ausgebaute und besetzte Anstalt darstellen,
sind also in den neuen Anstalten als von vornherein
besetzt anzunehmen.
Es ist aber sofort klar, dass mit der Beseitigung
der Anstaltsüberfüllung und mit der Neugründung
des Ersatzes für die Pforzheimer Anstalt d. h. mit
der Beschaffung von 810 neuen Anstaltsplätzen nur
dem Allernöthigsten abgeholfen wäre. Unzweifelhaft
würde eine solche Raumbeschaffung, . die zwar eines¬
teils veraltete Einrichtungen hinwegräumt und ersetzt,
anderntheils einen vorhandenen Nothstand aufhebt,
nicht aber zugleich auch ausserdem weitere, neue
Werthe in die Irren Versorgung ein führt, noch nicht
einmal allen gegenwärtigen, geschweige denn
den zukünftigen Anforderungen an die Irrenver-
soigung gerecht werden.
Wie aus Vielen Anzeichen hervorgeht, sind seither
in unserem Lande manche Bedürfnisse in der Anstalts-
versoigung der Irren nicht befriedigt worden — aus
Platzmangel in den bestehenden Anstalten; sie können
also auch künftighin, bevor nicht Anstaltsplätze in
grösserer Anzahl neu beschafft werden, nicht befriedigt
werden, so dass wir auf so lange mit einer zunehmenden
Stagnation in der Irrenversorgung zu rechnen haben
werden.
Diese latente, ungetilgte Zahl von Geistes¬
kranken, welche der Anstaltspflege bedürfen, dieselbe
aus Platzmangel aber entbehren müssen,
kann aus verschiedenen Ueberlegungen hergeleitet
und genauer abgeschätzt werden:
1. Wir ziehen zunächst vergleichsweise Erfahrungen
aus dem Irrenwesen der Rheinprovinz, als einem Lande,
dessen allgemeine Erwerbs- und Lebensverhältnisse
im Wesentlichen mit unseren badischen übereinstimmen
werden, zur Betrachtung heran.
Nach einer dortigen sehr interessanten und ein¬
gehenden statistischen Untersuchung, zum Theil in
der „Denkschrift betreffend die Fürsorge
für die Geisteskranken und Epileptiker
der Rheinprovinz" enthalten, zum Theil neueren
Mittheilungen verdankt, sind dort die Anforderungen
an die Anstaltsversorgung der Irren in den letzten
8— 10 Jahren bedeutend grösser geworden. Die
Original from
HARVARD UNIVERSUM
104
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 9.
jährliche Zunahme in den Anstalten an Kranken, und
zwar bloss der Ortsarmen und Landarmen unter ihnen,
betrug dort nämlich durchschnittlich mehr als 6%
der Durchschnittsbelegung des Vorjahres und zwar
173—359 oder im Mittel aus den 7 Jahren 1893
bis 1900 = 242 Kranke im Jahr bei einer Bevöl¬
kerungsziffer von jetzt 5759798.
Da diese Tendenz auch bis in die letzten Jahre
anhielt, so wird sie auch für die nächst kommende
Zeit als wirksam angenommen werden dürfen.
Wenn wir diese Berechnung nun auf unsere Anstalts¬
versorgung und unsem Bevölkerungsstand von 1 867 944
(Volkszählung vom 1. Dezember 1900) übertragen,
so ergäbe sich damach ein jährlicher Zuwachs von
78 Kranken in unsem Anstalten.
Da diese Ziffer nur die Zunahme der auf offen t-
liche Kosten Verpflegten in sich begreift, in
der fraglichen Zeitperiode offenkundig aber auch die
Zahl der in den Anstalten verpflegten vermöglichen
Kranken erheblich zugenommen hat, so wird dieselbe
bei uns als Mindestausdruck des jährlichen Mehr¬
bedarfs an Anstaltsplätzen für die nächste Zukunft
in Rechnung gezogen werden dürfen.
2. Von dieser vergleichenden Darstellung gehen
wir nun auf die realen Verhältnisse der Entwicklung
in unserer badischen Irrenfürsorge Über.
Bei dem Ausbau der Anstalt Emmendingen
hat sich gezeigt, dass jede fertiggestellte und neu er-
öffnete Abtheilung (Pavillon), auch wenn es sich um
grössere Bauten von 2 x 50 = 100 Plätzen handelte,
in V 4 bis l / 9 Jahr voll belegt war, wie denn
auch in s / 4 bis 1 Jahr die durch die Eröffnung dieser
Bauten erhaltene Erhöhung der Belegziffer der ganzen
Anstalt jeweils wieder durch den Andrang der Auf¬
nahmen überholt wurde, ohne dass die Landesirren¬
versorgung dadurch jeweils und bis jetzt dauernd ent¬
lastet worden wäre.*) Zugleich ist statistisch be-
merkenswerth, dass in dieser Anstalt, die damals
durch ihre fortschreitende Erweiterungsfähigkeit gleich¬
sam als Maassstab für unsere Irrenversorgung dienen
konnte, der jährliche Zuwachs im Krankenstände
nach den ersten Jahren ihres Bestehens, also in den
Zeiten der ruhigeren Entwicklung (1892—1897) zwi¬
schen 59 und 119 schwankte. Das Mittel daraus
ergiebt, wie unter 1. aus einer procentualen Ueber-
tragung aus fremden Verhältnissen, so hier auf rein
empirischem Wege innerhalb unserer eigenen Irren¬
versorgung die Zahl 78.
So darf sowohl nach allgemeiner Erwägung als
nach specieller Erfahrung diese Zahl als Index für
das jährliche M ehr bedürfniss von Anstalts¬
plätzen in der Landesirrenfürsorge gelten.
Dieselbe Tendenz ist übrigens auch seit 1897 trotz
erschwerter Aufnahme Verhältnisse wiiksam geblieben.
Da seither Neubauten nur mehr in massigem Umfange
zur Ausführung kamen, musste der Mangel an Raum
nach Möglichkeit durch Mehraufstellung von Betten
ausgeglichen werden, was natürlich nur unter Steigerung
der schon vorhandenen Ueberfüllung geschehen konnte.
Gerade auf Grund dieser letztem Thatsache dürfen
wir aber das in der Zahl 78 gefundene Mehrbe-
dürfniss an Anstaltsplätzen im Jahr auch für die Zu¬
kunft geltend machen und haben, da die vorhan¬
denen Anstalten nicht mehr erweiterungsfähig sind,
die danach erforderlichen Plätze in den Neuerstellungen
vorzusehen. (Fortsetzung folgt.)
•) Vergleiche hierüber Dr. Max Fischer, „Das An¬
wachsen derHeil- und Pflegeanstalt bei Emmen¬
dingen**. (Aerztliche Mittheilungen für Baden 1897. Nr. 24.)
Ein Wort zur Recension des Herrn Gaupp über die „Denkschrift
über die badische Irrenfürsorge“.
TVT ur, weil die obige Recension zu einigen sachlichen
Bemerkungen und Richtigstellungen Anlass giebt,
treten wir derselben etwas näher, unter der Erklärung
zum vornherein, dass wir nur auf das Nöthigste ein-
gehen und begreiflicherweise uns versagen, auf die
einzelnen mehr persönlichen kritischen Ausfälle irgend¬
wie zu antworten.
1. Zunächst müssen wir die Vorstellung zerstören,
als ob das ganze Programm „ohne jede Mitwirkung
der Kliniker“ behandelt worden sei. Bei den grund¬
legenden Sitzungen über die Abgrenzung der Auf-
Di gitized by Google
nahmebezirke und die ganze Organisation der Landes¬
irrenfürsorge waren dieselben vertreten und haben
ihren Standpunkt gewahrt, wie auch ihre späteren
schriftlichen Kundgebungen gewürdigt wurden.
Mit dem regierungsseitig gemachten Vorschlag über
die Vertheilung der practischeji Aufgaben unserer
psychiatrischen Asyle haben sich die klinischen Collegen
übrigens früher durchaus einverstanden erklärt.
Warum dieselben nach den entscheidendem Vor¬
berathungen bei der Abfassung der Denkschrift nicht
beigezogen wurden, entzieht sich unserer Kenntniss.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
IQ02.J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 105
Vielleicht hielt das Ministerium, dem die Landesirren¬
fürsorge obliegt — die Kliniken ressortiren in ein
anderes Ministerium — die Sachlage für genügend
geklärt und, zum Unterschied von Herrn Gaupp,
die ernannte Commission zur Lösung der ihr ge¬
stellten Aufgabe zureichend.
2. Es wird jetzt so hingestellt, als ob erst der
Heidelberger Nothruf vom Jahre 1897 nöthig gewesen
wäre, um die Lage der badischen Irrenfürsorge und
die Nothwendigkeit neuer Anstalten klar zu legen.
Niemandem konnten aber die Verhältnisse und Be¬
dürfnisse der Landesirrenfürsorge bekannter und ver¬
trauter sein, als den mit ihr durch die tägliche Er¬
fahrung aufs engste verbundenen Leitern der öffentlichen
Anstalten. Sie konnten der Belehrung darüber ent¬
behren. Schon das Weiterbestehen von Pforzheim
war die beständige und selbstverständliche Mahnung
zu neuen Projecten.
Auf ein öffentliches Hervortreten aber konnten
sie im Vertrauen auf die ihrer Aufgabe bewusste,
immer thatkräftige Regierung verzichten.
Zu der Zeit des Heidelberger Vorstosses aber war
noch eine dringlichere Aufgabe als ein Neubau
zu erfüllen. Wenn Herr Gaupp aus eigenem Erleben
mit unseren Verhältnissen bekannter gewesen wäre,
hätte ihm dieser Zusammenhang nicht entgehen können.
Es war zuerst Emmendingen auszubauen und ge¬
rade noch mit den für den Gesammtbetrieb wichtigsten
Errungenschhaften zu vervollkommnen. Vor allem
aber musste, was über dem Neubau Eramendingen’s
bisher hintangestellt worden war, nachgeholt werden,
d. h. es mussten den vorhandenen Anstalten die
für ihre weitere gedeihliche Wirksamkeit unent¬
behrlichen und unaufschieblichen Existenz¬
bedingungen in Gestalt der allernöthigsten Re¬
formen geschaffen werden. Dieser sich vordrängenden
Aufgabe ist denn auch die Regierung in zielbewussten
Projecten und erfolgreichen Thaten gerecht geworden.
Zur Zeit des Kraepelin’sehen Vortrags lagen
alle diese Reformen bereits in zur Ausführung fertigen
Plänen vor. Schon allein die bewilligten Mittel — nahe¬
zu 1 i/ 2 Million in den letzten drei Budgetperioden —
führen eine dem Kundigen hinreichend beredte Sprache.
Der Zweck dieser Projecte war in voller Absicht
nicht in erster Reihe die Platzgewinnung, und konnte
es nach dem Obigen nicht sein. Immerhin ist aber
der Erhalt von 200 neuen Plätzen in allen Anstalten
zusammen keine quantite negligeable gewesen. Da¬
von haben den Hauptgewinn die Kliniken davonge¬
tragen, deren Evacuationsbedürfniss einer besonderen
Rücksichtpahme jederzeit sich erfreut.
Stünden wir heute von Neuem vor den gleichen
Digitized by Google
Verhältnissen : wir würden, unserer Ueberzeugung und
unserem Pflichtgefühl für das Ganze und das Wohl
des Landes folgend, wieder ebenso handeln müssen.
Noch während diese „Schuld“ — wenn man von
einer solchen sprechen will — gegen die vorhan¬
denen Anstalten und die bereits dort weilenden
Kranken abgetragen wurde, ging man seitens der Re¬
gierung ungesäumt zu neuen Projecten über, ohne
dass es auch an dieser Stelle der Heidelberger Ini¬
tiative bedurft hätte. Der beschlossene Neubau gleich
zw f eier neuer Landesanstalten beweist genügend den
Ernst, mit dem man der längst erkannten Nothlage
entgegentrat.
3. Auf die Gegenvorschläge Gaupp’s bezüglich
der künftigen Vertheilung der Aufgaben in der
Landesirrenfürsorge an die einzelnen Institute einzu¬
gehen, ist hier nicht der Ort. In den unserigen haben
wir uns an die seitherige erprobte Organisation, welche
natürlich die Interessen des ganzen Landes in
Betracht nimmt, angelehnt und können in unserer
Repartition keinerlei Schmälerung der klinischen In¬
teressen finden. Zugleich gingen wir davon aus, dass
auch den Kranken der berechtigte Anspruch auf eine
nicht in erster Linie dem Unterrichtszw'ecke dienende
Heilanstalt verbleiben müsse.
4. Unsere Vorschläge bezüglich des Nerven¬
heims erhalten bei Herrn Gaupp eine ausgespart
ungnädige Censur und w'ir selbst, als so zu sagen
„ländliche“ Neuropathologen, die Zubilligung mildernder
Umstände. Wir lächeln — und gehen sofort auch
hier auf das Sachliche über, das der Neuheit wegen
einige eingehendere Bemerkungen rechtfertigen möge.
Die Kritik wendet sich namentlich gegen die von uns
vorgeschlagenen Krankenkategorien und gegen die
Erstellung in der Nähe einer Anstalt, zumal Illenau’s.
Alle diese Einwürfe betreffen noch z. Zt. schwebende
Fragen und sind, wie jeder neue Beitrag, an sich
willkommen; nur können auch sie nur als eine Meinungs¬
äusserung gelten, nicht als Abschluss, wie es den An¬
schein erweckt. Naturgemäss wird einen solchen erst
die weitere Erfahrung bringen, nach längerer Zeit und
aus vielen Orten mit unter sich vergleichbaren Ver¬
hältnissen gesammelt. Und selbst dann noch wird
wahrscheinlich in jeder Lösung ein unbeglichener Rest
enthalten bleiben, der sich hierauf die Eigenart der
localen Bedürfnisse, dort auf die Art der Bevölkerung,
die socialen Verhältnisse und die sonstige Art der
Fürsorge (durch Spitäler, Kliniken etc.) gründet, terri¬
torial mit diesen Factoren wechselt. Unsere Auf¬
fassung und Vorschläge beziehen sich zunächst nur
auf die einheimischen Verhältnisse, wobei w ? ir bestrebt
waren, einerseits dem erkannten Bedürfniss Rechnung
Original from
HARVARD UNIVER^ITY
io6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 9.
zu tragen, andrerseits etwaige Competenz-Conflicte
mit anderen medicinischen Instituten thunlichst zu
umgehen. Auch nach der uns vorliegenden klinischen
Epikrise sind wir nicht in der Lage, ein Wesentliches
in unserer Darlegung zurückzunehmen oder abzuän¬
dern. Namentlich halten wir fortan fest, dass speciell
die von Herrn Gau pp perhorrescirten Krankheits¬
formen einen ersten berechtigten Anspruch auf Für¬
sorge haben, deren sie bis jetzt entbehren. Wir sind
nach wie vor der Ueberzeugung — und jeder er¬
fahrene Irrenarzt wird uns beistimmen —, dass gerade
die „psychisch“-Nervösen unserer Auswahl nur von
dem practischen Fachmann richtig verstanden werden;
dass sie z. Zt. von den eigentlichen Anstalten nicht
aufgenommen werden können, und doch einer me¬
thodischen fachmännischen Behandlung und Aufsicht
dringend und ernstlich bedürfen. Geheimrath Ludwig
characterisirt diese Gruppe von Kranken (Bericht der
Verwaltung' der hessischen Unterstützungskassen p.
1894/95) als „Solche, die durch häusliche Sorgen, die
Anstrengungen des Berufs, oder sonstwie unzweck¬
mässige Lebensweise heruntergekommen, aber nicht
eigentlich geisteskranke Hilfsbedürftige sind. Ihre
beschränkten Mittel schliessen den Besuch einer
Nervenheilanstalt aus, e$ muss ihnen aber geholfen
werden, weil sie in höchstem Grade unglücklich sind
und weil sie sonst der Gefahr des Uebergangs des
nervösen Leidens in wirkliche Geisteskrankheit und
namenloses Elend erliegen.“
Wir erkennen in dieser Schilderung genau den
einen Theil der auch von uns empfohlenen Kranken.
Den andern — die Zustände mit Zwangsgedanken,
Phobieen etc. — weist in derselben Uebereinstimmung
der neueste Autor Dr. Weygandt (Psychiatrie p.
219, 226, 229) ausdrücklich den „offenen Nerven-
anstaltenmit Beschäftigungstherapie“ nach dem Muster
von Haus Schönow zu. Wir befinden uns also in
guter Gesellschaft. Dass übrigens auch die funktionellen
Neurosen, die Herr Gau pp speciell im Auge hat,
keineswegs von unserm Nervenheim ausgeschlossen
M i t t h e i
— 37. Versammlung des Vereins der Irren-
Aerzte Niedersachsens und Westfalens.
7. Herr Quaet-Faslem-Göttingen: Mit¬
theilungen aus der Universitätspoliklinik
für psychische und Nervenkranke zuGöt-
t i n g e n.
Im October vorigen Jahres gegründet, hat die
Poliklinik, wie die Besuchszahlen beweisen, ihre Exi¬
stenzberechtigung bewiesen, ja mehr als das, sie war
Digitized by Google
sind, ist in der Denkschrift (p. 53) bestimmt ausge¬
sprochen.
Uebrigens so oder so: neben und vor diesen
mehr academischen Fragen sollte, wie wir meinen,
die Aufgabe gehen: unser ländliches Nervenheim
wirklich zu machen. Dann werden sich gewiss
auch die geeigneten Kranken finden, ungesucht, ohne
Discussion, unmittelbar aus dem actuellen Bedürfniss,
aus den Forderungen des Tags.
Nun aber — wohin? Durch Gründe der Zweck¬
mässigkeit und des practischen Betriebs haben wir
der relativen Verbindung der Nerven-Volksheilstätte
mit einer Anstalt, jedoch bei Wahrung aller Selbst¬
ständigkeit, das Wort geredet. Die Nähe von Illenau
ergab sich aus dem Vorhandensein eines geeigneten
Platzes; in gleicher Weise wie auch für die Trinker¬
anstalt, für welche sich in letzter Stunde ein sehr
passender Geländecomplex mit einem ausgedehnten,
gut organisirten und mannigfaltigen ökonomischen
Betrieb gefunden hatte, neben dem weitem Vorzug
der centralen Lage in unserm Lande. Dass die
Stadt Frankfurt eben daran geht, ihr Nervensana-
torium im Köppemer Thal wesentlich nach denselben
Grundsätzen, wie wir, zu erstellen, dürfte doch auch
der Erwägung werth sein. Mittlerweile hat der in
unserer Frage z. Zt. practisch erfahrenste College unsem
Vorschlag als „eine in glücklicher Weise den Verhält¬
nissen entsprechende Lösung“ bezeichnet
Dass das Nervenheim durch die Nähe der Irren¬
anstalt discreditirt werde, davor sind wir nicht bange;
wie es scheint, haben wir etwas grösseres Vertrauen
zu uns selbst und zu dem Urteilsvermögen des Publi-
cums.
Uebrigens sind auch öffentliche Institutionen nicht
dazu da, dem Vorurteile der Menge zu schmeicheln,
sondern sie sollen ihm entgegentreten.
Es wäre zu erwarten gewesen, dass wir in diesem
Kampfe für die Aufklärung die klinischen Collegen
eher auf unserer Seite hätten, als gegen uns.
Die Verfasser der Denkschrift.
Jungen.
entschieden ein Bedürfniss. Als glücklich muss die
Verbindung der Poliklinik mit der psychiatrischen
Klinik resp. der Heil- und Pflegeanstalt angesehen
werden. Es werden akute Psychosen weit eher er¬
kannt und sachgemässer Behandlung zugänglich, die
unter dem Deckmantel eines nervösen Leidens in der
Poliklinik erscheinen. Oft wird es daher möglich sein
die Anstaltsbehandlung ganz zu vermeiden.
Von den in der Poliklinik unter einer bisherigen
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
107
1902.]
Frequenz von 316 Fällen erscheinenden Psychosen
brauchten nur 2 in der Anstalt aufgenommen zu
werden. Die einzelnen zur Behandlung gelangenden
Fälle vertheilten sich auf:
Krankheiten des Rückenmarks . . 9
„ der peripheren Nerven 24
„ des Gehirns .... 16
Angioneurosen und Trophoneurosen 8
Intoxikationen unter Betheiligung des
Nervensystems.. 2
Psychosen. 38
Neurosen.219.
Die Poliklinik trägt ferner dazu bei, das beim
grossen Publikum noch immer bestehende Misstrauen
gegen die Irrenanstalten und ihre Aerzte beseitigen*
zu helfen.
Ref. bringt dann aus dem Material der Poliklinik
einen Fall seltener Localisation von Graphospasmus.
Der Krampf befällt lediglich den Pectoralis major
und Deltoideus.
Der Patient war 17 Jahre Trompeter und spannte
in seinem Beruf beim Halten seines Instrumentes die
beiden erwähnten Muskeln. Er ist jetzt Kassenbote
und muss viel schreiben. Es scheint ihm nun nicht
zu gelingen, das alte Coordinationssystem, das er im
Dienste des ersten Berufes verwenden musste, im
neuen Beruf ganz auszuschalten.
Es Hegt eine reine Störung der Coordination vor,
die die Bezeichnung des Schreibkrampfes als coordi-
natorische Beschäftigungsneurose (Benedikt) vollkom¬
men rechtfertigen muss.
Ref. erwähnt dann kurz den seiner Ansicht nach
sehr grossen Einfluss der Psyche auf die Krankheit.
Zum Schluss bringt Ref. einige Angaben über das
Nährpräparat „Hygiama“, dessen Verwendung sich in
der Poliklinik in jeder Hinsicht als auffallend günstig
erwiesen hat und in ihr jetzt in vielen Fällen zur
Anwendung kommt.
Bei allen Arten von Schwächezuständen (Chlorose
etc.), bei neurasthenischen und hysterischen Verdau¬
ungsstörungen und vor allem auch bei Nahrungsver¬
weigerungen in der Anstalt hat es sich sehr gut be¬
währt In der Poliklinik wurde es bisher in 35 Fällen
verwandt
Ref. hält das Mittel namentlich auch im Betriebe
grosser Anstalten für sehr empfehlenswerth. Die Be¬
obachtungen werden fortgesetzt. (Autoreferat).
8. Herr Behr-Lüneburg: Ueber die Fami¬
lienpflege in Göttingen.
Vortr. bespricht auf Grund der von ihm als Arzt
der Familienpflege in Göttingen gesammelten Erfah¬
rungen die Gesichtspunkte, welche sich bei Einrich¬
tung und Handhabung derselben als beachtenswerth
erwiesen und bewährt haben, so die Auswahl des
Krankenmaterials und der Pflegestellen, die Frage
nach Frequenz und Ausübung der ärztlichen Con-
trolle, nach der Instruktion der Pfleger etc.
Die durchweg guten Resultate drängen zu weite¬
rer Ausdehnung. Es wird weiter die wirtschaftliche
Frage vom Standpunkte der Anstalt erörtert und die
subjectiven Verhältnisse der Kranken, sowie ihre psy¬
chische Beeinflussung durch die Unterbringung in
Familienpflege. Die Berücksichtigung der socialen
Lage der Landbevölkerung in den zur Einrichtung
gewählten Orten ist weiterhin sehr von Wichtigkeit.
(Wird ausführlich publicirt). V o g t - Göttingen.
— Ein crasses Beispiel der Verdächtigung
von Irrenanstalten und Irrenärzten liefert der
folgende Artikel der „Münchener Post“ vom 26. IV.
1902:
Zum Kapitel des Irrenrechts.
In unseren Händen befindet sich ein umfang¬
reiches Material zum Kapitel der Irrenrechtspflege
in Bayern, das im Interesse der Allgemeinheit und
der Betroffenen zur geeigneten Zeit verwendet werden
soll.
Für heute möchten wir auf einen dringlichen Fall
hinweisen, vorläufig ohne Namensnennung. In Neu-
Friedenheim befindet sich seit mehreren Monaten eine
sehr vermögende Dame der sogenannten guten Ge¬
sellschaft. Die Dame ist 84 Jahre alt und wurde
auf hinterlistige Weise ohne vorherige Untersuchung
durch den zuständigen Polizeiarzt in die Anstalt ge¬
bracht, wo sie gegen ihren Willen festgehalten wird.
Die alte Dame steht in verwandtschaftlichen Be¬
ziehungen zu einer ersten Münchener Kunstgrösse
und ist auf deren Betreiben entmündigt worden.
Diese Entmündigung erfolgte aus Gründen, auf die
wir vielleicht noch näher eingehen müssen, aber
keineswegs wegen irgend einer geistigen Störung der
Betroffenen.
Wir wollen auch vorläufig nicht näher untersuchen,
ob der Hunger nach Gold und die Angst des Herrn
Professors und seiner Gattin, die Entmündigung könne
wieder aufgehoben werden, die hinterlistige Ueber-
führung der Dame nach Neu-Friedenheim angeregt
hat. Eines erscheint uns aber jedenfalls sicher: die
Ueberführung ist widerrechtlich und in ungesetzlicher
Weise erfolgt, und das Verhalten der Anstaltsleitung
in Neu-Friedenheim erscheint in sehr zweifelhaftem
Lichte. Auch das Verhalten der übrigen betheiligten
Personen, des „begutachtenden“ Arztes, der Rechtsver¬
treter u. s. w., erscheint nicht einwandfrei. Der ganze
Fall ist ein Beweis für die Rechtlosigkeit der Person in
Bayern, wenn einflussreiche Leute die Hand im Spiele
haben und für die ausserordentliche Gefahr der auf
Erwerb bedachten „Privat“irrenpflege.
So viel für heute. Wir erwarten, dass diese An¬
deutungen genügen, der alten Dame die Freiheit
wieder zu geben. Im anderen Falle müssen wir sehr
deutlich werden. %
Die „Münchener Post“ vom 7. V. 1902 brachte
folgende Richtigstellung:
Zum Kapitel des Irrenrechts.
Vom dirigirenden Arzte der Heilanstalt Neu-
Friedenheim, Herrn Dr. Rehm, erhalten wir folgende
Berichtigung: Die in Nr. 96 Seite 6 der Münchener
Post unter der Ueberschrift „Zum Kapitel des Irren¬
rechts“ enthaltene Mittheilung wird hiermit berichtigt,
wie folgt:
1. Die in dem berichtigten Artikel erwähnte, durch
rechtskräftigen Beschluss des kgl. Amtsgerichtes
München I, Abtheilung A für Civilsachen, vom
21. Octobcr 1901 entmündigte 84 jährige Patientin
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108 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 9.
ist nicht auf Betreiben einer ersten Münchener Kunst¬
grösse, sondern auf Betreiben des rechtskundigen Vor¬
mundes der Enkel der Entmündigten entmündigt worden.
2. In dem Entmündigungsbeschlüsse ist festgestellt,
dass die Entmündigte nach dem übereinstimmenden
Gutachten der vernommenen drei Sachverständigen,
unter denen ich mich jedoch nicht befunden habe,
an dementia senilis (Altersschwachsinn) leidet, und
dass der Altersschwachsinn der Entmündigten nach
der richterlichen Ueberzeugung einen derartigen Grad
erreicht hat, dass die Kranke jeder freien Willensbe¬
stimmung beraubt ist.
3. Der kgl. Bezirksarzt und zuständige Polizeiarzt
Dr. Müller in München hat am 30. Dezember 1901
die Entmündigte untersucht und sich gutachtlich dahin
geäussert, dass die senile Demenz der Entmündigten
eine Anstaltsbehandlung dringend nöthig mache;
daraufhin hat die kgl. Polizeidirection München am
31. Dezember 1901 die Aufnahme der Entmündigten
in die Anstalt Neu-Friedenheira genehmigt.
4. Die Ueberführung der Patientin in die Anstalts¬
behandlung ist auf Grund ärztlichen Gutachtens im
Interesse der Erhaltung des Lebens der Patientin und
Herbeiführung sachgemässer ärztlicher Behandlung
erfolgt; es ist unwahr, dass diese Ueberführung wider¬
rechtlich oder in ungesetzlicher Weise erfolgte.
Referate.
— The Journal of Mental Science. April
1901. (Fortsetzung.)
Bernard Holländer giebt eine kurze Zusammen¬
stellung unserer Kenntnisse über das Gehirn als Or¬
gan der Psyche. Wir thun am einfachsten, wenn wir
uns an die Schlusssätze des Verf. halten: 1) Die
Grösse des Gehirns ist nicht nur ein Maass für die
Höhe der Intelligenz, sondern auch für die Kraft der
Gefühle und Neigungen. 2) Die Zonen der Empfin¬
dung sind nicht die Centren der Wahrnehmung und
Reflexion, und die Hinterhauptslappen haben nichts
mit den höheren intellectuellen Prozessen zu thun.
3) Mit der Annahme von reinen motorischen und
sensorischen Centren allein könnte man nicht die
Verschiedenheit der menschlichen Charaktere und der
geistigen Störungen erklären. Sie sind auch die Sub-
strata der psychischen Centren, also phychomotorische
und psychosensorische Ccntra. 4) Nur die Grösse
der Frontallappen ist von Wichtigkeit für die Beur-
theilung der Intelligenz. Die Frontallappen können mit
den Maassen, wie sie auch für den Körper im Gebrauch
sind, gemessen werden. Der Kopf mag bei einem ge-
scheidten Individuum klein sein, wenn nur die Fron¬
tallappen verhältnissmässig gross sind. 5) Gedächtniss
ist keine einheitliche Fähigkeit, sondern es giebt Ge-
dächtnissarten und dementsprechende Centren, so ein
Gedächtniss für Zahlen, Orte, Zeit, Worte, Töne etc.
Das Wortgedäehtnisseentrum ist bereits lokalisiert. 6)
Es muss neben den Centren für rein intellektuelle
Prozesse in der Rinde noch solche geben für Ge-
müthsbewegungen und Strebungen. 7) Die intellektuellen
Prn< esse überwachen die Gefühle und Neigungen, so¬
mit enthalten die Stirnlappen die Hemmungscentren für
die im übrigen Gehirn sich abspielcndcn Processe.
George Rorie hat die nach Influenza aufgetretenen
Fälle von Irresein, die im Cumberland und Westmore¬
land Asyl aufgenommen worden waren, statistisch und
klinisch bearbeitet. Es war schon aufgefallen, dass
während der Influenzaperiode die Aufnahme me¬
lancholischer Kranken in verschiedenen Anstalten be¬
trächtlich stieg. Das war auch in jenen beiden An¬
stalten der Fall. Verf. fand von 1890—99 im ganzen
68 Fälle verzeichnet, in denen die Geisteskrank¬
heit direkt oder indirekt mit der Influenza in Zusam¬
menhang gebracht werden konnte. Unter den 68
Fällen befanden sich 34 M. und 34 Fr. Die Mehr¬
zahl der Männer wurde aufgenommen in den Jahren
1892, 1893, 1894, 1895 und 1896, ihr Prozentsatz
betrug jeweils 5.7, 5.9, 5.4, 6.5 und 5.1. Bei den
Frauen kamen die meisten 1892 mit 12.3%, 1894
mit 5.0% und 1897 mit 6.6 ° 0 zur Aufnahme. Bei
den 34 Männern betrug das Durchschnittsalter beider
Aufnahmen 43.8, der jüngste zählte 19, der älteste 71
Jahre. Die Frauen hatten ein Durchschnittsalter von
48.5, darunter ein Mädchen von 19 und eine Greisin
von 89 Jahren.
Bei der Aufnahme zeigten von den 68 Fällen nur
22 einen annehmbaren körperlichen Gesundheitszustand.
Die Zeit zwischen dem Influenzaanfall und dem
Ausbruch des Irreseins ist sehr schwankend und schwer
bestimmbar. Die Freunde des Kranken geben meist nur
an, er sei seit der Influenza nicht mehr wie früher ge¬
wesen. Die Zeit von dem Influenzaanfall bis zur Auf¬
nahme ist manchmal so gering, dass diese direkt dem
Anfall folgt, oder es vergehen mehrere Tage, Wochen,
Monate, ja ein Jahr. Verf. glaubt, dass bei seinen
Fällen meist 1 — 3 Monate dazwischenlagen.
Was die Prädisposition zum Irresein betrifft, so
handelte es sich bei 28 Fr. um den ersten Influenza¬
anfall, bei 3 Frauen um den dritten, bei zweien um
den zweiten, und bei einer war es „nicht der erste“.
Bei den Männern war es in 29 Fällen der erste An¬
fall, in 2 Fällen der zweite, in einem der vierte und
in einem „nicht der erste.“ 10 M. und 12 Fr. waren
erblich belastet. Dazu kamen noch 5 Alkoholiker
und 3 Schwachsinnige, und bei den Frauen eine Al-
koholistin und 5 Nervöse. Meist also handelte es sich
neben der Influenza noch um eine andre prädisponie¬
rende Ursache.
26 Männer litten an Melancholie, 3 an akuter Manie,
4 an Manie und einer an prog. Paralyse. 16 Melan¬
choliker und ein Maniakus waren suicidverdächtig. Von
den Frauen litten 20 an Melancholie, 8 an Manie, 4
an akuter Manie, eine an seniler Manie und eine an
seniler Demenz. 14 Melancholische und 5 Mania-
kalische waren Selbstmord verdächtig.
Die Prognose, besonders in den Fällen von Melan¬
cholie, ist im ganzen günstig. Von den 26 melancho¬
lischen Männern wurden 16 geheilt, 6 gebessert, einer
wurde blödsinnig und 3 starben. Die 3 Fälle von aku¬
ter Manie wurden nach etwa 3 Monaten geheilt. Von
den 4 Fällen von Manie wurde einer geheilt, einer
gebessert und 2 starben. Von den 20 melancholischen
Frauen wurden 16 geheilt und 3 starben. Von den
4 Fällen von akuter Manie genasen 3, von den
8 Fällen von Manie wurden 2 geheilt und 2 starben.
Die Ursache des Todes war meist Phthisis und senile
Erschöpfung. Der Anstaltsaufenthalt der Genesenen
schwankte zwisc hen 1 und 12 Monaten. (Schluss folgt.)
Digiti;
Erscheint
(SügTe:
ciactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Hresler
Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. —
u ->—\ T-T.ll
Krascbnitz, (Schlesien). j| fl'SI'T
jr i ^ÄTtVÄi^ r ^^E¥räirf
Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttatadt,
(Irhi«prmge (AUmarki Graz. Zürich. Frankfurt a. M. Geh. Med.-Rath, Berlin.
Prof. Dr. E. Mendel. Dr. P. J. Möbius, Director Dr. Morel,
Berlin. Leipzig. Mons (Belgien).
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 10 . i.Tuni. 1902
Die ,,Psych 1 atr 1 sch-Neur olo g ische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro (Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen.
Inserate werden fiir die 3&paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften Tür die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Frage der Grösse und Benennung der Irrenheilanstalten. Von Dr. Gustav Olhh-Budapest (S. 109). —
Die Irrenfürsorge in Baden. Von Oberarzt Dr. Max Fischer-Illenau {S. in). — Mittheilungen (S. 117). — Referate (S. 119).
Zur Frage der Grösse und Benennung der Irrenheilanstalten.
^^ 11 der, in den letzten Nummern der Wochenschrift
aufgeworfenen Frage bezüglich der zwcckmässigsten
Grösse einer Irrenheilanstalt sei cs auch mir gestattet,
meine Ansicht auszusprechen.
Ich bekenne mich gleic h in vorhinein als eifrigen
Verfechter möglichst grosser Anstalten und cs nimmt
mich Wunder von den deutschen Collegcn, wenn sie
die Grosse einer Anstalt mit der Uebcrsichtliehkcit
des Krankenmaterials seitens des Direotors verknüpfen
und fragen: wie soll ein ärztlicher Leiter, mit ad¬
ministrativen Agenden überhäuft, 1000—1400 Kranke
auch nur dem Aussehen nach kennen, geschweige
deren ärztliche Behandlung leiten. Ja das wäre
allerdings eine Hcrcules-Aufgabe, besonders im Zeichen
der individualisirenden Behandlungsweise und bei dem
beständigen Wechsel des Materiales. Aber ich wüsste
wirklich nicht, wie tief man die untere Grenze des
Krankenstandes ziehen sollte, damit ein Director mit
ruhigem Gewissen von sich sagen könne, dass er dieser
Aufgabe vollkommen Genüge leiste. Die Grösse einer
Anstalt an jene Grenze zu knüpfen, wo der Director
noch im Stande ist, den Zustand sämmtliehcr Kranken
im Gcdächtniss zu behalten, ist eine Verkennung der
Beziehung zwischen Organismus und leitendem Centrum.
Diese Auffassung, auf andere Organisationen, sociale
Gebilde, industrielle Etablissements etc. angewandt,
führt zu Paradoxa.
Grundbedingung ist nur die einheitliche Organisation,
das Ineinanderarbeiten der Thcile. Je verschieden¬
artiger, differenzirter die einzelnen Theilc, bei Vor¬
aussetzung einheitlicher Leitung, um so höher die
Entwickelung der Organisation, um so vollkommener
und verfeinerter die Dctailarbeit. Dass in dieser Be¬
ziehung psychiatrische Forschung und Behandlungs¬
methoden Hand in Hand gehen, braucht nicht erst
gesagt zu werden. Eine kleine Anstalt mit 4—500
Patienten kann ja einen recht anheimelnden Eindruck
machen, und mit dem Director gleichsam als Familien¬
oberhaupt an der Spitze, der jedes Mitglied der
kleinen Ansiedelung persönlich kennt, sehr patriar¬
chalisch gemüthlich sein, kann auch im Kleinen alles
verwirklichen, was zu den modernen Attributen einer
modernen Irrenanstalt gehört, wird aber in ihren
höheren psychotherapeutischen Bestrebungen nur zu
bald an die budgetären Grenzen einer kleinen Anstalt
stossen. Ist doch unser psychotherapeutisches Instru¬
mentarium die Anstalt selbst mit ihrem ganzen
Inventar von der Kapelle bis zur Küche ja ihre ver¬
schiedenen Insassen mit einbegriffen. Eine Milieube¬
handlung im modernen Sinne ist nur möglich, wo die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
no
in verschiedenen kleinen Anstalten vertheilten therapeu¬
tisch zusammengehörigen Elemente örtlich zusammen-
bringbar sind. Diese Möglichkeit wächst mit der Grösse
der Anstalt im gleichen und mit den erforderlichen
Kosten im umgekehrten Verhältniss. Freilich die
planlose Anhäufung eines kunterbunten Materials wie
sie ein Landesdistrict gerade liefert, kann ja drückend
werden, aber das ist das Ideal einer grossen Anstalt
nicht, ist vielmehr ein monströses Gebilde. Unter
einer „grossen Anstalt“ verstehe ich einen grossen
Organismus der Irrenpflege, dessen einzelne Glieder
räumlich von einander innerhalb gewisser Grenzen
getrennt sein können, aber unter einheitlicher Leitung
als zusammengehöriges Ganzes in beständigem Contact
mit einander bleiben müssen, wo jeder Kranke das
jeweilige Milieu findet, das ihm passt. Es klingt als
Paradoxon, aber ich meine: je kleiner die Anstalt,
je weniger Kranke, um so geringer die Möglichkeit
einer individualisirenden Behandlung. Kleine autonome
Anstalten mit begrenztem Contingentirungs - Gebiet
sind werthlos. Irrenanstalten dienen keinem localen
Interesse wie Spitäler. Die Discussion, ob in einem
District eine neue Anstalt als Colonie, oder als ge¬
schlossene Anstalt oder sonst wie errichtet werden
soll — ist völlig unpsychiatrisch. Eine braucht die
andere und alle brauchen eine Organisation von
grosser Conception. Müssen doch die meisten Kranken
entsprechend dem Krankheitsverlauf durch die ein¬
zelnen Systeme successive durchgeleitet werden. Und
nun erst das Stadium der Irrenbehandlung, die doch
Endzweck jeder psychiatrischen Forschung ist! Welche
Perspectiven eröffnen sich, wenn die Möglichkeit ge¬
geben ist, dass der Anstaltsleiter statt einem Arzt eine
gemischte Abtheilung zuzuweisen, ihm eine bestimmte
Aufgabe stelle z. B. Behandlung der Depressionszu¬
stände oder gewisser senilen Formen, Intoxications-
psychosen etc. und wenn zur Erforschung jeder Detail¬
frage ein entsprechendes Krankenmaterial zur Ver¬
fügung steht. Ich denke, die Zeiten sind vorüber, wo
in der öffentlichen Irrenfürsorge die Frage der Unter¬
bringung im Vordergrund stand.
Wir hätten in den Culturstaaten die Geisteskranken
nun so ziemlich unter Dach und Fach. Jetzt harren
unser grössere Aufgaben als die einer guten Unter¬
bringung, aber diese sind meines Erachtens in kleinen
autonomen Anstalten nicht zu lösen. Sehen wir ja
einen Differenzirungsprocess in der specialisirenden
Richtung der Privatheilanstalten in immer feineren
Nuancen vor sich gehen. Selbst die Specialanstalten
für Alkoholisten theilen sich weiter je nach der socialen
Classe der Patienten und den Formen des Alkoholismus.
Aufgabe der einzelnen Staaten ist dieser Specialisirung
[Nr. io.
im Rahmen von grossen Anstalten mit zahlreichen
Dependencen, Familienpflegehäusem etc. Geltung zu
verschaffen anstatt der Classification nach Verpflegs-
classen, die ich mit den Bestrebungen der öffentlichen
Irrenfürsorge für unvereinbar halte. Mit sogenannten
Luxusabtheilungen und Zahlstöcken das Budget der
Anstalt günstiger zu gestalten und den Anstaltsärzten
ein Nebeneinkommen zu sichern, ist keine Aufgabe
des öffentlichen Sanitätswesens, und einer Irrenfürsorge
im grossen Styl. Diese soll dem Kranken all das
bieten, was ihm zukömmlich ist ohne Rücksicht auf
Verpflegsclassen; aber was darüber hinaus ist, die
luxuriöse Verpflegung nach gegenseitiger Ueberein-
kunft, mag gänzlich den Privat-Heilanstalten überlassen
werden, die eher in der Lage sind speciellen Rück¬
sichten Genüge zu leisten.
Was den aufgeworfenen Gedanken einer zweck¬
entsprechenderen Benennung der Anstalten betrifft,
so bin ich natürlich dafür, dass man nicht weit genug
gehen kann im Kampf gegen die Exclusivität der
Irrenanstalten und in der Tilgung der traurigen Remi-
niscenzen, die sich an dieselben knüpfen. Elin in¬
differenter Titel wie „Sanatorium“, „Asyl“., Him-
krankenanstalt“, oder das von den Franzosen vor¬
geschlagene „Maison Esquirol“, „Maison Pinel“ etc.
ist jedenfalls besser als Irrenanstalt, doch ist
damit nicht das erreicht, was wir bezw'ecken. Die
angeführten indifferenten Benennungen werden nur
zu bald ihre Harmlosigkeit verlieren und jeder, der
in einer „Hirnkrankenanstalt“ war, wird gern davon
schweigen, so wie sich niemand damit brüstet, in der
harmlos benannten „Maison nationale de Charenton“
gewesen zu sein. Warum den Geisteskranken nicht
den Namen geben, für was sich die sich selbst Be¬
wussten — und das sind ja die meisten — gewöhnlich
halten: „Nervenkrank“? Sind sie es denn nicht?
Nervenkrankheiten, die einer Anstaltsbehandlung be¬
dürfen, sind ja in den meisten Fällen centraler
Natur, das heist mehr als Nervenkrankheiten im con-
ventionellen Sinne. Die Benennung „Staats- oder
Landes- oder Öffentliche Anstalt für Nerven¬
kranke“, könnte mit einem Schlag die von jedem
Psychiater herbeigesehnte Ueberbrückung zwischen
dem öffentlichen Leben und der Anstalt in unmittel¬
bare Nähe stellen. Es ist heutzutage nicht mehr die
Irrenanstalt mit ihrer modernen Einrichtung, die ab¬
schreckend wirkt, einzig nur der Name. Es ist damit
was Eigenes. Wir schämen uns niemals der Symp¬
tome einer durchgeraachten Gehirnkrankheit, nur der
Diagnose allein. Auch sind es ja nicht alle Psy¬
chosen, die man mit dem odiösen Namen Geistes¬
krankheit belegt. Sind denn Rauschzustände, Fieber-
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I I I
delirien etc. nicht ebenso krankhafte Zustände des
centralen Nervensystems als es z. B. eine Puerperal¬
psychose ist? Und wenn die Benennung „Oeffent-
liche Nervenheilanstalt“ zu Missverständnissen
fuhren sollte — (ich höre schon die ängstlichen
Stimmen, welche vor der Möglichkeit warnen in den
Verdacht einer Geisteskrankheit zu kommen) so ist
dieses Missverständnis für Niemand schädigend, das
heisst für Nervenkranke leichteren Grades überhaupt
nicht obwaltend, für die sogenannten Geisteskranken
aber von unermesslichem Gewinn. Ist doch das
Urteilsvermögen bezüglich der Bedeutung der Irren¬
anstalt bei den meisten Kranken ungestört. Bei
Anstaltsbesuchen hören wir die stereotype Klage:
„Man hat mich statt in eine Nervenheilanstalt ins
Irrenhaus gebracht“. — Wie oft wird gesagt, dass es
was Entsetzliches sein müsste, wenn ein Geistesgesunder
in eine Irrenanstalt gesteckt würde.
Nun dieses Gefühl haben die meisten Geistes¬
kranken ebenso. Nicht die Umgebung, nicht die Mit¬
patienten schrecken sie, an denen sie bei entsprechender
Sortirung des Materials nichts Auffälliges bemerken,
nur die Benennung und der darin liegende Character
der Anstalt, den sie nur zu bald erfahren, ist es, was
sie als eine Ungerechtigkeit empört und eine Quelle
ewiger Recriminationen bildet. Es würde sich eines
Versuches lohnen, von zwei parallelen Irrenanstalten
der einen probeweise den Namen „Oeffentliche Heil¬
anstalt für Nervenkranke“ zu geben. Schon in kür¬
zester Zeit wäre letztere bezüglich des Heilungspro-
centes überlegen (natürlich in beiden Anstalten nur
die eigentlichen Psychosen gerechnet). Die Fälle
würden derselben im Frühstadium, bei den ersten
drohenden Symptomen zugeführt werden (besonders
wichtig bei chronischen Intoxicationspsychosen!), wo
die Heilungsbedingungen viel günstiger liegen.
Will man aus gewissen civilrechtlichen Gründen
die Gemeinschaft der Kranken mit und ohne selbst¬
ständigem Verfügungsrecht vermeiden, so Hessen sich
ja Verfügungen treffen, dass die ersteren als nicht
anstaltsbedürftig oder der öffentlichen Fürsorge nicht
berechtigt zurückgewiesen werden.
Uebrigens sehe ich nicht ein, warum ein mittelloser
Tabetiker oder nach Apoplexie Gelähmter hier nicht
Aufnahme und Behandlung finden könnte.
Ueber die Nothwendigkeit der Entziehung des
selbstständigen Verfügungsrechtes könnte ja eine ge¬
richtliche Commission von Fall zu Fall entscheiden.
Die Errichtung von selbstständigen öffentlichen
Heilanstalten für anstaltsbedürftige unbemittelte Nerven¬
kranke, wie sie hier in Ungarn vorgeschlagen wurde,
halte ich vom psychiatrischen Standpunkte für sehr
bedenklich, weil sie mir geeignet erscheint, die Ex-
clusivität der odiösen Irrenanstalten noch weiter zu
steigern. Ich gebe zu, dass die aufgeworfenen Fragen
noch weiterer Erwägungen bedürfen, aber ich bin der
Ueberzeugung, dass, wenn es die grosse That des
19. Jahrhunderts war, in entsprechender Zahl Heil¬
stätten für Gehimkranke zu errichten, es Aufgabe des
20. Jahrhunderts sein wird, dieselben den Kranken
ohne deren sociale Schädigung und schon
im Stadium der günstigst gelegenen pro¬
gnostischen Bedingungen zugänglich zu
machen.
Budapest, Mai. 1902. Dr. Gustav Olah.
Die Irrenfürsorge in Baden.
Von Oberarxt Dr. Max Fischer- lllenau.
(Schluss).
Aus einer auf ähnlichen Grundlagen aufgebauten
Berechnung, welche sich indes auf beide Pflege¬
anstalten Emmendingen und Pforzheim als die defi¬
nitiven Abnahmestellen der ganzen Landesirrenfürsorge
ausdehnt und den jährlichen Ueberschuss des Zugangs
von Kranken über den Abgang aus den beiden
Anstalten zusammengenommen in Betracht zieht, er¬
halten wir das Ergebniss, dass dieser Ueberschuss
in den Jahren 1889—1900 zwischen den Zahlen
16 und 145 schwankte. Das daraus berechnete
Jahresmittel beträgt 78,67 — also die gleiche Ziffer
wie die vorhin gefundene; ein gütiger Beweis dafür,
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dass dieselbe nicht allein aus der Neubelegung Emmen¬
dingens resultirt, also nicht etwa nur eine locale,
sondern eine allgemeinere, die ganze Lage der Irren -
Versorgung characterisirende Bedeutung hat.
3. Betrachten wir nun die Zunahme der in den
Staatsirrenanstalten insgesammt ohne Rück¬
sicht auf die Platzfrage thatsächlich unterge¬
brachten Irren nach der jährlichen Schlussbilanz im
Verfolg der letzten 30 Jahre, so ergiebt ein Vergleich
folgende Zusammenstellung:
In allen staatlichen Irrenanstalten (Illenau, Emmen¬
dingen, Pforzheim, Heidelberg und Freiburg) zusammen
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betrug die Zunahme der Anstaltsinsassen nach dem
Krankenstände am Schlüsse des Jahres:
in den Jahren 1871 — 1875 für das Jahr = —
1876—1880 „ „ „ = +
1881 — 1885 „ „ „ = +
1886—1890 „ „ „ = +
1891—1895 „ „ „ = +
1896—1900 „ „ „ = +
Die Zunahme der Anstaltsinsassen betrug in der
1
34
22
06
03
63
gleichen Weise
auf die letzten 30 Jahre gerechnet, für ein Jahr: 47,5
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Aus diesen Zahlenzusammenstellungen geht hervor,
dass, während es früher auch Jahre gab, in denen
ein Rückgang an Anstaltsinsassen (z. B. —32 im
Jahre 1875 und von —1 im Lustrum 1871—75,
von —11 noch im Jahre 1883) stattfand, seit dem
Jahre 1884, also lange vor der Eröffnung der Anstalt
bei Emmendingen, eine beständige und steigende Zu¬
nahme an Anstaltsinsassen, nach dem Jahresschluss-
bestande verglichen, in den staatlichen Anstalten zu
verzeichnen war, welche sich nach Lustren gerechnet,
von jährlich +22 für die Jahre 1881 —1885, auf
jährlich +66 für das Lustrum 188G—1890 und auf
jährlich 103 für die Jahre 1891 —1805 hob; die ge¬
ringste Steigerung seit 1884 weist das Jahr 1889 mit
+ 4, die grösste das Jahr 1891 mit + 153 auf;
aber auch in der Zeit von 1896— 1900 betrug dieselbe
trotz des Mangels an neuen Plätzen noch 63 für das
Jahr und stieg im Jahre 1900 allein, sobald wieder
Plätze in einiger Anzahl geschaffen waren, sofort wieder
auf 130 an.
Wichtig ist hierbei für unsere Darstellung besonders,
dass in der Hauptentwicklungszeit der neuen Anstalt
bei Emmendingen in den Jahren 1890—1897. wo
deren Bestand um jährlich 59—235 Kranke anwuchs,
die Gesammtzahl der Insassen aller Anstalten
zusammen gleichfalls ungehindert anwuchs in den
Grenzen von +58 bis +153, und zwar ohne je¬
weilige Correlation der beiden Ziffern nach den ein¬
zelnen Jahren; während z. B. die Hauptzunahme in
Emmendingen auf die Jahre 1890 (wie natürlich nach
der Eröffnung) mit 235 und auf 1895 mit 119 fällt,
ist die Höchstzunahme für die Gesammtheit der In¬
sassen aller Anstalten in den Jahren 1891 mit 153
(Emmendingen + 70) und dann wieder 1900 mit
+ 130 (Emmendingen +28) erreicht. Diese Zahlen
sind der beste Beweis dafür, dass der Zuwachs nicht
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77»o
82,6
63,0
allein auf die Anstalt Emmendingen mit deren zu¬
nehmendem Ausbau beschränkt ist, sondern dass der
Zudrang von Kranken gleichmässig auf die gesammte
Anstaltsversorgung eingeströmt ist.
Das für unsere Zwecke — die Berechnung des
für die künftige Zeit annähernd ma;issgcl müden jähr¬
lichen Zuwachses an Geisteskranken —wichtigste Dun h-
schnittsmaass ist, weil es Verhältnissen entspricht, in
denen dem Zudrang von Kranken von aussen auch
durch vorhandene freie Anstaltsplätze nachgegeben
werden konnte, die obige Zahl für die letzten 15
Jahre, d. h. ein jährlicher Zuwachs von 77 und die
Durchschnittszahl für die letzten 10 Jahre mit 83,
wozu noch die für die Irren Versorgung günstigste Zeit
(nach der Eröffnung von Emmendingen) die Jahre
1 Hq 1 — 1805 mit einem Durchschnittszuwachs von
103 für das Jahr kommt.
Wir wollen uns jedoch in unserer Bemessung für
die Zukunft nicht an die letzte höhere, sondern an
die mittleren Zahlen 77—83 halten, woraus sich das
M ittel von 80 neuen Plätzen für das Jahr er-
giebt, eine Zahl, welche auch mit dem unter 1 und
2 gefundenen Berechnungsresultate sollständig über-
einstimmt. Und zwar ist, da diese Zahl erstens den
thatsächlichen Zuwachs von Anstaltsinsassen und
zweitens die dem Andrang von aussen immer erst
nac hfolgende Zunahme angiebt, da zudem der Bestand
an Plätzen fortwährend hinter der Nachfrage nach
solchen zurückblieb, die gewonnene Zahl 80
der Mindestau sdruck für das bestehende
Bedürfnis».
Die seitherige jährliche Steiger u 11g des Be¬
standes an Anstaltsinsassen erfolgte nämlic h im Grossen
und Ganzen unabhängig von der vorhandenen Beleg¬
ziffer und Plätzezahl der Anstalten. Waren viele
Plätze frei infolge von Neuerstellungen, so wurden
sie allerdings rascher besetzt; bei beschränktem Raume
aber musste dem unaufhaltsamen Andrange von Auf¬
nahmen nachgegeben werden durch vermehrte (eigent¬
lich verfrühte) Entlassungen oder durch das noch
nähere und einfachere, aber auch bedenklichste Aus¬
kunftsmittel : der Vermehrung der Bettenzahl, trotz
knapp bemessenen Luftraums und bereits bestehender
Ueberfüllung. Und noch in den letzten 5 Jahren ist
ohne Rücksicht auf den vorhandenen Platz die Anzahl
der Gesammtversorgten in den Anstalten , trotzdem
Emmendingen schon nahezu ausgebaut war, noch um
63 für das Jahr gewachsen — im Jahre 1900 aber,
sobald wieder neue Plätze vorhanden waren, wie
bereits erwähnt, allein um 130 — der klare Beweis,
dass die gleichen Verhältnisse auch jetzt noch herrschend
□ igitized by Google
Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
sind und auch für die Zukunft als wirksam angenommen
werden dürfen.
Aber nicht nur aus der heutigen Gesammtlage
und auf Grund des seither mitgetheilten Materials
ergiebt sich ein ansehnlicher Rückstand zwischen
Sollen und Können, zwischen Nachfrage und An¬
gebot von verfügbaren Plätzen, sondern auch aus dem
weiteren bemerkenswerthen Moment, dass die Kreis¬
pflegeanstalten des Landes, trotz aller Ein¬
schränkungen in deren Aufnahmebestimmungen einer¬
seits, und trotz der Inbetriebnahme von Emmendingen,
der beständigen, beträchtlichen Mehrung der Beleg¬
ziffer der öffentlichen Anstalten und trotz deren so¬
fortiger Ausfüllung durch Kranke andrerseits, keine
Abnahme ihrer geisteskranken Pfleglinge, sondern gegen-
theils auch in den letzten Jahren einen regel¬
mässigen Zuwachs von 22 pro Jahr nach dem
Jahresschlussbestande erfahren haben. Diesen Zuwachs
dürfen wir sicher auf die ungenügende Plätzezahl in
den öffentlichen Anstalten, auf ihre Ueberfüllung
zurückführen. Er ist ein Zeichen der Rück¬
st a u u n g.
Angesichts dieser Lage könnte es nun scheinen,
als ob die staatliche Fürsorge hinter den Anforderungen
der Zeit zurückgeblieben sei. Vergleichen wir aber
mit dem Anwachsen der Kranken in den Anstalten,
wie wir es vorstehend geschildert haben, die An¬
strengungen des Staates in der Beschaffung neuer
Anstaltsplätze, so erhalten wir für die letzten 15 Jahre
das Bild einer enorm gesteigerten Thätigkeit gegen¬
über den diesen vorhergegangenen 15 Jahren, sowie
überhaupt allen früheren Zeitperioden gegenüber.
Es wurden nämlich, während von 1870—1877
die Anstaltsplätze auf derselben Zahl 1000 stehen
blieben und bis 1885 nur bis 1205 stiegen, also in
diesen ersten 15 Jahren nur um 205 (= 14 im
Jahr) vermehrt wurden, in den nun folgenden 15 Jahren
von 1886—1900 in den Staatsanstalten theils durch
Neubauten (besonders Emmendingen), theils durch
administrative Mehrung der Betten in bestehenden
Räumen, im Ganzen 1190 neue Plätze zur Verfügung
gestellt; das sind im Jahr 79 Plätze, also das Fünf-
bis Sechsfache des früheren Satzes. Die Thatsache,
dass das Anwachsen des Krankenstandes (77 in jedem
der letzten 15 Jahre — siehe oben —) im Ganzen mit
dieser Beschaffung neuer Plätze (79 für das Jahr)
gleichen Schritt gehalten hat, beweist uns aber zugleich
die Nothwendigkeit dieser Plätzebeschaffung aufs Ein¬
dringlichste.
Diese enorm erhöhte Anforderung an die An¬
staltsversorgung der Irren geht nun aber über das
Verhältniss der Bevölkerungszunahme weit hinaus,
Digitized by Google
113
wenn diese selbstverständlich auch eines der mitbe¬
dingenden Momente gewesen sein muss. Während
nämlich die Bevölkerung des Landes in den letzten
15 Jahren um 16,6 °/ 0 der Bevölkerungszahl vom Jahre
1885 zunahm, betrug die nothwendig gewordene
Mehrung der Anstaltsplätze gegen den Stand derselben
vom Jahre 1885 beinahe 100 °/ 0 .
Es muss also schon von früher her ein erhebliches
unerfülltes Maass von „Anstaltsbedürftigkeit“ in der
Bevölkerung, d. h. unter den im Lande zurückge¬
haltenen Geisteskranken bestanden haben, welches zu
dieser übergreifenden Besitznahme der neugeschaffenen
Plätze drängte und den gesteigerten Anspruch an die
Anstalten weit über das Verhältniss zur Steigerung
der Population hinaus verursachte. Und auch jetzt
noch hält trotz dem Neubau von Emmendingen mit
1000 Plätzen, trotz Beibehaltung eines sogar noch
erweiterten Pforzheim der Zudrang zu den Anstalten
in gleicher Stärke an.
Freilich erklärt sich dieser für die neueste Zeit
direct und wesentlich auch noch aus den Ergebnissen
der Volkszählung resp. aus der gerade in den letzten
Volkszählungsperioden noch viel rapider wie früher
ansteigenden Volkszahl selbst. Während diese Zu¬
nahme nämlich noch von 1880—1885 nur 31001
Personen oder 1,97 °/ 0 des Vorbestandes betrug,
haben wir seither (1885 — 1890) 56612 oder 3,54 °/ 0
und 1890—1895 eine Steigerung von 67597 oder
von 4,08% und nun gar für 1895—1900 eine Zu¬
nahme von 142480 Einwohnern oder um 8,3 °/ 0
erfahren. Letztere Zahl ist das Vierfache der früheren
Zunahmen und noch mehr als das Doppelte der bei
der unmittelbar vorhergehenden Volkszählung festge-
gestellten. Ein derartiges Ansteigen muss sich natürlich
auch in einer Mehrung der Geisteskranken und in
einer Steigerung der Anforderungen an die Anstalts¬
versorgung derselben geltend machen.
Die vorstehend gegebene geschichtliche Entwickelung
erweist aber auch ein Weiteres, was ebenso als Resultat
der Vergangenheit gelten, wie als Lehre für künftig
dienen kann. Die Erfüllung des Bedürfnisses durch
Neuschaffung von Plätzen ist der Anforderung an
solche jeweils erst lange nachgefolgt.
Aus diesen Zahlen, wenn wir sie nicht nur richtig
verstehen, sondern auch beherzigen wollen, ergiebt
sich darum bezüglich der Zukunft der zwingende
Schluss, dass nur eine noch höher gesteigerte
Beschaffung von Anstaltsplätzen dem theils
zurückgehaltenen, theils stetig anwachsenden Bedürf¬
nisse wird genügen können; sollen doch unsere Er¬
wägungen und Reformvorschläge der sicher kommen¬
den Forderung der nächsten und näheren Zukunft
Original from
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. io.
114
nicht minder gerecht werden, als der Nothlage der
Gegenwart.
Sind nun auch in unseren vorstehenden, der that-
sächlichen bisherigen Entwicklung der Anstaltsver¬
sorgung entnommenen Aufstellungen bereits die An¬
forderungen der Zukunft und der jeweiligen Be¬
völkerungszunahme neben den schon zur Zeit hervor¬
tretenden und zum Theil aus der Vergangenheit
stammenden Bedürfnissen in der Irrenversorgung be¬
reits enthalten, so steht doch weiterhin ausser Frage,
dass, wenn einmal die bisher noch ausstehenden
Forderungen an die Anstaltsversorgung der Irren
erfüllt, d. h. wenn die geplanten neuen Anstalten
fertig gestellt sein werden und die bis dahin nicht
genügend versorgten, im Lande zurückgehaltenen
Irren mehr • und mehr der geordneten Anstaltsbe¬
handlung zugeführt werden können — dass dann
die jeweilige Bevölkerungszunahme für sich allein
immer wieder neue Plätze in den Anstalten, je nach
der Stärke ihres Fortschreitens fordern wird. Sie
wird für jene fernere Zukunft das wirksamste Moment
für die Weiterentwickelung des Anstaltswesens und
für das Maass des Plätzebedarfs in der Bevölkerung
werden.
Wenn wir uns nun nach einem Maassstabe für
die Befriedigung des Bedürfnisses an Anstaltsplätzen
mit Rücksicht auf die jeweilige Bevölkerungszunahme
urasehen, so dürfen wir uns die neuesten statistischen
Untersuchungen auf diesem Gebiete zu nutze machen.
Auf Grund eingehender, vergleichender Betrachtungen
der Irrenversorgungsverhältnisse in den einzelnen
Ländern sind namhafte Vertreter unseres Fachs zu
dem Ergebnisse gelangt, dass eine irgendwie aus¬
reichende Irren Versorgung eines Landes nicht gewähr¬
leistet werden könne, so lange nicht für Zwecke der
AnstaltsVersorgung 2 Plätze in eigentlichen Irren¬
anstalten auf 1000 Menschen der Bevölkerung
kommen. Erst wo dieses Verhältniss zutreffe, könne
von einer Befriedigung der hauptsächlichen Bedürf¬
nisse der Irrenfürsorge und einer Bewältigung des
Zudrangs von Kranken zu den Anstalten gesprochen
werden. Andere gehen über diese Forderung noch
weit hinaus auf ein Verhältniss von 3 : 1000 und
sogar 5 : 1000.
Wenn wir die erstere Proportion 2 : 1000 auf die
künftig bei uns zu erwartende Bevölkerungszunahme
anwenden wollen, so kommen wir mit Zuhilfenahme
einer nach den für die Bevölkerungsstatistik maass¬
gebenden Regeln der geometrischen Progression vorge¬
nommenen, schätzungsweisen Berechnung zu folgenden
Resultaten:
Bis zum Jahre 1905 hätten wir zu rechnen mit
Digitized by Gck ole
einer Bevölkerungszunahme von ungefähr 80000; für
diese wäre nach dem obigen Verhältnisse eine Ver¬
mehrung der Irrenanstaltsplätze um 160, d. h. pro Jahr
um 33 vorzunehmen. Für die Zeit von 1905—1910
wäre die Bevölkerungszunahme ungefähr 86000 und die
für diese einzustellende Zahl von Anstaltsplätzen wäre
172 oder pro Jahr 34. Die gleiche Rechnung für
das Lustrum 1910—1915 ergäbe eine Bevölkerungs¬
zunahme von 92000 und einen entsprechenden Zu¬
wachs der Anstaltsplätze um 184 oder pro Jahr um 37.
Ebenso wäre für die Zeit von 1915—1920 und
die anzunehmende Bevölkerungszunahme von etwa
95000 eine entsprechende Plätzezahl von 190 oder
für das Jahr 38 Plätze anzusetzen.
Mit diesen und ähnlichen Zahlen, die eher zu
klein als zu gross bemessen sein dürften und wohl,
wie die Bevölkerungszunahme selbst, sicher mit der
Zeit noch ansteigen werden, hätten wir als einfachen
Resultanten aus dem jährlichen Anwachsen der Be¬
völkerung also auch nach Erstellung der neuen An¬
stalten noch weiterhin in der Irrenversorgung als einem
bleibenden, treibenden Factor zu rechnen.
Wenden wir nun einmal, w*enn auch nicht, um
daraus für unser Programm bindende Schlüsse zu
ziehen, sondern lediglich eines Vergleichs mit den
thatsächlich bei uns bestehenden Verhältnissen halber,
die obige Forderung der Irrenärzte d. h. die Pro¬
portion von 2 Anstaltsplätzen auf 1000 Einwohner
auf den gegenwärtigen Stand der Bevölkerung von
1867944 Einw r ohnem an, so ergäbe sich daraus ein
Bedarf von 3736 Plätzen in eigentlichen
Irrenanstalten. Davon bestehen in Wirklichkeit
2395 Plätze in staatlichen und 707 in privaten
Irrenanstalten; die letzteren sind übrigens vor¬
wiegend für die Versorgung jugendlicher Schwach¬
sinniger, Idioten und Epileptiker bestimmt.
Aber selbst mit Hinzunahme dieser 707 gelangen
wir nur auf eine Summe von 3102 Plätzen und
blieben somit hinter der Forderung von 3736 um 634
zurück; statt auf 2 : 1000 ständen wir auf der Pro¬
portion 1,66 : 1000.
Aus diesen Zahlen d. h. dem Fehlen von 634
Plätzen in der gegenwärtigen Anstalts-Irrenversorgung,
bei Annahme des als nöthig befundenen Verhältnisses
von 2 : 1000, verstehen wir nun erst vollkommen den
fortwährenden, unverminderten Zudrang zu den An¬
stalten, trotzdem, wie oben gezeigt, vom Staate in den
letzten 15 Jahren bedeutend mehr Plätze (um mehr
als das Sechsfache), als der Zunahme der Bevölkerung
allein entsprach, geschaffen worden sind.
Suchen wir nun aber dieses bereits bestehende
Manquo von 634 abzutragen unter gleichzeitiger Be-
Üriginal fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1902.J
rücksichtigung auch der kommenden Bevölkerungszu¬
nahme nach dem gleichen Gesichtspunkte, so erhalten
wir folgendes Ergebniss:
Bis zum Jahre 1905 betrüge, nach der bisherigen
Progression gerechnet, die Gesammtbevölkerung un¬
gefähr 1947000; die Plätzeanzahl hierfür in Irren¬
anstalten nach dem Verhältnisse 2 : 1000 wäre 3894
oder, wenn wir einmal den Stand der Plätze in den
Privatirrenanstalten mit 707 als gleichbleibend an-
nehinen, gegen den jetzigen Bestand ein Mehr von
792, resp., wenn man die ganze Last der Plätzebe¬
schaffung auf diese 5 Jahre häufen würde, eine Be¬
reitstellung von 158 neuen Plätzen auf jedes der 5
Jahre.
Bis zum Jahre 1910 mit einer wahrscheinlichen
Landesbevölkerung von dann 2033000 wäre die ent¬
sprechende Plätzezahl 4066 d. h. gegen jetzt ein Mehr
von 964, resp., gleichfalls auf das einzelne der 10 Jahre
berechnet, eine Anforderung von 96 Plätzen jährlich.
Auf das Jahr 1915 mit einer approximativen
Bevölkerung von 2 125000 betrüge die Plätzezahl
4250 oder gegen jetzt 1148 mehr, resp. auf das
einzelne dieser 15 Jahre 76,5 Plätze.
Für das Jahr 1920 schliesslich berechnet, ergäbe
die Bevölkerung von dann etwa 2 220000 eine Forde¬
rung von 4440 Anstaltsplätzen, d. h. gegen jetzt 1338
Plätze mehr; für jedes dieser 20 Jahre wären somit
1338: 20 = 67 neue Plätze zu erstellen.
Aus der vorstehenden Berechnungsweise, welche,
wie gesagt, einfach die Anwendung des nach stati¬
stischen Untersuchungen gefundenen Mindestsatzes von
2 : 1000 in der Irren Versorgung auf die gesammte gegen¬
wärtige und künftige Bevölkerung also einschliesslich
der nach Regeln der Statistik anzunehmenden Pro¬
gression bedeutet, ergiebt sich nun zur Evidenz, dass
der früher aus den thatsächlichen Entwicklungsmomenten
unsres Anstaltswesens gewonnene und als maassgebend
auch für die Zukunft erwiesene Ausdruck des jährlichen
Mehrbedürfnisses an Anstaltsplätzen, nämlich die Zahl
80, von den hier erhaltenen Zahlen weit überholt
wird; wir kommen auf 158 Plätze pro Jahr, wenn
wir die nach dem Satze von 2 : 1000 bereits fehlenden
und die der Bevölkerungszunahme bis 1905 entsprechen¬
den Plätze Zusammenlegen und dann das Ergebniss
auf die nächsten 5 Jahre vertheilen, und auf 96 pro
Jahr zu beschaffende Anstaltsplätze bei der gleichen
Vertheilung auf 10 Jahre.
Erst dann können wir unsere Zahl 80 mit den
hier aufgestellten Forderungen in Einklang bringen,
wenn wir die Lasten zugleich auf volle 13—14 Jahre
gleichmässig vertheilen, d. h. auf solange hinaus eine
jährliche Neubeschaffung von 80 Anstaltsplätzen fest-
Digitized by Google
115
legen würden. Erst nach dieser Erfüllung, also nach
1914, w'ären wir auf einem Satze von 2 Anstaltsplätzen
auf 1000 Einwohner angelangt und würden damit
in der Irren Versorgung eine ruhigere Zeit, resp. ein
Anwachsen des Plätzebedarfs allein nach den Be¬
dürfnissen der Bevölkerungszunahme d. h. um 37—40
Plätze jährlich anzunehmen haben.
Bei dieser ganzen Berechnung haben wir aber
den Ersatzbau für die alte Pforzheimer Anstalt (650
Plätze), sowie die Behebung der Ueberfüllung der übrigen
Anstalten (160 Plätze) noch ganz ausser Acht gelassen.
Selbstverständlich ist auch diese Schuld noch abzu¬
tragen resp. auch diese 810 Plätze in die Summe des
Bedarfs aufzunehmen. Würden wir die Abtragung
etwa auf 10 Jahre vertheilen, so hätten wir bis 1910
statt der obigen 964 nun 1774 neue Plätze zu
schaffen oder auf 1 Jahr statt 96 nun 177.
Die Last auf 20 Jahre vertheilt, ergäbe statt der
obigen 1338 bis zum Jahre 1920 2148 neue Plätze
oder aufs Jahr statt 67 nun 107, also beidemal be¬
deutend mehr als nach der obigen Berechnung und
auch nach dem Jahre 1920 noch mehr als unsere
Zahl 80.
Wenn wir aber nun einmal einerseits für den
Ersatz dieser 810 Plätze keinen bestimmten Zeitpunkt
ansetzen und andererseits mit dem jährlichen Satze
des Plätzemehrbedarfs nicht über die Zahl 80 hinaus¬
gehen wollten, so müssten wir, um alle Rückstände
mit Einschluss der 810 Plätze abzutragen und zu¬
gleich die neu auftretenden Bedürfnisse zu be¬
friedigen, die Zahl 80 auf ungefähr 33—34 Jahre
hinaus festlegen d. h. auf solange immer wieder 80
neue Plätze pro Jahr bereitstellen. Erst nach dieser
Zeit würde die Bevölkerungszunahme allein maass¬
gebend für die fernere Bereitstellung neuer Plätze
werden.
Man ersieht daraus, zu welchen Resultaten wir
gelangen, wenn wir nur das mindeste der heutigen
Tages von den Irrenärzten aufgestellten Postulate an
die Plätzeverhältnisse in der Anstaltsversorgung der
Irren in Ansatz bringen.
Eine Berechnung nach dem Prozentsätze 3 : 1000
oder gar 5: rooo ergäbe natürlich noch bedeutend
höhere Anforderungen.
Wir kehren aber von diesem Excurs, welcher einen
Einblick in die von der praktischen Psychiatrie nach
einschlägigen, gründlichen Untersuchungen aufgestellten
Forderungen geben sollte, zu unserer, unter Punkt
2 und 3 gegebenen Darstellung der thatsächlichen
Entwicklung des badischen Anstaltswesens in den
letzten 15 und 30 Jahren und des sich daraus für
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. io.
116
die Zukunft aufdrängenden Bedürfnisses an die Anstalts¬
versorgung der Irren zurück.
Wir haben dort aus dreifacher Berechnung die
Zahl 80 als ganz realen Ausdruck für die jährliche
Anforderung an neuen Plätzen in Irrenanstalten ge¬
funden und dieselbe aus der Vergangenheit auch in
die nächste Zukunft als übertragbar betrachtet, und
zwar deshalb, weil eben die gleichen Verhältnisse,
welche die seitherige Steigerung des Plätzebedarfs
hervorriefen, als treibende Kräfte noch jetzt wirksam
sind, indem erwiesenermaassen der gleiche Andrang
von Kranken aus dem Lande zu den Anstalten noch
fortbesteht und manche unbefriedigte Ansprüche an
die Irrenversorgung noch zu tilgen sind.
Wir haben des weiteren gesehen, dass dieser Zahlen¬
ausdruck durchaus kein übermässig hoher ist, sondern
im Gegentheil ein Mindestmaass des Bedürfnisses dar¬
stellt und dass erst bei regelmässiger Beschaffung dieser
Plätzezahl durch eine Reihe von Jahren hindurch ein
Nachlass der Anforderungen eintreten kann, während
andrerseits in der fortwährenden Bevölkerungszunahme
allein an und für sich ein gleichmässig treibendes
und immer wieder neue Plätze bedingendes Moment,
wenn auch in gemässigterem Grade (nach Obigem
handelt es sich um eine steigende Ziffer von
33—37 u. s. w. neuen Plätze pro Jahr) erhalten
bleiben wird.
Mit der Gesammtheit unserer bisherigen Dar¬
legungen dürfen wir aber hoffen, den überzeugenden
Nachweis erbracht zu haben, dass wir dieses Maass
von für ein Jahr neu zu beschaffenden 80
Anstaltsplätzen als vollberechtigte und wohl
fundämentirte Forderung in unser Programm
aufnehmen dürfen, wenn anders dasselbe in gleicher
Weise den Verhältnissen der Gegenwart wie den
Ansprüchen, die die nächste Zukunft stellen wird,
gerecht werden soll.
Mit ihrer praktischen Ausführung wird man
wenigstens im Laufe der Jahre das Ziel, dem unser
heisses Bemühen gilt, erreichen können.
Aus dem Vorausgehenden aber dürfte des Weiteren
zu erkennen sein, dass es einen eigentlichen Stillstand
in der Anstaltsentwicklung, die ein Kind der aktuellen
Zeitverhältnisse ist und mit diesen, wie im Besonderen
mit der Bevölkerungszunahme, Schritt halten muss, nicht
giebt und nicht geben kann. Wohl aber wird sie in
ein ruhigeres Fahrwasser gelangen, je mehr wir die
Aufnahmekapazität der Anstalten und zwar der wirk¬
lichen Irrenanstalten, einem gewissen Sättigungspunkt,
wie er etwa in dem Verhältniss von 2 Anstalts¬
plätzen : iooo Einwohnern gegeben zu sein scheint,
nähern werden.
Nach dem Gesagten und wenn wir nur mit einer
ganz allmählichen Einlösung unserer dringendsten Desi-
derien rechnen, kommen wir somit zu dem Resultate,
dass:
1. für den Ersatz von Pforzheim 650 neue
Plätze anzusetzen sind,
2. zur Hebung derzurZeit in den staat¬
lichen Anstalten bestehenden Ueber-
füllung 160 neue Plätze und
3. zurErfüllung der nächsten Zukunfts¬
wünsche pro Jahr ein Zuwachs von 80
Plätzen, d. h.
bis 1905 = 400 Plätze mehr
,, 1910 = 800 ,, ,,
„ I915 = 12(30
in staatlichen Anstalten erforderlich sein werden.
Mit Hinzunahme der unter 1 und 2 normirten
810 Plätze wären somit
bis
1905 neu
zu
schaffen
1210;
»
1910 „
*>
ft
IÖIO;
t »
1915 »
tt
2010;
1920 „
»
rt
2410 Plätze.
Mit der Erfüllung dieser Anforderungen würde
man dem Bedürfnisse in weitgehender Weise gerecht
werden und auch der oben aufgestellten psychiatrischen
Berechnung ziemlich nahe kommen.
Damit beschliessen wir unsere Darlegungen. Wir
haben dieselben hier nochmals zum Abdruck bringen
wollen, weil wir glauben, dieselben könnten allgemeiner
für die Feststellung der Bedürfnisse der Irren Versorgung
auch in andern Ländern und Bezirken von Interesse
werden.
Der Redaktion der Zeitschrift bleiben wir für den
zur Verfügung gestellten Raum zu lebhaftem Danke
verpflichtet.
□ igitized by Google
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
1 u n g e n.
(Bei der rückständigen Auffassung, welche massgebend
sein wollende Berliner „Autoritäten“ in der Alcoholfrage
haben, überrascht uns das garnicht. Red.) Die Anstalt
„Waldfrieden“ ist eine Wohlfahrtseinrichtung des Be¬
zirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke
für Berlin und Umgegend. (Vorsitzender unser Herr
Mitherausgeber Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Guttstadt-
Berlin.) Die Oberleitung der Anstalt führt Stadtrath
Dr. med. Wald Schmidt, Arzt der Anstalt ist Dr.
Jacke. Eine kurze Beschreibung der Anstalt führt
Folgendes aus: „Demnach (d. h. wegen des Characters
— Die Trinkerheilstätte „Waldfrieden“ bei
Fürstenwalde a. Spree, welche am 31. December igoi
ihr erstes Betriebsjahr vollendete, hat ihren ersten
Bericht ausgesendet. Es wurden bis dahin (Eröffnung
im Juli 1900) 86 Kranke aufgenommen, davon 63
entlassen, nämlich 22 geheilt, 12 gebessert, 17 un-
geheilt; 8 wurden wegen ihres Verhaltens gegen die
Hausordnung entlassen, 1 wegen Siechthums in ein
Krankenhaus, einer in eine Irrenanstalt; einer kehrte
in die Anstalt zurück. Obgleich alle Aufgenommenen
ausnahmslos beim Eintritt sofort abstinent gehalten
wurden, brach doch bei keinem das Delirium aus;
dabei wurden fast alle direct von der Strasse her, zum
Theil in einem unglaublichen Zustande eingeliefert.
Mehrere der Entlassenen haben sich naehgewiesener-
massen bereits länger als ein Jahr vollständig frei
von Alcohol gehalten. Leider verliessen manche
Patienten vorzeitig gegen ärztlichen Rath die Anstalt;
Mittel, einen Trunksüchtigen in letzterer zurückzuhalten,
giebt es nicht, und in den beiden Fällen, wo es
wegen bereits erfolgter Entmündigung möglich gewesen
wäre, war es nutzlos, denn diese Fälle waren unheilbar.
Weise Gesetzgebung! Auch wird beklagt, dass die
Verwaltungen bezw. Armendirectionen noch zu wenig
oder garnicht von der Anstalt Gebrauch machen.
„Gleichfalls erfolglos und auch ohne Antwort
blieben unsere Gesuche an die Directioncn
säm mtlichcr Krankenanstalten Berlins“.
der Wohlfahrtseinrichtung) kommen Einnahmen, die
dem Unternehmen zufliessen, der Anstalt und ihren
Pfleglingen zu Gute, etwaige Ueberschüsse der Betriebs¬
kosten werden für Freibetten oder zur Unterstützung
hilfsbedürftiger Familien der Kranken oder dieser selbst
nach ihrer Entlassung verwendet werden.
Die Anstalt ist für solche männliche Kranke be¬
stimmt, deren Zustand Heilung, also die Wiederer¬
langung ihrer geistigen und körperlichen Kräfte, sowie
ihrer früheren Erwerbsfähigkeit erhoffen lässt.
Die ärztliche Ueberwachung und Behandlung der
Kranken ist ausreichend vorgesehen; ebenso ist für
die seelsorgerischc Thätigkeit in der Heilstätte gesorgt.
Die Heilstätte ist 3 Kilometer von Fürstenwalde
(Vorortstation zwischen Berlin und Frankfurt a. d.
Oder, von hier wie dort in ca. 40 Minuten zu er¬
reichen) an der Chaussee nach Steinhöfel gelegen.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io.
Auf dem 43 V 3 ha oder 170 Morgen grossen Grund¬
stück ist ein Hauptgebäude neu erbaut, welches nach
Norden, der Chausseeseite, durch einen breiten Wald¬
streifen gedeckt ist, nach Südost einen prächtigen
freien Blick auf die in weitem Umkreise mit Wald
begrenzten Aecker und Wiesen bietet. Die Lage ist
durch ihre völlige Abgeschlossenheit bei relativ leichter
Erreichbarkeit für den Zweck der ärztlichen Behand¬
lung von Trunksüchtigen eine besonders günstige zu
nennen. Das Ganze bietet einen reizvollen Land¬
aufenthalt.
Das Anstaltsgebäude liegt mit seiner Längsachse
von Nordost nach Südwest, also mit seinen Breit¬
seiten nach Südost und Nordwest; die erstere bildet
die Hauptfront, während der Haupteingang an der
Nordwestseite sich befindet. Es enthält in Folge dieser
Lage keinen Raum, der nicht dem directen Sonnenlicht
zugänglich ist. Der Bau ist im Ziegelrohbau ausgeführt
und besitzt ein Kellergeschoss, ein Erd- und ein Ober¬
geschoss. Das Kellergeschoss, das übrigens ganz zur
ebenen Erde liegt, enthält die Wohnung des Hausvaters,
2 Dienstbotenzimmer, die Küche, die Vorrathsräume,
den gemeinschaftlichen Speisesaal und das Billardzimmer.
Das Erdgeschoss enthält einen Aufenthaltsraum mit
grosser gedeckter Veranda, ein Bureau, ein Warte¬
zimmer, 2 Arztzimmer, 6 Krankenzimmer mit je 3
Betten und 3 Krankenzimmer mit je 1 Bett. In dem
Obergeschoss befinden sich 3 Einzelzimmer, 7 drei-
bettige und ein fünfbettiger Krankenraum mit grosser
Terrasse. In jedem der beiden Stockwerke befinden
sich Closet, Bade- und Wirthschaftsraum, wie je ein
Zimmer für 2 Wärter. Die einzelnen Stockwerke
sind durch ein breites Treppenhaus mit einander ver¬
bunden. Das Ganze wird von einem grossen Boden
überdeckt. In den Einzelzimmern beträgt der Luft¬
raum mindestens 35 Kubikmeter; in den mehrbettigen
Räumen kommen mindestens 27 Kubikmeter Luft¬
raum auf ein Bett. Die Heilstätte kann 50 trunk¬
süchtige Männer aufnehmen. 250 Meter entfernt vom
Hauptgebäude und mit diesem durch einen Weg ver¬
bunden liegt das Wirtschaftsgebäude, das ebenfalls
in Ziegelrohbau errichtet ist. Der das Grundstück
begrenzende eigene Wald und die sich anschliessenden
Gemeindewaldungen bieten der Anstalt nicht nur
Schutz, sondern auch andere Annehmlichkeiten, sodass
die Lage der Anstalt hervorragend gesund und schön
genannt werden kann.
— Die diesjährige Versammlung des Vereins
nordostdeutscher Psychiater findet am 7. Juli
in Danzig statt.
— Der Resolution des deutschen Reichstags, die
verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigst einen
Gesetzentwurf vorzulegen, welcher die Grundsätze
feststellt, wodurch die Aufcnthaltsverhältnisse und die
Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten,
sowie die Entlassung aus denselben reichsgesetzlich
geregelt werden, hat nunmehr der Bund esrath zu¬
gestimmt, was wir mit besonderer Freude begrüssen.
— Berlin. Die städtische Deputation für die
Irrenpflege beschäftigte sich in ihrer letzten Sitzung
mit dem Anträge zwei neue Irren-Anstalten zur Auf¬
nahme pflegebedürftiger Kranker zu errichten. Vor
einigen Jahren genügte für Berlin die Anstalt Dalldorf
noch vollständig zur Aufnahme der städtischen, einer
Anstaltspflege bedürftigen Kranken. Als sich dann
eine Zunahme dieser Kranken bemerkbar machte,
wurde Dalldorf, wo jetzt durchschnittlich rund. 3000
Irre und Idioten behandelt werden, vergrössert und
Herzberge gebaut. Auch diese Anstalt, die sich in
Lichtenberg befindet, musste bald vergrössert werden.
Es werden dort durchschnittlich rund 1800 Kranke
behandelt, davon befinden sich stets eine geringere
Zahl in Familienpflege und in Privatanstalten. Eine
dritte, bedeutend grössere Anstalt ist in Buch an der
Stettiner Eisenbahn im Bau begriffen. Sie geht in
nächster Zeit ihrer Vollendung entgegen. Da sich in
der letzten Zeit die Anmeldungen geisteskranker, einer
Anstaltspflege bedürftiger Personen vermehrt haben
und eine Abnahme kaum zu erwarten ist, so hat die
Deputation für die städtische Irrenpflege beschlossen,
den Gemeindebehörden den Bau von zwei neuen
Irren-Anstalten vorzuschlagen und diesen Antrag damit
zu begründen, dass die Irrenanstalt Buch nicht genügt,
auf Jahre hinaus die steigende Zahl von geisteskranken
und pflegebedürftigen Personen aufzunehmen.
— München. Nach dem Vorbild der in Berlin,
Augsburgerstrasse 62 und Lessingstrasse 46, unter
Aufsicht der Herren Geheimräthe Prof. Dr. Eulenburg
und Ewald neuerrichteten Institute für Behandlung
von Nervenkrankheiten, ist nunmehr auch in München
eine Station vorgesehen, die, unter Aufsicht des Herrn
Universitätsrath Prof. Dr. Jos. von Bauer, von den
Nervenärzten Drs. F. C. Müller und Hoeflmeir geleitet
wird. Das Institut wird in dem neuen Sanatorium
von Dr. Ammann, Königinnenstrasse 14, untergebracht
werden.
— Königsberg. Eine neue Nervenheil-Anstalt
wird demnächst in dem idyllisch gelegenen ehemaligen
Adl. Gut Speichersdorf, dessen herrliche Parkanlagen
wie dazu geschaffen sind, eröffnet werden. Der zeitige
Besitzer des Grundstücks und Erbauer der Anstalt
ist Director Nischik. Für die Stelle des technischen
Directors ist, wie wir hören, eine Kapazität auf dem
Gebiete der Nervenheilkunde, Dr. Steinert gewonnen
worden. Die Bauleitung befindet sich in den Händen
des Baumeisters Pflaum hier, aus dessen Atelier auch
die Pläne für die umfangreiche Anlage hervorgegangen
sind. Die Anlage und Einrichtung der Anstalt soll
in jeder Hinsicht den Ansprüchen der Neuzeit Rechnung
tragen und sie wird mit allem Komfort ausgestattet
werden.
— Ein verhungerter Geisteskranker. Zu
Beginn dieses Jahres ist in . einem oberpfälzischen
Dorfe ein Ortsarmer verhungert. Die Angelegenheit
bildete den Gegenstand einer Verhandlung vor der
Strafkammer in Amberg. Ueber den Sachverhalt be¬
richten die „Berl. Neuest. Nachr.“ folgendes: Die Ge¬
meinde des Pfarrdorfes Neukirchen bei Schwandorf
besass einen epileptischen, geistesschwachen Orts¬
angehörigen, den zwanzigjährigen Max Graf. Dieser
war bis vor kurzem in der Anstalt Reichenbach ge¬
wesen. Dann aber erschien der Gemeinde der jähr¬
lich aufzuwendende Unterstützungsbeitrag von 200
Mark zu hoch. Der junge Mann wurde aus der
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Anstalt genommen und ins Ortsarmenhaus geschafft.
Damit glaubte man aber genug gethan zu haben.
Der arme hülflose Geistesschwache wurde, obwohl
er sich nicht einmal mehr selbst bedienen konnte,
seinem Schicksal überlassen. Niemand kümmerte sich
um ihn, weder seine Mutter noch die einzige Mitin¬
sassin des Armenhauses, eine ortsarme ältere Frau,
noch die Gemeindebehörden. Es soll nicht einmal
ein Lager für ihn vorhanden, noch weniger aber
trotz der Winterkälte für Heizung gesorgt gewesen
sein. Weithin schallten in den ersten Tagen des
neuen Jahres die Jammerrufe des Bedauemswerthen,
aber auch das veranlasste niemand, sich seiner anzu¬
nehmen. Schliesslich verstummten die Klagen des
armen Menschen. Er wurde eines Tages, in einem
Winkel des Armenhauses zusammengekauert, todt
aufgefunden. Er war verhungert. Die Gemeinde
wollte ihn kurzer Hand beerdigen. Da erschien infolge
einer bei der Gendarmerie erfolgten Anzeige eine
Gerichtscommission im Orte und nahm eine Unter¬
suchung vor. Die Obduction der Leiche durch den
Landgerichtsarzt ergab, dass der Magen vollständig
leer gewesen war; in den Eingeweiden fanden sich
Ueberreste von Tuch und Getreidekörnern vor. Beide
Beine waren erfroren. Der Körper war zu einem
Skelett abgemagert und mit Ungeziefer bedeckt.
Infolgedessen hat die Staatsanwaltschaft gegen die
für das Vorkommniss verantwortlichen Personen,
denen die Fürsorge für den völlig hülflosen Menschen
oblag, Anklage wegen fahrlässiger Tödtung erhoben,
und zwar gegen den Pfarrer Bergler, den Bürger¬
meister des Ortes, den früheren Centrumsabgeordneten
im bayerischen Landtage, Martin Lautenschlager, den
Armenpflegschaftsrath Trettenbach, den Ortsführer
Moritz und den Gemeindediener Kagerer. Die Straf¬
kammer hat den Pfarrer Bergler zu acht Tagen Ge-
fängniss, den Bürgermeister Lautenschlager zu drei
Monaten und den Armenpflegschaftsrath Treffenbach
zu einem Monat Gefängniss verurtheilt Der Orts¬
führer Moritz und der Gemeindediener Kagerer wurden
freigesprochen.
Referate.
— The Journal of Mental Science. April
I qo i. (Schluss.)
Joseph Shaw Bolton bringt eine sogenannte vorläu¬
fige Mittheilung über krankhafte Veränderungen bei der
Dementia. Er hat 6 Hinterhauptlappen mikroskopisch
durchforscht. Hier sollen nämlich weniger grobe Ver¬
änderungen Vorkommen wie in den Stimlappen. Er
fand, i) dass die Dicke der Pyramidenzellenschicht wech¬
selt mit dem Grade der Amentia oder Dementia, und
2) dass die mikroskopisch nachgewiesenen krankhaften
Veränderungen von dem Grade der Dementia allein
abhängen, dagegen unabhängig sind von der Dauer
der Geisteskrankheit.
Wiglesworth erzählt einen Fall von reinem Mord¬
impuls. Als Direktor hatte er zwei geisteskranke Frauen
in seinem Haushalte beschäftigt. Die H. hatte ver¬
schiedene Grössenideen und war eine harmlose Person.
Die Gr., 28 Jahre alt. Rekonvaleszentin, war vor einigen
Monaten aufgenommen worden. Sie war damals sehr
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deprimirt, zurückhaltend, schweigsam und verrieth
einige unbestimmte VergiftungsVorstellungen. Zur Zeit
schien sie gesund und war schon überall in der Anstalt
beschäftigt worden. Eines schönen Morgens wurde
Verf. durch Gekreisch und Schreie vom Frühstück auf¬
geschreckt und wie er die Treppe hinaufeilte, sah er
die Gr. auf der H. knieen und sie im Nacken mit einem
Tischmesser bearbeiten. Er riss die Mörderin weg,
die alsdann in einen anstossenden Gang lief. Die
Wunde erwies sich später als tödlich, da die Vertebralis
durchschnitten war. Einige Stunden später inquirierte
Verf. die Gr. Er konnte keine Wahnideen und keine
Sinnestäuschungen bei ihr nachweisen. Sie zeigte sich
etw'as erregt, war aber in ihrem Reden vernünftig und
zusammenhängend. Sie sagte aus, w’as sie schon vor¬
her der Oberwärterin gegenüber geäussert hatte, sie
sei diesen Morgen in einer verzweifelten Stimmung
aufgestanden und habe den unbestimmten Drang ge¬
fühlt, jemanden zu töten Möge kommen was wolle,
sie müsse jemanden den Hals abschneiden. Sie habe
nichts gegen die H. gehabt. „Das arme Ding“ thue
ihr leid. Sie habe sie nur angefallen, weil sie ihr eben
zuerst begegnet sei. Das Messer hatte sie sich aus
einem Schrank zu verschaffen gewusst. Der Oberwär¬
terin erzählte sie noch am gleichen Abend auf ihre
Fragen, sie habe vor 14 Tagen denselben Drang in
sich gespürt zu töten. Sie arbeitete damals auf einem
Korridor der Abtheilung und wusste sich ein Messer
zu verschaffen, das sie unter der Schürze verbarg.
Darauf lief sie einem der Dienstmädchen nach, mit der
Absicht, es ihr in den Nacken zu stossen. Zufällig
kam ein andres Dienstmädchen dazwischen, worauf
sie von ihrem Vorhaben abstandund das Messer wieder
an seinen Platz legte. Sie setzte dann ihre Arbeit fort,
und der Drang schwand allmählich. Ein ähnlicher
Vorfall habe sich einmal in der Küche abgespielt. Sie
erzählte alles ganz trocken und verrieth nicht die ge¬
ringste Spur von Gewissensbissen. Nach 24 Stunden
wurde sie mürrisch und schweigsam. Nach 2 Tagen
wurde sie erregt und hysterisch und als sie vom Ge¬
richt verhört werden sollte, begann sic zu singen, richtete
unverschämte Bemerkungen an einen der Zeugen, wurde
schliesslich ohnmächtig und kümmerte sich nicht weiter
mehr um die Vorgänge. An jenem Morgen w ar die Men¬
struation eingetreten. Da sie weiter s« hwatzte von
Mord, Halsabschneiden und sehr erregt w^ar, kam sie
nach Broadmoor.
Eltern blutsverwandt, abnorm. Geisteskrankheiten
in der Familie. Die Gr. hatte mit 9 Jahren mit einer
Kanne einen Schlag auf den Kopf erhalten. Seitdem
„Anfälle“. Ruhig, zurückhaltend, fromm. Neuralgie.
Zeitweise Trunk. Ihr Aufenthalt schwankte zwischen
Freiheit, Irrenanstalt, Arbeitshaus, Mädchenheim. Eine
Oberin schilderte sie als trunk- und streitsüchtig. In
der Irrenanstalt wechselte Schweigsamkeit mit Erregt¬
heit. Es fehlte ihr die Selbstbeherrschung. Manchmal
w r ar sie gewaltthätig, zerriss, warf sich auf den Boden,
behauptete Kinder schreien zu hören. Sie hatte auch
schon scheinbare Selbstmordversuche gemacht.
Verf. schliesst mit Recht, dass es sich hier um eine
degenerierte und erblich belastete Person handle. Der
Fall verliert aber doch etwas von seiner Kuriosität,
wenn man bedenkt, dass der Mordimpuls durchaus nicht
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I 2o
IhSYCHlATRLSGH-NFAJROLOGLSCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io.
als isolierte Erscheinung dastcht, ohne ursächlichen Zu¬
sammenhang, vielmehr lässt er sich hier in das Symp-
tomenbild der auf degenerativer Basis beruhenden
schweren Hysterie einreihen. Man braucht nicht mit
Ycrf. nach dem Atavismus hinüber zu schicken, oder
sonstige gezwungene Erklärungsgiünde zu suchen. So
etwas würde auch kaum einem Richter einleuc hten,
wenn es sich um einen forensischem Fall handelte.
Der bei diesen Impulsen sich abspielende (iehirnmec ha-
nismus bleibt uns allerdings verborgen, man kann
eben einen solchen Fall nur an der Hand bekannter
Erfahrungstatsachen erklären.
Arthur Wileox beschreibt einem Fall von „akuter
Melancholie“ bei Zwillingen. Es waren zwei ledige
Frauenzimmer, 47 Jahre alt, ohne erbliche Belastung.
Der Tod ihres vor kurzem verstorbenen Vaters soll die
Ursac he ihrer Geisteskrankheit gewesen sein. Sie er¬
krankten fast zur selben Zeit an „akuter Melancholie“.
Sie machten Selbstmordversuche, waren erregt und
unruhig. Ihre Reden und Gebärden glichen einander
auffallend. Die eine hielt sich für das schlechteste
Weil», sie habe ihre Schwester geisteskrank gemacht.
Die andre sc hwätzte und machte' ihr alles nac h. Thr
Geschwätz und Benehmen war erotisc h und ohseön.
In der Anstalt Hess man sie einige Tage beisammen,
aber auch, als sie getrennt worden waren, war das
Krankheitsbild bei beiden fast das gleiche. Ruhigere
Zeiten bei Arbeit wechselten mit den geschilderten Zu¬
ständen. Merkwürdig an den beiden Fällen ist die
Diagnose: „akute Melancholie“. Hysterie wäre wohl
besser gewesen.
Um Golgi-Präparate dauerhaft zu machen, haben
Robertson u. Macdonaldje eine Methode'erfunden.
Mit dem nac h der Modifikation von C'ox behandelten
Präparaten wird so weiter verfahren: I. Nach der Meth« »de'
von Roberts» »n : 1) Die Sc hnitte I 5 Minuten in eine ge¬
sättigte Lithiumkarbonatlösung legem. 2) Rasch ab-
spi'ilcn. 3) 1—2 Tage in gleic he Theile einer 1 °/ 0
Kaliumchlorplatinlösung und einer ic >°! u Citn »nensäure-
lösung legen. Die Lösungen müssen frisch sein. Im
Dunkeln aufbewahren, dann 4) 1 —2 Stunden ins
Wasser, bei mindestens zweimaligem Wechsel der
Wassers. 5) Dann 5 Minuten in gleic he Teile eines
mit Jod gesättigten i°/ 0 |odkaliumlösung und Wasser,
ü) In Wasser waschen. 7 ) 5 Minuten in ein Wasserglas
legen bei Zusatz von 2 3 Tropfen Ammoniak. 8)
In Wasser waschen, o) In absoluten Alke ►hol, in Benzol,
in Benzolbalsam. Deckglas. II. Nach der Methode
von Macdonald: Die nach Cox imprägnierten Ilewebs-
stiieke über Nacht in eine reichliche Menge destillierten
Wassers legen. Dann eine halbe Stunde in rektifizierten
Spiritus. Darauf mit dem Mikrotom*.) schneiden, jedem
Schnitt in ein Uhrglas mit rektifiziertem Spiritus legen.
Den untern mit dem Anisöl in Berührung gekommenen
Theil des Gewebsstückes nicht benutzen. Nun die
Schnitte 1) aus dem rektifizierten Spiritus in destilliertes
Wasser legen. 2) 24 Stunden in Lösung X. luncl 2.
a ) Lösung N. 1: 1 n / 0 Kaliuim hlorplatinlösung.
b) ., N. 2 : Unterschwefligsaures Natrium 40,5g
1 Wo
'*) Mit dem Mikrotom von Cathcart nach Coats’ Methode
sehnei»len.
Schwefligs. Natrium 23,25g ( 3 / 4 ozi
Chlorsaures ,, 7,75 g ( l ( 4 < »z i
Destilliertes Wasser 0.3 1 (10 Fluid-
»uinces)
3) Dann 2 Minuten in Salzsäure 1:80. 2— : 3mal
wiederholen. 4) 10 Minuten in Losung X. 2. 5) Da¬
rauf in gleiche Theile einer 1 ü () spirituösen Jodlösung
und destillierten Wassers, bis die Schnitte wie die
Lösung gefärbt sind. 6) 10 Minuten in Lösung N. 2
aufhellcn und fixieren. 7) 2 Stunden in viel destil¬
liertes Wasser legen. 8) In Alkohol absolutus, in Benzol,
in Benzolbalsam, Deckglas. Die Schnitte sollen je¬
weils mit einem Pinsel oder Federkiel, nicht mit einem
metallenen Instrument, herausgen«»mmen werden. —
Kleinere Bemerkungen.
Seit das Trunksuchtsgesetz am 1. Jan. 1899 in
Kraft getreten ist, mac ht man sich eifrig an die Erric htung
v»tfi Trinkerheilanstalten. Im gemannten Jahre wurden 5
Erlaubnissscheine hierfür ertheilt. Indessen wurden im
Laufe des Jahres nur 88 Kranke verpflegt, eine sehr
geringe Zahl. Viele von diesen Fällen waren zwar
nicht eigentlich geisteskrank, aber doc h Grenzfälle.
I11 den Irrcnabtheilungen der Arbeitshäuser
waren verschiedene Todesfälle vorgekommen, die eine
gerichtliche Untersuchung nach sic h zogen. Das Resul¬
tat scheint gewesen zu sein : Nichts gewisses weiss man
nicht. Abgesehen von Todesfällen ist das Leben in
cliesc*n Abtheilungen reich an sogen, bedauerlichen
Zwisc henfällen. Das Personal ist spärlic h und unaus-
gebildet, die Aerzte haben viel zu tliun, sind schlecht
bezahlt, keine Fachmänner, ihr Einfluss ist fast Null.
Diese Irrenabtheilungen der Arbeitshäuser sc heinen die
reine Ka rikatur einer modernen Irrenanstalt zu sein.
Sie gleic hen in dieser Beziehung vielfach unsern Sie-
chenhäusern und Kreispflegeanstalten, wo man auch alles
mögliche und unmögliche zusammensperrt. Allerdings
dürfen diese bei uns keine frischen Fülle autnehmen.
In Irland will man jetzt das scheine Beispiel von
Sc hottland nachahmen, das in Edinburgh ein C entral-
laboratori um für seine Irrenanstalten errichtet hat.
Da wir bei den Lesern ein grosses Interesse für
Pensionierungen v< »raussetzen , lassem wir die Pensio-
nierungsliste von 1 S<|2 an folgen. ( >b die meistens wegen
ill health Peiisi» »liierten alle Direkt» »ic*n waren, können
wir nic ht sagen, nur bei N. 7 heisst s: Assistant me¬
dical officc t, also Assistenzarzt. Wir gratulieren !
Alter
Dic'nstzeit
Gehalt
Theil dc's
Nr.
Jahre
Monat«'
in Pfund
Pension
(ichaltes
1
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—
1 OC )C )
400
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Hevneraann’sche Jtuchdruckerei (Cicbr. WoiH) in Hall«;
l\ 1-is« lin 1 1 /. ( li rsienj.
’rlae von Carl Marholdin Halle a. S
. s ungirarfrcm
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Psychiatrisch ^Neurologisebe
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
harausgegeben von
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttstadt,
(Jrhtapnnge (Altmark).
Graz.
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Frankfurt a. M. Geh. Med.-Ratb, Barlin.
Prof. Dr. E. Mendel
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlasian).
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Nr. 11 . 14 - Juni. 1902.
Oie ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden flir die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler. Kraschnitz (Schlesien), zu richten
Inhalt. Originale: Ueber periodischen Wahnsinn. Von Prof. Bleuler, Burghölzli (Zürich) (S. 121). — Mitteilungen (S„ 127).
Ueber periodischen Wahnsinn.
Von Prof. Bleuler , Burghölzli (Zürich).
nter dem Namen p c r i < ul i s c h e s Irresein
fasste K rüpelin vor b Jahren eine Anzahl
Krankheiten zusammen, deren gemeinsame Symptome
folgende waren: Verlauf in Anfällen; in den Zwischen¬
zeiten keine eigentliche (progressive) Verblödung,
wenn auch Gemüthslabilität und Neigung zu einer Art
transitorischer andeutungsweiser Schwankungen im
Sinne der eigentlichen Anfälle recht deutlich ist; in
den Anfällen manischer und melancholischer Symp-
tomenkomplcx (d. h. gehobene Stimmung, Ideenflucht,
Bewegungsdrang einerseits, Depression, Hemmung der
Assocationen und Motilität andererseits; daneben aueli
gemischte Gruppirung dieser Einzelsvmptomc); Ab¬
wesenheit der für andere Krankheiten charakteristischen
Symptome: primäre Orientimngsstörungen, katatonc,
paralytische Symptome, (primäre) Gedächtnisstörungen
etc. Hallueinationcn oder Wahnideen können wie bei
allen andern Psvchosen hinzutreten, sind aber nicht
nothwendig.
Zu dieser Gruppe gehörte das cyclische Irresein,
die periodische Melancholie und Manie, alle reinen
Manien und rein melancholischen Zustände (mit Aus¬
nahme der Involutionsmelancholie), ob sie sich nun
häufiger wiederholten oder nicht.
Diese Aufstellung begegnete starkem Widerspruch,
der aber immer in einen Woitstreit auslief, indem
man behauptete, ein Theil dieser Störungen könne
unmöglich als „periodisch“ bezeichnet werden.
So taufte Kräp eli n die Gruppe in der folgenden
Auflage seines Lehrbuches um in manisch-depres¬
sives Irresein.
Nach meinen Erfahrungen entspricht die Darstellung
Kräpelins vollständig den Thatsachen.
Einen symptomatologischen Unterschied zwischen
einfacher und periodischer Manie, einfacher und
periodischer Melancholie, zwischen diesen Gruppen
und denen mit gemischten Anfällen, handle es sich
um einen regelmässigen Cyclus oder um unregel¬
mässige Schwankungen, konnte ich nie entdecken.
Die Krankheiten gehen kontinuirlich in einander über,
wenn auch bei dem einen Patienten Vorliebe zu
manischen, beim andern Vorliebe zu melancholischen
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Original fr&m
HARV 3 D UN VERSITY
122
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. ii.
oder zu cyclischen Anfällen vorherrscht. Wenn man
ein ganzes Leben übersehen kann, so fehlen unter
vielen Anfällen gleichen Charakters selten einige anders
geartete; der periodische Maniakus hat einzelne me¬
lancholische Anfälle durchgemacht, der Melancholische
wird gelegentlich einmal manisch, ein regelmässig ab-
laufcnder Fall wird unregelmässig u. s. w.
Sogar die Heredität, die sich von der Heredität
bei andern Geisteskrankheiten unterscheidet, ist allen
Formen gemeinsam, wenn auch (wie beim einzelnen Indi¬
viduum) die Familienanlage bald die melancholischen
Störungen bald die manischen Aufregungen bevorzugt.
Kräpelin hat es aber unterlassen, ausdrücklich
darauf hinzuweisen, dass auch „Wahnsinnsformen“
(Vesania) Vorkommen können, obgleich seine Be¬
schreibung zeigt, dass er solche Fälle gesehen haben
muss. Der Name „manisch-depressives Irresein“
scheint Anfälle ohne primäre Geftihlsstörung geradezu
auszuschliessen.
M i t d e m Worte „ W a h n s i n n “ o der — weil
das zu diesem Worte gehörige Adjektiv
schon vergeben ist — „Vesania“ soll hier
ein Krankheitsbild (nicht eine Krank¬
heit) verstanden sein, das charaktcrisirt
i s t d u r c h Störungen auf intellektuellem
Gebiet und Zurücktreten oder Fehlen von
Anomalien des Gemiithcs.
Der Wahnsinn in diesem Sinne bildet einen Gegen¬
satz zu den manisch-depressiven Krankheitsbildern.
Durch Hinzutreten von manischen oder melancho¬
lischen Symptomen in verschiedenstem Grade lun-
sichtlich der Dauer und Intensität derselben können
diese vesanischen Formen durch den „melancholischen
Wahnsinn“ und den „manischen Wahnsinn“ in den
manischen respective melancholischen Zustand über¬
gehen. Gerade wie das manische und das melan¬
cholische Zustandsbild kommt auch das vcsanische bei
den verschiedensten Krankheiten vor, mischt sich dann
aber mit den specifischen Symptomen dieser Psychosen
(Paralyse, Dementia praecox u. s. w.),
Im Wahnsinn selbst haben wir zwei Haupt¬
gruppen zu unterscheiden: Diejenigen mit Vor¬
wiegen der Halluzinationen und diejenigen
mit blosser oder vorwiegender Wahn bi 1-
d u n g. Da dieselben sogar beim einzelnen Patienten
ganz fliessend in einander übergehen, werden sie
unter jenem Namen hier zusammengefasst.
Die halluzinatorische Form ist in etwas anderer
Abgrenzung unter verschiedenen Namen bekannt, von
denen Amcntia und Delirium halluzinatorium
hier angeführt werden mögen. Die einfache Form —
oder auch die ganze Gruppe — wurde auch als acute
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Paranoia bezeichnet. Da der letztere Ausdruck für
einen andern Symptomencomplex — nach Kräpelin
für eine andere Krankheit — schon längst ver¬
geben ist, werden wir ihn hier vermeiden. Die Pa¬
ranoia im Sinne Kräpelins ist trotz der äusseren
Aelmlichkeit nicht nur durch den chronischen Verlauf,
sondern auch durch die Art der Associationsstörungen,
der Gemüths- und Motilitätsaffection toto coclo von
dem Wahnsinn verschieden.
Keine Rücksicht w'ird im Folgenden darauf ge¬
nommen, ob Verworrenheit und Traumzustand
(Dämmerzustand) dabei sei oder nicht. Verworren¬
heit entsteht aus den allerversehiedensten Störungen:
Fast jede Art von Associationsstörung führt zu diesem
Bilde, wenn sie hochgradig ist; massenhafte Hallu-
cinationen erzeugen sic ebenfalls. Was das Wesen
des Traumzustandes ausmacht, ist uns noch nicht
klar; die Begriffe der Einengung des Bewusstseins,
der ungenügenden Auffassung oder Verarbeitung der
Sinneseindrücke u. s. w. befriedigen unser Erklärungs-
bedürfniss nicht recht. Es kommt hinzu, dass beim
gleichen Kranken wie von einem Fall zum andern
Verworrenheit und Traumzustand bald fehlen, bald
vorhanden sind, so dass ihre Bedeutung für unsere
Betrachtung eine sekundäre zu sein scheint.
P e r i o d is c h e r W a h n s i nn ist unter verschie¬
denen Namen schon mehrfach beschrieben worden,
ich nenne nur S pi e 1 m a n, K i r n, M c n d e 1 , M e s c h cd e,
Bechterew', Pilcz, Koppen*).
Alle diese Autoren lassen aber die nosologische
Stellung dieser Krankheitsbilder im Unklaren. Der
engere Begriff der periodischen Störung kann eben
nur theoretisch abgegrenzt werden; in praxi, rcisst
er Zusammengehöriges auseinander und bringt ganz
verschiedene Dinge zusammen. Verlangt man mit
Pilcz eine ziemlich regelmässige Wiederholung der
Anfälle und eine ziemliche Gleichheit der verschiedenen
Anfälle beim nämlichen Individuum, so werden wenige
Krankheiten, die viele Jahrzehnte beobachtet sind,
hieher gezählt werden dürfen. Nicht einmal die Epi¬
lepsie, die doch nach Manchen den Namen einer
periodischen Störung vollauf verdient, könnte man oft
hieher rechnen.
Ich möchte nun durch einige Beispiele zeigen,
*) Mendel. Allg. Zcitschr. für Psych. Bd. 44, pg. 617.
Ziehen. Monatsschr. für Psych. und Neurol. Bd. III pg. 30.
Meschede. De le paranoia periodique XIII, Congr. intern, de
Paris 1900, p. 140, und Skierlo, Ueber period, Paranoia. Diss.
Königsb. 1900. Bcchterewc Ueber period. acute Paranoia Sim¬
plex als besondere Form periodischer Psychosen. Monatsschr.
für Psych. und Neurol. 1899. Pilcz. Die period. Geistes¬
störungen, Wien 1901. Pick, Berl. Klin. Wochenschr. 1899.
Koppen. Neurol. Centr.-Bl. 1899, S. 434.
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iQ02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 123
dass der „periodische Wahnsinn“ eine Untergruppe
des manisch depressiven Irreseins bildet und dass
die Kenntniss dieser Formen vor der Annahme heil¬
barer chronischer Paranoia schützt und in manchen
einzelnen Fällen eine richtige Prognose erlaubt, die
sonst nicht gestellt werden könnte*).
Fall I.
Bäuerin, geb. 1827. Ein Stiefbruder hatte mehrere De¬
zennien lang manische Anfälle, in den letzten Lebensjahren
dazwischen einige depressive Anfälle.
Patientin war von 1863 an dauernd wegen periodischer
Manie in der Irrenanstalt. Anfälle reiner Manie meist etwa
alle zwei Jahre, mehrere Monate dauernd, dann alle Jahre. Von
Mitte der 80er Jahre an meist zwei Anfälle im Jahre. Im
Sommer 1890, mitten in einem manischen Anfall, schwerer
Darmkatarrh. Zu gleicher Zeit Auftreten von Haliucinationen
und Angst, es seien viele böse Leute da, hörte Stimmen von
Männern, die in die Anstalt eindringen, die Leute fortnehmen
wollten, um sie in einer Höhle umzubringen. Grosse Präcordial-
Angst, wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem Herzfehler,
der nicht mehr recht compensirt war. Nach einigen Wochen
verschwanden die Haliucinationen, dann langsame Besserung.
Von nun an Mischung verschiedener Anfalle: manischer Wahn¬
sinn, melancholischer Wahnsinn, einfache, zum Theil etwas
kraftlose, zum Theil flotte Manie; alle meist von kurzer Dauer,
aber sehr häufig. 1899 Hinzutreten deutlicher Erscheinungen
von Hirnatrophie. Tod an Carcinom eines Nävus 11. VIII. 00.
Fall II.
Arbeitslehrerin, geh. 1847. Eine Schwester melancholische
Selbstmörderin.
8. VIII. bis 14. X. 90 im Burghölzli wegen eines verwirrten
Traumzustandes mit Gewalttätigkeit, Ideenflucht. Nachträgliche
Erinnerung an die wirklichen Vorkommnisse fehlte fast ganz,
dagegen erzählte Patientin von einem wunderbar schönen Traum¬
leben. Es war ein grosses Arbeitsfeld da, für das nicht genug
Leute sich fanden, sie hörte die Leute singend von den Alpen
kommen u. s. w. Während der Besserung war sie nur sehr
allmählich von der Irrealität dieser Erscheinungen zu überzeugen.
Geheilt.
1893 kurz dauernde Aufregung, die draussen überstanden
wurde.
27. III. 98 ins Burghölzli gebracht mit der Diagnose: Para¬
noia (chronica). Entwickelte ein coofuscs Wahnsystem, das sich
auf wirkliche Differenzen mit dem Vormund ihres Sohnes be¬
zog. Daneben Ideenflucht, Bewegungsdrang, gehobene Stim¬
mung. Viele Haliucinationen und auf der Höhe der Krankheit
zeitweise Verwirrtheit. Gebessert entlassen, 15. VII. 98.
27. I. 99 bis 25. VIII. 99. Manie mit weniger hervor¬
tretenden Haliucinationen. Gebessert. 6. IX 01 bis 23. XII. 01
Manie ohne Haliucinationen. Gebessert entlassen.
Der erste Anfall der Patientin war ein reiner Traumzustand,
dann kan» eine hallucinatorischc Manie mit einem festgehaltenen,
wenn auch confusen Wahnsystem, dann einfache Manie.
Fall III.
Hausfrau, geh. 1865. Mutter, Vater, Bruder geisteskrank.
Körperlich etwas schwächlich, geistig gut entwickelt.
1887 Melancholie nach Erkrankung der Mutter, ca. 1892
*) Die Krankengeschichten werden ausführlicher publicirt
von Frl. Rabinowitsch in ihrer Dissertation über das gleiche
Thema, deren Druck sich etwas verzögert.
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nach dem 1. Wochenbett leichte Melancholie. 1899 in der
4. Schwangerschaft isolirter Suicidversuch Nach dem Wochen¬
bett im April 99 Schlaflosigkeit, 4 Wochen später deutliche
melancholische Verstimmung, dann Traumzustaud. Fast alles
wird illusionistisch verkannt; Haliucinationen des Gesichtes;
befindet sich in einem Zaubergarten und rcagirt demgemäss;
zeitweise Verfolgungs- und Beziehungswahn. Mutismus, Nah-
ru ngsverweigerung.
Nach dem Anfall traumhafte Erinnerung, submanisches
Nachsladium. Heilung Ende 1899.
Fall IV.
Klavierlehrerin, geb. 1854, eine Schwester vorübergehend
schwcrmüthig.
Seit Jahren sehr nervös; grosses Uterusmyom. Somtncr
1890 bis April 1891 Zeiten nervöser Erschlaffung mit hoher
Reizbarkeit. Dann Schlaflosigkeit; etwas später täglich heftige
motorische Aufregungen, verwirrtes Reden; daneben ruhigere
Stunden mit einer gewissen Einsicht;,, gab an, fortwährend
Stimmen zu hören, welche sie verwirrten. Im Laufe des Juli 91
ruhiger, dann etw'as läppische Euphorie.
3. IX. 91 vollständig geheilt entlassen. Erinnerung nur
an das letzte submanische Stadium vorhanden.
1894 vier bis fünf Monate gleicher Anfall.
13. IY. 98 einige Tage Depression, Schlaflosigkeit. Dann
gleicher Anfall wie früher, nur neben den Stimmen Halluci-
nationen der anderen Sinne: Das Bett brennt, es wird immer
grösser, chemische Dünste steigen auf. Ab und zu lichte Augen¬
blicke.
Ende April bedeutend ruhiger; beschäftigt sich, doch etwas
labil; lässt sich von der krankhaften Natur der spottenden
Stimmen überzeugen. Etwas ideenflüchtig, daneben Beziebungs-
wahn; die Wärterinnen spotten über sie; sie wollte nicht in
eine bestimmte Wohnung gehen, die Leute würden sie auffressen.
10. XL 98 gebessert entlassen; draussen Frühling 99 ganz
geheilt.
Anfang 1900 neuer Anfall, 10 Monate in einer Irrenanstalt;
dann gebessert in Privatpflege, wo sie allmählich besser wurde,
so dass sie für gewöhnlich normal erscheint, nur dann und wann
— für Stunden oder wenige Tage — wechselnde Verfolgungs-
Wahnideen.
Fall V.
Schneiderin, geb. 1875. Unehelich. Heredität fraglich.
6. VI. 95 bis 29. I. 96 wegen eines dem jetzigen gleichen
Anfalls in einer andern Irrenanstalt. Geheilt.
Pat. kam 10. X. 99 ins Burghölzli. Anfangs Manie mit
vielen Haliucinationen und Illusionen, namentlich auch des All-
gcmeingefühls (glaubte sich gestochen, Berührungen machten ihr
Schmerzen), aber auch aller anderer Sinne, hörte Beschimpfungen,
wurde verfolgt. Nach und nach wurden die Haliucinationen
und Verfolgungsidcen das Hervorstechende; Patientin sprach
wochenlang nichts, als dass sie schimpfte, verkroch sich unter
die Decke; oft gewaltthätig. Dabei ganz unregelmässige Ab¬
wechslung von ruhigeren und unruhigeren Zeiten. Nach und
nach Beruhigung. Noch einige Monate lang bei durchschnitt¬
licher Ruhe und lleissigem Arbeiten plötzlich Aufregungen auf
Grund von Haliucinationen, namentlich des Gehörs, an die sich
Patientin nachträglich nur undeutlich oder gar nicht erinnern
wollte. Die früheren dauernden Aufregungszustände waren fast
ganz vergessen. (>. II. oi in Heilung entlassen. Draussen
normal (bis III. 02).
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
124
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n
Fall VI.
Schneiderin, geh. 1839. Grossvater mütterlicherseits „im
Alter geisteskrank“.
Unter anderen Krankheiten hat Patient im 12. Jahr eine
Meningitis mit 6 wöchentlicher Bewusstlosigkeit durchgemacht,
später Spondylitis mit Beinlähmungen und in einem zweiten
Anfall derselben auch mit Lähmung der Zunge und eines Armes.
Heilung der motorischen Störung und der Spondylitis.
1864 nach dem Tode der Mutter melancholische Verstim¬
mung. 1869, anschliessend an Pocken, erster etwa ein halbes
Jahr dauernder Anfall von hallucinatorischem Irresein, theils
mit Gewaltthätigkeiten und gehobener Stimmung, theils mit
melancholischem Charakter.
1876 bis in die 80 er Jahre, fast regelmässig anschliessend
an die Menstruation, ein deliriöser Anfall; Schlaflosigkeit, Ge-
sichtshallucinationen zusammenhängender Sccnen; bald namen¬
lose Angst, bald Gereiztheit, bald gehobene Stimmung, daneben
Beziehungswahn.
Nach und nach lösten sich die Anfälle ganz von der Men¬
struation ab, sie wurden länger, aber seltener, 2—3 im Jahr
von 2 — 3 Monaten Dauer.
Schon von Anfang an neben den hallucinosen Zuständen
falsche Deutung der Umgebung in feindlichem Sinne. Nach
und nach wurde dieses Symptom häufiger; viele Anfälle — die
meisten der letzten Jahre — verliefen fast ohne Hallucinationen
nur in paranoider Form.
Stimmung immer entsprechend den Hallucinationen.
Dann und wann, namentlich in den früheren Stadien, Zeichen
von melancholischer Hemmung und Depression oder von ma¬
nischer Ideenflucht, Bewegungsdrang, gehobene Stimmung.
In den Intervallen vollständig arbeitsfähig, einsichtig, wenn
auch etwas geziert und süsslicb.
Fall VII.
Landwirth, geb. 1842. Zwei Tanten und eine Schwester
mütterlicherseits geisteskrank; in den letzten Jahren soll noch
eine Schwester geisteskrank geworden sein.
Von jeher etwas sonderbar.
1867, acht Monate „tobsüchtiger Anfall“; geheilt. 1873
vier Monate lang „melancholisch“. Geheilt. Ende 1880 hatte
Patient das väterliche Haus in Brand zu stecken versucht und
sich einen Stich in die Herzgegend beigebracht. Seitdem nun
eine ganze Anzahl von Anfällen, die meist eingeleitet werden
durch ein leichtes melancholisches Stadium mit brutalen Selbst¬
mordversuchen, manchmal auch durch eine auffallende Neigung
zum Lachen. Dann tauchen die Wahnideen aus den früheren
Anfällen wieder auf; hierauf kommt ein Stadium von mehreren
Wochen oder Monaten Dauer, in welchem das Bild von Hallu¬
cinationen beherrscht wird und der Kranke ungemein gewalt¬
tätig ist. Zum Theil interkurrent zwischen den Auflegungen,
dann aber namentlich nachher, Monate, sogar r—2 Jahre lang,
treten die Hallucinationen ganz zurück. Patient fühlt sich als
Vorkämpfer der protestantischen Kirche, schreibt eine Kirchen¬
verfassung und Geschichtsphilosophie, treibt Politik, macht allen
Behörden Vorschriften, legt mit grossem Scharfsinn die Bibel
aus u. s. w. Die Krankheit ist dann sehr schwer von einer
typischen Paranoia zu unterscheiden. In einigen der ruhigen
Zwischenzeiten bleiben diese Wahnideen, wenn sie auch ver¬
heimlicht werden, in andern erscheint der Kranke vollständig
gesund, sehr thätig, arbeitet sich mit aussergewöhnlichem Geschick
in die verschiedensten Berufe hinein (Dreher, Mechaniker,
Gärtner u. s. w.).
Die Uebergringe zum Schlimmen, wie zum Guten, sind oft
recht plötzlich.
In früheren Anfällen soll Patient manchmal etwas benommen
gewesen sein, seit 1886 jedenfalls nicht mehr.
Die Erinnerung an die Anfälle ist eine gute.
Gelegentlich zeigten sich Andeutungen des manischen oder
melancholischen Symptomcncomplexcs, am deutlichsten im Sinne
der Kräpel i n’schen Mischfälle: Hemmung, Euphorie und
motorische Aufregung.
Fall VIII.
Landwirth. geb. 1851, Vater hat sich ertränkt.
Von Jugend auf etwas schwachsinnig, früh schon zeitweise
melancholisch oder hallucinirend; dann arbeitsscheu, wander¬
lustig, übernachtete im f reien u. s. w. 13. Mai 1872 bis 28. No¬
vember 1873 wegen einer typischen und sehr starken melan¬
cholischen Depression mit Versündigungswahn und Hemmung,
aber ohne nachweisbare Hallucinationen, in Burghölzli. — 3. III.
78 bis 2. IX. 79 wieder im Burghölzli. Hallucinatorischc Auf¬
regung, vorwiegend als Verfolgter, äusserlich abwechselnd tobend
und schimpfend oder wortkarg vor sich hinbrütend. Gebessert
entlassen. 1883 von einem Specialisten drnussen als chronische
Paranoia nach Rheinau geschickt. Schlief schlecht, antwortete
Stimmen, die ihm unter anderen sagten, er werde getödtet.
Arbeitete aber fleissig, war vollständig orientirt.
Von 1884—87 volle Einsicht, normal. Oct. 87 bis Sommer
88 wieder Stimmen, dann Gesichtshallucinationen und Illusionen,
Vergiftungswahn u. s. w. Wochenlang Tag und Nacht arg auf¬
geregt, lärmend, zerstörend, beständig hallucinirend, nicht selten
manisch und melancholisch. Dann normal bis 1890. Hierauf
hartnäckige etwas sonderbare Lumbago, anschliessend daran
etwas gereizt, schien ein wenig benommen; dann bis Nov. 97
hallucinatorischer Zustand, bald aufgeregt, bald zugänglich und
geordnet, je nach dem Vorhandensein der Stimmen, nicht selten
manisch oder depressiv, Stimmung „abhängig von den Hallu¬
cinationen.“ 1892—97 normal, 97—99 wieder abwechselnd
hallucinirend, gewaltthätig und ruhiger, von da bis Herbst iooi
normal. Jetzt, Winter 1901/2, wieder halhicinatorische Auf¬
regung.
In den früheren ruhigeren Zeiten hatte Patient etwa einmal
ganz kurz dauernde Aufregungen, in denen er etwa eine
Sense verbog, einige Stunden stumpf vor sich hinbrütete und
dgl., in den letzten 10 Jahren nicht mehr. In den kleinen An¬
fällen erschien er etwas benommen, hatte aber gute Erinnerung;
an die grossen Anfälle hatte er nachher eine etwas ver¬
schwommene Erinnerung.
Fall IX.
Bauersfrau, geb. 1839. Mutter geisteskrank; Onkel, eine
Nichte und ein entfernterer Verwandter, alle mütterlicherseits,
Epileptiker. Ein Bruder ertränkte sich, ein Sohn imbccill. zu¬
gleich an Dementia praecox leidend. (Vater desselben war
Trinker, hat sich das Leben genommen.) Pat. war in-
tcllectucll schwach entwickelt. Mit 20 Jahren erste Psychose
ohne nähere Nachrichten.
1885 kurz nach einem Abort wegen leichten, manischen
Anfalls im Burghölzli. Ungeheilt entlassen. Seit 1887 in
Rheinau, dort abwechselnd depressive und tobsuchtartige An¬
fälle mit längeren und kürzeren Tntermissionen, in welch letzteren
sie aber jeweilen nur für wenige Wochen — oder auch gar
nicht — auf eine Art normalen Zustand kam, in dem sie volle
Krankheitseinsicht hatte. Dauer eines Cyklus während langer
Zeit etwas mehr als ein Jahr. Früher müssen die normalen
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
125
1902.]
Zeiten länger gewesen sein. Die“ Kranke hat 2 mal geheirathet,
das zweite mal allerdings in nicht ganz normalem Zustande.
Pat. hörte Stimmen, hatte Visionen, vor allem aber sehr
lebhafte Illusionen des Gesichtes; verkannte Flecken an der
Wand als Christus (in verschiedenen Anfällen wieder in ganz
gleicher Weise), der zu ihr sprach, sie solle Schnaps trinken
und Aehnliches; ruhig hängende Wäsche sah sie für vorüber¬
spazierende Vögel an und dergl.
Die Reaction auf die Hallucination hatte immer etwas
Triebartiges, Plötzliches an sich. In melancholischen Zeiten
einige Suicidversuche; in den manischen Prügeln, Schmieren
mit Speichel, manchmal auch mürrisches sich Zurückzichen,
das nur in Toben übergeht, wenn man etwas von der Patientin
wünscht.
ln den letzten Jahren fehlt gehobene Stimmung und Ideen¬
flucht meist, während die depressive Phase Andeutungen der
melancholischen Symptomentrias zeigt. Immerhin spielen die
Stimmen die Hauptrolle.
Fall X.
Börsenagent, geb. 1847. Tante, Cousin, Cousine väterlicher
Seite „melancholisch“.
Still, züchtig, solid. Febr. 89 Schlaflosigkeit, Aengstlich-
keit. Mai 89 Beziehungs- und Verfolgungswahn: bekommt
Gift, man will ihn betäuben, um ihn Wechsel unterschreiben
zu lassen. Jedermann meint es schlecht mit ihm. Schliesslich
wird sozusagen alles, was dem Kranken begegnet, auf sich
selbst bezogen im Sinne des Verfolgungswahns. Rheumatische
Schmerzen hat ihm der Arzt gemacht u. s. w. Vom Sommer
1890 an vollständig normal bis März 1898. Er hatte sein Ge¬
schäft ausgedehnt und mit Glück geführt. 1898 nach Operation
seines Sohnes übermässig bekümmert, ängstlich, schlaflos;] melan¬
cholische Verarmungsideen, die aber bald vollständig verdrängt
wurden, von Verfolgungswahn : die kleinsten und die grössten
Vorkommnisse deuteten darauf, dass man ihn verfolge, ihm an’s
Leben wolle. Er musste auch für alle Leute einstehen, die
irgend etwas für ihn thaten. Fühlt sich unschuldig, nut selten
eine melancholische Versündigungsidee.
Febr. oder März 1900 ziemlich rasche Besserung. Völlige
Einsicht. Hypomanischer Zustand, anfangs sehr deutlich, nach
und nach abklingend. Patient führt seit Herbst 1901 sein Ge¬
schäft wieder, wenn auch auf unseren Rath in vermindertem
Umfange.
Der paranoide Inhalt der Wahnideen hatte in diesem Fall
eine unheilbare Krankheit annchmen lassen. Im zweiten An¬
fall liess sich aber nach unserem jetzigen Wissen die Diagnose
der periodischen Krankheit leicht machen: Hemmung der Ge¬
danken, Mangel an Ablenkbarkeit, beständiges Ruminiren der
gleichen Ideen, vollständiger Mangel an Initiative, Beschränkung
der motorischen Aeusserungen auf Angstausdrücke, (beständiges
Hin- und Hergehen im Zimmer bei Abneigung ins Freie zu
gehen, unaufhörliches Schwatzen über seine Wahnideen); im
Beginn schienen die Anfälle gewöhnliche melancholische zu sein,
einzelne Wahnideen mit melancholischen Timbre kommen auch
später vor, und die maniakalische Exaltation nach Ablauf des
zweiten Anfalls demonstrirte die klinische Stellung der Krank¬
heit so recht ad oculos.
Fall XI.
Schreiner und Glaser, geb. 1854. Vater und ein Bruder
Potator, Mutter schwerinüthig.
In der Jugend geistig und körperlich etwas schwächlich.
Vor dem 12. Jahr Masturbant. Lief vor Beendigung der Lehr¬
zeit fort, hielt es nirgends lange aus, meist wegen Trunksucht
fortgeschickt. Will ausserehelich wenig mit Frauen verkehrt
haben, hat mehrmals, zum Theil im angetrunkenen Zustande,
kleine Mädchen missbraucht, einmal auch eine Hündin, 1885
deshalb im Zuchthaus. Dort fand er ca. 1886 in allen gleich¬
gültigen Vorkommnissen allerhand „Zeichen“, die ihm sagten,
er müsse mit einem bestimmten Mädchen in der Strafanstalt
coitieren, und sie dann heirathen, sonst werde er geköpft.
Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus 1888 lief er im
Rausch von weither mehrmals in die Strafanstalt, um das Mädchen
heraus zu verlangen, wurde jeweilen natürlich fortgeschickt.
Nun ca. '/. 2 Jahr lang Trinkerleben, während dessen er
mehrmals tagelang andauernde Thiervisionen hatte. Dann Ab¬
stinent, verzichtete auch auf die Onanie, besserte rasch, heirathete
1889, übernahm ein eigenes Geschäft, das er in die Höhe
brachte. Es war überhaupt etwas Abnormes an ihm nicht zu
finden. 1898 kamen die „Zeichen“ wieder. Patient fing an zu
trinken, lief in angetrunkenem Zustande mehrmals in die weit
entfernte Strafanstalt, um das Mädchen heraus zu verlangen. Die
Zeichen sagten ihm dann, es sei anderswo. Schliesslich, 11.
XL 98, machte Patient ein Attentat auf eine Unbekannte, die
er für ihn bestimmt hielt, aber erst am 12. III. 99 kam er in
die Anstalt.
Daselbst vollständig orientirt, erzählte ruhig und geordnet,
sah aber überall die Zeichen; meinte, das Mädchen sei im Ver¬
waltungsbureau; dann und wann stärker aufgeregt, wurde ge-
waltthätig, weil man ihn nicht zu dem Mädchen gehen liess,
zog seine Genitalien aus den Hosen, wollte sogar die Aerzte
missbrauchen.
Im Oktober 99 rasche Besserung, volle Einsicht, Heilung.
Bewegungsdrang wie Hemmung der Motilität fehlte; am
Gedankengang war nur das auffallend, dass Patient auf der Höhe
der Krankheit in keiner Weise ablenkbar war und Gegenvor¬
stellungen spurlos an ihm vorübergingen. Zu den paranoiden
Wahnvorstellungen kam noch die melancholische, dass er meinte,
er werde geköpft, wenn er das Mädchen nicht brauche.
Bei allen Beispielen, mit Ausnahme des letzten,
finden wir deutliche Zeichen des manisch-depressiven
Irreseins, seien es typische Anfälle neben den
vcsanischen Störungen, sei es dass sich zeitweise
manisch-depressive Symptome mit dem Wahnsinn
mischen, wenn sie auch oft längere Zeit nicht nachzu¬
weisen sind.
Nur im Falle 11 kann inan sich fragen, ob sie
vorhanden sind; doch entspricht der Mangel an Ab¬
lenkbarkeit, die Einengung der Gedanken auf einen
ganz kleinen Kreis bei guter Orientirung durchaus
dem Gedankengang bei melancholischer Depression.
Immerhin wagten wir vor der Heilung bei dem un¬
sinnigen, triebartigen Benehmen des Kranken nicht
mit aller Sicherheit die Dementia praecox auszu-
sehliesscn, zu welcher die Discussionsunfähigkeit des
Kranken ja ebenfalls gepasst hätte.
Bei mehreren Fällen sind hallucinatorische und
paranoide Formen gemischt. Eine grosse Rolle spielen
die Gesichtsillusionen sicher in den Fällen 8 und 9;
wahrscheinlich beruht auch hei andern Fällen ein
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HARVARD UNiVERSITY
I 2 6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n.
Theil der Krankheitserlei misse auf Illusionen und nicht
bloss auf Hallucinationen.
Eine „ph o tog ra p h i sche T re u e“ der ver¬
schiedenen Anfälle zeigt sich nirgends. Dagegen
treten oft die gleichen Wahnideen, Hallucinationen
und Illusionen wiederauf; hei Fall 7 und 8 bezeichnete
die Wiederaufnahme früher gebildeter Wahnideen oft
den Beginn eines Anfalls.
Wie es nicht selten ist, dass mitten in den Inter¬
missionen des gewöhnlichen manisch-depressiven Irre¬
seins ab und zu kurz dauernde manische oder melan¬
cholische Verstimmungen sich bemerkbar machen, so
kommen auch hier mitten in vollem Wohlbefinden
einzelne Hallucinationen, einzelne Bcziehungs- oder
Verfolgungswahnideen vor, die aber practisch meist
ohne Bedeutung sind.
Die Fülle 7, 8, 10, 11 wurden von Spezialisten
als chronische Paranoia angesehen, Fall 2 vom ein¬
weisenden Arzte. Eine genauere Untersuchung auf
manisch-depressive Symptome hätte davor bewahren
können. Es sei indess ausdrücklich darauf aufmerksam
gemacht, dass auch gelegentlich ein Paranoiker im
engeren Sinne mal vorübergehend melancholisch werden
kann. Manien bei echten Paranoikern hat Verf. noch
nicht gesehen, es scheint ihm aber nicht ausgeschlossen,
dass Manie und Paranoia auch einmal den gleichen
Pat. befallen können.
Bei No. 3, 5 und 11 waren wir selbst im Zweifel,
ob nicht Dementia praecox vorliege. Ob das sonder¬
bare Benehmen nur auf hallucinatorischer Verkennung
o
der Umgebung (3, 5) und Mangel an Ablenkbarkeit
bei einer herrschenden Wahnidee (11) oder dann
auf der für Dementia praecox characteristischen Asso¬
ciationsstörung beruht, lässt sich eben schwer ent¬
scheiden, wenn die Kranken unsere Fragen nicht be¬
antworten. Immerhin wird die gemachte Erfahrung
späteren Fällen zu gute kommen können.
Bei Fall 2, 3 und 4 war die Auffassung der
Umgebung', resp. der „Bewusstseinszustand“
ein durchaus traumhafter; die Erinnerung war
nicht vollständig. Fall 5 schien orientirt, die Er¬
innerung war aber dennoch eine schlechte. Fall 6
zeigte Traurnzustände neben Anfällen, in welchen
Pat. sehr gut orientirt war; die Erinnerung war immer
sehr getreu. Bei Fall 7 wurde nur einzelne Male
„Bewusstseinstrübung* 1 notirt, sonst war der Kranke
ganz klar und imponirte als chronischer Paranoiker.
Ebenso waren 8, 9, 10 und 11 äusserlieh immer gut
orientirt und hatten ziemlich gute, oder sehr gute
Erinnerung an die krankhaften Erlebnisse.
Bei 7 und 9 kamen neben vollständigen Inter¬
missionen oft nur Remissionen vor, in denen bei 7
die Reizbarkeit und Neigung zu Hallucinationen, bei
() die Wahnideen nicht ganz verloren gingen. Bei
beiden bildeten die ganz normalen Zustände geradezu die
Ausnahme. Bei 8 bestand einmal ein mehrere Jahre
dauerndes paranoides Stadium mit v<» 11 er Arbeitsfähig¬
keit, aber einzelnen Gehprshulliicinationen und un-
korrigirten Wahnideen.
Inwiefern eine vollständige Correetur der Wahn¬
ideen nothwendig ist, um eine „Heilung vom Anfall“
anzunehmen, ist mir überhaupt noch nicht klar. Es
befindet sich jetzt ein Professor der Philologie im
Burghölzli, der als Student eine manieartige Aufregung
durchgemacht hatte, der gegenüber er während 50 sonst
ganz normalen Jahren nie Krankheitseinsicht gezeigt
hatte. Jetzt leidet er an Dementia senilis.
Ein anderer Fall, bei dem die Diagnose offen
gelassen werden muss, mag hier angeführt werden.
Eine in Rheinau versorgte Kranke hatte während eines
langen Lebens immer mchrwöehentlichc Perioden
von Bezichungswahn mit Gereiztheit, abwechselnd
mit normaler Gemüthsstiinmung und normaler Auf¬
fassung ; doch war die Patientin — wenigstens in
den letzten Jahrzehnten, aus denen allein genauere
Beobie iitungen vorliegen — in den Zwischenzeiten
nicht im Stande, die Wahnideen zu corrigiren. Leider
wurde die nun verstorbene Kranke nicht genauer
auf manisch-depressive Symptome untersucht; es ist
mir aber wahrscheinlich, dass auch dieser Fall, trotz
seines Residual wahnes , hierher gehört.
Interessant ist, dass Fall b zuerst den Tvpus einer
menstruellen Psychose zeigte, während bei No 3 Gra¬
vidität und Wochenbett und bei No. 9 ein Abortus
Anfälle auslösten. K räpelin’s Auffassung der men¬
struellen und puerperalen Manie wird durch diese
Fälle* wie auch durch andere, welche ich beobachtet
habe, gestützt.
Warum in den einen Fällen von manisch-de¬
pressivem Irresein Wahnsinn, in den andern Manie
oder Melancholie auftritt, ist vorläufig noch nicht zu
entscheiden.
Die Heredität ist in unsern Fällen wie überhaupt
bei manisch-depressivem Irresein eine grösst 1 ; bei
Fall 6 übertrifft wohl die Meningitis die leichte Ple-
redität (dem. senilis des Grossvaters) an Bedeutung.
Es handelt sich sonst immer um Geisteskrankheiten
in der Familie; ob auch periodische Geistes¬
krankheiten, lässt sich leider nicht entscheiden, ist
aber wahrscheinlich. Beachtenswert!! ist das Vorwiegen
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1Q02.]
der melancholischen Störungen bei den anderen Fa-
miliengliedem. *)
R esu me: Es giebt hallucinatorische und para¬
noide Wahnsinnsformen, die Einzelanfälle des me¬
chanisch depressiven Irreseins darstellen und gleich-
werthig sind den manischen oder melancholischen
Anfällen dieser Krankheit. Die paranoiden Formen
können manchmal eine chronische Verrücktheit Vor¬
täuschen. Ihre Zugehörigkeit zum manisch-depressiven
Irresein wird bewiesen durch den dieser Krankheit
eigenthiimlichen Verlauf, den Mangel an Intelligenz¬
störung in den Intermissionen, die Mischung mit
*) Ueber die Heredität bei periodischem Irresein vergl.:
Sioli, Arch f. Psych. 16. Hiirbolla, direkte Vererbung
von Geisteskrankheiten. Breslau, Diss. 1893. Kitschen,
Beziehung der Heredität zum periodischen Irresein. Monatsschr.
f. Psych. und Neurologie Bd. Yll. Weygandt, Zeitschr. f.
Psychiatrie, 58, pag. 493.
l2 l
manisch-depressiven Symptomen, die Mischung von
manischen, respectivc depressiven Anfällen mit den
vesanischen beim gleichen Kranken und wohl auch
durch die gleichartige Heredität.
Die Gruppe des manisch-depressiven oder peri¬
odischen Irreseins wird dadurch noch etwas grösser
als sie schon war. Das ist wohl kein Schade, wenn
auch der Name nun wieder nicht gut zu allen Fällen
passt. Das Wesentliche ist aber nicht der Name,
sondern der Begriff, und dieser muss als ein einheitlicher
festgehalten werden, bis es einmal gelingt, innerhalb
der grossen Masse das Auftreten der zur Zeit un¬
wesentlich erscheinenden Differenzen zu erklären.
Vorläufig aber hält der gleiche Verlauf, die gleiche
Heredität, die Auswechselbarkeit der einzelnen Svmp-
tome und Anfälle beim einzelnen Kranken wie von
Fall zu Fall die Gruppe sehr gut zusammen und
grenzt sie zugleich gegen alle andern Psychosen ab.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— XXVII. Wanderversammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte in
Baden-Baden am 24. und 25. Mai 1902.
1. H offmann - Heidelberg:
a) Ein 19 jähriges Mädchen war ganz allmählich
erkrankt mit ziehenden Extremitätenschmerzen, Paresen;
Stellungsanomalie der Hände ; Atrophie, Herabsetzung,
stellenweise Erlöschen der elektrischen Erregbarkeit.
Patellarreflexe schwach. Die Nervenstämme, beson¬
ders Ulnaris, Medianus, Radialis waren auffallend
verdickt wie ein Bleistift, hart und etwas druckem¬
pfindlich. Auch die sensibeln Nerven waren in ihrer
Erregbarkeit herabgesetzt. Es handelt sich um ein
Bild der progressiven neuralen (neurotischen) Muskel¬
atrophie, im gewissen Grad erinnernd an die Fälle
Duchennes von Neuritis interstitialis hypertrophica,
die allerdings daneben noch tabische Symptome auf¬
wiesen. (Krankenvorstellung).
b) Eine 53 jährige Frau klagt seit 7 Jahren über
Schmerz in der Schläfengegend, Blepharospasmus, Tic
convulsif im Gesicht. Es traten nunmehr klonische
Krämpfe dazu, die das Gaumensegel, die Uvula, die
hintere Rachen wand, den Kehlkopfeingang und die
Stimmbänder betrafen. (Krankenvorstellung).
c) Ueber tonischen Faci a 1 iskra mpf. Es
zeigten sich in einem Fall im r. Facialis Herabsetz¬
ung der Erregbarkeit, sowie langsam eintretende to¬
nische Krämpfe ohne Lähmung. Die elektrische
und myotonische Reaktion waren träge. Ncuroto-
nische Krämpfe im Abducensgebiet. Wahrscheinlich
ist ein Prozess an der Schädelbasis zwischen Pons
und Oblongata anzunehmen.
2. E her s-Baden-Baden : Demonstration
eines durch Operation geheilten Falles
von chronischem Kram pf der Nacken - u nd
Hals m us k u 1 a t u r. Patient acquirirte v< >r 9 Jahren,
damals 3ojährig, in Ostafrika Malaria (Tertiana). Mai
1901 fuhr er urlaubswcise nach Europa und spürte
auf der Rückkehr Steifigkeit im Nacken und Hals.
September konstatirtc Vortr., dass der Kopf nach
rechts unten krampfhaft fixirt war, die Halsmuskeln,
besonders rechts, waren bretthart kontrahirt. Nur mit
Gewalt brachte man den Kopf in Mittelstellung.
Beim Versuch der Rechtsbeugung stellten sich ruck¬
artige heftige Zuckungen nach rechts ein. Zum
Schlucken musste Pat. den Kopf mit der Hand
fixiren. Chinin, Bromsalze, Zinc. valerian. u. s. w.
waren wirkungslos, Scopolainininjektionen erleichter¬
ten vorübergehend, physikalische Heilmethoden ver¬
sagten. Kocher trennte November 1901 durch 4
Operationen beide Nervi accessorii, die meisten ober¬
flächlichen und tieferen Nacken- und Halsmuskeln,
sowie die Unterkiefer- und Zungcnbeinmuskeln rechts,
ferner einige Muskeln links. März 1902 stand der
Kopf in Mittelstellung, war jedoch durch Narbenzug
in der Beweglichkeit eingeengt. Eine Lcdercravatte
wurde wegen der Ermüdbarkeit getragen. Durch Gym¬
nastik mit Zanderapparaten, Massage und Suspension
in der Sayrc’schen Schlinge wurde der Kopf im Laufe
von 3 Monaten frei beweglich, so dass er jetzt in
jeder Stellung fixirt werden kann und keinerlei Be¬
schwerden mehr macht.
D i s k u s s i o n: S c h u 1 1 z e - Bonn verweist auf die
weniger eingreifende Operation von Kean, der nur
die Nerven durchschneidet.
3. V11 1 p in s - Heidelberg: MuskeIüberp f 1 an -
zung bei spinaler Kinderlähmung.
a) Ein 9jähriger Junge hatte in Folge spinaler
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128
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. ii.
Kinderlähmung gelähmten Quadriceps und Biceps
femoris; aktive Beinstreckung war unmöglich. Opera¬
tiv wurde der Semimembranosus nach vom gelagert
unter Verlängerung durch eine 5 cm lange Seiden¬
sehne. Zur Besserung der Zugrichtung wurde bei
einer 2. Operation der M. semimembranosus in grosser
Ausdehnung auf dem Quadriceps befestigt und der
Semitendinosus tenotomirt. Osteotomie beseitigte das
Genu valgum. Jetzt geht der Junge recht gut, steigt
sogar Treppen. (KrankenVorstellung).
b) Ein Junge mit Kinderlähmung lernte nie laufen,
übte sich im Handgang. Der einzig überlebende
Muskel links, Biceps wurde an der Tuberositas Ti¬
biae befestigt. Durchschneidung der Muskeln am
Hüftgelenk gab dem Bein Abduktionsstellung. Weiter¬
hin wurde Osteotomie am Trochanter, ferner wegen
Spitzfuss Achillessehnenplastik vorgenommen. Rechts
wurde der gelähmte Quadriceps durch Kniebeuger
ersetzt. Jetzt kann der Junge leidlich gehen. (Kran¬
kenvorstellung).
4. Schwalbe-Strassburg: Ueber Windungs¬
protuberanzen des Schädels. Manche Tbiere,
wie Iltis, Fischotter, Marder, Lemur, zeigen einige
Hirnwindungen frappant an der Schädelfläche aus¬
geprägt. Beim Menschenschädel kommen besonders
die muskelbedeckten Parthien in Betracht. In der
Occipitalgegend findet sich die Protuberantia cerebel-
laris, manchmal sogar eine Protuberantia vermiana.
Darüber ist gelegentlich eine dem Hinterhaupts¬
lappen entsprechende Protuberanz zu fühlen. Der
Sulcus sphenoparietalis entspricht einem Theil der
Fossa Sylvii. Stirn- und Schläfenlappengebiet ist zu
unterscheiden; eine Wulst entspricht dem vorderen
Theil der 3. Stimwindung, Fast immer vorhanden
ist eine Protuberantia gyri temporalis medii, manch¬
mal findet sich auch ein Theil der 3., seltener der
1. Schläfenwindung ausgedrückt.
Diskussion: Hitzig-Halle, Schwalbe-Strass¬
burg, Fürstner - Strassburg.
5. Erb- Heidelberg: Bemerkungen zur pa¬
thologischen Anatomie der Syphilis des
centralen Nervensystems.
Nur dank der klinischen Befunde kann die patho¬
logische Anatomie auf syphilitische Veränderungen
sch Hessen. Man trifft in einer Gruppe von Fällen
typisch luetische Veränderungen des Central nerven-
Systems, Meningitis, Myelitis, Arteriitis, dazu Hcrd-
und Strangdegenerationen ohne engere Beziehungen
zu spccifischen Veränderungen. Eine zweite Gruppe
zeigt Systemerkrankungen oder Strangdegenerationen,
daneben zweifellos specifische Veränderungen. So
können bei Tabikern noch Meningitis, Gefässverän-
derungen, Gumniata u. a. auftreten. Drittens trifft
man Sklerosen ohne speeifischen Charakter, ohne
andere spezifische Läsionen, bei früher zweifellos
syphilitischen Individuen ; auch eine Reihe von kom-
binirten Systemerkrankungen bei Luetischen; ferner
zählt hierher die Tabes, in deren Vorgeschichte 70
bis po u 0 Syphilis zu finden ist. Die Veränderungen
bei dieser 3. Gruppe sollte man nicht als para- oder
meta- oder postsyphilitisch bezeichnen, sondern sic
sind mit demselben Recht syphilitisch wie die typi¬
schen Veränderungen.
6. Schüle-Freiburg: Neuro fibromatose der
Haut.
3 Brüder, von den 2 vorgestellt wurden, zeigen
im Wesentlichen die gleiche Störung. Herabsetzung
der Schmerzempfindung am ganzen Körper, hand¬
schuhförmige Anästhesie gegen alle Sensibilitätsformen.
Kein Zeichen für Syringomyelie. Alopecia univer-
salis. Die Haut zeigt eine Menge kleiner, harter
Knötchen. Der eine Pat. wurde erst nach einem
Trauma auf sein Leiden aufmerksam. Sein Bruder
leidet ausserdem noch an Opticusatrophie, ziehenden
Schmerzen an den Beinen, spastisch ataktischem Gang
und Blasenbeschwerden.
7. Winkler-Aachen: Ueber akute Mye¬
litis (Verdacht auf Abscess; Versuch ope¬
rativer Behandlung). Ein Fall zeigte 1 . schlaffe
Lähmung, r. Parese des Beins. Patellarreflex 1 . er¬
loschen , später gesteigert. Blasenschwäche. Sensi¬
bilitätsstörung. Da Gonorrhoe bestand, könnte man
an gonorrhöische Myelitis denken, wie sie von Leyden
in einem Fall vermuthete, doch ist die Auffassung
noch nicht zu beweisen.
Ein lumbal kyphotischer Patient zeigte nach Typhus
Symptome von Meningomyelitis, Schmerzen, Parapa¬
rese, Urinbeschwerden, Obstipation; wechselndes Fieber.
Später Heilung. W. hält den Fall für eine typhöse
N acherkrankung.
Ein Kranker hatte Paraparese, Urininkontinenz,
Zuckungen und tonische Muskelkontraktionen. Pyä¬
misches Fieber. Trophische Störungen. Hyperästhesie
bis zur Nabelgegend; darüber eine hyperästhetische
Zone von 12 cm. 5 Wirbeibögen wurden entfernt,
doch nichts Abnormes gefunden. Die Sektion zeigte
eine transversale Myelitis vom 3. Dorsal- bis zum
1. Lumbalsegment, ferner Appendicitis larvata und
Abscess unter den 1 . Glutäen.
Hoche-Strassburg: Differentialdiagnose
zwischen Epilepsie und Hysterie.
Referent kommt zu folgenden Schlusssätzen: Epi¬
lepsie und Hvsterie sind prinzipiell verschiedene Neu¬
rosen; die reine Hysterie ist funktioneller Natur in
dem Sinne, dass sie eine pathologische Anatomie
weder besitzt, noch besitzen wird; die Epilepsie ist
funktionell nur in dem Sinne, dass wir die ihr zu
Grunde liegenden Veränderungen noch nicht kennen.
Ein zweiter Theil der Fälle macht differential¬
diagnostische Schwierigkeiten, vor Allem in den mit
Bewusstlosigkeit einhergehenden grossen Anfällen. Für
die Majorität derselben besteht bei genügender Fach¬
kunde auf Grund fast konstanter Symptome kein
Zweifel über die Diagnose; bei einer Minorität lassen
sich aus dem Anfalle selbst keine differentialdiagnosti¬
schen Anhaltspunkte gewinnen.
Es giebt kein Symptom, welches mit absoluter
Sicherheit den epileptischen Charakter eines Anfalles
beweise, auch nicht Zungenbein und Aufhebung der
Lichtreaktion der Pupillen.
Die „hysterische Pupillenstarre“ ist keine Reflex¬
störung. sondern eine durch abnorme Zustände der
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HARVARD UNIVERSITY
1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 129
inneren Augenmuskeln verursachte Unbeweglichkeit
der Pupille.
Die Existenz einer echten „Hvsteroepilepsie“ ist
abzulehnen. Abgesehen von anderen Combinationen
ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Hysterie,
ohne aus ihrem Rahmen zu fallen, den dem echten
epileptischen Anfall zu Grunde liegenden centralen
Vorgang zur Auslösung bringen kann, ebenso wie
dieser, ohne dass es sich deswegen schon um Epi¬
lepsie handelt, durch andere Umstände ausgelöst
werden kann.
In allen differentialdiagnostisch zweifelhaften Fällen
sind Verlauf und Entwickelung, speciell die Art der
dauernden psychischen Veränderungen wesentliche
Hilfsmomente. (Eigenbericht.)
Diskussion: B ru n s-Hannover: Bei vielen
epileptischen Insulten trifft man kleine Blutungen in
Gesichtshaut und Conjunktiva. Kurze Bewusstseins¬
störungen bei Kindern sprechen mehr für Epilepsie.
Rumpf-Bonn beobachtete bei schweren hyste¬
rischen Anfällen, dass die abgehende Urinmenge vor¬
her vermindert, nachher vermehrt war.
Bäumler- Freiburg sah bei einem epileptischen
Anfall den Uebergang in einen hypnotischen Anfall
mit Katalepsie. Es giebt ein Gebiet des Ueberein-
andergreifens der Hysterie und Epilepsie.
Von Strümpell-Erlangen: Epileptische Verände¬
rungen könnten sich auch in anderen, höheren cere¬
bralen Gebieten etabliren und einen kompüzirten
Anfall hervorrufen, der äusserlich als hysterisch er¬
scheint.
Hitzig-Halle betont, dass beim epileptischen An¬
fall keineswegs lediglich das motorische Rindengebiet
affizirt ist, vielmehr die ganze Rinde. Einseitige
epileptische Krämpfe, auch doppelseitige giebt es ohne
Bewusstlosigkeit, vielfach aber auch ist die motorische
Region nicht befallen, so in Acquivalcnten, Traum¬
zuständen, Psychosen.
Schult ze - Bonn betont die Schwierigkeit der
Pupillenuntersuchung im Anfall. Weist darauf hin,
dass eine Hvsterica sich auch epileptiforme Anfälle
suggeriren kann.
Secligm üller - Halle legt Nachdruck auf die
im Gemüthsleben sich ausbildende dauernde Ver¬
stimmung, den Abschluss gegen die Aussenwclt bei
Epilepsie.
Kraepelin - Heidelberg erinnert an die epilepti-
formen Anfälle bei vielen Psychosen, dann auch an
die hysteriformen Erscheinungen selbst bei schweren
organischen Himleiden, auch bei Psychosen wie Para¬
lyse, Dementia praecox, cirkulärem Irresein. Ver¬
blödete Epileptiker können auch psychogene Symp¬
tome haben.
We yg a n d t - Würzburg beobac htete bei Kindern
mit leichten Bewusstseinsstörungen den späteren
Uebergang in schwere epileptische Anfälle. Manch¬
mal war dabei schon früh der epileptische Charakter
ausgeprägt, der bei ausserklinischer Beobachtung
einen wichtigen Anhaltspunkt giebt. Psychische Ein¬
flüsse als Auslösungsmoment eines Anfalls schlie&sen
nicht immer die epileptische Basis aus.
Sticher- Giessen berichtet den Fall eines Schul-
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kindes mit epileptischen Anfällen, das hierdurch eine
psychische Epidemie veranlasste, indem 30 Mitschüle¬
rinnen an polymorphen hysterischen Anfällen er¬
krankten.
Friedmann - Mannheim glaubt, dass bei Kin¬
dern mit kurzen Anfällen doch manchmal Epilepsie
ausbleibt. Ein Junge, der hunderte kleiner Anfälle
hatte, zeigte nach Schreck eine typische Chorea magna.
F ü r s t n e r-Strassburg hält solche Kinder vor¬
wiegend für hysterisch. Psychische Einwirkung gilt
sicher für beide Arten, dafür sprechen die Fälle von
Schreckepilepsie. F. kann sich nicht rückhaltslos
der Auffassung von der psychogenen Entstehung der
hysterischen Anfälle anschliessen.
Ho che (Schlusswort). Kleine Blutungen sind ein
Majoritätssymptom. Urinuntersuchungen sind in ihren
Ergebnissen unsicher. Stigmata haben keinen grossen
Werth, Sensibilitätsstörungen kommen auch bei Epi¬
leptikern recht oft vor, Areflexic des Rachens auch
in Fällen ohne Bromwirkung.
9. Für stn e r-Strassbuig: Zur Kennt n iss der
vasomotorischen Neurosen.
Eine Frau von 38 Jahren erkrankte unter Hitze¬
gefühl und Müdigkeit schubweise an einer Hautver¬
änderung, Röthung, Blasenbildung wie bei bullösem
Erysipel, besonders an Lidern und Ohren. L. Pupille
enger. Puls klein, frequent. Ein 17 jähriger Bauer, der
seit einem Schreck stotterte, ferner schwachen, frequenten
Puls und gesteigerte Patellarreflexe zeigte, erkrankte an
Gesicht und Händen mit diffuser Röthung und
Blasenbildung. Die Störung war psychisch beeinfluss¬
bar, nach dem Besuch der Mutter war sie besonders
lebhaft. Temperatur bis 38,4 °. Diarrhoe. Später
mehrere Recidive.
In einer Familie zeigten Grossmutter, Mutter und
Tochter dieselbe Störung an den Fingern, Schwellung,
Blasenbildung, allmählich Deformität: Verdickung
der Grundphalangen, Zuspitzung der Finger nach
vom. Gedern nach dem Handrücken. Dabei Ohn¬
mächten, Herzklopfen, Hitzegefühl, Patcllarreflexstei-
gerung.
10. Bavert h a 1 - Worms: Zur Diagnose der
Thalamus- und Stirnhirntumoren.
a) Eine 31 jährige Frau erkrankte unter Erbrechen,
Cession der Menses, psychischer Störung. Sie war
apathisch, antwortete verkehrt, verweigerte die Nah¬
rung, hatte starre Mienen. Urin- und Stuhlinkon¬
tinenz. Keine Aphasie; Puls verlangsamt. Pupillen
träge, erst spät Stauungspapille. Somnolenz. Sterto¬
röse Athmung, daher Trepanation. Es fand sich ein
Tumor des 1 . Parietalhirns. Wichtig 1 für die Lokali¬
sation ist die Schädeldruckempfindlichkcit, doch er¬
laubt sie keinen Schluss auf die Entfernung des Tu¬
mors von der Oberfläche. Gleichgewichtsstörung wies
auf Affektion im Thalamus und Vierhügel hin. Der
eigenartige Blödsinn soll bei Balkenkompression Vor¬
kommen.
b) Eine Frau wurde apathisch, Charakterverände¬
rung; epileptiforme Anfälle, Benommenheit. Rechts
Parese, aphasische Störung, Gleichgewichtsstörung;
links Abducensschwäche und Ptosis, sowie Supraorbi¬
ta Ibesch werden. Die Sektion zeigte einen Tumor,
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130 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. u.
von der Basis des Schläfenlappens zum Stirnhirn hin
ausgehend.
n. Barte 1 s-Strassburg: Beitrag zur Kasui¬
stik der Hirntumoren.
Ein über gänseeigrosses Sarkom hatte fast den
ganzen Schläfenlappen, die Occipitotemporalwindung,
Gyrus hippocampi und Uneus zerstört; trotzdem war
vor dem Tod der Geruch nicht aufgehoben, auch
war trotz des starken Himdrucks keine Demenz ein¬
getreten.
12. Gerh ardt-Strassburg: Zur Anatomie
der Kehlkopflähmung.
Bei einem Syringomyeliker bestand 8 Jahre lang
eine isolirte Posticuslühmung. Es fragte sich, ob die
geringere vitale Dignität am Muskel oder am Nerven
lag. Zunächst zeigte die Untersuchung eine gleich-
mässige Degeneration des ganzen Nerven, so dass
man an eine muskuläre Grundlage der Störung denken
musste; die Untersuchung der Nervenendäste jedoch
ergab, dass die zum Posticus gehenden Fasern doch
weit stärker ergriffen waren.
13. Schultze-Bonn: a) Weitere Mitthei¬
lungen über operativ behandelte Geschwülste
der Rückenmarks häute.
In 8 Fällen war 6 mal operativ vorgegangen
worden, wobei 3 mal mehr oder weniger vollständige
Heilung, einmal eine weitreichende Besserung erzielt
worden war. Im Ganzen waren diese Erfolge wesent¬
lich günstiger als die bei Hirntumoren. Caries und
chronische Pachymeningitis ist sorgfältig auszuschliessen;
Schwierigkeit macht die Frage, ob es sich nicht um
multiple Tumoren handelt. Die Blutung, besonders
aus den Knochen ist noch recht stark; peinlich muss
der Operateur jeden Druck auf die Medulla spinalis
vermeiden.
Diskussion: Erb-Heidelberg, Edinger-Frankfurt,
Fürstner-Strassburg, Hitzig-Halle, Rumpf-Bonn, Dink-
ler-Aachen, Bruns-Hannover.
b) Das Verhalten der Zunge bei Tetanie.
Beim Beklopfen der Zunge von Tetanikem sieht
man Wellenbildung von Nachdauer wie an myotoni-
schen Muskeln, jedoch nicht bei elektrischer Reizung.
14. Monakow-Zürich : Beitrag zur Ent¬
wicklung der Sehsphären.
2 Gehirne von Fällen mit angeborener Blindheit
zeigten keine grösseren Veränderungen im Occipital-
lappen und in der Calcarina. Bei der Untersuchung
der Windungs- und Fissuren typen der Calcarina an
einem Material von 80 Individuen Hessen sich 4
Typen aufstellen. Von den beiden Hirnen Blinder
gehörte das eine zur Gruppe I, das andere zur
Gruppe II. Lebenslängliche Absperrung des Lichts
hatte also nicht die Entwicklung der Furchen zu
einem besonderen Typus zur Folge.
Diskussion: Hitzig - Halle, Pfister - Frcihurg,
Stichcr-Giessen.
14. Edinger-Frankfurt: Zur vergleichenden
Anatomie des Gehirns: Das Vogelgehirn.
Seit Bumins grundlegender Arbeit sind wenig
Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die Vogelgc-
hirne sind so vielgestaltig wie die Säugergehirne. Am
höchsten steht das Papageigehirn, dann kommt das
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der Gans; Gänsezi'ichter sind übrigens von der hohen
Intelligenz dieses Vogels überzeugt. Das Papageige¬
hirn täuscht eine Windung vor durch eine Rinne,
von der nach innen das Corpus striatum angewachsen
ist. Ferner ist dort ein grosser Schläfenpol vorhanden,
der bei der Gans nur angedeutet ist und bei den
andern Vögeln völlig fehlt. Beim Schnitt durch ein
Taubenhirn sieht man einen feinen Ventrikelspalt.
Um denselben liegt ein Pallium, in ihn ragt ein
mächtiges Corpus striatum. E. operirte 70 Tauben-
gehirne und verfolgte die Faserdegeneration mit der
Marchimethode. Das mächtige Corpus striatum ist
zu teilen in ein Hyperstriatum; darunter dem Globus
pallidus der Säuger entsprechend das Mesostriatum;
darunter der Nucleus interpeduncularis. Von aussen
schiebt sich das dreieckige Markfeld der Vögel (nach
Bumm Ektostriatum) hinein, an dem die ersten
Markfasem auftreten. Nach hinten aussen sitzt das
Epistriatum, das beim Papagei einen grossen Theil
des Schläfenpols ausmacht; hier liegt die Commissura
anterior. In der Rinde zeigt sich grosse Verschieden¬
heit der Faserung. Das Frontalmark ist bei Papagei,
Gans, Ente sehr entwickelt, bei der Taube bloss
durch einige Fasern. Nur die Papageien haben eine
Capsula interna. 17 Faserzüge konnte E. auseinander¬
halten, die er nach Anfangs- und Endstück be¬
nannte:
A. Eigenfasern:
1. Intrakortikale Fasern, besonders im Frontal-
und Parietalgebiet.
2. Tractus fronto-occipitalis intrastriaticus.
3. Tractus fronto-occipitalis epistriaticus.
4. Commissura pallii.
3. Commissura anterior.
B. Im Vorderhirn selbst entspringen:
1. Tractus scpto-mesencephalicus.
2. Tractus fronto-thalamicus.
3. Tractus fronto-mesenccphalicus.
4. Tractus occipito-mesencephalicus.
5. Tractus strio-mesencephalicus.
(). Tractus cortico-habcnularis.
C. In das Vorderhirn gelangen:
1. Tractus thalamo-striaticus.
2. Tractus thalamo-frontalis et parietalis.
3. Tractus aus der Gegend des Isthmus zum ba¬
salen Stimhirn.
Die Faserzüge bilden aus dem Vorderhim und
zu demselben ganz bestimmte Marklager, die bei ver¬
schiedenen Vogelarten sehr verschieden entwickelt sind.
Das Vogelgehirn scheint aus dem Reptilienhirn ab¬
leitbar, ist aber nicht in das Säugergehirn überzuführen,
sondern bildet einen eigenen, zu hoher Vollendung
gelangten Hirn typ.
Es ist zu erwarten, dass nun neue Untersuc hungen
über die Leistungsfähigkeit des beschriebenen Appa¬
rates verglichen mit dem der Reptilien, Untersuchungen,
welche der Vortragende begonnen hat, zu für die
Psychologie brauchbaren Resultaten führen können.
ib. B 1 u m - Frankfurt: Ueber experimentelle
Erzeugung von Geisteskrankheiten.
Bei strumektomirten Hunden konnte B. durch
Milchfüttemng den raschen Tod einige Zeit hinaus-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1902.]
131
schieben. Diese Thiere zeigten psychotische Zustände,
Hallucinationen, sie bissen in die Luft, stellten sich
auf die Schnauze, zerkratzten sich die Nase; auffällige
Charakterveränderungen. Tod unter geistigem und
körperlichem Verfall.
17. Link-Freiburg: Demonstration von Muskel¬
präparaten bei Myasthenia g r a v i s.
Pat. erkrankte mit Ziehen im Auge, links Ptosis,
gekreuzte Doppelbilder. Extremitätenschwäche, nach
mehrmaligem Heben des Annes war er nicht mehr
dazu im Stande. Myasthenische Reaktion deutlich im
Supinator longus, Delto'ides u. a. Oefters Verschlucken.
Atheminsufficienz, Tod. Sektion zeigte persistente
Thymus, Nervensystem intakt. Dagegen fanden sich
Zellherde in vielen Muskeln, in mehreren Augen¬
muskeln, im Supinator longus, Delto’ides, im r. Tibialis
anticus; es waren Anhäufungen von kleinen lympho'iden
Zellen im Perimysium internum, z. Th. in die Muskel¬
fasern eindringend. Einzelne Fasern schienen etwas
geschrumpft. In einem Zellherde fand sich eine frische
Blutung.
18. N iss 1 -Heidelberg: U eher einige Bezie¬
hungen zwischen der Glia und demGefäss-
Hpparat.
Gliazellen reichen mit Fasern und dreieckigen
Füsschen vielfach bis ganz nahe an die Gefässwand.
Im perivaskulären Raum findet man Ansammlungen
von Gliakernen. Wuchernde, proliferirende Gefässe
treten in Verbindung mit Gliazellen, manchmal ist das
Gefäss förmlich in Gliazellen eingemauert. Gliöses
Protoplasma kann zerstörtes Gewebe geradezu über¬
schwemmen, sodass ein förmlicher Protoplasmarasen
entsteht; das Gebilde ist von runden oder ovalen
Löchern durchbrochen, die Ränder sind gezähnt.
Manchmal ist eine Zelle der Länge nach durchbohrt
von einem jungen Gefäss. Am meisten findet man
derartiges am 2. und 3. Tag nach einem experimen¬
tellen Eingriffe, doch auch beim Menschen in Para¬
lyse, Katatonie, Epilepsie, Arteriosklerose.
19. Schröder-Heidelberg: Die Katatonie im
höheren Lebensalter.
Das Heidelberger Material zeigte 5 Fälle, die
zwischen 55 und 59 Jahren begannen, 4 zwischen 50
und 55, sowie 10 zwischen 45 und 50. Davon waren
15 Frauen, nur 4 Männer. Die Verblödung reichte
meist nicht sehr tief. Gewöhnlich überwog die de¬
pressive Stimmung.
20. Kraepelin-Heidelberg: Die Arbeitskurve.
Vortr. demonstrirt den Gang der geistigen Leistungs¬
fähigkeit während einer Stunde und nach einer Pause,
gemessen durch Addiren einstelliger Zahlen, und legt
die Komponenten auseinander, insbesondere Uebung,
Ermüdung, Erholung, Anregung, Gewöhnung, Willens¬
spannung. Vortr. glaubt, dass ausser diesen kein
maassgebender Factor mehr in Betracht kommt.
Weygandt -Würzburg.
— Zur reichsgesetzlichen Regelung des
Irrenwesens wird der „Kölnischen Zeitung“ (30. 5.
1902) von sachverständiger Seite geschrieben: Der
Reichstag ist nicht die einzige Stelle, an der die
Ueberzeugung von der NothWendigkeit eines Reichs¬
irrengesetzes sich Bahn gebrochen hat. Grade die
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der Sache Nahestehenden, die Irrenärzte, hegen das
lebhafte Verlangen nach einem solchen Gesetz. Man
will lieber unter festen gesetzlichen Bestimmungen
arbeiten, als unter administrativen Verordnungen, über
deren Entstehungsweise, weil sie fix und fertig aus
dem Bureau ans Tageslicht gelangen, nicht nur die
Aerzte selbst, sondern auch das Publikum im Un¬
klaren bleiben, und die, wie die Erfahrung gezeigt
hat, gemäss den jeweiligen uncontrollirbaren Einflüssen
heterogener Natur, häufig Abänderungen und dabei
leider nicht immer eine Verbesserung erfahren. Sollte
auch das. Reichsirrengesetz, wie zu erwarten, beim
ersten Gusse nicht in idealer Form erscheinen, so ist
die Volksvertretung ja nicht minder in der Lage,
Aenderungen vorzunehmen, und vor allem sind die
Irrenärzte in den Stand gesetzt, die Oeffentlichkcit
über die Mängel des jungen Gesetzes an der Hand
geeigneter Beispiele zu belehren. So wie jetzt die
Dinge liegen, wissen die wenigsten Leute aus dem
Publikum überhaupt etwas davon, dass jene Verord¬
nungen bestehen, daher das Misstrauen gegen die
Anstalten und der Glaube, dass in ihnen die Aerzte
nach Belieben über das Schicksal der Insassen
schalteten und walteten; anders ist es bei einem von
der Volksvertretung in öffentlicher Erörterung ge¬
schaffenen Gesetz, dessen Inhalt und Wandlung der
Kenntniss jedermanns zugänglich ist. In den Kreisen
der preussischen Irrenärzte scheint man hier und da
in den Reformwünschen noch weiter zu gehen und
als erstrebenswerth hinzustelleir, dass die ganze Irren-,
Epileptiker- und Idiotenfürsorge aus den Händen
der Provinzial- und Communalverwaltungen in die
unmittelbar staatliche übergehe, wie dies in den übrigen
Bundesstaaten bereits der Fall ist. Während es sich
nun einerseits nicht bestreiten lässt, dass auch in
Preussen hier und da — ob aus finanziellen oder
andern Giünden, bleibe dahingestellt — die gesetz¬
lichen Verpflichtungen zur Irren- u. s. w. Fürsorge
mehr oder weniger unzureichend erfüllt werden, so
steht doch anderseits fest, dass den einschlägigen
Schöpfungen zweier Provinzen, Sachsens, (Anstalt Alt¬
scherbitz) und der Rheinprovinz (Anstalten Grafenberg
und Galkhausen) das deutsche Irrenwesen, soweit
Anstaltseinrichtungen in Betracht kommen, den Welt¬
ruf verdankt, den es gegenwärtig thatsächlich besitzt;
ein grösserer Ruhm wäre es freilich für das deutsche
Volk, wenn es nicht nur die besten Anstalten hätte,
sondern auch die wenigsten brauchte! Es steht daher
zu hoffen, dass die Bestimmungen des Reichsirren¬
gesetzes, da wo es nothwendig ist, nicht nur auf die
Intensität, sondern auch auf die Extensität der Irren-,
Epileptiker- und Idiotenfürsorge einen fördernden
Einfluss ausüben.
— Eisass - Lothringen. Geheimer Obermedi-
cinalrath Krieger, der Director der Bezirks-Irren¬
anstalt zu Stephansfeld, San.-Rath Dr. Vorster und
der Director der Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd
San.-Rath Dr. Dittmar waren von der Bezirks¬
regierung des Obereisass mit der Begutachtung zweier
für den Neubau der dortigen Irrenanstalt in Aussicht
genommenen Gelände betraut worden, deren eines
bei Colmar, das andere bei Rufach gelegen ist. Die
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132 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n.
genannte Sachverständigen-Commission hat nach einer
am 31. v. M. vorgenommenen Besichtigung beide
Gelände für geeignet erklärt; doch schien ihr das
bei Colmar gelegene den Vorzug zu verdienen. —
In der am 5. d. M. stattgehabten Sitzung des Bezirks¬
tags des Obereisass kam es über die Wahl des Bau¬
platzes für die zukünftige Irrenanstalt zu sehr lebhaften
Debatten, deren Resultat der Beschluss war, dieselbe
bis zum November d. J. zu vertagen. Bis dorthin
sollen Pläne über die Bebauung beider Gelände
dem Bezirkstag vorgelegt werden.
—r Ein Mord in der Irrenanstalt. Sternberg,
3. Juni. Das Sprechzimmer der hiesigen mährischen
Landesirrenanstalt war am vergangenen Sonntag der
Schauplatz einer furchtbaren Scene. Vor den Augen
aller Besucher erwürgte^ ein internirter Wahnsinniger
eine zum Besuche ihres geisteskranken Gatten in die
Anstalt gekommene Frau.
Der irrsinnige Mörder heisst Risanek und war,
bevor er in die Irrenanstalt kam, Unterlehrer in Prerau.
Er befand sich Sonntag Vormittags im Sprechzimmer
der Anstalt, wo sich zumeist an Sonntagen Angehörige
der Patienten zum Besuche einfinden. Unter den
Besuchern befanden sich diesmal eine Frau Wodicka
und deren Sohn, die den geisteskranken Gatten und
Vater sehen wollten. Plötzlich stürzte sich der wahn¬
sinnige Lehrer Risanek, der sich bis dahin ganz ruhig
verhalten hatte, auf die nichts ahnende Frau, warf
sie zu Boden und erwürgte sie mit einem einzigen
furchtbaren Griffe, ehe ihr Jemand Hilfe leisten konnte.
Als Besucher und Wärter nach wenigen Minuten Frau
Wodicka von ihrem wahnsinnigen Angreifer befreiten,
konnte nur mehr der Tod der unglücklichen Frau
konstatirt werden. Eine strenge Untersuchung wurde
eingeleitet. (Wiener Mittagsztg., 4. VI. 02.)
— Die „Münchener Post“ (27. 3. 02), aus
deren Spalten wir kürzlich (in No. 9) einen Angriff
gegen die Dr. Rehm’schc Anstalt zugleich mit der
vernichtenden Zurückweisung dieses Angriffes ab¬
druckten, beschäftigt sich weiter mit den Münchener
Irrenanstalten. Sie schreibt: „Anlässlich der jüngsten
Tagung des Landrathes für Oberbayern im Herbste
igoi gelangte auch eine Eingabe der verheiratheten
Pfleger der Münchener Kreisirrcnanstalt bezüglich
der Gewährung eines Wohnungsgeld Zuschusses zur
Vorbescheidung. Und in No. 316 der Augsb. Abendztg.
vom 15. Nov. 01 war zu lesen, dass das Gesuch in
Rücksicht auf die gegenwärtige Krisis und die baldige
Verlegung der Irrenanstalt, die dann ohnehin eine
Neuregelung der Dienstverhältnisse für die Pfleger
bringen werde, abgelehnt wurde. Dagegen, so hiess
es in dem Bericht weiter, erhalten die verheiratheten
Pfleger anstatt wie bisher 8 Stunden in der Woche,
jede Woche einen ganzen Tag frei!
Dazu wird uns nun geschrieben: Vom neuen Jahr
ab, wo der freie Tag hätte in Kraft treten sollen,
bekamen die verheiratheten Pfleger alle 14 Tage
eine freie Nacht. Dafür kommen die Wärter ^lle
4 Tage auf Wache, wo sie 40 Stunden ununterbrochen
Dienst thun und gleich darauf den regulären Dienst
wieder antreten müssen. Die Herren Psvchiatriker
thun sich allerdings leichter, sie spazieren durch die
Säle, suchen dann wieder andere Gesellschaft auf
und halten womöglich auch Vorträge über die zu¬
nehmende Nervosität u. s. w. Um das arme Pflege¬
personal, das die ganze Woche aus dem Narrenhaus
nicht herauskommt und deshalb schliesslich selbst
verrückt werden kann, aber kümmert man sich nicht.
Und doch bedingt die richtige Warte des Geistes¬
kranken, dass das Pflegepersonal nicht auch nervös,
überarbeitet und mürrisch ist. Was die Folgen solcher
Ueberanstrengungen sind, ist ja schon in Gerichts¬
verhandlungen festgestellt worden, wo Wärter wegen
Misshandlung der ihnen an vertrauten Patienten bestraft
werden mussten.
Man versäume also nicht die versprochene Dienst¬
erleichterung, den freien Tag zu gewähren !“ (Eine
Berichtigung wäre sehr erwünscht. Red.)
— In der Münchener Orientalischen Gesellschaft
sprach am 22. Mai Dr. Moharren Bey über das
Thema: „War Mohammed Epileptiker?“ Die
seelische Analyse der Visionen des Propheten erscheint
bekanntlich seit alter Zeit dem Abendlande als ein
geheiinnissvolles Problem. Während ihn Viele für
einen Hypochonder hielten, erklärte ihn Lombroso
für toll und irrsinnig. Eine grosse Anzahl von
Forschem behauptet, er habe in seiner Kindheit und
in späterem Alter an Epilepsie gelitten. Einer freund¬
lichen Anregung des Ministerialrathes v. Bumm fol¬
gend, trat auch der Vortragende an die Diagnose
von Mohammeds Seelenzustand heran, die sich bei
der Dürftigkeit des Materials freilich sehr schwierig
gestaltet. Nach äusserst sorgfältigen und komplicirten
Untersuchungen der wichtigsten Lebensmomente des
Propheten gelangt der Redner zu folgendem Ergeb-
niss: Es könne nicht geleugnet werden, dass das
Leben Mohammeds manche bedenkliche Symptome
aufweise, welche auf Epilepsie hindeuteten. Aber
diese Erscheinungen fänden sich auch bei einer grossen
Anzahl anderer Erkrankungen und bildeten keine
wesentlichen Merkmale. Wohl müsse das uns über¬
lieferte Bild Mohammeds, im Einzelnen betrachtet,
als anormal erscheinen; als Ganzes falle es aber
keineswegs mit dem Gesammtbegriff der Epilepsie zu¬
sammen. Die aus dem Munde eines Arabers be¬
sonders interessanten, klaren Ausführungen fanden
bei dem wieder sehr zahlreich erschienenen Publikum
lebhaften Beifall. Eine kurze, sich anschliessende
Diskussion, an der sich die Herren Dr. Grothe und
Dr. Schupp betheiligten, bewies, wie verschiedenartig
das Krankheitsbild des Propheten noch immer ge¬
deutet wird. Schliesslich wies noch Herr Professor
Dr. Prutz mit einigen wenigen, vortrefflichen Worten
auf die grosse historische Parallele der Offenbarungen
Mohammeds mit den Visionen der Jungfrau von
Orleans hin. (Münch. N. Nadir.)
Für den redactioncllon Thei! verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brcsler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint Jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevneniann’sche Buchdruckerei (Clebr. Wnlff) in Halle a. S.
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Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzbjatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
Director Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Outtatadt,
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redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien».
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Nr. 12. 21. jum. 1902.
Die ,,Psychiatr 1 scb-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
B »-Stellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden,für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermämigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur spontanen Harnblasenruptur bei der progressiven Paralyse. Von Dr. Max Edel (S. 133). — Mit¬
teilungen (S. 140). — Referate (S. 142):
Aus dem Asyl für Gemüthskranke zu Charlottenburg.
Zur spontanen Harnblasenruptur bei der progressiven Paralyse.
Von Dr. Afax Edel.
uf das bis dahin nicht bekannte Vorkommen spon¬
taner Harnblascnzerreissung bei der progressiven
Paralyse der Irren machte im Jahre 1895 Ilerting-
Altscherbitz in einer im Archiv für Psychiatrie er¬
schienenen Arbeit über 3 Fälle nichttraumatischer
Ilarnblasenruptur bei paralytischen Geisteskranken auf¬
merksam *). Fast gleichzeitig veröffentlichte Posner**)
in der Festschrift für Georg Lewin einen bemerkens-
werthcn hierhingehörigen Fall aus unsrer Anstalt, den
ersten der Art, welchen ich gesehen habe und bei
dessen Section ich zugegen war. Die Diagnosen-
Stellung war in diesem Fall bei Lebzeiten nicht mög¬
lich; Posner führt in seinem Aufsatz an, dass er auf
die eben erschienene Arbeit von Herling leider erst
nach Abschluss unsres Falles durch mich aufmerksam
.gemacht wurde, sonst hätten wir ja sicherlich die Diag-
*) Archiv für Psychiatric XXVII. S. 541.
**) Festschrift für Georg Lewin 1895, S. 149. Beiträge
zur Dermatologie und Syphilis. Posner: Blasenruptur bei pro¬
gressiver Paralyse.
nose zu stellen vermocht, wie dies ja fortan bei ähn¬
lichen Vorkommnissen ein leichtes sein werde. Diese
Voraussage hat sich bei mehreren weiteren Fällen von
Harnblascnzerreissung bei Paralytikern, welche ich in
den verflossenen Jahren in unserer Anstalt beobachtet
habe, bestätigt. Ich habe die Diagnose in 2 Fällen
sicher und mit Leichtigkeit während des Lebens
stellen können. Da inzwischen von keiner weiteren
Seite das Vorkommen dieses das Leben der Kranken
eminent bedrohenden Ereignisses mitgetheilt ist, so
erlaube ich mir durch kurze Wiedergabe meiner Be¬
obachtungen die Aufmerksamkeit noch einmal auf
diesen Gegenstand zu lenken, um einerseits zur Ver¬
hütung dieser gefährlichen Erscheinung, andererseits
zur schnellen klinischen Erkennung und Würdigung
des Ereignisses sowie zur geeigneten Behandlung
solcher Fälle beizutragen.
I. Fall.
Ueber den ersten bereits mitgelheiltcn Fall seien
mir noch einige recapitulii ende und ergänzende Be-
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134
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 12
merkungen gestattet. Dass es sich um progressive
Paralyse handelte, stand zweifellos fest. Der 4ojähr.
Kaufmann, dessen Vater an Gehimschlag und dessen
einer Bruder an Gehirnerweichung gestorben war,
hatte mit 16 Jahren einen Schanker gehabt, zeit¬
weilig viel getrunken und geraucht. Er litt einige
Jahre vor seiner Psychose an Intermittens, später an
heftigen Gesichtsneuralgien. Seit Frühjahr 1895 be¬
suchte er seiner steigenden Erregung wegen verschiedene
Anstalten, zeigte ungewöhnliches Benehmen, bekam
Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche und Störungen
des Lesens und Schreibens. Die Zunge klebte förm¬
lich im Munde fest, wodurch die Sprache sehr er¬
schwert wurde. Es bestand Pupillendifferenz und -enge,
die Lichtreaction war wegen der Unruhe des Kranken
nicht zu prüfen. Die Zunge zitierte stark beim Her¬
vorstrecken. Die Kniereflexe waren stark erhöht.
Der Patient war mager und anämisch, die Tem¬
poralarterien traten stark geschlängelt hervor. Es be¬
stand in unsrer Anstalt, in welcher er am 24. August
1895 aufgenommen war, hohgradige Erregung und
Verwirrtheit bei beängstigenden Sinnestäuschungen,
hypochondrischen und Grössenvorstellungen. Gelang
es, ihn einen Moment zu fixieren, so waren Intelli-
genzdefecte deutlich nachweisbar. Zeitweilig ver¬
weigerte er die Nahrung und wurde agressiv. Die
Sprache war in characteristischer Weise gestört, schwer,
undeutlich, stockend, stolpernd. Er verschluckte die
Endsilben oder brachte sie falsch und unverständlich
heraus und vollendete die Sätze zum theil nicht richtig.
Die Schrift war verändert, kritzlich, undeutlich, krumm.
Vieles war ausgestrichen und überschrieben, die
Sätze waren zum theil nicht richtig beendet, Buch¬
staben, Silben und Worte ausgelassen, z. B. Sanorium
statt Sanatorium, und nicht hingehörige eingeschoben.
Die Hirn-Section bestätigte die klinische Diagnose.
Der Patient, welcher noch am Tage zuvor verwirrt und
erregt war, gelacht und getanzt hatte, konnte am
3. September nicht mehr Urin lassen, verhielt sich
apathisch und hatte starken Durst. Das Allgemein¬
befinden war im übrigen nicht gestört. Die allmäh¬
lich zunehmende Dämpfung über der Blasengegend
Hess eine übermässige Ausdehnung der Harnblase
vermuten.
Da vorsichtige Katheterisirungen zuerst wegen der
Unruhe des Kranken und dann wegen der Neigung
der Harnröhre zu Blutungen abgebrochen werden
mussten, wurde am 5. September die Punctio hypo-
gastrica vorgenommen, wobei sich ca. 800 ebem trüben,
stark blutigen Urins entleerten. Offenbar war die bei
der Section constatierte Blasenzerreissung bereits am
3. erfolgt, und es hatte, wie der Referent in Virchow-
Hirschs Jahresbericht wohl mit Recht annimmt, der
massenhaft in den Retzius’schen Raum getretene blutige
Ham die Blasenausdehnung vorgetäuscht. Das kreis¬
runde, 3 cm im Durchmesser haltende Loch befand
sich in der vorderen Wand, mit gewulsteten Rändern
und blutig infiltrierter Umgebung. Die Blasenwand
war theilweise hypertrophisch, theilweise papierdünn.
Das Befinden des Kranken hatte sich allmählich ver¬
schlechtert, die Temperatur war normal, später sub¬
normal, der Puls beschleunigt. Der Patient deutete
mit schmerzlichem Gesichtsausdruck auf die Blasen¬
gegend. Die Zunge war trocken. Am Unterleib wurde
Infiltration phlegmonösen Characters sichtbar; unter
Apathie, Sopor und Stertor trat der Tod am 7. Sep¬
tember, also etwa 4 Tage nach der muthmasslichen
Blasenruptur ein. Bei der vorgeschrittenen Ent¬
kräftung und Unruhe des Patienten konnte von einer
Operation wohl kaum die Rede sein, selbst wenn die
Diagnose rechtzeitig richtig gestellt wäre. Peritonitische
Erscheinungen waren weder klinisch noch pathologisch-
anatomisch nachweisbar. Ein der Zerreissung vorher¬
gegangenes Trauma war bei sorgfältiger Ueberwachung
des Kranken durch eigenen Pfleger bestimmt ausge¬
schlossen; es fehlten plötzliche Collapserscheinungen
an Temperatur und Puls. Characteristisch war, dass
bei jedem Katheterisiren immer nur eine kleine Menge
trüben blutigen Harns, etwa 200—300 ebem, entleert
wurden und dass dabei die Dämpfung der Blasen¬
gegend nicht vollkommen zurückging.
II. Fall.
46j. Kaufmann, 12. Dezember 1900 aufgenommen,
hat Lues vor 6 Jahren gehabt, war viele Monate anti¬
syphilitisch behandelt worden und litt viel an Kopf¬
schmerz. Seither hat er Ptosis links mit Doppelsehen
beim Blick nach oben bekommen. Zeitweilig hat er
gar nicht sehen können. Die Geistesstörung bestand
seit einigen Wochen und hat bereits zur Abmagerung
geführt. Das linke Auge kann sich nicht nach oben
drehen, nur wenig nach unten. Die Pupillen sind
different und verzogen, die Lichtreaction ist sehr träge.
Die linke Nasenlippenfalte ist verstrichen, der linke
Mundwinkel hängt. Schwache Patellarreflexe, Herab¬
setzung der Schmerzempfindung. Unsicherer Gang.
Euphorie, Grössenideen, Verwirrtheit und Erregung,
Schlaflosigkeit, Stuhlverhaltung. Er war sehr reizbar,
ertrug keinen Widerspruch, sprach viel, äusserte grosse
Pläne, machte cynische Bemerkungen und beging
sinnlose Handlungen. Er will 50 Kinder bekommen,
einen Check auf Kaiser Wilhelm ausstellen u. a. Ur-
theils- und Intelligenzschwäche traten deutlich hervor.
Obwohl er Kassirer ist, konnte er einfache Rechen¬
aufgaben nicht richtig lösen. Sprache hin und wieder
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IQ02.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
*35
verwaschen, Wiederholung einzelner Worte. Die
Diagnose progressive Paralyse stand danach fest Am
13. Dezember habe ich notiert: Manisches Wesen.
Stuhlverhaltung. 20. Dezember. Leib etwas mete-
oristisch, Blasengegend nicht vorgewölbt. Patient
schwimmt in Urin, hat 3 mal unwillkürliche reichliche
Urinentleerung (von normaler Farbe und Beschaffen¬
heit). Der Kranke ist wegen einer starken spontan
auftretenden Blutunterlaufung am rechten Fuss bett¬
lägerig. In der Nacht vom 21. zum 22. Dezember
schrie er laut vor Schmerzen. Am 22. ist das Bild
verändert. Peritonitische Erscheinungen sind vorhanden.
Starke Auftreibung des Leibes, Brechneigung, heftiges
Erbrechen, Aufstossen, kleiner beschleunigter Puls,
Schmerzhaftigkeit des Leibes bei Berührung. Gegen
Abend wurden circa 2 Liter blutigen Urins durch
Katheterisirung entleert. Die Diagnose Blasenruptur
wurde gestellt, von einer Operation aber wiegen des
schlechten Allgemeinstandes, der vorgeschrittenen geis¬
tigen und körperlichen Schwäche im Einverständnis
mit den Angehörigen Abstand genommen. Der Pa¬
tient delirirte, sah Vögel und Mäuse. Seine Schwäche
nahm zu. Er wurde täglich mehrmals cathetrisirt, da
er nicht von selbst Urin Hess. Der entleerte Urin
war hell, ei weissreich. Unter Stertor trat am 26. De¬
zember, also 5 Tage nach dem Einreisen der Blase
der Tod ein. Die Section bestätigte am 27. Dez.,
die Diagnose Blasenruptur. Das Peritoneum erwies
sich glatt, feucht und glänzend. Die Därme waren
etwas aufgebläht, fibrinöse Verklebungen waren nicht
sichtbar. Im Abdomen befanden sich ca. 50 chcin
freien Urins, ohne Blutbeimengung. Die Harnblase
war zusammengefallen. Auf der hinteren Seite der
Harnblase etwas rechts vom Scheitel war ein von oben
nach unten etwas schief verlaufender intraperitonealer
Riss, welcher w'eit klaffte, und eine Ausdehnung von
ca. 8 cm hatte. Die Ränder desselben w r aren auf
dem Blaseninnern blutig injicirt, in der Nähe be¬
merkte man verschiedene kleine Hämorrhagien. Die
Blasenwandung war nicht merklich verdünnt; die Blase
enthielt keinen Urin, aber verschiedene Blutcoagula.
Uebrige Section nicht gestattet.
III. Fall.
44j. Kaufmann, aufgenommen 4. September 1901,
zeigte seit 1 / J Jahr gleichzeitig mit einer Entfettungs¬
kur, wobei er 50 Pfd. abnahm, verändertes Wesen,
äusserte hypochondrische Beschwerden, wurde de-
prirairt und erregt. Er klagte viel über Kopfschmerzen.
Das Sättigungsgefühl ging ihm verloren. Die Erregung
steigerte sich wenige Tage vor seiner Aufnahme; er
schlief schlecht, machte sich viele Vorwürfe, behaup¬
tete, von allerlei Krankheiten befallen zu sein, sich
umgebracht zu haben u. s. w. Dabei w’arf er sich
beständig ruhelos umher.
Er sprach zeitweilig mit deutlichem Silbenstolpern.
Die Pupillen w r aren etwas eng und different, die Licht-
reaction war stark herabgesetzt, die Convergenzreaction
mässig. Die vorgestreckte Zunge zitterte fibrillär.
Beim Sprechen und Bewegen des Gesichts fiel
eine Ungleichmässigkeit der unteren Gesichtshälften
auf. Die Kniesehnenreflexe waren abgeschwächt.
In geistiger Beziehung ist Gedächtnissschwäche, hoch¬
gradige Urtheilsschwäche und völlige Concentrirung
der Gedanken auf sein Leiden zu constatiren, wo¬
durch er ohne jedes Interesse für die Vorgänge in
seiner Umgebung erscheint und auch schmerzhafte
Nadelstiche nicht spürt. Der grosse fettreiche Mann
war tief deprimirt, und befand sich andauernd in
hochgradiger ängstlicher Erregtheit, hallucinirte, äusserte
Versündigungsideen und w'älzte sich hin und her. Es
bestanden Verstärkung und Beschleunigung der Herz¬
töne, keine Geräusche, an den Stimgefässen sclerotische
Erscheinungen. Da der Puls von Anfang an anhaltend
beschleunigt war, 100—120 —140, so erhielt der Pa¬
tient ausser Bädern und Beruhigungsmitteln vorüber¬
gehend kleine Dosen Digitalis. Am 9. September
Hess Patient einige mal Urin unter sich und schmierte
mit Koth. Am 10. September war die Blasengegend,
welche täglich untersucht wurde, nicht vorgewölbt;
Dämpfungsgrenze bei der Unruhe nicht festzustellen.
Nach Angabe des Pflegers hatte der Patient genügend
Urin entleert Am 11. September liess er J / 2 Nacht¬
geschirr voll hellen Urins. Abends gegen io*/j Uhr
bekam er einen raptusartigen Aufregungszustand, wo¬
bei er seine Urinflasche zertrümmerte. In derselben
Nacht Hess er reichlichen Urin, vermischt mit hell¬
rotem Blut auf den Fussboden. Am Morgen des
12. September war das Gesammtbild verändert. Die
Temperatur betrug 35,8, der Puls war bis auf Soge¬
sunken, Hände und Füsse w f aren kühl, die Zunge
trocken, etw r as belegt. Der Patient lag jetzt im Ge¬
gensatz zu seinem bisherigen ruhelosen Verhalten still
auf dem Rücken, hielt den Oberkörper etwas nach
vom gebeugt, die Füsse an den Leib angezogen, konnte
sie nicht ohne Schmerzen ausstrecken und sich nicht
ohne Schmerzen bewegen; von Zeit zu Zeit schrie er
heftig auf und gab an, kolikartige Leibschmerzen zu
haben, es sei ein fürchterliches Ziehen von beiden
Unterrippengegenden zum Nabel.
Es müsste etwas im Leib geplatzt sein.
Dabei war der Kräftezustand ein verhältnissmässig
guter. Schweres Krankheitsgefühl. Kein Aufstossen,
kein Erbrechen, kein bedrohlicher Collaps.
Ueber der rechten Unterleibgegend von der Nabel-
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U6
Symphysenlinie an nach rechts war deutliche Dampfung
zu constaticren, welche sich an der rechten Seite
etwas nach hinten und oben erstreckte. Der Leib
war nicht aufgetricbcn, Druckcmpfimllichkeit nicht
wahrzunehmen. Ich stellte sofort die Diagnose auf
Blasenriss. Da seitdem von selbst kein Urin mehr
entleert wurde, wurde katheterisirt. Dabei erhielt
ich ca. 400 ebem. einer braunen, trüben, dicken Flüssig¬
keit, welche eine Menge verändertes, zum Teil ge¬
ronnenes Blut absetzte. Ich ordnete Eisblase und
Opium an. Der Puls stieg auf <)2 , die Temperatur
auf 36. Der Patient fühlte sich nicht kühl an, und
war nicht collabirt; er wurde hallücinatorisch verwirrt.
Wegen der ins Auge gefassten Möglichkeit einer
operativen Behandlung wurde Herr Professor Dt . Bessel-
hägen zugezogen. Dieser bestätigte die Diagnose
und nahm wegen der cirumseriptcn Dämpfung, des
Fehlens von Druckempfindlichkeit des Leibes, von
Aufstossen und Erbrechen und wegen des vcrhült-
nissmässig günstigen Allgemeinbefindens an, dass der
Riss der Blase sich noch extraperitoneal befand. Da
noch keine augenblickliche Lebensgefahr vorlag und
andrerseits die hochgradige halliu inatorisc he Ver¬
wirrtheit und Erregung Bedenken bezüglich'der Nach¬
behandlung einer eventuellen Operation erweckte,
stand Prof. Besselhagcn von sofortiger Lapaiotomie und
Vernühung des Blasenrisscs ab. Er meinte, der
Blasenschluss könne besser auf granulirendem Wege
zustande kommen; bei der unausbleiblichen Harn¬
infiltration würde sich eine Phlegmone entwickeln, die
dann voraussichtlich Incisionen erforderlich machen
würde. Zur Vermeidung einer Blascnausdehnung
empfahl er die häufigere Katheterisirung und Einlegung
eines Verweilkatlieters. Ich legte demgemäss einen
Dauerkatheter (Nclaton) ein, wobei die Entleerung
von ca. 200 cbcin. hellen Urins das Stehen der Blutung
anzeigte. Es schwammen nur wenige Blutcoagula
im Harn. Spät abends befand sich in der Ente
noch eine kleine Menge hellgelben Urins ohne Blut.
Es wurde abends Aufstossen wahrgenommen, In
der Nacht zum 13. September wurde ich zu dem
Patienten gegen 4' 2 Uhr gerufen. Ich fand ein ver¬
ändertes Gesammtbild vor. Es bestand Lungen¬
ödem, Stertor, kleiner beschleunigter Puls (120), kühler
Schwciss, Sopor und Aufschreien bei jeder Berührung
des Leibes. Offenbar war der Durchbruch in die
Bauchhöhle erfolgt. Trotz exitirender Behandlung
erfolgte um 8 l 4 Uhr morgens (13. September) der
tötliehe Ausgang. Die Section wurde leider nicht ge¬
stattet. Als Todesursache notirte ich auf dem
Totenschein: Blasenriss bei fortschreitender Gehirn-
lühnuing.
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[Nr. 12.
IV. Fall.
45 jr. Rechtsanwalt, aufgenommen 28. Juni i8q8.
Mutter nicht ganz normal, eine Schwester war vorüber¬
gehend geistesgestört. Als junger Mann hatte er
öfters Gonorrhoe und bekam eine Strictur, musste
wegen Urinretention mehrmals katheterisirt Werden.
Seit 3 Jahren „nervös“, litt an Schwihdclgefühl,
Angst und Zwangsvorstellungen bei Vorhandensein
eines in letzten Jahren grösser gewordenen Kropfes.
Kurze Zeit bestellt ungewöhnliche nianiäkalische Er¬
regung; er zeigte übermässige Geschäftigkeit. Sucht
Pläne und grosse Einkäufe zu machen, fühlte sich
überglücklich, witzelte und war gegen seine Gewohn¬
heit ausgelassen fröhlich, gehobener Stimmung und
ausserordentlich reizbar. Der Patient war in anhaltend
lebhafter Erregung, sprach fortwährend weitschweifig
und hatte wenig Schlaf. Grössenidecn traten auf.
So äusserte er, mit dem Kriegsininister Scat zu spielen,
wegen seiner Strictur ö Wochen lang keinen Urin ge¬
lassen und dann 42 Liter Urin mit einem Mal ent¬
leert zu haben; Urtheilsschwächc war ersichtlich, bis¬
weilen wurde Vergesslichkeit und Mangel an ethischen
Empfindungen bemerkt. Der Ernährungszustand war
ein guter. Der Patient halte eine Struma von er¬
heblicher Grösse. An körperlichen Lühmungs-
erscheinungen waren vorhanden: Schielen, (Strabismus
divergens), linksseitige Ptosis, Pupillendiffercnz und
Trägheit der Lichtreaction, Schwäche, des linken
Facialis. Die grade ausgestreckte Zunge zitterte
leicht fibrillär, bisweilen trat eine Sprachstörung her¬
vor, die in Versetzen resp. Hinzufügen von Buch¬
staben bestand, wie z. B.: „polpulär, kathretisirt,
Stivilproccss.“ Der rechte Kniesehnenreflex war er¬
loschen, der linke schwach vorhanden. Das Schmerz¬
gefühl war stark herabgesetzt; der Stuhl oft verhalten.
An der Diagnose progressive Paralyse konnte somit
ein Zweifel nicht bestehen. Die psychische Erregung
nahm zu, der Pat. wurde verworren. Er schwitzte
stark. Am 1. Juli wünschte er die Einlegung eines
Bougies in die Harnröhre und behauptete, an io mal
Urin gelassen zu haben, jedesmal ein Nachtgeschirr
voll. Nachdem am 2. Juli unwillkürlicher Abgang
von Urin beobachtet war, stellte sich am 3. Juli Er¬
brechen und Hinfälligkeit mit Pulsbeschleunigung ein.
Der Leib erwies sich stark gespannt und die Blasen-
clämpfung ausgedehnt, die Katheterisirung misslang
bei der vorliegenden engen Strictur der Harnröhre.
Da Indicatio vitalis vorlag, Sopor, Cvanose, kleiner
fliegender Puls, kalter Schweiss, häufiges Erbrechen
erfolgte, wurde die Blasenpunktion durch den Haus¬
arzt Dr. Friedlaender yorgenomnien, wodurch eine
grössere Menge stark ciwcisshaltigcn LTins entleert
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 157
wurde. Ueber den Lungen hörte man rechts hinten
unten Knisterrasseln. In den nächsten Tagen wurde
dort auch eine kleine Dämpfung nachweisbar. Die
Katheterisirung gelang nach vorherigem Bougiren.
Fortan musste der Ham durch Katheterisirung ab¬
gelassen werden, da spontan keine Urinentleerung
erfolgte. Der Urin war ohne Blut. Am 6. Juli wurden
in 1 1 j 2 Stunden dauerndem Katheterismus ca. 2 Nacht¬
töpfe voll Urin entleert. Auffällig war der langsame
Abfluss des Harns. Das Allgemeinbefinden ver¬
schlechterte sich. Der Puls war klein, fliegend, die
Temperatur betrug 36,8—37 0 , der kalte Schweiss
hielt an, ebenso das Erbrechen, die Benommenheit
nahm zu, die Sprache wurde undeutlich und ganz
verworren, die Glieder wurden kühl, die Athmung kurz
und beschleunigt. Am 7. Juli 1898 trat der Tod
ein.
Section wurde leider auch in diesem Fall nicht
gestattet. Auch hier handelt es sich neben einer
Lungenentzündung sehr wahrscheinlich um eine Blasen-
zerreissung.
Zunächst muss ich ebenso wie Posner und Her-
ting bei meinen P'ällen betonen, dass von der Ein¬
wirkung eines Trauma auf die Blase keine Rede
sein konnte. Sämtliche Patienten wurden sorgfältig
überwacht: nur bei Fall III liegt die Möglichkeit
vor, dass der raptusartige Erregungszustand des
Patienten, bei dem er eine Urinflasche zertrümmerte,
vielleicht die Veranlassung zum Platzen der Blase
gegeben hat. Auch von einer nennenswerthen Ueber-
dehnung der Harnblase durch Urinverhaltung kann
man abgesehen von Fall I nur bei Fall IV sprechen
In diesem lag eine hochgradige Strictur vor und der
versuchte Katheterismus gelang theils deshalb, theiis
wegen Unruhe des Patienten erst, als bereits die
Punctio hypogastrica wegen vitaler Indication vor¬
genommen war. Den wirklichen Grund für die Zer-
reissung der Harnblase in diesen Fällen nachgewiesen
zu haben, ist das Verdienst Hertings, welcher eine
Degeneration der Blasenmusculatur microscopisch bei
seinen 3 Fällen feststellte. (Übermässige Fett¬
entwicklung sowohl subperitoneal als zwischen den
einzelnen Muskelbündeln. Die Muskelfasern selbst
zeigten alle Stadien der Degeneration. An den
Rissstellen fand er kleinere und grössere Blutungen
und in letzteren structurlose fadenartige Gebilde). In
allen Fällen liegt zweifellos progressive Paralyse vor.
Alle bisher bekannten Fälle betrafen Männer. Die
bei Paralytikern bekannte Neigung zu Blutungen trat
auch in meinen sowie in Hertings Fällen hervor.
(Neigung der Harnröhre zu Blutungen in Fall I und
eine starke spontan aufgelretene Blutunterlaufung am
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rechten Fuss in Fall II). Herting meint, dass es
sich bei der Blasenzerreissung um eine primäre
Muskelblutung handelt, welche die Zerreissung der
Blase zur Folge hat. Das Ereigniss eines Blasen-
risses bei Paralytikern ist selbstverständlich ein höchst
unangenehmes und gefährliches. Es fragt sich, ob
es nicht zum Theil verhütet werden kann. Es muss
zugegeben werden, dass eine starke Hamblasen¬
füllung, die ja an sich schon gelegentlich zu einer
Ruptur Veranlassung geben kann, bei degenerativer
Veränderung der Blasenwandung von Paralytikern
einen Riss der Blase um so eher fördern kann. Jede
erhebliche Anfüllung der Blase muss also bei Paraly¬
tikern verhütet werden. Wie wir gesehen haben, ist
der Blasenriss meist bei hochgradig erregten und ver¬
wirrten oder völlig apathischen männlichen Patienten
vorgekommep. Wenn es auch eine wichtige Aufgabe
des Irren-Arztes ist, in derartigen Fällen den Stand
der Blase und ihren Füllungsgrad zu überwachen,
so versteht es sich von selbst, dass diese Aufgabe
grade bei den erregten Paralytikern eine schwere,
bisweilen unmögliche ist. Auf Angaben des Wart¬
personals über genügend entleerten Urin sollte man
sich nicht verlassen, da der ganze Urin in der Regel
nicht aufgefangen werden kann und die Anschauungen
darüber, ob genügend Urin gelassen wurde, individuellen
Schwankungen begegnen. Es kommt darauf an, dass
alle Tage hintereinander auch genügend Urin entleert
wurde und nicht etwa eine unzureichende Menge
an einem oder mehreren Tagen übersehen wurde.
Erfahrungsgemäss darf man sich nicht dadurch täuschen
lassen, dass der Kranke unwillkürlich Urin gelassen
hat, auch wenn die Menge eine reichliche war ; Pa¬
tient 2 schwamm förmlich in Urin und zwar mehrere
Male. Im Gegentheil kann der unwillkürliche Ab¬
gang von Ham als Zeichen für möglicherweise vor¬
liegende Harnblasenüberfüllung gelten und zur ge¬
nauen Untersuchung und eventuellen Katheterisirung
mahnen. Der Arzt muss, wo es möglich ist, täglich
bei aufgeregten oder sehr apathischen Paralytikern
den Stand der Blase durch Inspection des Abdomen,
Palpation und Percussion festzustellen suchen, wenn
er die unliebsame Ueberraschung der Blasenruptur ver¬
meiden will, und zwar in regelmässigen Zwischen¬
räumen. Hat man Harnverhaltung festgestellt, so
ist die Beseitigung derselben sofort anzustreben.
Ebenso wie bei Paralytikern oft prophylaktisch die
Darmentleerung vorgenommen wird, sollte man sich
nicht scheuen, bei allen Paralytikern, bei denen der
Verdacht einer Urinretention vorliegt, die Catheteri-
sirung der Blase vorzunehmen; ja ich möchte sogar
den von Zeit zu Zeit prophvlactisch vorgenommenen
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
[Nr. r_\
13»
PSYCHIATRISCH-NKUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Entleerungen der Blase das Wort reden. Sind die
Blasenzerreissungen im ganzen auch glücklicherweise
anscheinend nicht zu häufig, so sind sie doch so
unliebsame und bedrohliche Complicationen, dass der
Irrenarzt mit ihnen rechnen und alles zur Verhütung
derselben thun sollte. Bei sehr erregten Paralytikern
wird natürlich ohne dringendste Indication von der
prophylactischen Blascnkatheterisirung Abstand ge¬
nommen werden müssen, hält es bei ihnen doch
schon schwer, sich über den Blasenstand und die
Urinentleerung zu informieren. Manchmal ist dies
bei tobsüchtigen Personen fast ganz unmöglich.
Dieselben lassen unter sich auf den Fussboden und
benutzen kein Stechbecken oder Closet, sodass die
Ueberwachung des Urinabganges die grössten
Schwierigkeiten macht, umsomehr wenn es sich um
fettreiche Bauchdecken handelt. Wo Stricturen vor¬
handen sind und schon bei ruhigen Kranken die
Katheterisirung erschwert bcz. zunächst undurchführ¬
bar ist, erscheint die rechtzeitige Erweiterung der
Strictur durch Bougieren gerathen, damit nicht erst die
Blasenpunction zur Nothwendigkeit wird. Das Aus¬
drücken der Blase mit der Hand, welches von Heddaeus
empfohlen wurde, muss bei der nachgewiesenen
Brüchigkeit infolge von degenerativen Veränderungen
der Blasenmusculatur als nicht unbedenklich be¬
zeichnet werden, worauf auch Hcrting und Posner
mit Recht hingewiesen haben ( 1 . 1 . c.). Dahingegen
dürfte gegen den häufigen Gebrauch des Katheters
bei Paralytikern, die infolge von centraler Nerven¬
erkrankung zu Blasenlähmungen neigen, wieder der
Umstand geltend gemacht werden, dass leicht dadurch
Cystitiden erzeugt werden können, ja dass die Blase
einmal durchstossen werden könne. Obwohl die Dcs-
infection der für gewöhnlich angewandten weichen
Nelatonkatheder sich kaum bei den bisherigen Me¬
thoden bis zur völligen Sterilität der Katheder aus¬
führen lässt und wir uns damit begnügen, die mit
kaltem Wasser durchgespülten Katheder vor dem Ge¬
brauch kurze Zeit in Carbolsäurc zu legen, sie
dann mit steriler Gaze abzutrocknen und mit reinem
Olivenöl zu benetzen, ist bei uns im Allgemeinen
recht selten Blasenkatarrh bei noch nicht im Encl-
stadium befindlichen Paralytikern beobachtet worden.
Natürlich muss man saubere und ganze, nicht schad¬
hafte Katheder verwenden.
Wo aber einmal Zeichen von Cvstitis auftraten,
gelang cs dieselben alsbald durch Blasenausspülungen
zu beseitigen. Die weitere Furcht, die Blase etwa
zu durchstossen, scheint mir bei einiger Vorsicht in
der Handhabung der Katheter trotz der präsumptiven
Atrophie der Blasenwandung der Paralytiker noch
□ igitized by Google
weniger begründet. So sehr man auch im allgemeinen
gut thut, bei Geisteskranken jede Polypragmasie zu
vermeiden, so dürfte doch ein etwas ausgiebiger Ge¬
brauch des Katheters bei den Paralytikern zur Ver¬
hütung von Harnretention und Uebcrfüllung der Blase
infolge von Lähmungen recht angebracht sein. Es
wird wohl ungleich häufiger der Fall sein, dass es
durch Harnstauung in der Blase zu Cystitis kommt,
als dass diese durch Katheterisirung erzeugt wird.
Bei paralytischen Frauen kommt es wohl infolge der
grade verlaufenden kurzen Harnröhre seltner zu Urin¬
zurückhaltung. Darauf mag wohl auch der Umstand
beruhen, dass die Harnblasenruptur bisher bei para¬
lytischen Frauen nicht beobachtet wurde, während die
spontane Harnblasenruptur im übrigen fast nur bei
Weibern im Anschluss an den Geburtsact gesehen
wurde*). Wie Herlings und meine Fälle zum Th eil
gezeigt haben, wird es aber trotz alledem hin und
wieder zur Blasenzcrrcissung bei Paralytikern kommen
können, da wo es sich gar nicht um eine Ilarnreten-
tion handelt, und zwar infolge der beschriebenen de¬
generativen Veränderungen der Blasenmusculatur bei
Patienten, welche im allgemeinen zu spontanen Blu¬
tungen neigen. Befördert werden kann die Ruptur
gelegentlich durch heftige Muskelaction bei starker Er¬
regung, wie in meinem Fall III. Auch Thorndicke
hat Blasenzerreissung infolge von Muskelaction beob¬
achtet**). Ist nun einmal der Blasenriss eingetreten,
so ist es wichtig, das Ereigniss sofort richtig zu di-
agnosticieren. Dies gelang anfangs nicht, als man auf
ein solches nicht gefasst war und es nicht kannte.
Auch jetzt noch giebt es Fälle in der Littcratur, in
denen selbst traumatische Harnblasenrupturen infolge
mangelnder charakteristischer Symptome nicht sofort
oder gar nicht bei Lebzeiten diagnosticiert wurden.
Es wird aber wohl in der Mehrzahl der Fälle jetzt
wie in unseren gelingen sofort die Diagnose auf Bla-
senriss zu stellen.
Es liegt mir fern, hier auf die klinischen Symptome
der Blasenruptur erschöpfend einzugehen. Nur einige
Momente, die mir besonders bei den Paralytikern
wichtig erscheinen, möchte ich hervorheben, indem
ich in Bezug auf die eingehendere Klinik der Ilarn-
blasenruptur auf Güterbock: Die Krankheiten der Harn¬
blase ’ **) verweise. Die eigenartigen subjectiven Be-
*) Eulcnburgs Rcalcncyclopädic 1894, S. 34". Blasenkrank-
heiten. Englisch, 3. Auflage, 3. Band.
**) Thorndicke. A fcw remarks on tlie diagnosis and treat-
ment of rupture of the bladder. Journ of. cut and gen. ur.
diseas. p. 210. ref. nach Virch.-Hirsch Jahresbcr. 189g, II. S 520.
***) Güterbock. Die chirurgischen Krankheiten der Harn- u.
männlichen Geschlechtsorgane, Band I, Die Kiankheiten der
Harnblase. Leipzig und Wien 1890, S. 304 ff.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 13g
schwerdcn werden bei den Geisteskranken nicht immer
hervortreten. Characteristisch ist der heftige Schmerz
im Leib, welcher kolikartig auftritt und von der Bla¬
sengegend nach oben oder unten zieht. Allerdings
kann er auch bei vorgeschrittenen Paralysen, hoch¬
gradig stupidem und analgetischem Verhalten fehlen
oder weniger deutlich in die Erscheinung treten. In
mehreren Füllen waren die klinischen Erscheinungen
ganz eklatante und eine völlige ungünstige Veränder¬
ung des Gcsainmtbildes nach dem Blasenriss sofort
bemerkbar. Die Kranken machten einen verfallenen
Eindruck, der Puls war beschleunigt, sie sahen blass
aus, hatten kühle Temperatur, kühle Glieder.
In einigen Fällen fehlt aber der sofortige Collaps,
das kommt namentlich bei denjenigen vor, bei welchen
der Bl äsen riss extraperitoneal geblieben ist. Am
meisten muss aber das spontane Entleeren blutigen
Urins auf den Eintritt eines Risses aufmerksam machen.
Oefter sind Vorboten in Gestalt von unwillkürlichem
Urinabgang vorhergegangen, bis mit einem Male über¬
haupt von selbst kein Urin mehr gelassen werden
kann. Das spontane Harnlassen hört nämlich ge¬
wöhnlich nach dein Riss auf. Katheterisirt man dann,
so erhält man keinen oder wenig sanguinolenten oder
rein blutigen Harn. Bisweilen zeigen auch einige
Coagula die Residuen einer Blasenblutung an. Meist
wird die bisweilen noch spontan gelassene oder durch
Katheter entleerte geringfügige Menge des Urins auf¬
fallen. Gelangt man aber mit dem Katheter durch
den Riss in die Bauchhöhle, so kann man unter Um¬
ständen eine erhebliche Menge blutigen Harns her¬
ausbefördern, wie in Fall III Hcrtings. Die Blasen¬
dämpfung ist bei intraperitonealen Rissen meist ver¬
schwunden. Blut- und Urinergüsse im praevesiealen
Raum können bisweilen eine Dämpfung verursachen.
Fall I zeigt, dass eine Blasendämpfung durch den in
den Rctziusschen Raum getretenen Urin vorgetäuscht
werden kann; die Dämpfung ging dabei trotz Ent¬
leerung von Urin durch Katheder nicht ganz zurück.
Bei extraperitonealem Riss findet man Dämpfungen,
die sich nach der einen -oder anderen Seite von der
Blasengegend aus erstrecken. Erscheinungen von Peri¬
tonitis, Empfindlichkeit der Bauchdecken, Aufstosscn,
Erbrechen auch Metcorismus kramen ganz fehlen,
selbst bei intraperitonealen Fällen und stellen sich
erst nach mehreren Tagen ein. Spontane Blutunter¬
laufungen fanden sich in mehreren Fällen am Körper
der Paralytiker.
Die Patienten mit Harnblasenzerreissung machen
in psychischer Hinsicht einen bald ruhelosen Ein¬
druck mit wirren Delirien, bald einen ganz stuporösen.
Digitized by Google
Vorübergehend kann auch Lucidität mit schwerem
Krankheitsgefühl hervortreten.
Der Ausgang der .Harnblasenruptur ist in allen
Fällen ein tötlichcr und zwar tritt der Tod meist
sehr bald durch Shock oder innerhalb weniger Tage
durch Peritonitis ein, auch bei extraperitonealen Füllen,
bei denen es in kürzester Zeit zum Durchbruch in
die Bauchhöhle oder zur Sepsis durch Harninfiltration
kommt. Rettung ist bei den Harnblascnrisscn für
gewöhnlich nur durch schleunige Operation möglich.
Ein Zuwarten hat dabei keinen Zweck und kann den
schlimmen Ausweg nicht abwenden. Die Statistik der
Erfolge von Blasenrupturen ergiebt ca. 50 °/ 0 Hei¬
lungen*). Mit der fortschreitenden Vervollkommnung
der Technik, bei schneller Diagnose und Indications-
stellung haben die Heilungsziffern, welche noch vor
kurzem recht spärliche waren, erheblich zugenommen.
Wird man nun auch bei einem Paralytiker, einem un¬
heilbar Geisteskranken eine solche eingreifende Ope¬
ration im Fall eines Blasenrisses anrathen können ?
Erfahrungen über Operationen bei denselben liegen
noch nicht vor. Es ist fraglich, ob die Hcilungsre-
sultate ceteris paribus bei Paralytikern mit ihren
trophischen Störungen ebenst) gute wie bei den nicht
paralytischen Menschen mit Blasenruptur sein würden
und ob nicht die Nachbehandlung erheblichen Schwie¬
rigkeiten bei den Geisteskranken begegnen würde.
Die letzteren Hessen sich überwinden. Ist die Para¬
lyse weit vorgeschritten, der Kräftezustand ein schlechter,
so wird man von der Operation selbstverständlich Ab¬
stand nehmen. Wenn die Kranken noch nicht zu
weit vorgeschrittene Paralytiker sind, relativ gutes All¬
gemeinbefinden zeigen, und ihre nächsten Angehörigen
bezw. Vormünder mit der Operation einverstanden
sind, muss aber künftig meiner Ansicht nach unbe¬
dingt zur Operation einer festgestelltcn Blascnruptur
geschritten werden, dem einzigen Mittel, um den
traurigen Ausgang wenigstens für die allernächste Zu¬
kunft zu vermeiden. Es können ja noch jahrelange Re¬
missionen cintreten, womit vielen Kranken und An¬
gehörigen schon gedient ist. Man muss auch von
dem ärztlichen Grundsatz ausgehen, den Menschen
— solange es irgend möglich ist — am Leben zu
erhalten, ganz abgesehen von den Fällen, in welchen
die Diagnose progressive Paralyse noch nicht ganz
fcststeht. Ich bin also entschieden dafür, in geeigneten
Fällen die Frage einer operativen Behandlung des
Blasenrisses auch bei Paralytikern zu bejahen. Na¬
mentlich aber dürfte bei extraperitonealem Sitz der
*) Hollend all: Ueber die operative Behandlung einer
traumatischen intraperitonealen Ruptur der Harnblase. Inaug.-
Abh., Strassburg i. E. 1896.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
140
Ruptur, wie in einem meiner Fälle, bei sonst günstigen
Umständen, die schleunige Operation angezeigt er¬
scheinen. Vielleicht wäre dadurch in meinem be¬
treffenden Fall der baldige Tod nach Durchbruch ins
Peritoneum noch rechtzeitig abgewendet worden. Ucbcr
die beschriebenen und ausgeführten mannigfachen
Arten der Operationen und ihre Technik will ich hier
keine Ausführungen machen und verweise in dieser
Beziehung auf Güterbock *) und die übrige Littcratur.
Es kommt hauptsächlich die Laparotomie mit Blasen¬
naht oder Blascndrainage in Betracht.
Dass die spontane Harnblasenruptur bisher noch
nicht in weiterem Umfange in Irrenanstalten beobachtet
wurde, mag wohl an der aufmerksamen Uebcrwach-
♦) 1 . c. S. 308.
[Nr. 12.
ung der Blasenfunction , der Verhütung und schnellen
Beseitigung von Harnverhaltungen bei Paralytikern
liegen, zum Theil aber mögen Harnblasenrisse wohl
infolge mangelnder Kcnntniss des Ereignisses an sich
undiagnoslicirt geblieben und auch bei tödtlichcm Aus¬
gang übersehen worden sein.**) — Mögen diese Zeilen
zur Verhütung dieses unliebsamen Ereignisses und
wo dies nicht möglich ist, durch sofortige richtige
Diagnosenstellung und schleuniges thatkräftiges ope¬
ratives Eingreifen in geeigneten Fällen zur Abwend¬
ung der augenblicklichen Lebensgefahr beitragen.
**) Nach Mittheilung von Herrn Sanitätsrath Dr. Richter,
Oberarzt in Dalldorf, ist daselbst l>ci der Scction von Para¬
lytikern Anfang der achtziger Jahre ein Fall von Harnbla&cn-
zerreissung gefunden worden, welcher bei Lebzeiten nicht diag-
nosticirt war.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— 69. Versammlung des Psychiatrischen
Vereins der Rheinprovinz am 7. Juni 1902 in
Galkhausen.
1. Schultze-Andernach: Bemerkungen zur Sach-
vcrständigen-Thätigkeit.
a) Sch. berichtet über seine Erfahrungen, die er
gemacht hat, wenn er als sachverständiger Zeuge
414 C.-P.-O., $ 85 St.-P.- 0 .) geladen war. In
einem derartigen, genauer mitgetheilten Falle ver¬
suchte das Gericht auf die verschiedenste Weise von
Sch. ein fachmännisches Urtheil zu erlangen und
weigerte sich andrerseits, ihn als Sachverständigen
zu vereidigen. Da alle Versuche vergebens waren,
sah sich das Gericht schliesslich doch genötlugt, seinen
ursprünglichen Widerstand aufzugeben und den sach¬
verständigen Zeugen auch noch als Sachverständigen
zu vereidigen.
Sch. sucht den principiellen Unterschied zwischen
dem Sachverständigen und dem sachverständigen
Zeugen festzustellen. Er findet ihn, besonders im
Anschluss an die Arbeit von Stein, darin, dass der
sachverständige Zeuge wie der Zeuge überhaupt dem
Gericht eine bestimmte Thatsache mittheilt, während
dasjenige, was der Sachverständige als etwas piicipiell
Neues dem Gericht zuführt, eine allgemeine, der be-
sondern Sachkunde entstammende Regel ist. Der
Zeuge berichtet, kurz gesagt, etwas Concretes, der
Sachverständige etwas Abstraetes oder wenn wir uns
der in der Logik •üblichen Terminologie bedienen
wollen, jener liefert einen Untersatz, dieser einen
Obersatz zu dem von dem Richter zu bildenden Ur-
theile. Insofern unterscheidet sich aber der sachver¬
ständige Zeuge von dein Zeugen, als die Wahrnehmung
der von ihm berichteten Thatsachcn und Zustände
eine besondere, dem Laien für gewöhnlich fehlende
Sachkunde erfordert. Deren Vorhandensein ist auch
die Voraussetzung einer zutreffenden Schilderung des
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Befundes und einer Würdigung m. a. W. in vielen
Fällen wird der Richter mit der Aussage der sach¬
verständigen Zeugen nichts anzufangen wissen. Das
trifft beispielsweise zu für die Aeusserung des als
sachverständigen Zeugen geladenen Augenarztes, er
habe mittels des Augenspiegels im Augenhintergrunde
schwarze und weisse Flecken gesehen. Ein typisches
Beispiel für das, was der sachverständige Zeuge dem
Gericht mitzutheilen hat, ist das Sectionsprotocoll.
Der sachverständige Zeuge hat nur das zu be¬
richten, was ihm seine technisch-geschärften und ge¬
schulten Sinne haben wahmehmen lassen. Er braucht
keine persönliche Stellung zu diesem Befunde einzu¬
nehmen; er braucht ihn nicht tec hnisc h zu beurtheilen,
ihn weder nach der klinischen noch nach der recht¬
lichen Seite zu würdigen.
Schliesslich führt Sch. kurz an, welche Schlüsse
sich hieraus für das Verhalten des Sachverständigen
ergeben, der als sachverständiger Zeuge geladen ist.
Er betonte dabei unter anderem, dass der Sachver¬
ständige auch in diesem Falle nach einer neuerlichen
Entscheidung des Reichsgerichts verpflichtet ist, sein
Gedächtniss über das, was er vor Gericht auszusagen
hat, vorher aufzufiischen, nothwendigenfalls unter Zu¬
hilfenahme schriftlicher Notizen.
b) Sodann theilt Sch. noch kurz Erfahrungen hin¬
sichtlich der Beanstandung der Liquidation von
Vorbesuchen mit, aber wegen der vorgerückten Zeit
nur insoweit, als der Ort, an dem die Vorbesuche
erstattet sind, hierbei in Frage kommt. Dieser Punkt
ist für den Irrenanstaltsarzt nicht gleichgültig; das
Gericht ist hier und da, wenn auch meist nur vorüber¬
gehend, der Ansicht, der Anstaltsarzt, der den zu
untersuchenden Kranken in dem betreffenden Kranken¬
pavillon aiifsuehc, verlasse seine Behausung nicht ; er
erstatte als«» auch keinen V« »rbesueh, sondern empfange
ihn in seiner Wohnung. Eine solche, genauer mitge-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
IQ02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 141
theilte Entscheidung wurde seitens des zuständigen
Amtsgerichts und Landgerichts getrollen; die be¬
treffende Anstalt war eine neuere Anstalt im modern¬
sten Pavillonstyl. Dass eine tierartige Entscheidung
dem allgemeinen Sprachgebrauch der Worte: Wohnung,
Behausung wenig entspricht, dass sie geeignet ist, die
Anstaltsärzte materiell zu schädigen, braucht kaum
hervorgehoben zu werden. (Autoreferat.)
2. R. Foerster und Bauckc-Bonn: Seetionsbe-
fund bei zwei Geisteskranken: 1. Disseminirte Ence-
phalomyelitis, 2. Syringomyelie (Demonstration von
Präparaten).
Fall I. Erblich belastete, 30jährige Lehrerin, seit
5* 2 Jahren in AnslaltspHcge wegen Dementia praecox
mit hysteriformen Symptomen. Begann bald nach
dem Einsetzen ihrer Krankheit zu „humpeln“ und
klagte vorübergehend über Schmerzen im linken Ober¬
schenkel. Januar iqoi : unbeholfener Gang. Patientin
hütete das Bett, da sie das linke Bein nicht bewegen
könne (Luxationsstellung); von Seilen der Reilexe und
der Sensibilität war nichts Abnormes nachzuweisen.
Die chirurgische Untersuchung im November 01 er¬
gab nur eine Spannung in der Musculalur des Ober¬
schenkels, Knie- und Hüftgelenk waren völlig frei;
nach forcirter Extension wurde ein vom Nabel bis
zu den Knieen reichender Gypsverband angelegt, nach
dessen Abnahme die Weiterausbreitung eines bereits
beginnenden Decubitus nicht verhindert werden konnte.
Tenesmus vesicae. Temperaluisteigerung bei häufigen
Messungen nicht nachzuweisen. In den letzten Lebens¬
lagen erhebliche Parese des rechten Armes. Am
18. März 02 exitus letalis.
Scctionsbefund :■ Pleuritis fibrin. ’ et serosa,
Pneumonia lobularis, vergrößerte Milz, Eettleber.
Ausgedehnter Decubitus.
Hirngewicht 1300. Arterien der Basis dünnwandig.
Pia ablösbar. Ventrikel weit, Ependym verdickt. In
den Wandungen der Scitcnventrikcl finden sich mehrere
etwa erbsengrosse Herde von derber Consistenz; in den
basalen Ganglien mehrere hirsekorngrosse Plaques von
grauröthlieher Farbe und weniger derber Consistenz;
ebenso ist die Marksubstanz der Hemisphären und des
Kleinhirns von ähnlichen verschiedenartig gestalteten
Herden durchsetzt. Pons und medulla abh mgata ent¬
halten nur je 2 Plaques, Tractus opticus, Chiasma und
die Sehnerven sind frei. Im Rückenmark sieben
größere,' scharf abgegrenzte, zackige Plaques von
transparenter, glasiger Beschaffenheit und vermehrter
Consistenz; die Hinter- und Seitenstränge sind be¬
vorzugt.
Die Betrachtung des frisch secirten Gehirns musste
die Annahme einer multiplen Sclemse nahelegen, in¬
des« stimmten die klinischen Symptome damit nicht
überein. Der mikroscopische Befund lässt auf eine
Sogenannte gemeine disserniniertc Encephalomyelitis
sch Hessen.
Die Pathogenese des Falles wäre folgende: Bei
einer körperlich schwachen, erblich belasteten Person
mit einem minderwerthigen, functioneil untüchtigen
Centralnervensystem (das Hinken wäre als hvsteriformes
Symptom aiifzufassen) entwickelt si< h nach dem Ein¬
griff, der mit erheblicher Zerrung der Nervenstränge
Digitized by Goosle
(und möglicher Weise auch einer mechanischen Reiz¬
ung der Medulla) einherging und bald von einem
jauchigen Decubitus gefolgt war, auf infectiösem Wege
eine disserniniertc Encephalomyelitis.
Fall II. Erblich belasteter Mann von 29 Jahren,
von jeher widerspenstig und einfältig, als Kind Rhaehitis
und Wasserkopf; Stottern und Schwerhörigkeit. Patient
erkrankt 8 Tage vor der Aufnahme plötzlich angeb¬
lich im Anschluss an einen Todesfall in der Familie
mit Depression, äussert verschiedene Wahnideen und
geräth in zunehmende motorische Unruhe. Bei der
Aufnahme zeigte sich ausser einigen Degenerations¬
zeichen körperlich nichts Auffallendes. Der Kranke
bot die ausgesprochenen Symptome des sogen. De¬
lirium acutum und starb am 6. Tage des Anstalls¬
aufenthaltes.
Sectionsbefund: Starke Hvperaemie des Gehirns,
Erweiterung der Ventrikel und des Aquaeductus Svlvi
sowie Granulierung des Ependyins. Hvperaemie der
Lungen, petechiale Blutaustritte auf den Pleuren. Das
Gehirn steht leider nicht mehr zur Verfügung, das
Rückenmark wurde in Müllcr’sclicr Flüssigkeit conscr-
viert. Es fand sich eine vom Halsmark bis in das
obere Brustmark reichende, etwa 11 cm lange Höhle,
die caudalwürts an Ausdehnung zunimmt; an der
weitesten Stelle kann mau bequem einen Bleistift in
den Canal einführen.
Der mikroscopische'Befund spricht für einen acuten
Prozess, ebenso das klinische Bild; bei längerem Be¬
stehen hätten die ausgedehnten Zerstörungen der ner¬
vösen Elemente früher merkliche Symptome hervorrufen
müssen. Das anatomische Bild lässt mit ziemlicher
Sicherheit annehmen, dass es sich um einen fort¬
schreitenden Gewebszerfall und Einschmelzung im
Anschluss an eine Gefässalteration handelt. Aetiolo-
gisch könnte sehr wohl derselbe Factor in Betracht
kommen, der auch das acute Delirium und die Pe¬
techien auf der Pleura verursacht hat — höchst
wahrscheinlich eine Infection, die im krankhaft ver¬
änderten Gehirn die heftigsten Reizerscheinungen aus¬
löste und im Rückenmark, das bereits gewisse Ent-
wickhmgsanoinalicn auf wies, zu ausgedehnter centraler
Höhlenbildung Veranlassung gab. (Der Vortrag wird
anderweitig ausführlich erscheinen.)
3. Dr. Hoffmann, Gerichtsarzt in Elberfeld: Ein
Fall von „inducirtem Irresein“.
Vortr. spric ht über das Wesen des „indueirten
Irreseins“, sich hauptsächlich anlehnend an die Ar¬
beiten von Finkelnburg, Lehmann, Knittel, Jürger,
Wollenberg, Pronier, Schönfeldt u. A.
Er thcilt dann eine eigene Beobachtung mit, Hei
der es sich um 7 Personen handelt, die an religiöser
Paranoia erkrankt sind.
Den Kern dieser 7 bilden 2 Personen, die wahr¬
scheinlich unabhängig von einander erkrankt sind
(folic simultance); bei den übrigen ist dann das Irre¬
sein indudrt, und nach des Vortr. Ansicht handelt
es sich nicht bloss um eine folie imposee, um ein
scheinbares Irresein, sondern um eine echte induderte
Psvchose, eine folie communiquee.
Diese siebenköpligc Gemeinde besteht aus der
Mutter Gottes, dem neuen Messias und 5 (1 männl.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
4 -’
PS Y CH IA TR ISC H - NEU ROLOGISC H K WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 12.
und 4 weibl.) Jüngern, die auf das nahe bevorstehende
Ende der Dinge harren.
Weil sie nicht arbeiten wollten und nach ihrer
Ansicht nicht zu arbeiten brauchten, setzten sie sich
der Gefahr des Nothstandes aus, ein Umstand, der
zunächst die Verwandten veranlasste, den Antrag auf
Entmündigung zu stellen. (Wird in der Allg. Zeitschr.
f. Psychiatrie erscheinen.) Autoreferat.
4. Lückeraths Vortrag: Diebeiden ersten Jahre
in der Prov. - Heil - und Pflegeanstalt Galkhausen,
erscheint demnächst in dieser Wochenschrift. —
Die Zahl der bei der Versammlung Anwesenden be-
und eine Frau getötet. Dreissig Personen wurden
verletzt. Die Mehrzahl der Kranken befand sich
wegen Trunksucht in Behandlung. Als das Feuer
ausbrach, waren eine Anzahl von Deliriumkranken an
die Betten festgeschnallt. (Tägliche Rundschau.)
Referate.
— Movimento de la Casa de orates de
Santiago. II. Semester 1900. Santiago de Chile 1901.
Wieder liegt ein Bericht der Anstalt zu Santiagt>
vor von einer Genauigkeit und Uebcrsichtlichkeit,
Totalansicht der Irrenanstalt zu Santiago de Chile.
trug über bo. Von der Prov.-Verwaltung waren der Lan¬
deshauptmann Geh. Über-Reg.-Rath Dr. Klein und
Landesrath Vorster erschienen. Director Dr. Herting
gab an der Hand eines Plans eine Beschreibung der
Anstalt, worauf eine Besichtigung der letzteren, der
neuesten und hervorragendsten Schöpfung auf dem
Gebiete der rheinischen Irrenfürsorge, erfolgte. Die
Prov.-Verwaltung hatte in liebenswürdiger Weise die
Bewärthung der Gäste übernommen.
— Chicago, 10. Juni. Bei dem Brande im Sana¬
torium der „St. LucesSociely***) wurden neun Männer
*) scheint eine religiöse Genossenschaftsanstalt zu s !
dass man diese Art Jahresberichte zu schreiben hier
und da bei t uns zur Nachahmung empfehlen könnte.
Viele Illustrationen von Anstaltsansichten, von denen
wir einige wiedergeben, zieren die Schrift. Die An¬
stalt umfasste am 30. Juni 1900 1148 Patienten.
Zugang im II. Sem. 1900: 420; Abgang: 353. Be-
merkenswerth ist die Häufigkeit des Alkoholismus als
Krankheitsursache bei den Aufnahmen, 48 °/ 0 der
Männer, 20 0 „ der Frauen. 77 der Aufnahmen
waren Nachkommen von Trinkern. Es werden über
die geographische Herkunft, die Berufs- und Ehe¬
standsverhältnisse, das Alter genaue Mittheilungen ge-
□ igitized b
> Google
Original from
HARVARD UNiVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
*43
macht. Die Kranken von 20 bis 29 Jahren betrugen
31 ° 0 der Aufnahmen; die von 30 — 39: 30 0 0 ; die
von 40 — 49 : 17 °/„; die von 50 — 59 : 6 °/ w ; die
von 60 — 69: 5 n /<i- 25 waren 10 bis 19 Jahre alt,
Laboratorium.
1 1 älter als 70. Das durchschnittliche Alter der Auf¬
genommenen betrug bei den Männern 36 Jahre, bei
den Frauen 35 Jahre. Krankheitsübersicht bei den
Aufnahmen: toxische Psychosen einschl. Alkoholismus
133, Manie 54 und Melan¬
cholie 52, degenerative Psy¬
chosen 47, Neuropsy chosen
35, Demenz 29; systematisirte
Psychosen 17, progressive Para¬
lyse 3, infektiöse Psychosen 12
und congenitale Zustände 16,
periodische Psychosen 9. 3ö°/ 0
der Aufgenommenen waren
Analphabeten. 74 °/ 0 fanden
zum ersten Male Aufnahme,
i6°/ 0 zum zweiten Male, 5%
zum dritten Male, 1 " n zum
vierten Male. — Bei 12 Kran¬
ken fand die Zwangsjacke An¬
wendung, die Isolirung kein
Mal. — Geheilt entlassen
wurden 171, gebessert 35;
von den Angehörigen wurden 60
zurückgenommen , entwichen
4; gestorben 80; die Zahl der
Heilungen gestaltet sich mit
Rücksicht auf die zahlreich auf¬
genommenen Alkoholdeliranten
so hoch. — Die poliklinische
Sprechstunde wurde von 755
Kranken (die verschiedensten Neurosen und Psycho¬
sen) besucht. — Einrichtung für elektrische Bäder,
Arsonvalisirung, Röntgenstrahlcn etc. — Zwei wissen¬
schaftliche Arbeiten wurden geliefert über die Be¬
ziehung des toxischen Coefficienten des Urins zu den
Geistesstörungen, speciell der Melancholie — und
über das Verhältniss des Nährwerthes
der Nahrungsmittel zu demjenigen
der Kostration in der Anstalt. — Die
Hygiene der Zähne ist besonders
geregelt (monatliche Besichtigung der
Kranken durch den Arzt). — Der
Bericht über das wissenschaftliche
Laboratorium und die Zahnpflege
wird besonders herausgegeben. —
Verschiedene Neubauten. — Auf 7
Kranke kommt eine Pflegeperson. —
Von Interesse ist für uns Europäer
eine Zusammenstellung des Prozents
der Heilungen in amerikanischen
Anstalten im J. 1898..
Manhattan.15,18 0/ ,
Hudson River . . . 15,87 „
Buflalo.20,18 „
Willard. 22,26 „
Rochester.24,31 „
Long Island . . . . 21,13 „
Utica.28,73 „
St. Lawrence . . . . 28,82 „
Binghamton .... 31,28 „
Middletown , homeo-
patico. 3L/8 „
Eine grosse Zahl vergleichender Tabellen, welche
die Sterblichkeit und die Zahl der Heilungen in den
einzelnen Jahren seit 1852 behandeln, sowie solche
administrativen Inhalts sind dem Bericht beigefügt.
Theater der Anstalt.
— Israel, S. Entmündigung und Geschäfts¬
fähigkeit. Jurist. Wochenschr. 1901. XXX. pag. 790.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY „
144 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 12.
V. bemängelt, dass die durch Seelenstörung be-
dingte Geschäftsunfähigkeit bei den Entmündigten und
bei den Nicht-Entmündigten (cf. ^1) Z. 1 und § 104
Z. 2) verschieden umschrieben ist, während der erste
Entwurf des B. G. B. eine völlig übereinstimmende
Fassung gewählt hatte. Auch V. wendet sich gegen
die Anwendung des Ausdrucks der freien Willcnsbe-
stimmurig; sie sei ein rein doctrinärer, überhaupt
nicht in ein Gesetzbuch, sondern in die Philosophie
gehöriger Begriff, der, wenn überhaupt, mehr für das
Straf- als das Civilrecht passe. Zudem sei die Ent¬
scheidung über das Vorhandensein oder Fehlen der
fieien Willensbestimmung eine medicinische, während
die Frage nach der Fähigkeit oder Unfähigkeit der
Besorgung seiner Angelegenheiten als eine thatsäch-
liche auch durch nichtärztlichc Sachverständige gelöst
werden könne. So könne es zu Meinungsdifferenzen
kommen, wenn der nicht entmündigte Geistesgestörte,
der seine Angelegenheiten zu besorgen vermag, sich
in einem die freie Willensbestimmung ausschHcssen-
den Zustande befindet. Um diese, doch nur theore¬
tischen Möglichkeiten zu beseitigen und um nicht im
S 104 Z. 2 eine neue Klasse von geschäftsunfähigen
Personen zu schaffen, müsste dieser Paragraph folgen¬
den Wortlaut haben :
Geschäftsunfähig ist: ...
2. wer sich in einem Zustand krankhafter Störung
der Geistesthätigkeit befindet, der dem Betreffenden
die Besorgung seiner eigenen Angelegenheiten unmög¬
lich macht, sofern nicht der Zustand seiner Natur
nach ein vorübergehender ist. Ernst Schultze.
— L e b e n s r e g e 1 n für Neurastheniker.
Von Dr. med. Ralf Wichmann. 3. durchgesehene
Auflage. Berlin 1901. 0 . Salle. 1 M. 68 S.
Die Schrift belehrt in sehr anregender und gründ¬
licher Weise den Neurastheniker über die Ursachen
der Nervenschwäche, die verschiedenen Arten, wie
sie in Erscheinung tritt, und die zu ihrer Beseitigung
nöthigen Verhaltungsmaassregeln. Für manchen Neu¬
rastheniker dürfte die Lektüre dieses Büchleins von
grossem Nutzen sein, da ja für Viele das gedruckte
Wort mehr Ueberzeugungskraft besitzt als das ge¬
sprochene. Br.
— P. Näcke: Die Unterbringung geistes¬
kranker Verbrecher. Halle, Carl Marliold. 1902.
57 S. 2 Mk.
Zu unterscheiden sind geisteskranke Verbrecher,
verbrecherische Geisteskranke, Geisteskranke mit ver¬
brecherischen Neigungen. Jede dieser drei Arten
hat wieder verschiedene Abtheilungen; insbesondere
sind die Gewohnheitsverbrecher, die Minderwertigen,
die moralisch Defecten, die Epileptiker mit (psychisch)
langen freien Zwischenräumen, auseinanderzuhalten.
Die Bezeichnung „moralischer Irrsinn“ hat leider nicht
blos unter den Laien, sondern auch in der gerichtlichen
Medizin viel Verkehrtes zu Tage gefördert; und es
hätte nur noch gefehlt, dass man, wie neuerdings
de Snntis von einem moralischen Schwachsinn, von
moralischem Blödsinn und Wahnsinn sprechen hörte.
Richtig ist es, in der mehr oder weniger fehlenden
Moral die A- bezw. Antisocialität und hierbei, gleich¬
gültig, ob es sich um Verbrecher oder Geisteskranke
handelt, den Gesichtspunkt vor .allem ins Auge zu
fassen, dass die Gesellschaft geschützt werden muss.
Da eine sehr grosse Anzahl auch nicht mit dem Straf¬
gesetz in Konflict gekommener Geisteskranker bezüglich
ihrer Moral Bedenken erregen, so sind die Irrenanstalten
in der That keine reinen Heilanstalten, sondern, und
das werden sie auch immer sein, zunächst Dctentions-
anstalten.
Dies vorausgeschickt, haben wir in der vorliegenden
Abhandlung einen dankenswerthen Beitrag dazu^ wie
pacli den durch viele Litteratur-Angaben erläuterten
Erfahrungen der letzten Jahre die weitere Behandlung
der obigen Elemente sich zu gestalten hat. Als eine
äusserst wichtige Thatsache sei hervorgehoben, dass
das Gefängniss an sich sehr wenig — abgesehen bei
angeborener oder erworbener Disposition 1 Geistes¬
störung zu erzeugen im Stande ist. Ferner: dass die
Paralyse bei den irren Verbrechern so äusserst selten
vorkommt. Gegen die Unterbringung in die gewöhn¬
liche Irrenanstalt sind hauptsächlich vier Gründe
geltend gemacht worden; das Zusammenlegen be¬
strafter und unbestrafter Irrer, die störende und
demoralisircnde Wirkung ersterer, die Unmöglichkeit
der Durchführung des No-rcslraints, und die Schwierig¬
keit der Bewachung* Nach Ansicht des Ref. hat Vf.
diese Gründe nicht widerlegt. Ccntralgefängnisse, wie
in England und Amerika ergaben dort gute Resultate;
und wenn eine Autorität wie Tamburini die Errichtung
neuer für Italien forciert, so kann namentlich Aversa
unter der Leitung des ausgezeic hneten, humanen Prof.
Vergilio unmöglich so schlecht sein, wie dem Vf.
berichtet ist. Gegen die Errichtung von 2 bis 3
solchen bei uns weiss Vf. nichts zu erinnern.
Adnexe an Irrenanstalten, entweder als besondere
Abtheilungen oder getrennt, hält er für weniger
empfehlenswerth, während er solche an Strafanstalten
empfiehlt. Jedoch sollten nur grössere Adnexe an
grössere Strafanstalten, für 100 bis 150 Personen,
eingeric htet werden, um nicht blos Durchgangsstationen
darzustellen. Bezüglich des inneren Betriebes wären
I. die zu Beobachtenden. II. die der Kur Bedürftigen
aufzunehmen, gefährliche und unmoralische Elemente
im Adnex zurückzubehalten. Die nach abgelaufener
Strafe harmlos Gewordenen sollen jedenfalls, wenn
die Entlassung gerichtlich verweigert wird, nicht in
den Irrenanstalten verbleiben, sondern ins Gefängniss
zurückkommen. Für die geistig Defecten kommt bald
ein Strafhausaclnex, bald eine Landkolonie, ausser
dem Gefängniss, in Frage.
Aus den Berichten scheint hervorzugehen, dass
im Staate New York bisher die schwerwiegendsten
und beac htenswertesten Erfahrungen zur Lösung der
einschlägigen Fragen gesammelt worden sind.
Kornfeld.
l'ür di*n redaktionellen Tluil verantwortlich: Oberarzt i>r. J. liresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Sc hluss der Inseratenannahine 3 Tape vor der Ausgabe. — Verlap von C a r I Marhold in Halte a. S
Hevneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiflf) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herauagegeben von
Direetor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Prof. Dr. L. Edinger, Prof. Dr. A. Guttst&dt,
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Prof. Dr. E. Mendel, Dr. P. J. Möbius, Direetor Dr. MoreL,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraachnitz (Schlesien!.
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Nr. 13. 28 . jum. 1902.
Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro (Quartal 4 Mk.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Noch einmal die zellenlose Behandlung. Von Hoppe-Königsberg (S. 145). — Mittheilungen (S. 154).
— Referate (S. 156).
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nicht erfolgt.
Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“.
Carl Marhold in Halle a. S.
Noch einmal die zellenlose Behandlung.
Von Hoppi
T^\ie Angriffe, welche Herr Neisser in seinem Auf-
satze: „Bemerkungen zur Frage der zellenlosen
Behandlung und einigen anderen einsc hlägigen Fragen“
(Psych. Wuc henschr. Bd. III Nr. 44 u. 4Ö) gegen mein
Verfahren der zellen losen Behandlung gerichtet hat,
nöthigen mich zu einigen Worten der Erwiderung und
Aufklärung. Herr Neisser tadelt mit sehr scharfen
Worten, dass ich den Kranken, von dem ich in meinem
Aufsatze in Bd. III, Nr. 30 dieser Wochenschrift be-
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■-Königsberg.
richtet habe, so lange Zeit der Isolirung entzogen habe.
Er spricht von starrem Festhalten am Princip, von Ver¬
irrung, von ganz unerträglichen Verhältnissen, die ich
Monate lang auf der Abtheilung geduldet hätte und
glaubt auf das Entschiedenste dagegen Einspruch er¬
heben zu müssen, „dass ein solches zuwartendes Ver¬
fahren als ein vom Geiste der modernen Therapie ge¬
fordertes angesehen werde.“ Dass damit indireet auch
dem damaligen Direetor Dr. Sommer, welcher sich nicht
Original from
HARVARD UNIVERSITY
i4ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
mehr vertheidigen kann, da er todt ist, ein schwerer
Vorwurf gemacht wird, scheint Neisser nicht be¬
dacht zu haben.
Diesen Vorwurf muss ich auf das Entschiedenste
zurückweisen. Zunächst möchte ich folgendes be¬
merken. Jede Schilderung enthält, mag der Verfasser
sich bemühen, auch noch so objectiv zu sein, eine
subjective Färbung, und es ist eine psychologische
Thatsache, dass besonders dann, wenn die Schilderung
zu einem bestimmten Zwecke erfolgt, die Farben in
dieser Richtung hier und da etwas stärker aufgetragen
werden. Und so habe auch ich wohl, weil der Zweck
meiner Schilderung war, dem Leser zur Anschauung
zu bringen, um welch’ schlimmen Kranken es sich ge¬
handelt habe, in dem zusammenfassenden Bericht ge¬
legentlich Hyperbeln gebraucht, die mir erst jetzt bei
nochmaliger Prüfung als solche zum Bewusstsein
kommen. So ist der Ausdruck: „bei jeder Gelegen¬
heit“ in dem Satze: „Er schlug bei jeder Ge¬
legenheit auf sie (die Kranken) los,“ natürlich nur
als Hyperbel zu verstehen, wie sie Einem bei solchen
Schilderungen entschlüpft. Neisser scheint diesen Aus¬
druck so aufgefasst zu haben, als ob der betr. Kranke
fortwährend, also vielleicht jeden Tag und öfter am
Tage die übrigen Kranken geschlagen habe, während
ich in Wirklichkeit nur sagen wollte, dass der Patient
bei geringfügigen Veranlassungen und auch ohne
äusseren Anlass (auf Grund von Hallucinationcn) auf
die Kranken losgeschlagen habe. Wie oft dies ge¬
wesen ist, kann ich jetzt leider nicht mehr feststcllen,
da mir hier das Material dazu fehlt. Aber sicher kam
dies, soweit ich es in der Erinnerung habe, höchstens
1 oder 2 mal in der Woche vor, während manchmal
8—14 Tage und mehr ohne solche Angriffe vergingen.
Neisser hat die Notizen von 4 Tagen, an welchen
solche Angriffe erfolgten, hinter einander gestellt, so
dass der Eindruck einer ausserordentlichen Häufung
derselben entsteht, während doch zwischen dein
1. und 2. Datum 6 Tage, zwischen dem 3. und 4.
ib Tage liegen. Andererseits ist von Neisser nicht
bemerkt worden, dass nach dem letzten Angriffstage,
dem 21. September, bis zum Schlüsse der mitgetheilten
Krankengeschichte, den 10. October, also volle 10
Tage, keine Angriffe notirt sind, wie denn Neisser
auch nicht beachtet hat, dass der Patient oft halbe
Tage oder Tage lang, manchmal auch längere Zeit
(so z. B. vom 22.—27. September) ganz ruhig und
stuporös dalag Der Eindruck einer ausserordentlichen
Häufung der Angriffe wird dann noch dadurch ver¬
stärkt, dass Neisser unmittelbar nach der Notiz vom
letzten Angriffstage (19. September), worauf doch, wie
gesagt, mindestens 19 Tage verhältnissmässige Ruhe
folgten, auf Grund meines späteren zusammenfassen¬
den Berichts den Satz stellt: „In der nächsten
Folgezeit wurde der Patient immer unleidlicher und
aggressiver“, während es in meiner Darstellung heisst:
„Um nicht durch weitere ausführliche Mittheilung der
Notizen zu ermüden, will ich nur zusammenfassend
bemerken, dass Patient immer unleidlicher und aggres¬
siver wurde“. Dass diese Bemerkung von der näch¬
sten Folgezeit gilt, davon steht in meinem Aufsatze
nichts, das ist eine Zuthat des Herrn Neisser. Im
Gegentheil ist die Bemerkung für die letzte Zeit vor
der Isolirung zu verstehen, bis zu welcher ja vom 10.
October, wo die Krankengeschichte abbricht, noch
ca. 7—8 Wochen vergingen. Als eben in der letzten Zeit
vor der Isolirung Patient immer unleidlicher und
aggressiver wurde, wurde schliesslich zur Isolirung
geschritten.
Neisser schreibt: „Vom September bis Dccember,
über ein Vierteljahr, wurde der oben geschilderte Zu¬
stand, wobei fo r t w ä h re n d andere Kranke geschlagen
wurden, geduldet,“ während, soweit die Notizen vor¬
liegen, in der ersten Hälfte dieser Zeit vom I. Sep¬
tember (resp. 22. August) bis 10. Oktober, also in
vollen 6 Wochen 4 mal (resp. 3 mal, wenn die beiden
Angriffe in der Nacht vom 21. einzeln gezählt werden)
thütlichc Angriffe notirt sind. Und das nennt
Neisser „fortwährend.“ Glaubt denn übrigens Neisser
wirklich, dass sich ein Dircctor bereit gefunden hätte,
einer Marotte oder einem Prinzip von mir zu Liebe,
„ganz unerträgliche Zustände“ monatelang auf der
Abtheilung zu dulden? Schlimm waren ja die Zu¬
stände, welche der Patient auch schon durch sein
häufiges Lärmen und von Zeit zu Zeit wiederkehrendes
aggressives Verhalten schuf, aber unerträglich waren sie
nicht, sonst wären sie nicht monatelang geduldet
worden. Erst als in der letzten Zeit die Angriffe sich
immer wiederholten und die Klagen der Kranken
sich mehrten, musste ich, der ich in der Hoffnung,
dass Patient sein Verhalten mit der Zeit ändern würde,
die in letzter Zeit wiederholt in Frage gekommene
Isolirung hinauszuschieben versucht hatte, schliesslich
doch, wenn auch schweren Herzens, da ich auf andere
Weise Abhilfe zu schaffen mich ausser Stande sah,
die Isolirung gut heissen, welche ich vielleicht, wenn
ich selbst zu entscheiden gehabt hätte, noch etwas
hinausgeschoben hätte.
Wie sehr Recht ich mit meinem Zögern hatte,
zeigte das Verhalten des Kranken in der Zelle, die
Kehrseite der Medaille, welche Neisser nicht ge¬
nügend beachtet zu haben scheint. War Patient
vor der Isolirung sc hon recht schlimm und unleid¬
lich, so wurde er in der Zelle noch viel schlimmer
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
IQQ2.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
und ganz untractabel, waren die Zustände vorher
fast unerträglich, so wurden sie nach der Isolirung
geradezu trostlos. „Er lärmte fast ununterbrochen
Tag und Nacht, attaquirte die Wärter, sowie sie in
die Zelle traten, warf ihnen das Essgeschirr an den
Kopf, stiess mit den Füssen nach ihnen und versuchte,
sobald die Thür geöffnet wurde, indem er sich wie
ein Pfeil nach derselben stürzte, hindurchzudrängen,
so dass fast regelmässig eine Balgerei entstand und
drei oder vier Wärter Mühe hatten, ihn zurück zu
halten und die Thür zu schliessen, bevor er sich
zwischen Thür und Pfosten geklemmt hatte. Wenn
er zum Austreten auf das Closet geführt wurde, schlug
er, wo er nur konnte, auf die im Corridur
liegenden Kranken los, stiess nach ihnen mit den
Fussen oder spuckte ihnen ins Gesicht, was er auch
den Wärtern odei Aerzten gegenüber mit Vorliebe
that. Bald wurde er auch sehr unreinlich, er depo-
nirte täglich Stuhlgang und Urin in der Zelle und
begann schliesslich mit den Excrementen die Zellen-
wände zu bewerfen und zu beschmieren; auch sein
Essen warf er häufig in die Zelle und machte aller¬
hand Schmutzereien mit demselben (urinirte z. B. in
sein Essgeschirr) etc.“ Die Stelle: „er schlug, wo er
nur konnte, auf die im Corridor liegenden Kranken
los“ ist im Druck hervorgehoben, weil sie eine Paral¬
lele bildet zu der von Neisser hervorgehobenen Stelle
aus der Zeit vor der Isolirung: „er schlug bei jeder
Gelegenheit auf sie los,“ und es mir nicht zweifelhaft
ist, dass auch erstere von Neisser durch Druck her¬
vorgehoben gegen mich und als Beweis meiner Ver¬
irrung angeführt worden wäre, wenn sie sich auf die
Zeit vor der Isolirung bezogen hätte. Jedenfalls
war also in dieser Beziehung auch nach der Isolirung
im Sinne Neissers nichts wesentliches gebessert und die
„ganz unerträglichen Zustände,“ „die Nachtheile, Auf¬
regungen und Plackereien, welche die anderen Kran¬
ken durch denselben haben in Kauf nehmen müssen,“
dauerten zum Theil auch während der Isolirung noch
fast ein Jahr fort; ja ich kann Herrn Neisser ver-
rathen, dass auch, nachdem bei eingetretener Ver¬
blödung (es handelt sich entschieden um einen F'all
von Dementia praecox) die Isolirung aufgehoben
worden war, Patient noch wiederholt bis in die
letzte Zeit vor meinem Fortgang von Allenberg
auf Kranke losgcschlagen hat, ohne dass in diesem
gelegentlichen Schlagen eine Indication für seine Iso¬
lirung gesehen wurde, wie ja auch reizbare Epileptiker,
die „bei jeder Gelegenheit“ losschlagen, wohl nirgends
dauernd isolirt gehalten werden. Ich möchte in Be¬
zug darauf nur noch einen Autor citiren, der doch
gewiss für Herrn Neisser maassgebend sein wird. In
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seinem Aufsatze: „Noch einmal die Bettbehandlung
der Irren“ (Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 1894, Bd. 50)
sagt nämlich Herr Neisser selbst: „Die Isolirung eines
kranken Menschen in einer Zelle, wenn sie lediglich
zum Schutze der Umgebung und wegen seiner stören¬
den Unruhe erfolgt, ist und bleibt, wie ich trotz meh¬
rerer Angriffe wiederhole, eine Grausamkeit,
und wenn sie auch, wie ich stets zugegeben habe,
manchmal nicht zu umgehen ist, so ist ihre Noth-
wendigkeit darum nicht minder beklagenswerth“. Eine
Grausamkeit aber möglichst hintanzuhalten, oder
wenigstens so lange aufzuschieben, als es nur irgend
möglich erscheint, das ist keine Verirrung, kein starres
Festhalten am Princip, sondern einfach Pflicht des
Arztes. Das Urtheil darüber abei, wie lange das in
dem einzelnen Falle möglich war resp. wann es unmög¬
lich zu werden begann, das kann kein Fernstehender
nach der Lectüre einer Krankengeschichte sich an-
maassen, das können nur Aerzte haben, welche den
betr. Kranken und die Zustände auf der Abtheilung
mit beobachtet haben, also vor allen Dingen der be¬
handelnde Arzt und der Director, welcher die Con-
trolle ausübte.
Ich habe in meinem Aufsatze bemerkt, dass unter
Umständen vielleicht auch in diesem Fall die Iso¬
lirung zu umgehen gewesen wäre. Herr Neisser frägt,
unter welchen Umständen dies wohl hätte angenom¬
men werden können. Es wäre dies z. B. möglich
gewesen, wenn die übrigen 4 Einzelzimmer, welche
neben dem des Patienten an einem Corridor lagen,
von ihren Insassen hätten geräumt werden können,
s<> dass der Kranke diesen Theil der Abtheilung
allein mit einem .Wärter eingenommen hätte, ode r
wenn statt des grossen Corridors mit 5 Einzelzimmern
ein kleiner mit 2 Zimmern zu Gebote gestanden
hätte, von welchen das eine ja wohl unter allen Um¬
ständen hätte geräumt werden können. Wenn übri¬
gens Herr Neisser meinen Aufsatz genau durchliest,
so würde er eine Stelle finden, in welcher auch ich
zugebe, dass in ganz exceptionellen Fällen die Noth-
wendigkeit einer Isolirung herantreten könne, ja dass
man ausnahmsweise auch einmal in die Lage kom¬
men könne die Zwangsjacke anzulegen, wofür Herr
Neisser sofort das Beispiel durch Anführung eines
solchen Falles erbracht hat. Aber solche F'älle ge¬
hören zu den seltensten Ausnahmen, durch welche
das Prinzip des No-restraint nicht berührt wird*),
*) Ich möchte hier auf ein sehr treffendes Wort verweisen,
welches bereits Griesinger 1867 im 1. Bd. des Arch. f. Psych #
S. 247 bei der Besprechung der freien Behandlung geäussert
hat: „Oh in ganz extraordinären Fällen bei schweren chirur¬
gischen Verletzungen und einer plötzlichen grossen Gefahr durch
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
148
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
ebenso wenig wie das Princip der zellenlosen Be¬
handlung, wenn in einer grossen Anstalt einmal im
Verlauf mehrerer Jahre zu einer Isolirung geschritten
werden muss. Dass man sich so lange als möglich
gegen die Ausführung einer solchen exceptioneilen
Zwangsmaassregel sträubt, liegt eben im Begriff des
No-restraint und wird jeder Verfechter desselben, also
in Deutschland jeder Irrenarzt, begreiflich finden. So
hat auch Neisser, wie aus seiner Krankengeschichte
hervorgeht, trotz der von Anfang an bestehenden un¬
ausgesetzten schwersten Unruhe und des ausserordent¬
lich starken Selbstbeschädigungsdranges des Kranken,
welcher sich in die Augen zu bohren, die Genitalien
herauszureissen oder zusammenzuquetschen oder sich
kopfüber auf den Boden zu stürzen suchte, eine volle
Woche gewartet, ehe er zur Anlegung der Zwangs¬
jacke sich entschloss. Niemand wird ihm daraus
einen Vorwurf machen. Aber gesetzt der Fall, dass
die Krankengeschichte Neisser’s vor 30 oder 35 Jah¬
ren veröffentlicht worden wäre, wo das No-restraint
sich erst in Deutschland Bahn zu brechen anfing und
noch sehr viele dasselbe bekämpften, so ist es gar
nicht unwahrscheinlich, dass da ein Irrenarzt aufge¬
treten wäre, welcher das abwartende Verfahren
Neisser’s in der ersten Woche als starres Festhalten
am Princip, als Verirrung gegeisselt und auf das Ent¬
schiedenste dagegen Einspruch erhoben hätte, „dass
ein solches zuwartendes Verfahren als ein vom Geiste
der modernen Therapie gefordertes angesehen werde“.
Soviel hierüber.
Herr Neisser interpellirt mich, was ich zu thun
empfehle, wenn ein oder mehrere Kranke so lärmen
oder in anderer Weise so störend sind, dass ihre
schlafbedürftigen Nachbarn nicht Ruhe finden können.
Die Frage ist meiner Ansicht nach nicht ganz präcis
gestellt Handelt es sich im Sinne Neisser’s auch um
Kranke, die in der Nacht einmal 1 oder 2 Stunden
störend sind und während dieser Zeit andere nicht
zur Ruhe kommen lassen, so ist dies ein verhältniss-
mässig so häufiges Vorkommniss, das auch auf so¬
genannten ruhigen Abtheilungen eintreten kann, dass
man nicht stets sofort einschreiten, sondern abwarten
wird, ob der Kranke nicht wieder ruhig wird und
einen Kranken mechanische Beschränkungsmittel gebraucht
werden sollen, darüber braucht man meiner Meinung nach gar
nicht zu streiten und gar keine Regel zu geben. Ich halte das
für ganz gleichgültig, weil die wirkliche Behandlungsmethode
und der Geist der Anstalt nicht berührt wird. Hier hilft man
sich eben, wie man kann, und das nächste was die Gefahr ab¬
wenden kann, ist das Beste. Was soll das auch für eine
wesentliche Differenz machen, ob der Kranke von Wärtern ge¬
halten, mit Schnupftüchern gebunden oder mit Leibriemen ge¬
halten wird?“
einschläft. Geht aber das Lärmen stundenlang fort
und ist nach der Natur des Kranken eine Beruhi¬
gung nicht zu erwarten, was ja vorzugsweise auf den
unruhigsten Abtheilungen vorkommt, so bleibt in der
That nichts weiter übrig als die Absonderung” in
einem (unverschlossenen) Einzelzimmer. Herr Neisser
sagt, ob man das ein Separiren oder Isoliren oder
Wegstecken nennt, ändere an der Sache nichts.
Sicher nicht, denn die Bezeichnung eines Dinges
ändert nie das Ding selbst. Wohl aber giebt es ge¬
wisse Bezeichnungen, mit denen der Sprachgebrauch
einen ganz bestimmten Sinn verbindet. So verstellt
man unter Isolirung ganz allgemein die Einsperrung
eines Kranken in einem Einzelzimmer durch Ver¬
schluss desselben, aus dem er also spontan nicht
heraus kann. Unter Separiren aber verstehe ich
wenigstens, — und ich habe darüber in meinen dies¬
bezüglichen Aufsätzen keinen Zweifel gelassen — die
Unterbringung eines Kranken in einem offenstehen¬
den resp. unverschlossenen Einzelzimmer, so dass
derselbe von der Umgebung nicht völlig abgesperrt
ist, sondern jederzeit zu derselben gelangen kann,
wenn er sein Zimmer verlassen will. Isoliren ist Ab¬
sondern mit Verschluss, Separiren Absondern ohne
Verschluss. Zwischen Isoliren und Separiren besteht
also ein fundamentaler Unterschied, der auch jedem
Geisteskranken, wenn er nicht geradezu total verblödet
ist, deutlich zum Bewusstsein kommt, es ist eben der
Unterschied zwischen Eingesperrtsein und Nichtein¬
gesperrtsein.
Wenn mich Herr Neisser weiter frägt: Wie aber,
wenn der Kranke in dem offenen Einzelzimmer nicht
bleibt, sondern herausläuft und draussen weiter lärmt ?
Dann wird es vor allen Dingen auf die Lage des
Separatzimmers ankommen.
Wenn z. B. wie in vielen Anstalten 2 Separat¬
zimmer durch ein Wärterzimmer getrennt an einem
kleinen Corridor zusammen liegen, so dürfte es den
Kranken auch dann nicht besonders viel schaden.
In Allenberg liegen aber 4 resp. 5 Separatzimmer
(die früheren Isolirzimmer) dicht neben einander an
einem Corridor, was ja als zweckmässig sicher nicht
bezeichnet werden kann. Wenn nun alle Separat¬
zimmer besetzt waren, so konnte unter Umständen
ein solcher Kranker die übrigen 3 oder 4 Kranken
erheblich stören (was übrigens auch früher, als noch
isolirt wurde, der Fall war, wenn der Kranke die
ganze Nacht mit aller Kraft an seine Zellenthür pol¬
terte und lärmte, dass der ganze Corridor erdröhnte).
Für solche Fälle möchte ich auf die neuerdings von
Kraepelin so warm empfohlenen nächtlichen Dauer¬
bäder (Die Wachabtheilung der Heidelberger Klinik
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
—- Centralbl. für Nervenheilkunde, Dec. 1901) hin-
weisen. Ich habe in Allenberg auch eine Zeit lang
den Versuch gemacht, die Dauerbäder über die Nacht
auszudehnen, dies aber bald aus Mangel an genügen¬
dem Wartpersonal aufgeben müssen. Jedenfalls halte
ich das Dauerbad über Nacht für den besten und
zweckinässigsten Ersatz der Isolirung. Die Schwierig¬
keiten, welche sich der Anwendung der Hydrotherapie
in der Nacht entgegenstellen, müssen sich bei festem
Willen des Anstaltsleiter beseitigen lassen.
Bezüglich der Bettbehandlung freue ich mich,
mit Herrn Neisser übereinstimmen zu können. Auch
ich bin Scholz gegenüber der Ansicht, dass keines¬
wegs alle Kranke, welche der Bettbehandlung unter¬
zogen werden, nächtlicher Ueberwachung bedürfen.
Wie ich in meinem letzten Aufsatze bereits angeführt
habe, sind in Allenberg seit Jahr und Tag neben
den Wachsälen eine grosse Anzahl von Zimmern zur
Bettbehandlung eingerichtet, aber ohne ständige Ueber¬
wachung, welche in einzelnen Zimmern aus Mangel
an Wartpersonal selbst bei Tag nicht dauernd sein
kann und bei den Kranken, um die es sich handelt
aus den Gründen, welche Neisser angeführt hat, auch
nicht dauernd zu sein braucht.
Dass alle irgendwie störenden, in Haltung und Be¬
nehmen ungeordneten oder auffälligen Elemente (letztere
soweit sie sich nicht beschäftigen) ins Bett gehören,
habe ich übrigens bereits seit 1890, wo ich die Männer¬
abtheilung übernommen habe, als Prinzip befolgt, (was
ich auch, wie ich glaube, in meinem Referat über
Neissers erste Arbeit über Bettbehandlung im Central¬
blatt für Nervenheilkunde 1891 bemerkt habe), so
dass die Procentzahl der Bettlägerigen bald auf 30
und 40 0 o gestiegen ist. Ich bin in den letzten Jahren
sogar noch weiter gegangen und habe auch die äusser-
lich geordneten Kranken, die zu einer geregelten Be¬
schäftigung nicht zu bewegen waren (mit Ausnahmen
der von jeher eine Sonderstellung geniessenden Pen¬
sionäre) ins Bett gesteckt, bis sie bereit waren eine
regelmässige Beschäftigung aufzunehmen. Ich glaube
auch, dass die obengenannten Grundsätze der Bett¬
behandlung auch anderweitig geübt wurden, bevor
Neisser sie öffentlich verkündete. Das Verdienst die
Bettbehandlung mit Nachdruck empfohlen und sie
zur allgemeinen Kenntniss gebracht und dadurch zum
Gemeingut der Irrenärzte gemacht zu haben, soll ihm
aber ungeschmälert bleiben.
Was die Schlafmittel betrifft, um auch darauf
noch kurz einzugehen, so betont Herr Neisser, dass
er im Laufe der Zeit immer mehr dazu gekommen
sei, die Aufgabe, täglich für ausreichenden Schlaf zu
orgen, für eine der dringlichsten zu halten. Und um
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diese Dringlichkeit zu erhärten, weist er auf die
„immer von neuem zu machende Erfahrung“ hin,
„dass die meisten Erregungszustände und Erregungs¬
steigerungen sich an schlaflos verbrachte Nächte an-
schliessen bezw. mit solchen einleiten“. Die That-
sache ist zuzugeben und wohlbekannt, aber ich habe
bisher nicht geglaubt, dass sie nach dem Satze: post
hoc, ergo propter hoc, wie Neisser will, zu erklären
sei, und ich glaube auch nicht, dass Neisser’s An¬
schauung von den Irrenärzten getheilt wird. Meiner
Ansicht nach ist die Schlaflosigkeit im Beginn der
Erregungszustände nicht die Ursache, sondern weiter
nichts als ein Symptom oder ein Prodromalsymptom
der Hirnveränderung, welche sich bald durch deut¬
liche Erregung kund giebt, ebenso wie die Unstetig¬
keit der betreffenden Kranken am Tage, die manch¬
mal allerdings nur bei besonderer Aufmerksamkeit
bemerkt w'ird. Ich glaube auch kaum, dass es Herrn
Neisser gelungen ist, beginnende Erregungszustände,
die sich mit Schlaflosigkeit einleiten, durch Schaffung
von künstlichen Schlaf zu coupiren, sonst würde er
ja gar nicht in dei Lage sein, immer wieder von
neuem die Erfahrung zu machen, dass sich Erregungs¬
zustände an schlaflos verbrachte Nächte anschliessen.
Uebrigens hätte Herr Neisser durchaus nicht nöthig
gehabt, die Dringlichkeit der Aufgabe den Kranken
Schlaf zu schaffen, durch Hinweis auf klinische Er¬
fahrungen besonders ‘ hervorzuheben. Die Wichtig¬
keit des Schlafes für Gesunde nicht minder wie für
Kranke leuchtet von selbst ein und ist allgemein an¬
erkannt. Und das Bewusstsein dieser Wichtigkeit
hat sich ja bei den Irrenärzten in einer Weise gel¬
tend gemacht, dass bis vor wenigen Jahren in den
meisten Irrenanstalten geradezu ein Massenkonsum
von Schlafmitteln stattfand und das Erste, was der
junge Psychiater beim Eintritt in die Irrenanstalt von
Therapie lernte, der Gebrauch der Pravazspritze und
die Verzapfung von Schlafmitteln war, die in grossen
Flaschen und allen möglichen Combinationen auf die
Abtheilung kamen. Es galt eben als die Hauptauf¬
gabe unter allen Umständen Ruhe zu schaffen, und
so herrschte vielfach in den Irrenanstalten ein Zu¬
stand, welcher von spottsüchtigen Collcgen als „die
Ruhe des Kirchhofs“ bezeichnet wurde.
Ich führe dies an, um zu zeigen, dass von jeher
die Aufgabe Ruhe, besonders in der Nacht, zu schaffen,
als eine sehr wic htige betrachtet worden ist. Und
ich kann Herrn Neisser versichern, dass auch ich
von dieser Wichtigkeit überzeugt bin. Darüber be¬
steht also keine Meinungsverschiedenheit. Nur was
die Mittel anbetrifft, diese Aufgabe zu lösen, darin
beruht die Streitfrage. Und da muss ich nach mei-
Original from
HARVARD UN1VERS1TY
150 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
nen Erfahrungen die Narcotica für durchaus unge¬
eignete und unzweckmässige Mittel halten, die höch¬
stens in Ausnahmefällen einmal angewendet werden
sollten, und ich halte es für falsch, den Schlaf unter
allen Umständen durch Narcotica erzwingen zu wollen.
Ich habe in meinem Vortrage 1897 darauf hinge¬
wiesen, dass es bei vielen und gerade bei den stö-
rendsten Kranken nicht möglich ist, durch noch so
gesteigerte Dosen der verschiedensten Narcotica den
gewünschten Schlaf herbeizuführen, höchstens dass es
gelingt auf 1 oder 2 Stunden Schlaf resp. Narkose
zu erzielen. Ist die Narkose vorüber, so geht das
Lärmen und Toben von neuem los. Andrerseits
treten, wie ich auf Grund der Erfahrungen nach Fort¬
lassen der Schlafmittel gleichfalls betont habe, selbst
bei den unruhigsten und erregtesten Kranken auch
ohne unser Zuthun von Zeit zu Zeit, in ganz regel¬
loser Weise, kürzere oder längere Pausen ein, in denen
sie ruhiger sind oder schlafen. Die Kranken schlafen
einmal am Tage oder in der Nacht eine Stunde oder
auch mehrere, auf mehrere sehr unruhige Nächte
folgt eine ruhigere und auch in den unruhigen Näch¬
ten lärmen die Kranken oft nicht die ganze Nacht
hindurch, sondern mit kürzeren oder längeren Unter¬
brechungen. Die Verabreichung eines Narkoticums
ist meiner Ansicht nach in solchen Fällen höchstens
im Stande den Schlaf zu anticipiren, ohne dass man,
wenn man nicht sehr grosse narkotische Dosen giebt,
den Schlaf mit Sicherheit herbeiführen kann.
Ich möchte hier nur noch auf die ganz ähnlichen
Erfahrungen des Directors der Irrenanstalt York,
Hitchcock, (Note on 206 consccutive cases of acute
mania treated without sedatives. — Joum. of ment,
science Jan. 1900) hinweisen , welcher daselbst in
16 Jahren 206 Fälle von akuter Tobsucht trotz der
Erregung und trotz der Schlaflosigkeit, welche in allen
Fällen mehr oder minder hervortrat, ohne Narcotica
behandelt hat und dadurch eine grössere Anzahl von
Heilungen, eine geringere Anzahl von Todesfällen
und bei den ungeheilten Fällen eine grössere Ruhe
erzielt zu haben glaubt. Die Erfahrungen, die Hitch¬
cock in 6 Irrenanstalten, in denen er früher gewesen,
über die Wirkung der Schlafmittel gemacht hat, haben
ihn zur Ueberzeugung geführt, dass sowohl bei akuten
als bei chronischen Fällen der Gebrauch der Schlaf¬
mittel gefährlich ist, dass kein bekanntes Narcoticum
den Anfall heilt oder abkürzt, dass die Verabreichung
in genügend grossen Dosen, um die Aufregung zu
unterdrücken, den Kranken dauernden Schaden
bringt und dass auch längere Schlaflosigkeit die spä¬
ter^ Heilung nicht hindert. Ich kann dies Wort für
Wort unterschreiben, ebenso wie die Empfehlung
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diätetischer und hydrotherapeutischer Maassnahmen,
welche einen natürlichen Schlaf herbeizuführen ge¬
eignet sind, an Stelle der Betäubung durch Narcotica*).
N ach trag.
Bevor noch die Drucklegung der vorstehenden
Ausführungen erfolgen konnte, hat auch Bleuler Ge¬
legenheit genommen, sich über meinen Aufsatz zu
äussem und seinen Standpunkt zu ^ertheidigen. Es
hat sich dabei gezeigt, dass die Differenzen zwischen
den Anschauungen Bleuler’s und den meinigen gar
nicht so bedeutend sind, als es den Anschein hat
Jedenfalls kann ich mit Bleuler’s Zugeständniss, dass
er ganz gern sähe, wenn meine Anschauungen an¬
genommen würden, damit das viele Gute, das in mei¬
nen Vorschlägen liege, möglichst Verbreitung fände,
völlig zufrieden sein.
Auch damit kann ich mich einverstanden erklären,
dass wenn ich etw’as übers Ziel hinausgehen sollte,
sich das ganz von selbst korrigiren w’ird. Ich glaube
aber ebenso w'enig über das Ziel hinausgegangen zu
sein wie die ersten Anhänger des No-restraint, ob¬
gleich ihnen dies zuerst allgemein vorgeworfen wände.
Hoffentlich lässt es Bleuler nicht bei def prinzipiellen
Anerkennung bewenden, sondern versucht practisch
die zellenlose Behandlung zugleich mit der Bettbe¬
handlung durchzuführen, wobei die Bedenken, die
Bleuler jetzt noch hat, sicher schwinden werden. Und
in dieser Beziehung noch einige Bemerkungen.
Wie Bleuler beim genaueren Durchlesen meiner
Aufsätze über die zellenlose Behandlung und der
vorstehenden Ausführungen ersehen wird, habe ich
gegen die Unterbringung von Kranken in Einzel¬
zimmern an und für sich nichts einzuwenden, ich
bekämpfe nur das Einsperren in Einzelzimmern oder in
eigens dazu eingerichteten „Zellen“. Das Separiren in
Einzelzimmern habe ich ja selbst in vielen Fällen an
Stelle des ,;Isolirens“ empfohlen. Mein Kampf richtet
sich gegen das geschlossene Einzelzimmer, die Zelle,
nicht gegen das offene oder vom Kranken jederzeit zu
öffnende Einzelzimmer, w’eil sich eben aus der zwangs-
mässigen Abschliessung oder Einsperrung des Kran¬
ken zahlreiche Nachtheile ergeben, die von allen Vor¬
kämpfern der zellenlosen Behandlung genügend be¬
leuchtet worden sind. Ich pflichte Bleuler vollständig
*) Experimentelle Untersuchungen, welche neuerdings von
Hans Winterstein („Zur Kenntniss der Narkose“, Zeitschr. f.
allg. Physiologie 1902, Bd. I, H. 1) angestellt worden sind,
führten zu folgendem Schluss: Niemals darf die Annahme Platz
finden, dass der natürliche Schlaf durch die Narkose des Nerven¬
systems zu ersetzen sei. Denn in dem Ueberwiegen der Assi¬
milation über die Dissimilation ist das Wesen des Schlafes zu
suchen, während die Narkose beide in gleicher Weise lähmt.
Original from
HARVARD UNfVERSITY
1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 151
bei, dass „bei den Geisteskranken wie bei Gesun¬
den sich Leute befinden, die sich Nachts am
wohlsten allein befinden und denen dies nichts scha¬
det“, sondern sogar nutzt. Ja, man kann sogar noch
weiter gehen und sagen, dass es Geisteskranke giebt,
die sich auch am Tage am wohlsten allein befinden,
deswegen aber brauchen dieselben doch nicht hinter
Schloss und Riegel zu sitzen. Gegen den „Komfort
des Einzelzimmers“ hat wirklich niemand etwas ein¬
zuwenden. Auch* ich halte, wie ich dies in meinem
Aufsatze in Nr. 30 und 31 des 3. Jahrgangs deut¬
lich genug ausgedrückt habe, eine grössere Anzahl
von Einzelzimmern durchaus nicht für unzweckmässig,
(wenn sie nur nicht als Isolirzellen gemissbraucht
werden), ich habe direct betont, dass es im Allge¬
meinen das beste wäre, wenn man jedem Kranken
sein eigenes Zimmer anweisen könnte, wie dies in
vornehmen Privatanstalten der Fall ist, bei öffent¬
lichen Irrenanstalten scheitert dieser fromme Wunsch
aber an der allzugrossen Kostspieligkeit. Und da
sind denn, wie dies in allgemeinen Krankenhäusern
und Kliniken auch der Fall ist, grössere Schlaf- und
Wachsäle unvermeidlich. Andrerseits aber halte ich
bei zahlreichen überwachungsbedürftigen Geisteskran¬
ken gewisser Art den Aufenthalt in Wachsälen aus
psychischen Gründen und der besseren Ueberwachung
wegen für durchaus geboten und zweckmässiger als
die Unterbringung in Einzelzimmern, so dass ich selbst
in einer vornehmen Privatanstalt für erstklassige Patien¬
ten aus therapeutischen Gründen einen Wachsaal ein¬
richten würde. Die Einsamkeit des Einzelzimmers
wirkt vielfach psychisch ungünstig und es bilden sich
oft unangenehme Eigenschaften aus, die im Wach¬
saal gar nicht aufkommen können.
Das „Modeaxiom, dass Geisteskranke krank seien
und deshalb ins Bett gehören“, ist niemals und nir¬
gends aufgestellt worden. Es wird niemanden ein¬
fallen, einen ruhigen, unauffälligen, arbeitsfähigen und
arbeitslustigcn Geisteskranken deswegen ins Bett zu
stecken, weil er eben geisteskrank ist. Bleulers
Aeusserungen in dieser Hinsicht zeigen, dass er das,
was die Bett-Behandlung will, völlig missverstanden
hat. Es handelt sich bei der Bettbehandlung doch
nicht um alle Geisteskranken, sondern nur um solche
Elemente, die unruhig oder in irgend einer Weise
störend und zu einer Arbeit nicht zu verwenden sind.
Dass chronische Fälle im Prinzip arbeiten sollen, wie
Bleuler zu betonen müssen glaubt, ist ein bereits
vor 100 Jahren (Pinel, Reil, Langermann) ausgespro¬
chener und jetzt allgemein anerkannter Grundsatz. In
Allenberg w^aren, wie ich dies schon in meinem Vor¬
träge 1897 bemerkt habe, ungefähr die Hälfte der
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Kranken 3. Klasse regelmässig mit nutzbringender
Arbeit beschäftigt*) Auch für die andern deutschen
Irrenanstalten, wo die Bettbehandlung in ausgedehn¬
ter Weise geübt wird, gilt Aehnliches. Das scheint
Bleuler entgangen zu sein. Dass manche unruhige
Elemente bei der Arbeit ruhiger werden, ist auch in
diesen Anstalten ganz bekannt.
Bei leichteren Graden von Unruhe, bei denen
eine Beschäftigung noch möglich ist, tritt die Bettbe¬
handlung eben nicht ein. Zu Bett gelegt werden nur
chronische Kranke mit stärkerer Unruhe und chroni¬
schen Erregungszuständen, w'elche ein Verbleiben bei
der Arbeit unmöglich machen. Und w'enn wieder
Beruhigung eingetreten ist oder der Zustand sonst
es erlaubt, lässt man die Kranken aufstehen und
schickt sie, sobald es geht, wieder zur Arbeit. In
den Fällen, wo die Bettlage den Kranken „eine Qual“
ist, aber auch bei anderen wird natürlich von Zeit
zu Zeit der Versuch gemacht, ob sie sich beim Auf¬
sein besser befinden. Wird jedoch dadurch ihre Un¬
ruhe, ihre Angst, ihr Jammern und Klagen etc. ver¬
mehrt, so müssen sie wieder ins Bett, w’o sie sich
dann in Wirklichkeit am wohlsten befinden, selbst
wenn sie die Bettruhe als Qual bezeichnen.
Wenn Bleuler meint, dass nach meiner Berech¬
nung die Bettbehandlung sehr theuer sei und auf
die 600 unruhigen Kranken über 150 Wärter (!) noth-
wendig seien, so weiss ich wirklich nicht, wie Bleuler
zu dieser exorbitanten Zahl kommt. In meinem
Aufsatz (3. Jahrgang Nr. 30, 31 dieser Wochen¬
schrift) findet sich über die Zahl der Wärter nur die
Bemerkung, dass in Allenberg durchschnittlich unge¬
fähr 1 Wärter auf 8 Kranke kommt. Und in meinem
Vortrage vom Jahre 1897 erwähnte ich, dass ich
auf der Abtheilung der erregtesten Kranken (Zellen¬
abtheilung) 5 Wärter auf 20 Kranke oder 1:4 hatte,
aber meiner Meinung nach 1:3 nothw'endig w'ären.
Nun werden doch aber sicher nicht alle 600 Kran¬
ken Bleulcr’s dauernd tobsüchtig erregt sein und dau¬
ernd zu Bett liegen müssen. Ein solcher Gedanke
ist mir nicht im entferntesten gekommen. Von den
600 Unruhigen wird w r ohl die weit überwiegende
Mehrzahl zu den sogenannten Halbunruhigcn gehören,
die zum grössten Theile (dauernd oder zeitweise)
noch beschäftigt w erden und ausser Bett sein können,
während andere durch die Bettbehandlung so weit
beruhigt werden könnten, dass sic (wenigstens zeit-
*) In meinem Vortrag heisst es, „dabei will ich gleich
erwähnen, dass auch die Beschäftigung der Kranken, deren
beruhigender Einfluss bekannt ist, die nothwendige Berücksich¬
tigung gefunden hat“. (Bericht über die Jahresvers. des Ver¬
eins deutscher Irrenärzte 1897, S. 44.)
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
152 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
weise) arbeitsfällig werden. Selbst wenn ich annehrae,
dass regelmässig 150 von den 600 Kranken tobsüchtig
erregt*) sind, also bei Beltbehandlung ca. 45 Wärter
brauchen und im Uebrigen ungefähr die Verhältnisse
obwalten, wie sie im Allenberger Siechenhause mit chro¬
nisch unruhigen, unreinlichen und verblödeten Kran¬
ken herrschten, wo in 3 Abtheilungen 12 Wärter auf
110—120 Kranke (mit ca. 6o°/ 0 Bettlägerigen)
kommen, so dass auf die restirenden 450 Kranken
Rheinau’s etwa 50 oder gar 55 Wärter kommen
würden, so würden sehr hoch gerechnet immer
erst 100 Wärter oder 1 auf 6 nothwendig sein, ein
Verhältniss, wie es in zahlreichen grossen Irrenan¬
stalten besteht und für unruhige Kranke auch kaum
zu gross erscheint. Es ist mir aber auch nicht frag¬
lich , dass sich mit dem Verhältniss 1:7 oder 85
Wärtern bei den 600 Kranken in Rheinau die Bett-
und zellenlose Behandlung ohne besondere Schwierig¬
keiten durchführen lassen würde**), besonders, wenn
erst das System Aerzten und Wärtern in Fleisch und
Blut übergegangen ist. Mit theoretischen Raisonne-
ments, die auf Vorurtheilen begründet sind, lässt sich
allerdings die Frage nicht entscheiden, hier heisst es
eben probiren, denn
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum.
Wenn Bleuler allerdings die Bauten in Rheinau,
besonders den Zellen bau als einen Nothbehelf be¬
zeichnet, der bei den zeitigen Verhältnissen nicht zu
umgehen gewesen sei, so kann man ja die Verthei-
digung eher gelten lassen, man begreift dann aber
nicht recht, was mit der Veröffentlichung des Auf¬
satzes, in dem diese Bauten beschrieben wurden, be¬
zweckt war, da im Allgemeinen jede solcher Be¬
schreibung und Veröffentlichung in dem Leser die An¬
schauung zu erwecken geeignet ist, dass es sich um
etwas Mustergültiges handle.
*) Auch von den schlimmsten Artefakten lassen sich viele,
wenn nicht die meisten, bei zweckmässiger Bettbehandlung
noch wesentlich bessern und erziehen, wie allenthalben die Er¬
fahrungen zeigen. Ich verweise in dieser Beziehung nur auf
die Erfahrungen, die, wie Neisser in seinem Aufsatze bemerkt
hat, ueuerdings in der Pensionärabtheilung von Leubus ge¬
macht worden sind und ausführlich in einem Aufsatze von
Alter („Versuche mit zellenloser Behandlung etc “, Centralbl. für
Nervenheilk., März 1902) veröffentlicht worden sind.
**) Ich möchte Herrn Bleuler in dieser Beziehung nur auf
den jüngst in der Allg. Zeitschr. für Psychiatrie erschienenen
Aufsatz von WUrth in Hofheim „Ueber die Bettruhe bei
chronischen Geisteskranken“ verweisen, worin derselbe schil¬
dert, wie er die Bettbehandlung bei 200 chronischen (unruhi¬
gen) weiblichen Geisteskranken mit dem besten Erfolge durch¬
geführt hat, ohne däss eine Vermehrung des Wartpersonals er¬
forderlich war.
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Und nun noch eins. Wenn Bleuler zur Verth ei -
digung der Isolirungen (darunter immer das Einsperren
in Zellen verstanden) anführt, dass manche Kranke die
Isolirungen als eine Wohlthat empfinden, dass sie sejbst
nach der Zelle verlangen u. s. w., (auch Fürstner hat
auf der letzten Versammlung südwestdeutscher Irren¬
ärzte in Karlsruhe, Nov. 1901, dieses Moment den
Anhängern der zellenlosen Behandlung gegenüber
hervorgehoben), so will ich nur darauf binweisen,
dass, als vor 50 Jahren der Kampf um das No-restraint
entbrannt war, den Vorkämpfern desselben von den
Vertheidigem des Restraint auch entgegengehalten
wurde, dass viele Kranke selbst nach dem Restraint
verlangen und später dankend die Nothwendigkeit
derselben anerkannten (siehe Dick, Reiseskizzen
Allg. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XIII, S. 37b).
Es giebt eben nichts neues unter der Sonne. Die
Diskussion, die jetzt über die Frage „Isoliren
oder Nichtisoliren“ geführt wird, ist schon vor einem
halben Jahrhundert 30 Jahre hindurch in derselben
Weise über das Restraint oder No-restraint geführt
werden. Alle Gründe, welche damals für die Bei¬
behaltung des Restraints vorgebracht wurden, sie sind
jetzt, vielfach mit denselben Schlagworten, bei der
Vertheidigung der Isolirzellen wiedergekehrt. Es
wurde damals „vor jeder Einseitigkeit, vor allen Ex¬
tremen“ gewarnt, wie jetzt vor der „Schablone“
(Bleuler) gewarnt wird und von „Prinzipienreiterei“,
von „Uebertreibungen“, von „Extremen“, von „ex¬
tremen Zielen der Fanatiker“ oder „Fanatismus“*)
*) Herrn Jolly, von welchem die letzten Ausdrücke in
dem neuesten Jahrgang der Charit^-Annalen bei den Erläu¬
terungen zum Neubau der psychiatrischen und Nerven-Klinik
der KÖnigl. Charitö (Band 26, Seite 347, vergleiche diese
Wochenschrift, gd. IV, Nr. 1, S. io) gebraucht worden
sind, scheinen seine Ausführungen auf der Versammlung
deutscher Irrenärzte in Berlin, dass „das flir das neue
Jahrhundert ausgegebene Stichwort der zellenlosen Behandlung
als ein aussichtsvolles Verbesserungen in sich schliessendes, bezeich¬
net werden dürfe“, unter Hinweis darauf, dass trotz der
Schwierigkeiten, mit welchen Anfangs die Durchführung des
No-restraints zu kämpfen hatte, diese doch schliesslich ohne
Rest gelungen sei, schon leid zu thun, sonst würde er den
Ausdruck „Fanatiker“, mit dem ja auch die Anhänger des No-
restraints über 2 Jahrzehnte lang regalirt worden sind, nicht
gebraucht haben. Der Widerspruch ist um so grösser, als
Jolly selbst betont, dass er trotz der ungünstigen Verhältnisse
in der Charitd nunmehr durch systematische Einschränkung der
Isolirungen zu auffallend viel günstigeren Verhältnissen gekommen
sei, als sie früher bestanden und als er sie erwartet hatte. Die
mildernden Umstände, welche Herr Jolly so gütig sein will,
den „Fanatikern“ zuzubilligen, sind denselben wirklich nicht
von Nöthen und werden ebenso freundlich wie entschieden zu¬
rückgewiesen. Ich glaube, es werden kaum 10 Jahre ins Land
gehen, dass man den Spiers wird umdrehen können und in
der Lage sein wird, den Gegnern der zellenlosen Behänd-
Original from
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
gesprochen wird; strenge vernünftige Individualisirung
wurde damals beim Restraint empfohlen, wie sie jetzt
beim Isoliren empfohlen wird, ein „milder“ Restraint
wurde damals in vielen Fällen als Heilmittel, ja als
„Quelle des Comforts“ (s. Dick, Reiseskizzen a. a. O.)
gepriesen, wie jetzt vom „Comfort“ der Isolirzelle ge¬
sprochen und in manchen Fällen die Isolimng „in
therapeutischer Beziehung nützlich“ genannt wird; es
wurde die grosse Störung und die Belästigung der
anderen Kranken und der Wärter als die nothwen¬
dige Folge der Beseitigung des Zwanges hervorge¬
hoben, wie jetzt das gleiche Motiv gegen die zellen¬
lose Behandlung angeführt wird; es wurde von den
„rohen Wärterfäusten“ gesprochen, welche an die Stelle
des Restraint treten müssten, wie man jetzt das
Gleiche bei der Aufgabe der Isolirung prophezeit; es
wurden an die Anhänger des No-restraint zahlreiche
Fragen gestellt, wie sie in diesen und in jenen Fällen
ohne Zwangsmittel auskoinmen wollen (vgl. bcs. Guis-
lain: Le<;on orales sur les phrenopathics 1852, übers,
von Laehr 1854) resp. was sie in solchen Fällen zu
thun empfehlen (z. B. wenn ein Kranker sich immer¬
fort ausziehe oder alles zerreisse oder nicht im Bett
bleiben wolle), ebenso wie jetzt Neisser mich inter-
pellirt, was ich in den und den Fällen zu thun em¬
pfehle; und endlich wurde die ausserordentliche Kost¬
spieligkeit des No-restraint, die Benüthigung einer be¬
deutenden Vermehrung des Wartpersonals, des ärzt¬
lichen Personals etc. betont und die Frage als „reine
Kostenfrage“ bezeichnet, wie jetzt Mcrcklin und Sie¬
mens die zellenlose Behandlung vorwiegend eine
„Personal- und Geldfrage“ und eine „Geldfrage von
grosser Tragweite“ nennen. Es ist also alles schon
einmal dagewesen.
Und wie vor einigen Jahrzehnten das No-restraint
sich allem Hohn und allen Schmähungen, allen Ein¬
würfen und Bedenken gegenüber siegreich durchge¬
kämpft und die erbittertsten Gegner schliesslich zum
Schweigen gebracht oder in die eifrigsten Vorkämpfer
verwandelt hat, so wird auch in unseren Tagen die zellen-
luse Behandlung den endgültigen Sieg „ohne Rest“ davon¬
tragen und mit der durch die Thatsache bewiesenen
Macht seiner Zweckmässigkeit die Bedenken der bis¬
herigen Gegner verstummen machen. Allem An¬
schein nach wird das schneller gehen als mit dem
Siege des No-restraint. Mit dem Falle der Zelle,
lung mildernde Umstände bewilligen zu müssen, ebenso wie
Wcstphal auf der Jahresversammlung des Vereins deutscher
Irrenärzte i. J. 1879 mildernde Umstände für die anfänglich
fast allgemeine Opposition gegen das No-restraint bewilligte,
die er „als kein freundliches Blatt in der Geschichte der prac-
tischen Psychiatric“ bezeichncte.
welche ja weiter nichts ist als das letzte und am
längsten festgehaltene Beschränkungsmittel des Restraint,
das letzte Ueberbleibsel des alten Tollhauses, wird
das No-restraint-Systcm erst gänzlich vollendet sein.
Die historische Gerechtigkeit erfordert es, darauf
hinzuweisen, was jetzt anscheinend in Vergessenheit
gerathen ist, dass in England schon vor 50 Jahren
mit dem Restraint vielfach auch die Zellen abgeschafft
wurden, worauf schon Conolly hingedrungen zu haben
scheint. Dick berichtet in seinen obengenannten
Reiseskizzen (1853), dass auf der weiblichen Abthei¬
lung der Irrenanstalt Springfield mit 500 weiblichen
Kranken nicht nur alle Zwangsmittel verbannt, son¬
dern auch die Zellen völlig beseitigt waren; es be¬
fand sich zur Zeit seines Besuches nur eine einzige
Kranke in einer offenen Zelle. Dabei wird der wohl-
thuende Geist der Ruhe, des Friedens und der Ord¬
nung hervorgehoben, welcher in der Anstalt herrschte,
und der Verwunderung Ausdruck gegeben, dass dies
Alles trotz des geringen Wartpcrsonals (1 : 18) und
der wenigen (2) Aerzte möglich war. Auch scheint
die Bettbehandlung noch unbekannt gewesen zu sein.
Nur bei der Anstalt Devonshire wird erwähnt, dass in
ihr Director Ruckwill ebenso wie Guislain die Beobach¬
tung gemacht habe, dass durch somalische Erkran¬
kungen herbeigeführtes Bettliegen oft vom günstigsten
Einfluss auf das psychische Befinden sei (eine histo¬
risch recht bemerkenswerthe Notiz). — Auch in der
französischen Anstalt Mareville fand Dick zwar alle
Zellen beseitigt (und sie blieben es auch, wie spätere
Reiseberichte lehren), aber eine reichliche Anwendung
von Zwangsmitteln. Bei dieser Gelegenheit berichtet
Dick, dass nach Koster auch in Stephansfelde mit
der Scklusion gebrochen werden soll. Dass das Vor¬
gehen in Springsfield übrigens nicht vereinzelt war, zeigen
die Angaben von Ludwig Mayer in seinem Aufsatze:
„Die Abschaffung des No-restraint“ im 20. Bande der
Allg. Zcitschr. f. Psychiatrie (1863), die er auf Grund
eigener Informationen bei einer Reise durch englische
Irrenanstalten gemacht hat. „Die englischen Irren¬
anstalten“, sagt er, „gewähren zwar über dem 5. Theil
der Gesammtbcvölkerung die Wohlthat des Einzel-
schlaf/.immcrs, aber sie besitzen keine eigentlichen
Zellenahtheilungen, und kaum 2 von 20 einzelnen
Räumen sind zur Aufnahme Lärmender und Zer-
störungssüchtiger geeignet. Die Benutzung einer eigent¬
lichen Zelle ist aber eine ausserordentlich seltene, und
es ist mir nicht besser als den meisten Besuchern
englischer Anstalten gegangen, ich hatte keine Ge¬
legenheit, die Benutzung einer Polster zelle zu beobach¬
ten. Die Commissionars of lunaev fanden bei den
Besuchen sümmtlicher Grafschaftsanstalten mit einer
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
Bevölkerung von ca. 1300 Geisteskranken nur einen
derartigen Fall. Aber auch die Isolimng im gewöhn¬
lichen Schlafzimmer ist so selten, dass man geneigt
ist seinen eigenen Augen zu misstrauen. In 5 eng¬
lischen Irrenanstalten mit ca. 5700 Geisteskranken
fand ich in zweien gar keine und in den 3 übrigen 4
Kranke in ihren Schlafzimmern isolirt. Morel begeg¬
nete bei seinen Besuchen der englischen Irrenanstal¬
ten unter 5 — 6000 Irren nur 3 Fällen von Isolirung.
Die Commissionars of lunacy fanden nur in wenigen
Grafschafts-Asylen einzelne Kranke zur Zeit ihrer Be¬
suche isolirt. In fast allen Fällen erstreckte sich die
Isolirung auf wenige Stunden. In Suffolk wurde jeder
Kranke als isolirt betrachtet und demgemäss registrirt,
welcher auch nur 1 / 2 Stunde sich hinter der zuge¬
zogenen Thür seines Schlafzimmers befand, auch
wenn die Thür nicht abgeschlossen war. Isolirungen
von der Dauer eines Tages sind ganz aussergewöhn-
liche Vorkommnisse. Nur einmal im Verlauf eines
Jahres war die Zahl einer Woche erreicht worden.
In 4 Anstalten, Lincoln, Surrey, Sussex und Birming¬
ham (mit 2169 Geisteskranken), war innerhalb eines
Jahres und länger keine Isolirung vorgenommen wor¬
den. Kürzere freie »Zeiträume (Monate und Wochen)
kamen in zahlreichen Anstalten vor“. Das Urtheil
Griesingers, welcher die „Zellenpsychiatrie“ ebenso
verpönte wie das No-restraint, ist bekannt. Weniger
bekannt aber dürfte sein, dass Rust sich bereits i. J.
1831 in einem Gutachten über die Anlage von Mars¬
berg ganz entschieden gegen die Errichtung von
Zellen ausgesprochen hat: „Mit der Absicht für die
Tobsüchtigen einzelne Zellen anzulegen kann man
sich nicht einverstanden erklären, da letztere d i e
nothwendige Beaufsichtigung und Pflege,
deren die Tobsüchtigen im höchsten Grade
bedürfen, nicht gestatten. Es muss freilich
dem Ermessen des Arztes anheimgestellt bleiben, in¬
wiefern er in besonderen Fällen der einen oder der
anderen abgesonderten Zelle sich bedienen will, um
einen besonders widerspenstigen Kranken durch Ent¬
fernung aus der menschlichen Gesellschaft auf einige
Zeit zu bändigen. Aber als allgemeine Regel darf
es nicht gelten, jeden Tobsüchtigen völlig zu iso-
liren. Und da die Ausbrüche der Wuth oft lange
Zeit hinter einander fortdauern und nicht selten mit
schweren körperlichen Leiden vergesellschaftet sind,
so ergiebt sich hieraus ein Zustand, der die
ununterbrochene Gegenwart und Aufsicht
des Wärters dringend nothwendig macht.
Denn oft sind Fälle von Selbstmord in einsamen
Zellen vorgekommen, in denen der Kranke durchaus
nicht so gefesselt werden kann, dass er dadurch
völlig gehindert würde Hand an sich zu legen. Der¬
gleichen traurigen Ereignissen darf aber durch die bau¬
lichen Einrichtungen nicht Vorschub geleistet werden.
Es dürfte für die Marsberger Anstalt hinreichend sein,
2 Zellen für einzelne männliche und 1 Zelle für
weibliche Tobsüchtige, die übrigen zu Zellen be¬
stimmten Räume aber zu angemessenen Zimmern her¬
zurichten“ (Koster und Tigges: Die Irrenanstalt Mars¬
berg, Allg. Ztschr. f. Psych. Anhang zu Bd. 24, 1867,
S. 90).
M i t t h e i
— Norddeutscher psychiatrischer Verein.
Neunte Sitzung Montag, den 7. Juli 1902, Vormittags
11 Uhr im „Danziger Hof“ zu Danzig. Tages-Ord-
nung: Geschäftliche Mittheilungen. Vorträge und
Demonstrationen: 1. Die acute hailucinatorische Ver¬
wirrtheit als Initialstadium bei Melancholie. Dr. Glu-
zewski, I. Assistenzarzt in Conradstein. 2. Ueber
Gchirnsection, mit Demonstrationen. Dr. Wickel,
III. Arzt in Dziekanka. 3. Die Familienpflege Geistes¬
kranker bei der Provinzial-Irren-Anstalt Conradstein.
Dr. Neugcbauer, III. Oberarzt in Conradstein. 4. Die
neu errichtete Irrenabtheilung an der Strafanstalt zu
Graudenz. Dr. Sander-Graudenz. 5. Körperverletz¬
ungen, körperliche Misshandlungen als Ursache von
Geistesstörungen. Med.-Rath Dr. Krömer, Direktor
in Conradstein. Nach der Sitzung Diner mit Damen
im „Danziger Hof“ (Gedeck 3 M.), dann Fahrt nach
Zoppot. Um zahlreiche Betheiligung — auch der
Damen — wird gebeten. Die Geschäftsführer: Krömcr-
Conradstein, Siemens-Lauenburg.
1 u n g e n.
— Zur „Irrenftlrsorge“ in Tirol schreiben die
„Innsbrucker Nachrichten“ vom 14. Juni 1902:
Wie verlautet, besteht in der Landesirrenanstalt
in Hall eine Typhusepidemie. Wer die Verhältnisse
in dieser Anstalt kennt, den erfüllt eine solche Nach¬
richt mit ernster Besorgniss, wenn er bedenkt, welchen
Gefahren die Pfleglinge in einem solchen Falle in
einer Anstalt ausgesetzt sind, die aller Erfordernisse
einer entsprechenden Irren pflege entbehrt, im höch¬
sten Grade überfüllt ist und in welcher überdies
geeignete Räume für die abgesonderte Behandlung
von den mit ansteckenden Krankheiten Behafteten
nicht vorhanden sind.
Der Ausbruch der Epidemie giebt Anlass, die
Verhältnisse der Irrenpflege in Tirol neuerdings zu
besprechen und neuerdings den Versuch zu machen,
den mächtigen Kräften, die in diesem Lande daran
sind jede Neuerung und jeden Fortschritt zu unter¬
drücken, entgegenzutreten und sie zu erinnern, welche
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HARVARD UNIVERSITY
1902 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Schuld des verhängnisvollen Unterlassens sie unent¬
wegt auf sich laden.
Wir erinnern hiebei an die von massgebender
Seite nicht widerlegte Notiz in den Innsbrucker Nach¬
richten vom 3. December 1901, welche für den
Kundigen deutlich genug volle Aufklärung darüber
enthält, dass es mit der Irrenpflege in Tirol be¬
schämend schlecht steht. Wir halten uns für ver¬
pflichtet, nochmals öffentlich darauf hinzuweisen, dass
beide Irrenanstalten des Landes überfüllt sind und
dass sich in Folge dessen der Aufnahme der Anstalts¬
behandlung dringend bedürftiger Geisteskranker in
diese Anstalten immerwährend die grössten Schwierig¬
keiten entgegenstellen.
Ruhige und unruhige, reine und unreine, frische
und veraltete Fälle sind in der Irrenanstalt in Hall,
die unter den Anstalten Oesterreichs und Deutsch¬
lands weitaus die rückständigste ist, untereinander
untergebracht.
Von einer den unbedingten Erfordernissen der
Irienbehandlung Rechnung tragenden Trennung der
Kranken kann wegen Raummangels und der ungün¬
stigen Anlage der Anstalt keine Rede sein. Auf
mehreren Abtheilungen sind keine Ventilaiionsein-
richtungen vorhanden. In die Krankenräume dringt
Abortluft, das Aussehen der Räume erinnert an Ge¬
fängnisse schlimmster Sorte, wie man sie hierzulande
übrigens auch häufig genug antrifft. Die Abortan¬
lagen der Anstalt sind wahre Beispiele von Unzweck¬
mässigkeit und Unreinlicbkeit.
In der Anstalt, die für höchstens 2 50 Kranke
Raum hat, schwankt der Krankenstand um die Ziffer
3Ö0. Die für die Heilung der Kranken nach moder¬
nen Grundsätzen so unentbehrliche Bettbehandlung,
sowie die Behandlung mit Dauerbädern ist wegen
Raummangels und mangels an dem hiezu nothwendi-
gen Wärterpersonale undurchführbar, eine Wachab¬
theilung ist nicht vorhanden, die erforderliche Kranken¬
beobachtung kann nicht stattfinden, das Bad auf der
Männerabtheilung befindet sich in einem nahezu unbe¬
nutzbaren Zustande. Wegen Mangels an Räumen kön¬
nen Werkstätten zur Beschäftigung der Kranken nicht
hergestellt werden, dieselben können nur mit Feld¬
arbeit beschäftigt werden.
Die Bezahlung des Wartepersonales ist elend,
besser qualificirte Wärter sind daher fast gamicht zu
bekommen.
Es ist einleuchtend — und dies giebt uns die
Berechtigung, das Loos vieler in der Anstalt Aufge¬
nommener als ein verzweiflungsvoll entsetzliches zu
-bezeichnen —, dass bei derart traurigen, der ratio¬
nellen Irrrenpflege hohnsprechenden Zuständen von
einer eigentlichen Heilthätigkeit in der Anstalt keine
Rede sein kann, sondern im Gegentheile die der
Anstalt anvertrauten Kranken sogar in ihrer körper¬
lichen Gesundheit gefährdet werden. Wie soll unter
solchen Umständen den heilbaren Kranken die er¬
forderliche Ruhe geschaffen werden, wie sollen Schäd¬
lichkeiten von ihnen abgehalten werden, die Ursachen
ihrer Krankheit ermittelt und wirkungsvoll beseitigt
werden, w r enn die allernothwendigsten Voraussetzungen
L55
für ein derartiges wahrhaft segensreiches Wirken voll¬
ständig mangeln?
Man muss mit voller Resignation zu dem Schlüsse
kommen, dass die Heilaussichten in der Anstalt
gleich Null sind. Vielleicht ist auch dies noch zu
w f enig gesagt für diejenigen Maassgebenden, die sich
allen wohlgemeinten, tief empfundenen Vorstellungen
so ruhig und doch so verantwortungsvoll verschliessen
und gleichgiltig zusehen, wie die Anstalt nicht eine
Stätte des Trostes und der Heilung, sondern ein Haus
der Qual und der Verzweiflung ist.
Mit der Irrenpflege ausserhalb der Irrenanstalt
sieht es nicht besser aus. Von verlässlicher Seite
ist uns mitgetheilt worden, dass auch hinsichtlich
der Unterbringung Geisteskranker in Versorgungs-
häusem und Landspitälern geradezu grauenvolle Zu¬
stände herrschen. Häufig kommt es vor, dass Gei¬
steskranke in derartigen Anstalten im Keller oder in
kellerartigen, winzigen, finstern, feuchten und nicht
heizbaren Räumen, die sich entweder gar nicht lüften
lassen, oder die selbst im Winter nicht einmal gegen
das Eindringen von Kälte und Schnee geschützt sind,
gehalten werden. In unmittelbarer Nähe von Inns¬
bruck, unter den Augen der Bezirksbehörde kommen
solche Dinge vor. Wer hat es nicht schon gesehen,
in welchem schlechten Zustande sich die Gemeinde¬
armenhäuser gewöhnlich befinden, wie w*enig für
Ordnung und Reinlichkeit, geschweige denn Behag¬
lichkeit der Pfründner und Bresthaften gesorgt ist,
wie häufig aber auch in dieser Beziehung die gröbsten
Unterlassungen Vorkommen, wie Trunkenbolde die
Anstaltsruhe stören, wie arme Kinder, die in solcher
Stätte des Jammers auch aufgenommen werden, zu
Zuschauern des Anblickes all dieses Elends und der
Widerlichkeiten gemacht werden. Selbst der ruhigste
und unvoreingenommenste Beobachter all dieser Miss¬
stände der Armen Versorgung muss zu dem Urtheile
kommen: „Wehe dem Elenden, der der Armen Ver¬
sorgung der Gemeinden anheimfällt“. In verborgenen
Winkeln der Armenhäuser, wo man kaum das Vor¬
handensein eines Stalles vermuthen würde, findet
man dann noch schliesslich die Unterkunft eines
Geisteskranken, dessen Zustand der Verwahrlosung
jeder Beschreibung spottet. In Telfes, Matrei, Wattens
und Welschhofen sind allein vor nicht langer Zeit in
unmittelbarer Aufeinanderfolge solche Zustände auf¬
gedeckt worden.
Wird die elende Unterkunft solcher bedauems-
werther Geschöpfe, in dem sie vor Schmutz, Gestank
und Mangel jeder Pflege vergehen, nicht zufällig durch
eine Controlle von auswärts aufgedeckt, so denkt
niemand an die Beseitigung solcher Zustände, sondern
denjenigen, welchen unmittelbar die Sorge für das
Wohl solcher Kranken obliegt, bleibt nichts anderes
übrig, als nur dafür zu sorgen, dass Störungen der
Umgebung verhütet werden, weiter reicht ihre Für¬
sorge nicht Der schwere Vorwmrf der Vernach¬
lässigung der Pflege trifft in solchem Falle nicht so
sehr die mit der unmittelbaren Pflege Betrauten,
denn sie kommen thatsächlich bei dem Mangel jeglicher
Unterstützung von maassgebender Seite zu der Ueber-
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Original frnm
HARVARD UNiVERSlTY
156 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
zeugung, all das müsse so sein und könne nicht
anders sein.
Ganz nahe von Innsbruck ist es vor¬
gekommen, dass wegen Raummangels in
einer Anstalt, die zum Aufenthalte un¬
heilbarer, aus der Landesirrenanstalt
entlassener Geisteskranker bestimmt ist,
mehrere Geisteskranke in den Räumen
einer Ferien -Colo nie für Knaben, mitten
unter diesen untergebracht wurden.
Nicht um vieles besser steht es mit der Irren¬
pflege in Südtirol. Auch dort ist es wegen der steten
Ueberfüllung der Landesirrenanstalt in Pergine ge¬
bräuchlich, unheilbare Geisteskranke in ungeeigneten
Landspitälem unterzubringen, wo für Verpflegung
und Wartung der Kranken nicht annähernd ent¬
sprechend gesorgt ist. Eine derartige Anstalt ist das
Krankenhaus in Ala. Die Räume für die Geistes¬
kranken sind daselbst überfüllt, es fehlt an der ent¬
sprechenden Ueberwachung, nicht einmal ein Garten
ist vorhanden, in den die bedauemswerthen Kranken
im heissen Sommer zum Aufenthalt ins Freie gebracht
werden könnten. Im Spitale zu Transacqua kam es
vor, dass Geisteskranke, die in mangelhaft gelüfteten
und unreinen Räumen untergebracht waren, eines
geeigneten Wärterpersonals vollständig entbehrten.
Nochmals ergeht unter Vorbringung solcher That-
sachen an Alle jene, die in die Lage kommen können,
Einfluss auf die Beseitigung der geschilderten Zustände
zu nehmen, der dringende Ruf, sich dafür einzusetzen,
dass eine gründliche Besserung des Irrenwesens im
Lande herbeigeführt werde und nicht mit jenen, die
bisher dringende Mahnungen unberücksichtigt gelassen
haben, den Vorwurf über sich ergehen zu lassen,
gegenüber solchen Zuständen einen Gleiehmuth be¬
wahrt zu haben, der Allen, die das Herz auf dem
rechten Flecke haben, als Gefühllosigkeit erscheinen
muss.
Möge es gelingen, die Aufmerksamkeit der Behörde,
welcher die Aufsicht über die Irrenfürsorge obliegt,
zu erregen und so endlich die Widerstände an jener
Stelle zu überwinden, der die Behebung dieser mittel¬
alterlichen Zustände gesetzlich obliegt.
meiden. Niemand wird bestreiten, dass vielfach Unter¬
schiede zwischen den Anlagen bezw. Leistungen beider
Geschlechter bestehen. Der Vergleich fällt aber nicht
durchweg zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts
aus. Viele Bemerkungen in dem vorliegenden Buche
sind zu scharf, die Schilderungen betreffs der weib¬
lichen Gefühle und Betätigungen auf ethischem und
moralischem Gebiet sind mehrfach nicht richtig. Den
meisten Widerspruch erweckt der Ausdruck; „phy¬
siologischer Schwachsinn des Weibes“, denn der früh¬
zeitige geistige Verfall z. B. nach Wochenbetten oder
im Klimakterium gehört nicht zum durchschnittlichen
Entwicklungsgang der Frauen. Sind die von Möbius
geschilderten Veränderungen in diesem und jenem
Falle eingetreten, so sind sie Folgen abnormer äusserer
oder innerer Verhältnisse. Es handelt sich dann um
psychische Krankheit, um pathologische
Processe im Gehirn. Würde der Herr Verfasser
mehr berücksichtigen, dass psychische Krankheiten in
ihren leichten Formen recht oft verkannt werden,
was er doch an anderer Stelle selbst hervorgehoben
hat, würde er unbefangener, weniger pessimistisch
Umschau halten unter den gesunden, feinsinnigen
Frauen und den klugen Töchtern des Landes, er
würde sich von manchen Autosuggestionen frei machen,
die seine Feder bei diesem Büchlein geführt haben.
Ein alter Grieche hat einmal erklärt, das voll¬
ständige menschliche Individuum bestehe aus 2 Hälften,
der männlichen und der weiblichen. Diese Hälften
kommen getrennt zur Welt; sind sie reif, so suchen
sie sich. Haben sich die zu einander gehörigen
Hälften gefunden, so stellen sie erst ein Ganzes dar.
Bleiben wir doch als Vertreter der einen Hälfte
gerecht gegen die Repräsentanten der erfreulicher¬
weise vielfach anders gearteten Hälfte! Suchen wir
— jeder an seinem Theile — dahin zu wirken, dass
die Schwierigkeiten geringer werden, die sich der
Vereinigung für einander bestimmter Hälften in Folge
ungünstiger socialer Verhältnisse so oft cntgegcnstellen.
Dann werden unseren Mädchen und Frauen weniger
Wunden geschlagen werden im Kampf um’s Dasein.
Dann werden viele schwere und auch gar manche
leichte Krankheiten seltener werden!
G. Ilberg (Grossschweidnitz).
Referate.
-— Ueber den physiologischen Schwach¬
sinn des Weibes. Von P. J. Möbius. 4. Aufl.
Halle a. S. Carl Marhold. 1902.
Die Abhandlung hat in kurzer Zeit ihre vierte
Auflage erreicht, noch mehrere Auflagen werden dieser
folgen. Es ist dies ein erfreulicher Beweis dafür, dass
sich in unserer Zeit weite Kreise für mitten aus dem
Leben gegriffene psychologische Themata intercssircn.
Ich habe in dieser Wochenschrift die erste Auflage
ausführlich besprochen und habe mich seitdem
bei allen passenden Gelegenheiten bemüht, die Be¬
hauptungen des Herrn Verfassers im Einzelfall zu
prüfen. Und auch beim Durchlescn dieser vierten
Auflage habe ich gesucht Missverständnisse zu ver¬
Zur Denkschrift über die „Badische Irrenfürsorge.“
Die Verfasser der Denkschrift über die Badische Irren¬
fürsorge haben gegenüber der Besprechung Gaupp’s*)
darauf hingewiesen, dass er die Verhältnisse nicht
„aus eigenem Erleben“ kenne**). Dieser Einwand
veranlasst mich zu der Erklärung, dass die Darstellung
Gaupp’s den wirklichen Hergang der Dinge
vollkommen zutreffend wiedergegeb cn hat.
Die aktenmässigen Belege dafür sind in meinen Händen.
Ein nochmaliges Eingehen auf die jüngsten Aus¬
führungen der „Verfasser“ erscheint demnach völlig
zwecklos.
Heidelberg, 23. VI. 1902. E. Kraepelin.
*) Centralblatt f. Nervenheilkunde 1902, 147, S. 230.
**) Diese Wochenschrift 1902, 9, S. 104.
Für den redaktionellen Tliril \ erantwot tlich : Ubriaizt I>r. J . Frisier Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Mar hold in Halle a. S
Hcvncruann’sche Uuchdrnckcrei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgageben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Urhtspnnge (Altmark 1 Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitx (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 14. _ 5 - Juh- _ 1902.
Die ,,Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestallungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a.S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Der chirurgische Pavillon der öffentlichen Irrenanstalten des Seinedeparlement, im klinischen Styl. Von
Lucien Picqud (S. 157). — Eine Irrenanstalt in der Levante. Von Privatdocent Dr. W. Weygandt (Wllrzburg) (S. 162).
— Aphasie und Agraphie nach epileptischen Amälleu. Von Nervenarzt Dr. Stadelmann (S. 165). — Mittheilungen
(S. 170). — Referate (S. 171). — Personalnachrichten (S. 172).
Der chirurgische Pavillon
der öffentlichen Irrenanstalten des Seinedepartement, im klinischen Styl.
Von Lucien Picque\ chirurgischer Referent der öffentlichen Irrenanstalten.
jp^er Pavillon, welcher am 9. April 1901 eröffnet
wurde, unterscheidet sich von allen ähnlichen
Einrichtungen dadurch, dass er einzig und allein für
operative Chirurgie bestimmt und von den übrigen
Krankenstationen gänzlich getrennt ist. Diese völlige
Trennung, die sich sonst nicht in unsern Kranken¬
häusern findet, bietet aber derartige thatsächliche
Vortheile, dass man nicht nachdrücklich genug darauf
bestehen kann.
Man vermeidet durch eine derartige Trennung die
Gelegenheit zur Infection durch die Kranken und
ihre Familien, durch Wärter, die nur zu häufig und
trotz aller Abmahnungen von ihrem Krankendienst
zu Operationen kommen. Der Kranke wird auf einer
Tragbahre überführt und in derselben Weise nach
seiner früheren Station zurückgebracht, um dort seine
Reconvalescenz durchzumachen. Während des ganzen
Aufenthalts im Pavillon, der immer kurz sein soll,
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bleibt er zu Bett. Unter diesen Umständen ist die
Infectionsgefahr eine äusserst geringe.
Der Dienst des Personals in dem Operationspa¬
villon ist einzig darauf beschränkt und genau vorge¬
schrieben. Es beschäftigt sich nur mit Operationen
und der Wachbehandlung.
Indessen springen die Vortheile eines gesonderten
Operationspavillons hauptsächlich in Rücksicht auf
die Art der allgemeinen Construction, der Vertheilung
des Dienstes, dessen Anordnung und den dabei
wichtigen Gesichtspunkten ins Auge.
Allgemein gesagt muss in einem Krankenhaus¬
pavillon alles von dem Gesichtspunkt eines längeren
Aufenthaltes des Kranken und in Rücksichtnahme
auf sein Wohlbefinden, auf das er während dieser
Zeit Anspruch zu erheben berechtigt ist, eingerichtet
sein. Am meisten Platz ist den Krankensälen zu¬
gedacht. Ausserdem muss man auf die Anlage von
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HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wandelgängen, Ruhesälen, Aborten Bedacht nehmen, ich gehört, dass der Architect vor 20 Jahren im
Der allgemeine Krankendienst beansprucht dabei auch Hospital Richat den Operationssaal vergessen hatte,
viel Raum. Unter diesen Verhältnissen wird die Erst später ist er auf Antrag hier gebaut worden.
Ausübung der operativen Chirurgie immer zu kurz Die Nebenräume der Opcrationssäle sind bisweilen
kommen. Man lässt sich dazu verführen, mehr oder ungenügend: in einigen Krankenhäusern, an denen ich
weniger zu kleine oder schlecht gelegene Opcrations- gewesen bin, fehlen sie vollständig — im Hospital
sälc cinzurichten. Von einem meiner Gollegen- habe Richat, welches während 20 Jahren für eine Muster-
Pho)ogrjpti
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HARVARD UNIVERSITY
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
159
anstalt gegolten hat, sind sie zu eng und unbedingt ungen für einen Operationspavillon vollkommen anders,
zu weit vom Operationssaal entfernt gelegen. Sie be- Alles muss dort für einen chirurgischen Eingriff ein¬
finden sich in einem anderen Stockwerk und in gerichtet sein. Der Operationssaal, der dabei die
Räumen, die der Apotheke unterstehen. In einem Hauptsache ist, muss geräumig und gut gelegen sein,
ganz neuen Hospital hatte sie der Architect vergessen seine Nebenräume von geeigneter Grösse, dabei bequem
und mehr als einmal hat man von der Anlage eines vertheilt und zweckmässig gmppirt. Das Wohl des Kran -
Laboratoriums abgesehen, um an dessen Stelle Schwitz- ken, der während seines ganzen Aufenthaltes im Pavillon
bäder u. dergl. einzurichten. Nichts destoweniger zu Bett liegen muss, hängt in hohem Grade von den
muss man aber hervorheben, dass unsere Collegen aseptischen Massnahmen ab, die man gegen die In¬
sich trotz dessen Einrichtungen zu beschaffen gewusst fektion im Verlauf der Operationen, in den darauf
haben, die ihnen die Ausübung einer aseptischen folgenden Verbänden, gegen die Infection der Bett-
Chirurgie mit Sicherheit gestatteten. Aber wenn man Wäsche durch andere Kranke und umgekehrt gegen
Abb. 3.
nach dieser Richtung hin auch zu befriedigenden
Resultaten gekommen ist, so dürfte das für die Aus¬
übung von septischen Operationen nicht der Fall
sein. Um nur das Hospital Richat anzuführen, so
muss der Chirurg dort in einem Verbandzimmer ope-
riren. Die Nebenräume fehlen in diesem Kranken-
hause vollständig.
Das waren die — oft entschuldbaren — Mängel,
die man an den Krankenhäusern zu erheben hätte,
die in erster Linie für die Kranken gebaut werden
und nicht zu dem Zwecke, um dort Operationen vor¬
zunehmen.
In völligem Gegensatz hierzu liegen die Beding-
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Go. gle
die Infection des Kranken durch schlechte desinfi-
cirte Bettwäsche trifft.
Die Krankenzimmer sind nichts weiter als ein An¬
hängsel des Operationssaales anstatt dass sie den
Haupttheil des Baues einnehmen. Das sind die Be¬
dingungen, welche bei dem chirurgischen Pavillon
des klinischen Asyls ihre Verwirklichung gefunden
haben.
Aber noch mehr, cs ist je eine Station für septische
und aseptische Fälle eingerichtet, die, beide gleich
wichtig, völlig von einander getrennt sind. Man muss
den septischen Kranken dieselben Vortheile bieten
können wie den aseptischen, eine doppelte Einrichtung
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HARVARD UNIVERSUM
i6o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
ist daher, wie ich es oben auseinander gesetzt habe,
in jedem chirurgischen Krankenhause nothwendig,
hier, in diesem Pavillon, wie der unsrige ist, trat diese
Nothwendigkeit in die erste Reihe. Während man
zur Aufnahme in die Isolirpavillons unserer Hospitäler
nur aseptische Kranke zulässt, müssen wir im Gegen¬
satz beide Arten, inficirte und nicht inficirte Kranke
aufnehmen.
Das war die zweite Bedingung, die wir zu er¬
füllen hatten, sie hat uns natürlich auf das Lebhafteste
beschäftigt, denn es musste auf jeden Fall eine An¬
steckung der zweiten Gruppe durch die erste vermieden
werden und, um nach dieser Richtung hin die grösst-
möghehe Sicherheit zu haben, waren wir genöthigt,
unseren Eintheilungen einen luxuriösen Anschein zu
geben, indessen war diese Massnahme, welche unseren
Abb. 4.
feetionscinrichtung für die Wäsche und die Kleider
der Kranken). Auf diese Weise findet man die For¬
derung erfüllt:
Keine Ansteckung der Kranken durch Verband¬
stücke, Instrumente, Wärter und die Wäsche, keine
Infection der Wäsche durch Kranke. Wir sollten
zugleich auch die Einrichtung einer kleinen Entbindungs¬
anstalt im unteren Pavillon vorschen für diejenigen
Frauen, die — in übrigens wenig zahlreichen Fällen
— im Asyl niederkommen, doch hätten wir damit
keine Ursachen für eine Ansteckung schaffen können.
Wir haben diese Frage dadurch gelöst, dass wir eine
selbstständige Station, die im Favillon völlig getrennt
liegt und eigene Vorrichtungen für Wasser- und In¬
strumentesterilisation besitzt, geschaffen haben.
Seit einigen Jahren lässt es sich jeder Krankenhaus-
Abb. 4 a.
Pavillon von allen[ähnlichen Einrichtungen unterscheidet,
auf das Strengste geboten. Man hätte, wenn [man
es genau nimmt, 2 getrennte oder nur einfach neben
einander gestellte Pavillons bauen müssen. Es schien
mir aber wirthschaftlicher, daneben auch wissenschaft¬
licher und auch der modernen Lehre von der chirur¬
gischen Infection entsprechend in unserem Pavillon
die Trennung zwischen beiden Arten von Kranken
nicht durch eine solide Mauer herbeizuführen, sondern
jeder Art ein besonderes Personal und besonderes
Material anzuweisen. Daraus ergiebt sich als Folge
die Zweckmässigkeit der Einrichtung von 2 Operations¬
sälen mit getrennten Nebenräumen (Sterilisations-
zimmer für Wasser und Instrumente, Desinfections-
raum für Kranke und zur Vorbereitung von Ope¬
rationen, gesonderte Zimmer für die Kranken beider
Sorte, Verbandzimmer für aseptische Kranke, Desin¬
chirurg angelegen sein, das Verbandmaterial, dessen
er sich bedient, selbst zu sterilisiren, in diesem Falle
glaubten wir aus Rücksichten der Sicherheit und
Wirtschaftlichkeit auf diesen Vortheilen nicht bestehen
zu dürfen.
Da eine beträchtliche Menge von Verbandzeug
bei der Krankenbehandlung im Pavillon auch in allen
Irrenanstalten des Departements verbraucht wird, war
es nach unserer Ansicht unumgänglich nothwendig,
in dem Pavillon einen richtigen Verbandzeugdienst
einzurichten. Dazu gehört ein Raum, in dem das
Verbandzeug geschnitten wird, sich besondere Vor¬
richtungen zum Entfetten des Catjuts und zum Reinigen
der Seidenfäden befinden, ein Sterilisationszimmer
und ein bacteriologisches Laboratorium zur wissen¬
schaftlichen Controlle der sterilisirten Gegenstände.
Dieser Betrieb ist seit dem 8. Mai im Gange und
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
161
hat wirklich unerwartete Resultate zu Tage gefördert.
Mit einem geringen Personal (2 Personen) hat man
wahrend der ersten Monate bei regelmässiger Arbeit
wirklich ausserordentlichen Gewinn im Verhältniss zu
den Handelspreisen erzielt und gleich heim ersten
Einrichtungen für Verbandzeug. Im Souterrain (Abb. 1)
befinden sich der Apparat zur Wäschesterilisation,
das bacteriologische Laboratorium und die verschie¬
denen wissenschaftlichen Einrichtungen (für Radio¬
graphie, Histologie). Die erste Etage (Abb. 2) ist für
Abb. 6.
Male Producte erhalten, die sich bei der Prüfung in
Culturenbouillon andauernd als steril erwiesen haben.
Die verschiedenen Dienstzweige, wie ich sie eben
angeführt habe, sollten in dem Pavillon auf eine
regelmässige Methode vertheilt werden. Das Erdge¬
schoss (Abb. 3) umfasst die verschiedenen Arten des
Operationsdienstes; die Entbindungsanstalt und die
Kranke Vorbehalten. Ein medianer und vertikaler
Aufriss (4a) zeigt die beiden für septische und aseptische
Kranke bestimmten Theile des Pavillons. Das Studium
des beigefügten Planes wird besser als jede Be¬
schreibung Aufschluss über die Anordnung und Ver¬
keilung der beiden Dienstzweige geben.
Abb. 4, 5, 6 zeigen die Fa^aden des Pavillons.
-«
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HARVARD UNIVERSUM
IÖ2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 14.
Eine Irrenanstalt in der Levante.
Von Privatdocent Dr. IV. Weygandt (Würzburg).
\ nstaltsbeschreibungen haben in erster Linie dann
besonderen Werth, wenn man aus ihnen etwas
lernen kann, das sich auch für den Fall eines Neubaues
oder einer Neueinrichtung einer Anstalt an wenden
lässt. Immerhin ist es gelegentlich auch instructiv,
eine Anstalt zu sehen, die den modernen Anforde¬
rungen nicht entspricht und aus der man gewisser-
maassen lernen kann, wie man es nicht machen soll.
Schliesslich können manche Anstalten auch Einrich¬
tungen darbieten, die bei uns nicht angebracht wären,
aber unter den fremden Verhältnissen doch von einer
gewissen Berechtigung sind. Letztere zwei Gesichts¬
malitäten ab; zu jedem Schritt in der Türkei ist ja
der Teskere, der behördliche Erlaubnissschcin erfor¬
derlich. In der grossen hauptstädtischen Anstalt zu
Skutari wird deshalb auch der fachmännische Be¬
sucher von den Anstaltsärzten selbst höflich abge¬
wiesen, wenn er nicht eine durch verwickelte Laufe¬
reien bei Stadtverwaltung und Pforte, womöglich erst
nach Vermittelung durch seine Gesandtschaft oder das
Konsulat, ausgestellte Bescheinigung vorweist. Für
die meisten Fremden wird die Zeit indess zu kostbar
sein, als dass sie sich diesen Umständen aussetzen,
deren Erledigung bei dem türkischen Phlegma nur
Abb. 1.
punkte kommen in Betracht, wenn ich im Folgenden
kurz die Eindrücke eines Anstaltsbesuchs einer mässig
grossen Anstalt der asiatischen Türkei schildere.
Für eine Studienreise mit speciellem psychiatri¬
schem Programm ist der Orient keineswegs einladend.
Aber auch zu gelegentlichen Besuchen von Anstalten
wird man bei einer Orientreise nicht leicht kommen
wegen der mit dein Zutritt zu den Anstalten verbunde¬
nen Unbequemlichkeiten. Wo Europäer das Heft in
Händen haben, ist es einfacher; so lässt sich die
grosse Irrenanstalt bei Kairo oder die von einem
französischen Arzt geleitete Irrenabtheilung in Tunis
ohne Umstände besuchen. Unter unmittelbarer tür¬
kischer Herrschaft dagegen geht cs nicht ohne For-
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sehr stockend vor sich geht. Noch schwieriger, weil
mit religiösen Rücksichten verbunden, ist der Zutritt
zu den kleinen Irrenpflegestationen, welche nebst
anderen Wohlfahrtseinrichtungen, wie Armenhäusern,
Spitälern, Schulen in der Umgebung grosser Moscheen
von deren Stiftern mit eingerichtet worden sind, so
bei der bekannten Achmedmoschee in Konstantinopel.
Einfacher gestaltete sich hingegen in dem zu M a -
nissa bei Smvrna gelegenen Provinzialirrenhaus
(Timar hane oder Deli hane) ein Besuch, dessen
Eindrücke ich in Kürze skizziren möchte.
Die Stadt ist das alte Magnesia am Berge Sipylos.
Von Smvma aus ist sie leic ht zu erreichen (66 km)
mit der französischen Levantebahn, die sich hier
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
theilt in die Linie nach Afunkara hissar und die
nach Somah. Letztere ist die gewöhnliche Route
nach Pergamon, das ja immer mehr zum Wanderziel
deutscher Orientreisender wird. Auch für den Nicht¬
fachmann bietet das schön am Bergesfuss gelegene
Manissa mit seinen 60000 Einwohnern soviel, dass
sich ein kurzer Besuch lohnen würde.
Die Anstalt liegt im Bereich der Stadt. Nach
einigen Verhandlungen öffnet der Pförtner. Durch
einen Hof gelangen wir zum Bau der Männerab¬
theilung. Ein schweres Thor führt zur Vorhalle, die
sich mit 3 säulengetragenen Bogen nach dem Haupt¬
krankenraum öffnet. Vorhalle und Krankeruaum selbst
leinene Unterhosen. Manche laufen barfuss, andere
tragen leichte Pantoffeln. Es ist eine bunt gemischte
Gesellschaft, mancherlei Nationalitäten sind vertreten,
auch ein Neger ist darunter.
In der Mitte des Raumes steht ein achteckiges
Wasserbassin, das von den Kranken nicht weiter be¬
achtet wird. Nach unseren Begriffen wäre dieser
kleine Weiher wegen der Suicidgefahr ganz unzulässig.
Als ich nach Behandlung und Wartung fragte, setzte
man mir unter Verdolmetschung durch 2 junge, etwas
französisch sprechende Türken auseinander, dass nur
Vonnittags ein türkischer Arzt kurze Zeit die Anstalt
besuche, des Tags über aber in der Regel nicht ein-
Garten
Abtritt Bade raun
Krankenzimmer
Männer-
Wasser
Abteilung.
Gitter
Ökonomie
Gebäude
Vorhalle
Frauen
Abteilung .
Pförtner .
sind innen, wie Abbildung 1 zeigt, durch ein riesiges,
ziemlich enges Gitter, das bis in die obere Bogen¬
rundung hineinführt, streng getrennt. Das Ganze be¬
kommt dadurch gradezu einen menagerieartigen Ein¬
druck.
Der quadratische Hof hinter dem Gitter ist der
eigentliche Krankenraum. Das südliche Klima er¬
laubt ja einen fast ständigen Aufenthalt im Freien.
Etwa 20 Kranke stehen herum, meist an die Mauern
gelehnt, andere kauern auf Teppichen und Matten
an der Peripherie des Raumes. Die Patienten tragen,
wie Abbildung 2 zeigt, als Kleidung grosse, weisse,
recht schwere Kameelhaarmäntel mit weit abstehenden
Schultern und einer Kapuze, dazu ein weisses Käpp¬
chen aus demselben Stoff. Im Uebrigen haben sie
nur noch weissleinene Hemden, einige auch weite
mal das Pflegepersonal das Innere des Krankenraums,
jenen Käfig betrete. Die Bitte um Öffnung des¬
selben wurde abgelehnt, ich müsste mir dazu erst
von der Stadtverwaltung einen Erlaubnisschein holen.
An der dem Gitter gegenüberliegenden Wand
führt ein kleineres Thor zu mehreren engen Räum¬
lichkeiten, während an den Seitenwinden je 4 kleine
Thüren in die Krankenschlaf räume gehen. In dieser
Centrirung um einen leicht zu überblickenden Tag¬
raum ist eine gewisse Aehnlichkeit mit der Anord¬
nung der Wachabtheilungen nach Alt-Scherbitzer
System zu erkennen.
Der Rundgang um den Komplex der Männerab¬
theilung (vgl. die Planskizze, Figur 3) führt durch
einen etw'as verwahrlosten Garten, in dem ein langer
Schuppen die Oekonomiegebäude markirt und für
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104 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
Wirthschaftszwecke, Wäscherei, auch Hühnerzucht
dient. Durch die vergitterten Fenster des Männer¬
baues kann man in die einzelnen Krankenzellen, die
sich nach dem Mittelhof hin durch Thüren öffnen,
hineinsehen. 4 bis 6 Kranke haben in jedem Raum
Platz. Die Einrichtung ist höchst primitiv, sie be¬
schränkt sich eben gewöhnlich auf einige Matratzen,
ferner befindet sich in jedem Zimmer ein gitterum¬
schlossener Ofen und von der Decke hängt eine
Petroleumlampe herab. Nur hier und da sieht man
eine eiserne Bettstelle. Die Kranken kauern, soweit
sie sich nicht im Hof befinden, auf den Matratzen
oder an den Fenstern herum. Die Kammern der
dem Haupteingang gegenüberliegenden Flucht gehen
nicht direkt in den Mittelhof, sondern erst durch
einen Gang zu jenem Bogenthor. In einem der
Ziramerchen findet sich ein Pumpbrunnen, es dient
als Baderaum; öfter werden hier die Kranken ge-
doucht in der Weise, dass man sie anspritzt mit einem
nassen Reiserbesen, der aus einem stark riechenden
Strauch hergestellt ist. Ein primitiver Abtritt, ferner
ein Kleiderraum sind noch besonders abgetrennt.
Die Reinlichkeit ist im grossen Ganzen leidlich,
wenigstens für den, der im Orient schon unter nor¬
malen Verhältnissen seine europäischen Anforderungen
etwas herabzuschrauben gelernt hat. Die Zimmer-
chen selbst, auch der Centralhof, sind nicht ver¬
unreinigt, ganz vereinzelt nur konstatirt man an einer
Stelle einen üblen Geruch. Auch die paar Kleider
der Kranken sind ziemlich gut im Stand, weder Fetzen
noch Schmutzflecke sind mir aufgefallen. Ein Patient
hatte sich Fingerringe aus Tuchstückchen gemacht,
w'ie wir es bei unseren Manischen sehen.
Auffallen muss die grosse Ruhe, die in der ganzen
Abtheilung herrscht. Wohl kommen einige Kranke
heran und erbitten sich Cigaretten; einer schimpfte ein
wenig, die meisten aber verbringen in anergetischem
Blödsinn ihre Tage. Augenscheinlich drückt sich in
diesem Verhalten das bekannte Phlegma der Orien¬
talen aus. Ueber die Formen der Geistesstörungen
war bei dem kurzen Besuch, der mangelhaften Füh¬
rung und der Unmöglichkeit sprachlicher Verständi¬
gung — nur wenige Patienten sprachen ein paar
Brocken griechisch — kein Urtheil zu gewinnen.
Mit Ausnahme eines Kranken, der sehr hinfällig und
völlig aphasisch war, sah ich keinen moribunden noch
einen schwer erregten Fall. Wenn ein heftiger Er¬
regungszustand und Gewaltthätigkeit ausbricht, so wird
dagegen eingeschritten durch Fesselung und Beschwe¬
rung mit einer mächtigen Stelnkugel von etwa 1 ' 2
Centner, die dem Erregten mit Ketten ans Bein ge¬
bunden wird. „C’est pour les tres fous“, sagten
meine türkischen Begleiter.
Der Eintritt in die nebenanliegende Frauenab¬
theilung wurde, was man in Anbetracht der orienta¬
lischen Sitte im Voraus erwarten musste, streng ver¬
weigert; auch mit Bakschisch liess sich nicht dagegen
ankämpfen. Nur im Vorübergehen nahm man wahr,
dass es dort etwas lebhafter zuging und auch kräftig
geschrieen w r urde, vor allem rhythmisches Verbigeriren,
wie bei unseren Katatonikern, war unverkennbar.
Etwa 30 Insassen zählt die Frauenabtheilung,
während ungefähr 40 Männer verpflegt w-erden. Bei
dem geringen Comfort, der besonders hinsichtlich der
Schlafgelegenheit besteht, würde der Raum auch ohne
Umstände die Hälfte mehr Insassen fassen können.
Bodenmatratzen, die traurigen Wahrzeichen einer
überfüllten Klinik, gehören dort ja zum regulären
Mobiliar.
Es ist anzuerkennen, dass mit den einfachsten
Mitteln hier für eine nicht auf unserer Kulturstufe
stehende Bevölkerung Erträgliches geleistet wird. Vor
allem ist eine gewisse Reinlichkeit nicht zu übersehen.
Vor den Küchen- und Speisesaalfenstem einer italieni¬
schen Irrenklinik habe ich viel schlimmere Schmutz-
und Kehrichtanhäufungen getroffen, als in jenem pri¬
mitiven kleinasiatischen Pflegehaus. Allerdings wird
dessen Reinhaltung auch erleichtert durch den Mangel
an Mobiliar und vor allem durch den langen Aufent¬
halt der Kranken im Freien. Unsere Begriffe des
No-restraint oder gar des Opendoor-Systems haben
selbstverständlich hier noch keinen Eingang gefunden.
Die Ruhe mag, wie angedeutet, mit dem phlegma¬
tischen Temperament und der fatalistischen Lebens¬
anschauung der Orientalen Zusammenhängen.
Beachtenswerth ist die geringe Zahl der Insassen
für einen recht grossen Bezirk. Es fällt allerdings
der Alkohol als Krankheitsursache w r eg, aber der
Hauptgrund des geringen Andrangs in die Anstalt
liegt doch in der Weiträumigkeit der orientalischen
Verhältnisse und der geringen Bevülkerungsdichtigkeit,
die den einzelnen Irren seiner Umgebung weniger
störend und anstaltsbcdürftig werden lässt als bei uns,
wozu ferner als überführungshindemd noch die Trans-
portschw-ierigkeit hinzukommt. Vor allem die Minder¬
zahl geisteskranker Frauen in der Anstalt ist durch
das Frauenleben unter dem Islam leicht erklärlich,
der die Frauen schon in der Norm so gut wie internirt
hält.
Die geringe Zahl der Anstaltsplätzc im Verhältnis
zur Bevölkerungsmenge muss auch in Griechenland
ins Auge fallen, das mit seinen 2 A j 2 Millionen Ein¬
wohnern nur etwa den 6. Theil der Anstaltsplätze
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 165
1902.]
wie die Stadt Berlin besitzt. Doch sei an dieser Stelle
anerkannt, dass die neue Anstalt bei Athen, auf der
Strasse nach Eleusis kurz vor dem Daphnikloster,
den Anforderungen der modernen Psychiatrie fleissig
nachzukommen strebt. Selbst eine Gummizelle hatte
sie sich im übereifrigen Verfolgen* einer allerdings
bald wieder antiquirten Errungenschaft Westeuropa^
seiner Zeit bauen lassen. In dem nächstens eröflf-
neten Syngrion, einem von dem Banquier Syngros
gestifteten Pavillon, besitzt sie eine gradezu muster-
giltige Station; an Reinlichkeit und Verpflegung, täg¬
lich z. B. Fleisch, leistet sie jedenfalls mehr, als ihre
Patienten von Hause aus gewöhnt sind. Landwirt¬
schaftliche Beschäftigung wird angestrebt und von
mechanischem Zwang ist nicht die Rede. Letztere
Anschauungen sind den Türken noch völlig fremd,
doch ist aus der vorliegenden Skizze zu entnehmen,
dass sie von ihrem kulturellen Niveau aus auch in
einer Provinzialstadt 2. Ranges ihren Geisteskranken
entsprechende Unterkunft bieten.
Aphasie und Agraphie nach epileptischen Anfällen.
Von Dr . Stadelmann .
Aus Dr. Stadelmann’s Klinik für Nervenkranke in Würzburg.
|~^ie psychischen Störungen im Anschluss an einen
epileptischen Anfall sind in ihrem Auftreten
sehr verschieden je nach der Art der den Anfall be¬
dingenden Reizeinwirkungen und der individuellen
Anlage des Kranken. — Theilweiser oder ganzer
Ausfall einzelner psychischer Erscheinungen sowie
völlige Bewusstlosigkeit sind postepileptische Symptome.
So beobachteten Ormerod, Knapp u. a. nach epi¬
leptischen Anfällen völlige Taubheit bei negativem
Ohrenbefund; Rüssel, Bennett, Fere, Binswanger er¬
wähnen die Anosmie und Ageusie; Jackson, Gail,
Forbes-Winslow, Nasse, Hood, Bouillard, Ogle und
insbesondere Pick haben postepileptische Aphasien
beschrieben, die zum Th eil mit Worttaubheit einher¬
gingen. —
Petrina beobachtete motorische Aphasie mit Wort¬
blindheit. — Als Ursache dieser Erscheinungen
nimmt Bischoff als wahrscheinlich an, „dass es in epi¬
leptischen Anfällen sowohl zu diffusen, organischen
und leicht reparabeln Läsionen als auch zu nur
funktionellen Störungen in den Sprachcentren kommen
kann“; dabei stützt sich Bischoff auf die Thatsache, dass
man bei der Obduction Epileptischer häufig Herd-
erkrankungeh des Gehirnes findet, obwohl im Leben
kein Symptom davon da w r ar. Rasch vorübergehende
postepileptische Aphasien bezeichnet Rüssel-Reynolds
als Paralysen, die nur zufällig mit der Epilepsie zu¬
sammenfallen.
Todd, Robertson, Hughlings-Jackson nehmen an,
dass diese transitorischen Paralysen auf einer nervösen
Erschöpfung beruhen, die eine Folge der übermässigen
Anstrengung während des Anfalles, der Entladung
der Rindenzellen ist. Als Stütze für diese Annahme
der Ermattung der nervösen Centren und der dadurch be¬
dingten Sprachstörungen wird die Thatsache angegeben,
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dass der Patellarreflex einen Augenblick nach der
Attake verschwindet, wie von Fere, Westphal, Gowers,
Beevor berichtet wird.
Am eingehendsten hat Pick diese Frage behandelt,
der in der postepileptischen Aphasie das Symptom
einer Erschöpfung sieht, der eine Re-Evolution folgt
in der Form eines „gesetzmässigen Abklingens der
funktionellen Störung.“
Eines Falles von schweren nervösen Erschöpfungs¬
zuständen nach epileptischen Anfällen möchte ich
hier Erwähnung thun, unter denen eine Aphasie mit
Worttaubheit und Echolalie ein sehr bemerkenswerthes
Symptom ausmacht.
Ein 18 jähriger Mann litt seit Jahren an häufig
sich wiederholenden epileptischen Anfällen. Zumeist
äusserte sich der Anfall in der Weise, dass einer
vorausgegangenen Aura — Druckempfindung in der
Magengegend und aufsteigendes Gefühl — der Muskel¬
krampf folgte, der den Kranken in eine hockende
Stellung zwang „caput versus genua trahens.“ Der
Anfall dauerte 1—5 Minuten, wiederholte sich mitunter
einige Male hintereinander und trat mehrere Male
täglich auf. Nach den Anfällen bestand jedesmal
Sopor, aus dem der Kranke sich nur langsam erholte;
bei öfter sich wiederholenden Anfällen kam Patient
fast nicht aus diesem Stadium heraus. Amnesien
folgten jedes Mal auf einen Anfall, auch auf eine ein¬
fache (oben erwähnte) Aura ohne Anfall. Der Kranke
macht einen stupiden Eindruck; blödes Lächeln;
Zunge stark belegt; Verdauungsstörungen.
Die angestellten Beobachtungen erstrecken sich auf
10 Tage; ich gebe den Verlauf dieser 10 Tage nach
den hier interessirenden Einzelheiten aus der Kranken¬
geschichte wieder.
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i66
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 14
Am 13. XI. hätte Patient um 1 / 1 3 Uhr nachmittags,
, / 4 8 und 9 Uhr je einen Anfall, nach denen soporöser
Schlaf sich einstellte.
Der folgende Tag brachte 2 Anfälle um 8 / 4 10
und V * 12 Uhr. Schmerzen in den Zehen und den
Handgelenken. Druckempfindung auf der Stirne;
abends Dämmerzustand. Nach den Anfällen halluci-
nierte der Kranke, er hörte seine Mutter vor dem
Fenster sprechen.
15. Patient' schläft sehr unruhig und wälzt sich,
den Körper krampfhaft zusammenziehend, im Bett, ist
bewusstlos. Am Morgen kommt Patient aus seinem
Sopor; er hält den nachts bei ihm wachenden Wärter
für seinen Bruder. Auf die Frage, was ist das? indem
ich auf das vor ihm liegende Taschentuch deute,
schweigt der Patient und schaut mich blöd an,
„Ist es eine Kravatte?“
„Kravatte“ sagt er nach einigen Secunden eintönig
nach; — Verlangsamung der Wortklangperception und
Echolalie.
„Ist es ein Taschentuch“ ?
„Taschentuch“ spricht er* nach;
„Ist es ein Strumpf“?
„Strumpf“ sagt Patient nach.
„Was ist es?“
Nach mehreren Sekunden: „Taschentuch.“
Das Wort „Taschentuch“ konnte Patient jetzt
finden , nachdem kurz vorher das Klangbild dipses
Wortes von ihm gehört wurde. Eine Tasse Cacao
bezeichnet Patient auf Befragen als Butter. Nachdem
der Kranke den Cacao getrunken hatte, giebt er, be¬
fragt, was er getrunken habe, wieder an: „Butter.“
„In welcher Stadt bist du?“
„In Würzburg.“
„In welchem Haus?“
Patient schaut auf die Decke des Zimmers und
im Zimmer herum und schweigt.
„Wem gehört dieses Haus, in dem du bist?“
„Dem Herrn“ sagt er und deutet äuf mich.
„Wer bin ich?“
Keine Antwort.
Auf Vorsagen sagt er „Doctor“ nach.
„Bin ich der Herr Pfarrer?“
„Pfarrer.“
„Bin ich der Herr Doctor?“
„Doctor.“
Während einer Pause spricht der Kranke viel für
sich, er erzählt von seiner Familie.
Man zeigt dem Patienten Milch in einer Tasse
und fragt ihn: „Was ist das?“
Patient schweigt.
„Das musst du trinken.“
„Musst du trinken,“ spricht er nach.
„Ist es Kaffee?“
„Nein.“
Er versucht davon.
„Das ist Bier.“
„Das ist Bier“ spricht der Kranke nach.
Ich halte einen Bleistift vor und frage:
„Was ist das ?“
„Da schreibt man mit.“
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Das Wort „Bleistift“ findet er nicht. Bei anderen
Gegenständen verhält sich Patient ebenso.
Ich halte Bleistift und Federhalter vor. Auf den
Bleistift deutend:
„Ist das ein Bleistift ?“
„Bleistift“
Auf die Feder deutend:
„Ist das eine Feder?“
Keine Antwort.
Wenn ich Bleistift und Federhalter Vorhalte, kann
Patient auf Aufforderung hin dieselben nicht richtig
auseinanderhalten; er ist ärgerlich darüber, dass er
„das Zeug nicht weiss“; er deutet auf andere Gegen¬
stände und sagt: „das weiss ich auch nicht.“
Nachmittags */ 4 3 Uhr der erste Anfall dieses
Tages, der leichter war als die gestrigen. Nach dem
Anfalle ist Patient etwas erregt, deutet auf die Thüre
und die verschiedensten Gegenstände im Zimmer,
fragt seine Umgebung, was das sei, er habe es früher
gewusst, jetzt wisse er es nicht mehr. Wird ihm die
richtige Antwort zu theil, so vergisst er dieselbe
gleich wieder und fragt von neuem. Auf sein Bett
deutend, erkundigt er sich, wie das heisse; man sagt
ihm: „worin man schläft.“
„Jetzt weiss ich es, im Bett.“
Patient sieht eine Taschenuhr und fragt:
„Ist das ein Licht ?“
Den Ofen beschaut er und fragt:
„Ist das ein Acker?“
„Ich bin so unten her“ sagt der Kranke tagsüber
oft; er ist nicht orientirt über die wirkliche Lage
seines Körpers, er hat eine falsche Vorstellung seiner
Körperlage im Raume. Auch fehlt ihm die Orientiert-
heit in der Zeit; als er hörte, dass es Abend sei,
sagte er: „Ach Gott, es war doch erst Morgen.“
Heute nachmittags wiederhole ich eine Frage,
welche ich schon vormittags gestellt hatte:
„Wer bin ich?“
„Der liebe Gott.“
Als man ihm sagte, der Herr Doctor ist es, wieder¬
holte er:
„Der Herr Doctor.“
Abends leichter Anfall.
16. Nachts im Halbschlafe krampfhaftes Herum¬
wälzen im Bett Beim Erwachen morgens constatirt
Patient, dass es regnet Morgens leichter Anfall.
Patient erinnert sich nicht daran, dass er gestern
abends im Bad war. Eine Stunde nach dem Anfalle
besuche ich den Kranken, der mich heute nicht er¬
kennt, obwohl er sich vorher mehrere Male erkundigt
hatte, ob ich nicht bald zu ihm komme. Ich exa-
minire ihn wieder:
„In welchem Monate leben wir?“
„Donnerstag.“
Der Kranke spricht das ganze Vaterunser ex memoria
vor; ebenso die Zahlenreihe von 1—30. Kleine
Rechenexempel löst er gut.
Es wird ihm ein Schirm gezeigt
„Was ist das?“
„Das macht man auf, wenn der Wind geht.“
„Ist es ein Stiefel?“
„Stiefel; Licht.“
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE; WOCHENSCHRIFT. 167
„Ist es ein Regenschirm?“
„Ja, ja, ein Regenschirm, den macht man auf,
wenn es regnet.“
„Ist es ein Stuhl?“
„Schirm, Schirm!“
Ein Stück weisses Papier bezeichnet er als Wasser ;
Schirm verwechselt er wieder mit Licht, vielleicht spielt
hier bei der Paraphasie der gleiche Vokal eine Rolle,
der ihm für Papier Wasser sagen lässt und für Schirm
Licht. Man hält ihm Blumen vor und fragt ihn:
„Was ist das ?“
„Schöne . . . Strumpf.“
Man fragt ihn:
„Sind es Trauben? Fische? Aepfel ? Blumen?“
Sofort fällt er ein:
„Blumen, schone Blumen.“
Nach l j i Stunde hält man dem Kranken noch¬
mals die gleichen Blumen vor mit der Frage:
„Was ist das?“
„Das ist ein Strumpf.“
Das spontane Singen und Pfeifen ist sehr gut.
Der Kranke singt viele Volkslieder nach Melodie und
Inhalt richtig.
17. Nachts ruhiger Schlaf. Morgens 7 Uhr Anfall;
y 4 12 mittags Anfall. Tagsüber viel Müdigkeit.
Wörter, die Patient in den vergangenen Tagen öfter
gehört hat, sind ihm heute geläufig zur richtigen
Bezeichnung von Gegenständen.
Wenn ich einen Gegenstand, z. B. einen Knopf,
zeige und frage, was ist das ? Ist noch so etwas im
Zimmer ?, so kann der Kranke das Wort Knopf nicht
aussprechen, deutet jedoch genau und rasch nach
anderen vorhandenen Knöpfen. Ich zeige einen Löffel
und frage:
„Was ist das ?“ er bezeichnet es als Brot; die
Function des Löffels kennt er; unter vorgeschriebenen
Wörtern findet er richtig das Wort „Löffel* 1 heraus,
spricht aber „Böffel“ aus, so dass er zweifelt, ob das
von ihm richtig als „Löffel bezeichnete“ Wort wirklich
das richtige ist; schliesslich erkennt er es deutlich als
richtig.
Wird ein Gegenstand vorgehalten, so kann er das
denselben bezeichnende Wort unter mehreren vorge-
schricbenen Wörtern angeben.
18. Unruhige Nacht. 11 Uhr vormittags Anfall
von 1 Minute Dauer.
19. 8 / 4 5 Uhr morgens Anfall, der schwer war und
10 Minuten anhielt; darnach Sopor. */, 12 Anfall von
einer Minute Dauer. Einzelne Buchstaben giebt
Patient richtig an; wird er aufgefordert, unter mehreren
Buchstaben einen bestimmten zu bezeichnen, so braucht
er sehr lange Zeit dazu, erkennt aber die ihm ange¬
gebenen Buchstaben richtig.
Aufgefordert das Wort „Messer“ zu schreiben,
macht er den Buchstaben M nur zu 2 Dritttheilen;
soll er gleich darauf das Wort „Löffel“ schreiben, so
beginnt er wieder mit dem ersten Zug des M und
fährt dann weiter „lebel“ zu schreiben, dann „Bebel“.
Ejt liest auch das von ihm geschriebene Wort Bebel,
das Löffel heissen sollte, als Bebel und buchstabiert
auch Bebel. Schreibe ich ihm: „Löffel“ vor, so er-
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kennt er es als „Löffel“. Abschreiben, von Gedrucktem
sowie Geschriebenem bringt Patient sehr gut zustande.
20. 8 Uhr 1 Anfall von 1 l / t Minuten Dauer.
Vormittags: Ich zeige einen Schlüssel.
„Was ist das?“
Patient schaut sofort auf das Thürschloss und
dann wieder auf den Schlüssel abwechselnd.
„Aufschliessen, Schlosser“ sagt er; nach längerem
Betrachten und Befühlen sagt er:
„Schlüssel“. . j
Eine ihm vorgehaltene und von ihm befühlte
Scheere bezeichnet er als „Schlüssel, Aufschliesser“. -
2 Uhr Nachmittags Anfall von 1 Minute Dauer,
Abends 1,25 gr. Bromsalz.
2 ij. Morgens 8 Uhr 1 Anfall von 1 Minute Dauer.
3 gr. Bromsalz. Prüfung mit Farbentäfelchen, die
nach einander vorgelegt werden:
Roth wird bezeichnet als roth,
dunkelgrün — gelb (nach längerem, wiederholten
Fragen) — grün,
blau — schwarz,
gelb — (nach langer Zeit) weiss,
hellgrün — (da keine Antwort erfolgt, wird vorge¬
sprochen: blau) — blau;
auf vorsagen „grün“, antwortet er „grün“; auf die
Frage: „ist es wirklich grün ?“ entgegnet er; „nein, es
ist roth“, schüttelt aber dabei mit dem Kopfe.
Es werden alle 5 Farbentäfeichen vorgelegt. Er
giebt auf Verlangen roth. sofort, ebenso blau und
hellgrün, beim Verlangen gelb greift er sofort nach
dunkelgrün, was er auch bei dem vorigen Farben ver¬
such als gelb bezeichnet hatte; gelb bleibt übrig, er
weiss nicht zu sagen, was es ist.
Ich lege Bildchen vor:
Apfel — er sagt Apfel,
Kamm — „ich weiss das Zeug alles nimmer“: er
deutet es jedoch an, indem er mit gespreizten
Fingern durch die Haare streicht.
Uhr — (nach 1 Minute) Uhr, aber keine richtige.
Vogel (Rothkehlchen) — er deutet in den Garten nach
den Bäumen; ich sage „Fuchs“; „nein“ erwidert
er; ich frage wieder, was es sei, er antwortet
„Fuchs“.
Goldfisch — ich sage ihm vor „Katze“; „nein es ist
im Wasser, aber ich weiss nicht, wie es heisst“ |
ich: „es ist ein Fisch“. „Fisch, Fisch“; er bleibt
dabei, es ist ein Fisch.
Hahn — „das ist aber kein richtiger; der kann nicht
schreien, der ist nur darauf gemacht“; ich: „es
ist ein Storch“, er: „Storch“; ich: „es ist ein Hahn,
ein Göcker“; er: „ein Göckerhahn“; er entscheidet
sich schliesslich für den „Göcker“.
3 Tannenbäume — er schaut gleich zum Garten hin¬
aus. und deutet mit dem Finger: „da draussen
stehen sie“; ich: „ein Apfelbaum“; er: „ein Baum,
kein Apfelbaum, ein anderer Baum, es sind 3
Apfel, es sind 3 Bäume.“
Nachmittags 1 Anfall von */, Minute Dauer. Abends
3 gr. Bromsalz.
22. Ziemlich ruhige Nacht; unverständliches
Sprechen im Schlafe.
Farbenprüfung:
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
i68 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
Blau — er besinnt sich lange: „weiss, bald schwarz“;
die Bettdecke erkennt er als weiss.
Roth — roth, er ist jedoch seiner Sache nicht sicher.
Gelb — er schweigt.
Dunkelgrün — „das ist doch nicht gelb“; ich: „grün“,
er nickt und sagt: „so habe ich sagen wollen“; nach
1 Minute wieder gefragt: „welche Farbe ist es?“ sagt
er : „gelb“.
„Gieb mir die blaue Farbe“ — er giebt dunkelgrün,
die rothe — roth,
hellgrün — hellgrün,
gelbe — dunkelgrün; später die gelbe,
blaue — blau; zieht jedoch das Farbcntäfelchen
wieder zurück und giebt hellgrün.
Ich halte das Bildchen vor, das einen Fisch dar¬
stellt: „die sind im Wasser.“
Hahn — „solche haben die Leut“; ich: „Es ist ein
Storch“; er: „Storch“; ich: „ein Göcker“; er bleibt
bei dem Worte „Göcker“.
Werden Bildchen als Duplikate vorgelegt, so legt
er rasch und richtig die gleichen zu einander.
Nach einer Aura ohne Anfall Vergessen der Be¬
zeichnung der einzelnen Bildchen, die er vorher be¬
nannte „jetzt kenne ich das Zeug wieder nicht mehr.“
Der Kranke liest langsam, jedoch korrekt einige
Worte aus einem Buche vor; er buchstabiert dieselben
korrekt und schreibt sie richtig, jedoch sehr langsam.
Nachmittags 2 Uhr 1 Anfall */ 2 Minute lang.
23. 3 / 4 11 Uhr vormittags 1 Anfall 1 Minute lang;
Schaum auf den Lippen.
Vor dem Anfalle zeige ich eine Uhr und frage:
„was ist das?“ Er weiss anfänglich nichts zu sagen;
nach einiger Zeit: „wie viel Uhr?“ in der stereotypen
gcwohnheitsmässigen Redensart findet er das Wort
„Uhr“. Einige Zeit nach dem Anfalle frage ich den
Kranken: „Was ist das, das heult und pfeift und den
Hut vom Kopfe rcisst?“ Patient schweigt. Ich blase;
er sagt: „Wasser“. Ich sage ihm „es ist der Wind“.
„Ja, wenn cs heult und recht kalt ist und da geht
ein rechter Wind“, dabei imitiert er blasend den
Wind.
Ich: „wenn man recht brav und fromm ist, kommt
man in die Hölle!“ Er: „nein, nein, nicht in die
Hölle“, er ist jedoch nicht im Stande, das Wort
„Himmel“ zu finden. „Nein“, fährt er fort, da kommt
man doch hinauf zum lieben Gott.“
Ich: „Wie heisst das?“
Er: „Man kommt in die Sonne.“
Ich: „Wenn man recht böse ist, kommt man in
den Himmel.“
Er: „Da kommt man in die Hölle.“
Nun wiederhole ich den Satz: „Wenn man recht
brav und fromm ist, kommt man in die Hölle.“ Patient
kann auch jetzt, obwohl er das Wort Himmel kurz
vorher von mir gehört hat, dasselbe nicht aussprechen ;
er sagt: „man kommt zum lieben Gott; früher habe
ich es gewusst, wie cs heisst.“ —
Dieser epileptische Kranke hatte Sinnestäuschungen
(Gehürshallucinationen, Gesichtsillusionen), war nicht
orientiert in Raum und Zeit und hatte Vergessenheit
Digitized by Google
nach seinen ziemlich häufig wiederkehrenden An¬
fällen; kaum hatte sich der Kranke von einem Er¬
schöpfungszustände, der die Folge der Anfälle war,
erholt, bekam er wieder einen neuen Anfall, der wieder
neue Erschöpfungen brachte; so wurde Patient schwer
besinnlich für Dinge sowohl, die in seiner Erinnerung
weiter zurück lagen als auch für solche, mit welchen
sich sein augenblickliches Gedächtniss zu beschäftigen
hatte.
Die verschiedenen postepileptischen psychischen
Störungen wechselten je nach dem Befinden.
Bei seiner Aphasie hatte Patient gleich nach seinem
Anfalle anfänglich Sopor mit völligem Mutismus; hier¬
auf Echolalie bei verlangsamter Wortklangpcrception
ohne Wortverständniss; zuletzt Wortverständniss (Pa¬
tient idendifiziert bei einem vorgesprochenen Worte
dasselbe mit dem räumlichen Gegenstände), w r enn auch
der Kranke das einen Gegenstand bezeichnende Wort
noch nicht spontan finden kann und paraphasisch
spricht; die Wörter, welche Gegenstände bezeichnen,
kann Patient spontan aussprechen, jedoch die Gegen¬
stände selbst nicht in Beziehung bringen zu dem Be¬
griff, der diesen Gegenständen entspricht, und kann
sie nicht sprachlich mit dem sie deckenden Worte
benennen.
Die Assoziationen der durch den augenblicklichen
(optischen) Empfindungsreiz erzeugten Vorstellung
zum begrifflichen Erinnerungsbild dieses (optischen)
Eindruckes sind funktionell geschwächt. So fehlt die
richtige Anwcndungsw-cisc der Wörter für Sinne.sein-
driieke; erst unterstützt durch das Schriftbild oder
das Klangbild (eine Gcschmackserinnerung genügte
nicht) oder auch durch das Nennen der einem Ge¬
genstand zukommenden Funktion kann Patient mit
Wortverständniss die Gegenstände richtig bezeichnen.
Der Kranke ist sich in diesem letzten Stadium be¬
wusst, dass er falsche Worte ausspricht, er wird sogar
ärgerlich darüber und beklagt sich, weil er es doch
früher gewusst habe; allerdings lässt sich der Kranke
leicht wieder irre machen; seine Erinnerungsbilder
haben noch nicht die Kraft, unrichtigen Einwänden
in richtiger Weise gegenüberzutreten.
Die Re-Evolution (die Wiederherstellung der psy¬
chischen Funktion) nach dem epileptischen Sopor ging
in regelmässiger sich lösender Weise vor sich, ähnlich
wie in dem Falle, den Pick im Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten ausführlich beschrieben hat.
Die Aphasie erstrec kt sich auf Bezeichnung von
Gegenständen, die Patient ihrer Funktion nach wohl
kennt; diese Funktion kann er sprachlich bezeichnen,
wie ihm auch einfache Redensarten geläufig sind, so-
Original from
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 169
wie das Hersagen von früher auswendig gelernten
Liedern, die er auch melodisch singt und pfeift
Die Benennung der vorgelegten Farbentäfelchen
fällt fast bei jeder Prüfung negativ aus. Ob der Kranke
vor Beginn seiner Krankheit die Fähigkeit besass,
hierin richtig zu erkennen und benennen, ist mir nicht
bekannt.
Das weiter hierüber angestellte Examen deutet je¬
doch darauf hin, dass die durch die Gehirnerschöpf¬
ung hervorgebrachte Aphasie (mit Worttaubheit und
Echolalie) Ursache ist an der unrichtigen sprachlichen
Bezeichnung der vorgelegten Farben.
Ganz ähnlich wie mit der Aphasie, verhält es sich
bei diesem Kranken mit der Agraphie.
Der Kranke soll ein vorgesprochenes Wort schreiben,
er schreibt, wie er auch spricht, langsam und schwer¬
fällig; er beginnt mit dem ersten Buchstaben des
Wortes richtig, macht ihn aber nur zu */ 8 fertig, er
zweifelt, ob er richtig geschrieben hat. Soll er gleich
nach diesem ersten Worte ein zweites schreiben, dann
fängt er wieder mit dem Zug an, mit dem er das
erste Wort angefangen hatte; hierauf Paragraphie, die
Patient als solche erkennt, wie das Lesen und Buch¬
stabieren seines geschriebenen Wortes bekundet sowie
die Beobachtung, dass er das vorgesprochene Wort,
wie es geschrieben sein soll, unter verschiedenen vor¬
geschriebenen Wörtern richtig herausfindet; der Kranke
sieht seinen paragraphischen Irrthum mit dem Aus¬
druck des Unwillens über diese Thatsache ein.
Das Abschreiben gelingt dem Kranken so gut, wie
auch das Nachsprechen von Wörtern und Sätzen.
Diese partielle Aphasie und Agraphie, die der Pa¬
tient infolge seiner epileptischen Anfälle daibot, be¬
ruhte aller Wahrscheinlichkeit nach auf Erschöpfungen
der Rindenzellen.
Die Re-Evolution der psychischen Symptome spricht
dafür, wenn dieselbe auch öfter nicht vollständig sein
konnte wegen der Häufigkeit der Anfälle, die immer
wieder neue psychische Erschöpfungszustände brachten
und mit denselben die Amnesien. —
Im nachfolgenden Falle könnte man an organische
Läsionen im Gehirn nach den epileptischen Anfällen
denken, da die Schreibstörung noch 1 Jahr lang,
nachdem gar keine epileptischen Anfälle mehr vor¬
handen waren, andauerte.
Die funktionellen Störungen der Gehirnzellen je¬
doch können bekanntermaassen sehr lange Zeit bestehen,
indem aus der pathologischen Funktion eine Gewohn¬
heit wird, und es wäre aus diesem Grunde keine An¬
nahme für eine organische Gehimläsion.
Ein iojähriges Mädchen stammte von einem Vater,
der mehrere Schlaganfälle hatte und nach denselben
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Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen in den
Extremitäten, und von einer Mutter, die in der Ehe
mit dem Vater dieses Mädchens mehrere Male abor¬
tiert hatte und von den 5 am Leben gebliebenen
Kindern ein völlig idiotisches zur Welt brachte, das
im 7. Lebensjahre starb, und ein hochgradig nervöses
Kind. Das Mädchen selbst hatte zur ersten Zahn¬
zeit schwere Zahnkrämpfe durchzumachen; im 4. Le¬
bensjahre traten vereinzelt epileptische Krämpfe auf,
bis im 8. Lebensjahre die Krämpfe an Häufigkeit
und Intensität immer mehr Zunahmen. Schwere Er¬
schöpfungszustände folgten den Anfällen; die Kranke
konnte nicht mehr gehen, sie hatte eine schlaffe
Lähmung der Extremitäten und war auch sprach¬
motorisch gelähmt. Sie verstand stets, wenn man
zu ihr sprach, aber sie konnte nicht antworten;
die Kniereflexe waren stark herabgesetzt. Dieser Zu¬
stand dauerte Monate lang. Die Anfälle sistierten.
Dann erst erholte sich die Kranke von selbst wieder,
begann, wenn auch schwerfällig und unbeholfen, Geh¬
versuche zu machen und zu sprechen. Nachdem
ein Jahr lang sich kein Anfall mehr eingestellt hatte,
die Kranke wieder gehen und sprechen gelernt hatte,
und die Zeit herannahte, dass sie wieder zur Schule
geschickt werden sollte, wurde sie von mir einer
Prüfung hinsichtlich ihrer Schreibfähigkeit unterzogen.
Es ergab sich folgendes Resultat:
Vorgesprochene Wörter kann Patientin schreiben,
wenn sie dieselben früher schon häufig geschrieben
hatte und ihr dieselben deshalb geläufig in der Er¬
innerung sind. Wörter, die sie früher noch nicht
oder nicht oft geschrieben hatte, schreibt sie nur,
w'enn sie das Schriftbild oder das gedruckte Wort¬
bild gesehen hat.
Beim Vorzeigen von Gegenständen, um das die¬
selben bezeichnende Wort zu schreiben (ohne Unter¬
stützung des Klangbildes) verhält sich Patientin agra-
phisch, wenn es nicht wieder ein Wort ist, das ihr
von früher her sehr geläufig w*ar.
Angefangene Wörter ergänzen lassen mit Unter¬
stützung des vollständigen Klangbildes:
Weing .
. . wird zu Weinglas ergänzt,
Zan . .
. . zu Zange,
St . . .
. . agraphisches Verhalten,
Sta . .
. . agraphisches Verhalten,
Stach
, . zu Stachelbeere;
ohne Unterstützung des Wortklanggebildes:
Patientin ergänzt in gleicher Weise wie vorher:
es wurden in beiden Fällen Wörter gewühlt, denen
gegenüber sie sich vorher agraphiseh verhielt.
Das Abschreiben von Wörtern, die mit deutschen
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
170
Buchstaben geschrieben oder gedruckt sind, gelingt
sehr gut.
Bei lateinischen Buchstaben etwas langsam, da¬
bei zeichnet sie mehr ab und kommt so zu einer
scheinbaren Paragraphie. Der jugendlichen Patientin
sind lateinische Buchstaben nicht geläufig genug; es
hat das mit der partiellen Agraphie nichts zu thun.
Beim Diktatschreiben lässt sie die Wörter, die ihr
nicht geläufig sind, aus; sie kann sie nicht schreiben.
Man dictiert: „die Gewichte machen, dass das Räder¬
werk geht.“ Sie schreibt: „Die machen, dass das
geht.“
Einzelne vorgesprochene Buchstaben schreibt sie
völlig richtig.
Früher auswendig Gelerntes schreibt sie gut.
Buchstaben, die in ihrer Zusammenstellung keinen
Sinn haben, werden richtig abgeschrieben.
Auch das Zahlenschreiben ist gut, soweit Patientin
es von früher her gelernt hat und es ihr zu jener Zeit
[Nr. 14.
geläufig war. Das Nachzeichnen ist richtig und geht
rasch.
Sprachstörungen sind in keiner Weise vorhanden;
nur spricht Patientin etwas langsam.
In diesem Falle erhielt sich eine amnestische par¬
tielle Agraphie noch ein Jahr nacli den epileptischen
Anfällen; die Kranke konnte Wörter, die ihr dem
Schriftbilde nach noch fest in der Erinnerung waren,
nicht schreiben; sie schrieb nur Wörter, (abgesehen
vom Copieren) die ihr von früher her sehr geläufig
waren, vergleiclisweise wie bei der partiellen amne¬
stischen Aphasie, wo Redewendungen oder Wörter,
welche durch oftes Einüben eine feststehende Er¬
innerung ausmachen, der functioneilen Aphasie nicht
zum Opfer fallen.
Als Patientin */, Jahr nach dieser Prüfung wieder
von mir hinsichtlich der partiellen Agraphie geprüft
wurde, zeigte sich gar nichts Abnormes mehr.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
M i t t h e i
— Die Epileptiker und Idioten in dem zu¬
künftigen *) Reichs-„Irren“-Gesetz. Unter diesem
Titel veröffentlicht das „Berliner Tageblatt“ vom 14.
Juni Folgendes:
Der Name des im vorstehenden Titel bezeich¬
nten Gesetzes ist zweifelsohne geeignet, die öffent¬
liche Meinung über Umfang und Ziele desselben irre¬
zuführen, wie sich aus nachfolgenden Erwägungen er-
giebt. Das Strafgesetz wie das Bürgerliche Gesetz¬
buch haben, die durc h unsichere Nomenklaturverhält¬
nisse gebotenen Schwierigkeiten umgehend, es ver¬
mieden, für die Definition der Aufhebung der freien
Willensbestimmung und der Geschäftsfähigkeit durch
pathologische Geisteszustände die letzteren etwa aus
Rücksicht auf medicinische Detailfragen noch einer
besonderen Gruppirung zu unterziehen. Sie begnügen
sich mit den durch die allgemeine Psychopathologie
gegebenen Definitionen. So spricht das Strafgesetz
von „Bewusstlosigkeit“, „krankhafte Störung der Gei-
stesthätigkeit“, das Civilgesetz von „Geisteskrankheit“,
„Geistesschwäche“, welche beiden letzteren Begriffe be¬
kanntlich — im Interesse des zu Entmündigenden
— nur graduelle Unterschiede bedeuten; auch ein
Epileptiker, ein Idiot kann danach im Sinne des
Bürgerlichen Gesetzbuches entweder geisteskrank oder
geistesschwach sein, ohne Rücksicht darauf, ob das
Leiden angeboren oder in der früheren oder späteren
Jugend erworben ist.
Wie allgemein anerkannt und durch die Erfahrung
bekräftigt, ist auf diese Weise eine sehr zweckmässige
Vereinigung des Standpunktes des Rechts mit dem
der Psychiatrie herbeigeführt worden. Wie ist es
nun bei dem Reichsirrengesetz? Sollte in dem Aus-
*) deutschen.
Digitized by Google
1 u n g e n.
druck „Irren“gesetz schon eine Anspielung auf den
Umfang des Gesetzes liegen, das letztere sich nur auf
die Regelung der Verhältnisse der „Irren“ erstrecken,
so wäre an der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht
viel geändert, und man könnte sich die ganze legis¬
latorische Arbeit ersparen. Für die „Irren“, worunter
man gewöhnlich die total Verrückten versteht, bedarf
es nicht so sehr des ganzen Apparates der Gesetz¬
gebung wie vielmehr für die überaus zahlreichen
„Grenzfälle“, die auf der Scheidelinie zwischen gei¬
stiger Gesundheit und Krankheit sich bewegen, aus
deren Reihen sich die „widerrechtlich ins Irrenhaus
Gesperrten“ rekrutiren. Sehr häufig finden sich nun
diese Grenzzustände bei den Epileptikern, die ja nur
zu einem verschwindend geringen Prozentsatz wirk¬
lich geistig intakt sind, und den Idioten. Die leichten,
aber tief wurzelnden seelischen Störungen bei scheinbar
gesunden Krampfleidenden, die verschiedenen Formen
des angeborenen oder früh erworbenen Schwachsinns
(Idiotie) in seinen geringeren Graden bedürfen zu
ihrer richtigen Beurtheilung einer sorgfältigen Durch¬
forschung seitens des Facharztes und bereiten diesem
oft mehr Schwierigkeit als ausgebildete Fälle einer
fortschreitenden Gehimlähmung oder Melancholie oder
Verrücktheit. Sie bereiten aber diese Schwierigkeit
nicht nur im Civil- und Strafprocessverfahren, in wel¬
chem die Zuziehung eines sachverständigen Arztes
bereits vorgeschrieben ist, sondern ebenso bei der im
zukünftigen Reichsirrengesetz in Betracht kommenden
äusserst wichtigen Frage, ob Internirung in der Anstalt,
das heisst Freiheitsentziehung nothwendig ist oder
nicht.
Aus diesem Grunde muss es befremden, dass in
Preussen der Ministerialerlass vom 25. Januar 1902
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
i qo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
die ärztliche Thätigkeit in Idioten- und Epileptiker¬
anstalten vornehmlich auf „medicinische, hygienische
und diätetische“, dass heisst also auf die eigentlich
körperlichen, nicht auch auf die geistigen Angelegen¬
heiten, nicht auch auf die Frage der Entlassungs-
fcihigkeit des Kranken sich erstrecken hisst. Es wäre
überhaupt dringend zu wünschen, dass das Reichs¬
irrengesetz sich nicht auf den Standpunkt jenes und
des zeitlich voraufgehenden Ministerialerlasses stellt,
der für Anstalten mit Kranken unter achtzehn Jahren
andere, gewissermaassen mildere Vorschriften glaubte
ertheilen zu müssen als für Anstalten, welche er¬
wachsene Kranke beherbergen, — entgegen dem all¬
gemein herrschenden Empfinden, dass für minder¬
jährige Kranke ein weit umfangreicherer Rechtsschutz
geschaffen werden müsste als für Jene. Aber auch
der ärztlichen Fürsorge und Behandlung bedürfen
die Epileptiker und Idioten, wenn ihre Anstaltsver¬
pflegung eine rationellere und erfolgreichere sein soll
als bisher.*) Das aber ist nur erreichbar, wenn der
Arzt vollständig die Alleinleitung der Anstalt besitzt,
nicht aber wenn ihm die Verfügung über sein haupt¬
sächlichstes Organ, das Pflegepersonal, nur halb oder
zu einem Viertel zusteht, wie dies in den theologisch
geleiteten Privatanstalten der Fall ist.
Uin nur eins anzuführen, wie weit wir hier noch
zurückstehen, sei darauf hingewiesen, dass die Prügel¬
strafe aus den Epileptiker- und Idiotenanstalten bis¬
her durch keine Verfügung offiziell ausgemerzt ist. —
Die Schwachbefähigten gehören in die jetzt in allen
grösseren Orten**) errichteten Hilfsschulen, das heisst
in das Regime des Pädagogen, die Schwachsinnigen,
auch die jugendlichen, soweit sic der Aastaltspflege
und -Erziehung bedürfenin die Anstalt, das heisst
in das Regime des Arztes, der auch den Unterricht
zu regeln und zu überwachen hat. Nur wer die
körperlichen Grundlagen des Schwachsinns kennt,
w’eiss auch die Anforderungen des Unterrichts richtig
abzumessen, das heisst ohne Schaden für den Kran¬
ken. Die pädagogischen Kräfte einer solchen An¬
stalt sind daher nicht minder als die eigentlichen
Pflegekräfte dem Arzte unterzuordnen.
Die theologisch geleiteten Anstalten haben hier
unbegreiflicherweise ein durch nichts begründetes,
aber in vieler Hinsicht bedenklich scheinendes Privi¬
legium. Wo Theologen und Mediciner dauernd Zu¬
sammenarbeiten müssen, kommt es immer zu Kon¬
flikten , am meisten aber und zum Nachtheil der
ihnen an vertrauten Personen, wenn die Frage der
Willensfreiheit an diesen unglücklichen Gehirnkranken
zum Austrag gebracht wird; hierüber herrschen bei
unseren Theologen geradezu rückständige, mit der
Naturwissenschaft überhaupt nie vereinbare Ansichten.
Es ist wirklich an der Zeit, dass die Theologen von
diesem Schauplatz abtreten, von dem für sie immer
*) Die theologisch geleiteten Epileptiker- und Idiotenan¬
stalten verstehen es allerdings gut, eine fromme Reclame tu
treibeu, die staatlichen beziehungsweise ärztlich geleiteten dürfen
keine Reclame treiben, das verbieten schon die ärztlichen Ehren¬
gerichte.
**) Auch die Landarmenverbände sollten solche Hilfsschulen
begründen, damit die Volksschulen in Dörfern und kleinen
Städten von den Schwachbcfähigten entlastet würden.
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eine Brücke zum Gesundbeten und zu anderem Un¬
fug geführt hat und führen wird.
Um endlich auf unseren Ausgangspunkt zurück¬
zukommen: Der Name Reichs-,,Irren“gesetz ist durch¬
aus irreleitend und geeignet, selbst bei den legislato¬
rischen Faktoren von vornherein über die wahren
Aufgaben eines solchen Gesetzes falsche Vorstellungen
aufkommen zu lassen. Es empfiehlt sich dafür die
allgemeine Bezeichnung: Reichsgesetz über die Für¬
sorge für Gehirnkranke zu wählen. Durch diesen
Namen*) würde: i. das ganze Wirkungsgebiet des
Gesetzes wirklich umfassend definirt, 2. von einer
angesehenen Volksvertretung der naturwissenschaft¬
lichen Lehre beigetreten, dass Geistesstörung, Epi¬
lepsie und Idiotie Gehirn-, das heisst körperliche
Krankheiten sind, und dem Eindringen anachro¬
nistischer Sonderbestrebungen metaphysischer, spiri¬
tistischer, theologischer etc. Natur in die praktische
Fürsorge für diese Unglücklichen vorgebeugt, was in
der Gegenwart dringend nöthig ist, 3. demjenigen
Menschen, welchen das Schicksal unter dieses Gesetz
fallen lässt, das Odium erspart, für „verrückt“, „irre“,
als „Narr“ und Aehnliches gelten zu müssen.
Zum Schlüsse sei noch auf eins hingewiesen: Die
Einführung des Reichsgesetzes über Gehimkranke
wird zur logischen Folge haben, dass dem Reichsge¬
sundheitsamt das Concessionsrecht für Gehirnkranken¬
anstalten zusteht. —-
— Spiritismus. Fnpi Rothe — geisteskrank? Das
„berühmte“ Blumenmedium, die Monteursfrau Anna
Rothe, ist am Sonnabend vom Untersuchungsge-
fängniss nach der Charite (Berlin) gebracht worden,
um auf ihren Geisteszustand beobachtet zu werden. Die
Untersuchungshaft hat der fast 52 Jahre alten Fraü,
die ein ruhiges, grübelndes Wesen zeigt, nichts an¬
gehabt. Die Spiritisten scheinen sich für ihr be¬
deutendstes Medium noch sehr zu interessiren. Be¬
vor noch Frau Rothe in der Charite w’ar, kamen
schon Leute dorthin, die ihre Aerzte sprechen wollten.
— Russland. Nach einer Berechnung des Medicinal-
Departements sind für die einer Specialbehandlung be¬
dürftigen Geisteskranken in Russland nur
15000 Betten vorhanden, während 35000 Betten er¬
forderlich wären. Auf Grund klinischer Forschungen
werden die 185000 Geisteskranken Russlands in drei
Gruppen eingetheilt: Kranke mit schärferen Geistes¬
störungen, gefährliche Kranke und chronisch Kranke.
Von den beiden ersteren Gruppen beanspruchen
62 000 Personen eine Specialbehandlung und für
diese würen eben die 35000 Betten, deren Einrich¬
tung ca. 35 Millionen Rubel nebst 10 Millionen
jährlicher Unterhaltskosten erfordern würde.
Referate.
— Leitfaden für Krankenpflege i m
Krankenhaus und in der Familie. Von Dr.
med. Witthauer, Oberarzt am Diakonissenhaus in
*) Zum Beispiel gehören Leute, die nach Schlaganfall oder
infolge einer Gehirngeschwulst oder einer sonstigen organischen
Erkrankung des Gehirns blöde, gewöhnlich aber schonung^voll
nicht als geisteskrank oder -schwach betrachtet werden, doch
auch unter das neue Gesetz.
Original frnm
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172 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
Halle a. S. Zweite, neu bearbeitete Auflage mit 76
Abbildungen. Halle a. S„ Carl Marhold, 1902. Preis
Mk. 3 —-
In Form von 18 Vorlesungen hat Verf. alles für
die Krankenpflege Wissenswerthe mit Einschluss der
Wöchnerinnenpflege und der Behandlung der Säug¬
linge in kurzer prägnanter Form besprochen und da¬
bei nicht nur die Verhältnisse eines gut eingerichteten
Krankenhauses berücksichtigt, sondern auch die ein¬
fachen Verhältnisse in der Familie mit ihren noth-
wendig werdenden Improvisationen. Der Werth des
Buches ist durch zahlreiche, leicht verständliche Ab¬
bildungen erhöht. Das in der zweiten Auflage hin¬
zugekommene Capitel über Irrenpflege enthält das
Nothwendigste, es ist nach dem bekannten Leitfaden
von Scholz bearbeitet.
Arnemann, Gross-Schweidnitz.
— Die Lehre vom Leben. Von Dr. Alfons
Bilharz. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1902. Gr.
8°, XIV und 502 S., 22 Abbildungen.
Die Redaction hat mich gebeten, das Buch von
Bilharz zu besprechen. Ich habe es vorgenommen,
aber — ich habe es nicht verstanden. Da müsste
ich es eigentlich der Redaction zurückgeben. Jedoch,
ich bin davon überzeugt, dass damit weder der Re¬
daktion noch dem Verfasser gedient wäre, denn unter
den Vorhandenen ist keiner, der das Buch verstehen
könnte. Auch liegt die Sache ja nicht so, dass ich
Alles nicht verstanden hätte, sonderh ich habe nur
nicht Alles verstanden. Es scheint mir, als ob im
Grunde der Vf. vielfach das Richtige meinte und als
ob ich in manchen Richtungen mit ihm gehen könnte.
Die „Lehre vom Leben“ hat drei Theile: 1. Prole-
gomena (hauptsächlich geschichtlich - kritische Erörte¬
rungen), 2. Noo-Biologie oder die Lehre vom thieri-
schen Verstand, 3. Logo-Biologie oder die Lehre von
der menschlichen Vernunft. Der 3. Theil zerfällt
wieder in zwei Abschnitte: Weltaxe des Denkens
oder Lehre vom vernünftigen Denken und Weltaxe
des Wollens oder Lehre vom vernünftigen Wollen.
In der Lehre vom Wollen (Ethik und Gesellschafts¬
lehre) findet man unerwarteterweise einen grossen
Aufsatz über Fr. Nietzsche, der manches Gute enthält
Wenn Verfasser sich entschliessen könnte, die
Lehre aus seiner halbmathematischen Sprache in das
Deutsche zu übertragen, wenn er sich mehr als bis¬
her der langen Auseinandersetzungen mit Descartes,
Kant und anderen historischen Grössen enthielte,
wenn er sich weniger oft wiederholte, so käme vielleicht
etwas Gutes heraus. So, wie das Buch jetzt ist,
wird es keinen Ertolg haben, denn Alle, die der Titel
angelockt hat, werden bald entfliehen. Und doch
steckt viel Arbeit und eifriges Nachdenken darin.
Es wäre also schade, wenn das Ganze an der
schlimmen Form zu Grunde ginge. Vielleicht wird
der Vf. sagen: Ja, du musst erst mein früheres Buch
über „Metaphysik als Lehre vom Vorbewusstsein“
lesen. Aber ich weigere mich ganz entschieden und
Andere werden es ebenso machen
Trotz aller Bedenken muss man sich freuen, dass
es in unserer trockenen Zeit noch Collegen giebt,
die die Metaphysik lieben und ihr ernstlich nach¬
stellen, und dass es Verleger giebt, die ihre Bücher
drucken lassen. Möbius.
— Pron: Influence de l’estomac et du regime
alimentaire sur l’6tat mental et les fonctions psychiques.
Paris, Jules Rousset, 1901. 188 S.
Das Buch steht auf der Grenze zwischen wissen¬
schaftlicher Arbeit und populärer Plauderei. Nach
einer historischen Einleitung, die bis Hippokrates
zurückgreift und auch die Ansichten der Philosophen
berücksichtigt, bespricht es die anatomischen und
physiologischen Beziehungen zwischen Verdauungs¬
und Nervensystem. Durchweg wird zu sehr verall¬
gemeinert und mit fragwürdigen Gelegenheitsbe¬
obachtungen operirt. Es ist mehr feuilletonistische
Causerie, wenn angeführt wird, der Zucker bringe
weiche Gefühle, Butter mache apathisch und indolent,
Eier vermindern die physische und moralische Energie!
Gradezu bedenklich kann das werden, w'enn dem
Wein z. B. nachgerühmt wird, er prädisponire zum
Wohlwollen und zur familiarite. Die klinischen Be¬
obachtungen , die dem Buch ein wissenschaftliches
Gepräge verleihen sollen, sind recht dürftig. So lautet
Beobachtung 4: „Fräulein S., 32 Jahr, leidet seit 3
Jahren am Magen. Schwerfälligkeit, Dyspnoe nach
der Mahlzeit. Traurigkeit, Angst, Schlaflosigkeit“.
Die 2. Hälfte des Buches bespricht die affektiven
Störungen, auch Selbstmord im Gefolge von Ver¬
dauungsleiden, darauf die intellektuellen und Willens¬
störungen, selbst Aphasie, Amnesie, chronisches De¬
lirium u. dgl. Vf. hat kaum Ahnung, dass es sich in
vielen Punkten um Probleme handelt, die dem psy¬
chologischen Experiment zugänglich und z. Th. auch
schon auf diesem Wege gelöst sind. Bei der Gegen¬
überstellung der Autointoxikations- und der Reflcx-
theorie bevorzugt er die letztere.
Wcygandt - Würzburg.
Personalnachrichten.
(Um Mittheilung von Personalnachrichten etc- an <lte Redartion
wird gebeten.)
— Schleswig. Als Nachfolger des verst. Herrn
San.-R. Hansen wurde Herr Director Dr. Kirch¬
hof f - Neustadt zum Director und Chefarzt hiesiger
Anstalt ernannt.
— Uchtspringe. Herr Dr. Hoppe ist zum
Oberarzt, die Herren Dr. Ehrke und Dr. Müller
sind zu ordentlichen Aerzten ernannt
— Weilmünster. Oberarzt Dr. Lan tzius-
Beninga von hier ist zum Director hiesiger An¬
stalt erwählt werden.
— Freiburg (Baden). Prof. Dr. Emminghaus
tritt mit Ende dieses Semesters in den Ruhestand.
Zu seinem Nachfolger ist Herr Prof. Dr. Hochc,
unser hochverehrter Mitarbeiter, berufen worden.
Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brrslcr Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratehannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
HeVnemann’sche Puchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgAgeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. li, Edinger,
UrhtepnngA (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. TJrquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et pliil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 15. i 2 - juii. 1902.
Die ,.Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
ß-Meliungen nehmen jede Buchhandlung, di« Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden fiir die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt ErraÜMigung ein.
Zuschriften fiir die Kedacrmn *ind an Oberarzt Dr. J. Bresier. Kraschnitz (Schlesien), zu richten
Inhalt. Originale: iirenhilfsvereine. Vortrag gehalten atn 3. Mai 1902 im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und West¬
falens von dem Oberarzt der Provinzial-IIeil- und Pflege-Anstalt Dr. Richard Snell -11 ildesheim |S. 173 ) — Uehcr einige
Neubauten an der Göttinger Anstalt. Von Privatdocent ür. L. W. Weber-Göttingen (S, 17O). — Miltheilungen (S. 181).
Irrenhilfsvereine.
Vortrag, gehalten am 3. Mai 1002 im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens
von dem Oberarzt der Provinzial Heil- und Pflege-Anstalt Dr. Richard Sneü-W ildesheim.
^^^ohl jedem Irrenarzt sind die Schwierigkeiten be¬
kannt, welche sich bei der Entlassung unbe-
güteter Kranker oder Genesener aus der Irrenanstalt
zeigen. Das wenige Geld, welches vorhanden war,
ist für die Unterbringung des Kranken in die Irren¬
anstalt verbraucht, die Familie hat sich aufs kümmer¬
lichste durchschlagen müssen; wenn der Genesene in
sein Heim zuri'ickkehrt, sieht er sich der Noth und
Annuth gegenüber. Nun heisst es, für ihn Arbeit
suchen. Da hindert ihn aber überall das Vorurtheil
der grossen Menge gegen Leute, die im Irrenhause
gewesen sind. Die Arbeitgeber nehmen ihn ungcin
an und, wenn er eine Stellung gefunden hat, wird er
von Vorgesetzten und Mitarbeitern mit Misstrauen,
wenn nicht gar mit Verachtung behandelt.
Noch schlimmer ist es, wenn der aus der Anstalt
Entlassene nicht genesen, sondern nur gebessert ist.
Von allen Seiten tritt ihm dann der Argwohn und
die Furcht vor dem Geisteskranken entgegen. Kein
Wunder, dass so häufig das schwache Nervensystem
den Widerwärtigkeiten der Aussen weit erliegt, der Zu¬
stand des Kranken sich verschlimmert und die Ueber-
fiihrung in eine Irrenanstalt wieder nöthig wird.
Diese Verhältnisse tragen dazu bei, dass ein sehr
grosser Theil der als genesen oder gebessert aus der
Anstalt Entlassenen nach weniger Zeit wieder der An¬
stal tspfl ege bedürftig wird.
Was lässt sich dagegen thun? Man muss den
Uebergang der entlassenen Pfleglinge in das freie
Leben möglichst erleichtern, man muss die Schwierig¬
keiten, die einerseits in der Zerrüttung der finanziellen
Verhältnisse des Entlassenen, andererseits in den Vor-
urthcilen des Volkes gegenüber genesenen oder gebesser¬
ten Geisteskranken bestehen, zu heben oder wenigstens
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HARVARD UNIVERSITY
174
zu vermindern suchen. Für ersteren Zweck ist vor
allen Dingen Geld nöthig, um über die erste schwere
Zeit nach der Entlassung fort zu helfen, in dem einen
Fall ist das Handwerkszeug, welches aus Noth verkauft
oder versetzt ist, wieder zu beschaffen, in dem anderen
ist dem Verfall einer Lebensversicherungspolice vor¬
zubeugen, in einem dritten Fall ist das nöthige Mo¬
biliar wieder zu kaufen oder in Stand zu setzen.
Dass es für die Direction einer Anstalt nicht mög¬
lich ist, für jeden solchen vorliegenden Nothstand
nach Entlassung eines Anstaltsinsassen das nöthige
Geld zusammenzubringen, liegt auf der Hand und ist
ja auch jedem längere Zeit in der Irrenpflege Thätigen
aus eigner Erfahrung bekannt. So viel Mühe man
sich auch giebt, die häuslichen Verhältnisse des zu
Entlassenden möglichst günstig zu gestalten, nur zu
häufig scheitert der Versuch an der Kostenfragc.
Ein zweiter Punkt, der bei der Entlassung eines
genesenen oder gebesserten Geisteskranken grosses
Gewicht hat, ist die Wiedereinführung des Entlassenen
in das sociale Leben, in einen passenden Beruf. Wie
gross die Schwierigkeiten sind, für einen Genesenen
eine geeignete Stellung zu finden, kann man nur bc-
urthcilen, wenn man selbst diesen Versuch gemacht
hat. Erst will niemand den ehemaligen Anstalts-
pfiegling in Dienst nehmen, hat er aber erst einen
Dienst^ gefunden, so wird er mit Argwohn, wenn nicht
gar mit Spott empfangen.
Ist der Kranke aber nicht genesen, sondern nur
gebessert, so tritt alles das im erhöhten Maass her¬
vor. Hie und da gelingt es wohl dem Arzt, für einen
zu entlassenden Pflegling eine geeignete Stellung aus¬
zumachen, in der er vor den Schädigungen der
Aussenwelt nach Möglichkeit geschützt ist. Aber
für jeden Fall, in dem ein Kranker entlassen werden
muss, kann er das nicht. In der Anstalt behalten
darf er aber die Kranken nicht, sobald sie nicht
mehr den im Reglement vorgesehenen Krankheits¬
zuständen angehören. Es ist daher eine andersweite
Fürsorge für die Entlassenen dringend nöthig.
Diese Gesichtspunkte haben an verschiedenen
Orten zur Bildung von Irrenhilfsvereinen geführt.
Der älteste deutsche Irrcnhilfsvcrcin wurde im
Jahre 182p zur Unterstützung der aus dem herzog¬
lich nassauischen Irren-, Corrections- und Zuchthaus in
Eberbach Entlassenen von dem Director Lindpaintncr
gegründet, konnte aber die nachfolgenden unruhigen
politischen Zeiten nicht überdauern.
Lange Zeit geschah dann wenig in Deutschland
in Bezug auf diesen Zweig der Irrenfürsorge, während
in Oesterreich 1851 der Wiener und etwas später
der Steirische Hilfsvercin entstanden und in der
[Nr. 15.
Schweiz bes. nach Gründung des St. Gallener Hilfs¬
vereins im Jahre 1866 durch Zinn eine Reihe der¬
artiger. Vereine emporblühte. Doch will ich mich im
Interesse der Kürze auf die deutschen Hilfsvereine
beschränken. Erst 1869 erfolgte in Hamburg die
Gründung der Unterstützungskasse der Irrenanstalt
Friedrichsburg, 1872 entstand der badische Hilfs¬
verein, hauptsächlich durch Fischers und Rollers Be¬
mühungen , und der St. Johannesverein zur allge¬
meinen Irrenfürsorge in Westfalen, 1873 auf Anregung
Laehrs der kurmärkische Verein, der unter Zinns
Führung seine Thätigkeit 1875 auf die ganze Provinz
Brandenburg ausdehnte, sodann der Hilfsverein für
die Geisteskranken in Hessen, welcher, bei seiner
vortrefflichen Organisation unter Leitung des Geh.
Medicinalrath Ludwig in Heppenheim und seines
Nachfolgers Bieberbach, vorbildlich für viele später
gegründete Hilfsvereine geworden ist. Es exisliren
jetzt ausser den genannten noch innerhalb Deutsch¬
lands Irrenhilfsvereine in Eisass, in Schlesien, im Re¬
gierungsbezirk Wiesbaden, in der Rheinprovinz, der
Pfalz, München, Sachsen-Meiningen, Niedeibayern,
im Königreich Sachsen und in Württemberg. In der
Provinz Sachsen ist die Gründung eines Hilfsvereins
beabsichtigt.
Die Grenzen der Wirksamkeit sind durch die Ver¬
einssatzungen in den einzelnen Vereinen verschieden
weit aufgefasst. Sehr ausgedehnt sind die in den
Satzungen gegebenen Aufgaben des Hilfsvcrcins für
das Königreich Sachsen. Er will das Verständ¬
nis für die Geisteskrankheiten und das Interesse für
die Geisteskranken wecken und fördern und bes.
die aus den öffentlichen Anstalten für solche Kranke
entlassenen Personen zur Erleic hterung ihres Wieder¬
eintritts in das bürgerliche Leben unterstützen, auch,
soweit die Mittel des Vereins nach Erfüllung des er¬
wähnten Hauptzwecks ausreichen, den in Noth be¬
findlichen Familien Geisteskranker Hilfe gewähren.
Im Sinne der Arbeit des HiIfsVereins werden die
Epileptischen und Hysterischen den Geisteskranken
gleichgeachtet.
Diese sowie die meisten andern Statuten der später
gegründeten Hilfsvereine, sind den Hilfsvcrcinen für
die Geisteskranken in Hessen nachgebildet oder dem
Statut des brandcnburgischen Hilfsvereins für Geistes¬
kranke. Letzteres bezeichnet als Zweck des Vereins:
1. Die Fürsorge für Geisteskranke der Provinz
Brandenburg und bes. für die aus der Irrenanstalt
Eberswaldc entlassenen Armen und Hilfsbedürftigen.
2. Die Hebung der öffentlichen Irrenpflege der
Provinz Brandenburg und die Beseitigung von Vor-
urthcilen gegen Irrsinn und Irrenanstalten.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 175
Etwas enger gefasst ist die Wirksamkeit des Hilfs¬
vereins für reconvalescente Geisteskranke in Württem¬
berg. In seinen Statuten ist die allgemein aufklärende
und Vorurtheile gegenüber den Geisteskranken be¬
seitigende Thätigkeit nicht mit angeführt, dagegen
die Fürsorge für die Familie des Erkrankten hcrvor-
gehuben.
Gemeinsam ist sümmtlichen Hilfsvereinen das Be¬
streben, den Uebergang der Geisteskranken in die
Aussenwelt möglichst zu erleichtern, und die ersten
Schwierigkeiten nach der iVnstaltsentlassung zu ver¬
mindern. Um die hierfür nöthigen Geldmittel zu er¬
halten, werden von den Mitgliedern Beiträge erhoben.
Ausserdem steuern bei einzelnen Vereinen der Staat
oder communale Verbände bei, z. B. erhielt der hessisc he
Hilfsverein im Jahre 1900/01 aus der Grossherzog¬
lichen Staatskasse 1000 M. und aus Kreis-, Stadt-
und öffentlichen Kassen 2755 M. 62 Pf., der branden-
burgische Hilfsverein erhielt 1809/00 von Staats-und
ständischen Behörden 840 M., der Hilfsverein in
Württemberg 1900 vom kgl. Ministerium des Innern
1000 M. Beitrag.
Dass die aufgebrachten Summen durchaus nicht
unbedeutend sind, kann man aus folgenden Zahlen
ersehen: Die Summe der Einnahmen des Irrcnhilfs-
vcrcins betrug in Hessen 1900/01 27Ö01 M. 70 Pf.,
in Württemberg 14202 M. 72 Pf., in Sachsen
4026 M. 72 Pf., in Brandenburg 4574 M. 1 Pf. Für
die Vercinszw’ecke sind vom hessischen Hilfsvereine
in den ersten 25 Jahren seines Bestehens rund 240000 M.,
also fast eine Viertelmillion verausgabt. Der St. Jo¬
hannesverein zur allgemeinen Irrenfürsorge in West¬
falen hat aus eigenen Mitteln eine Idiotenanstalt für
mehrere Hundert Insassen gebaut. Man sieht, dass
cs nicht nur Kleinarbeit ist, die von den Ililfsvereinen
geleistet wird, wenn ja auch die Hilfe und Fürsorge,
die den einzelnen Kranken bezw. deren Familien ge¬
währt ward, immer eine Hauptaufgabe der Hilfsver-
eine bleibt. Mit ihr verknüpft sich ganz von selbst
die Aufklärung der grossen Menge über die Irren¬
anstalten durch das Institut der Vertrauensmänner*
Um den einzelnen Kranken den Uebertritt in das
freie Leben nach der Anstaltsentlassung zn erleichtern
und die familiären Verhältnisse möglichst günstig zu
gestalten, genügt eine einfache Geldunterstützung nur
theilweise. Es kommt ausserdem darauf an, den Ent¬
lassenen auch mit Rath und That zur Seite zu stehen,
drohende Gefahren abzuwenden, durch geeignete
Maassregeln einer Wiedererkrankung vorzubeugen, bei
Wiedereintritt einer Erkrankung den Patienten recht¬
zeitig in geeignete Pflege zu bringen. Das alles kann
aber nicht in genügendem Maass von der Direction
der Irrenanstalt, aus welcher der Kranke entlassen
ist, geschehen, da ihr die näheren Verhältnisse
und die Umgebung des Entlassenen nicht hin¬
reichend bekannt sind, ausserdem bei der starken
Arbeitslast eine Anstaltsdirection kaum Zeit hat, sich
bis ins Einzelne mit dem ferneren Ergehen der Ent¬
lassenen zu befassen. Es bedarf daher der Mittels¬
personen, vclchc an ()rt und Stelle dem Entlassenen
und seinen Angehörigen zur Seite stehen. Diese
Vertrauensmänner müssen einerseits mit den Irren-
anstaltsdirectionen in Fühlung bleiben, von ihnen be¬
raten und mit den Mitteln des Vereins unterstützt
werden, andererseits den Kranken gegenüber eine
helfende und fürsorgende Thätigkeit entwickeln. Dass
zu diesem Ehrenamt vorzüglich Männer sich eignen,
die kraft ihrer Lebensstellung eine gewisse Autorität
gemessen, liegt auf der Hand. Sie müssen durch die
Anstaltsdirectionen bekannt gemacht werden mit dem
Aufnahme verfahren in die Irrenanstalten, damit sie in
dieser Beziehung geeigneten Rath ertheilen können,
und mit der Behandlung, welche für die in ihre Fa¬
milie zurückkehrenden Kranken und Genesenen die
richtige ist. Ausserdem gilt es, bei ihnen den Hebel
anzusetzen, um die alten verkehrten Anschauungen
über unsere Anstalten durch der Wahrheit entsprechende
zu ersetzen. Dass man zu diesem Zweck den Ver¬
trauensmännern Einblick in das Irrenanstaltsleben
nicht gänzlich verweigern darf und dass die Aerzte
hiervon vielerlei Mühe und Last haben, liegt auf der
Hand. Es w ürde aber ohne diese Mühewaltung den
Vertrauensmännern unmöglich sein, ihr Ehrenamt in
rechter Weise aufzufassen. Nichts trägt, so zur Zer¬
streuung und Verminderung der Vorurtheile gegen
Irrenanstalten und Geisteskranke bei, als wenn man
Leuten, die nach ihrer ganzen Lebensstellung Gewähr
bieten, dass sie nicht Neugier sondern wirkliches In¬
teresse leitet, nach Möglichkeit Zutritt zu den Irren¬
anstalten gewährt und sie über die verkehrten Volks-
anschauungen den Anstalten und ihren Insassen ge¬
genüber aufklärt. Nur so kann die Furcht vor den
Irrenanstalten, in der auch das gebildete Publikum noch
immer eine Anhäufung von Zwangs- und Beschrän-
kungsmittteln sieht, vernichtet und der modernen Irren¬
pflege der Platz in der Achtung des Volkes gegeben
werden, der ihr dank der jetzigen freien Behandlungs¬
art gebührt.
Ausserdem erwachsen aber noch zahlreiche Vor¬
theile aus dem Umstand, dass sich angesehene
Männer in den verschiedenen Orten für die Irren-
pflcgc interessiren und mit den Irrenärzten in Be¬
rührung kommen. Die Ueberführung der Geistcs-
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Original frnm
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kranken kann durch die mit dem Aufnahmeverfahren
bekannten Vertrauensmänner in einem früheren und
daher mehr Aussicht auf Heilung bietenden Stadium
der Erkrankung wie bisher veranlasst werden. Ausser¬
dem kann durch die Vertrauensmänner, wie es schon
in einzelnen Vereinen, z. B. dem hessischen, geschieht,
Erhebliches zur Verbesserung des Wartpersonals bei¬
getragen werden, da es ortskundigen angesehenen, mit
den an die Pfleger zu stellenden Anforderungen ver¬
trauten Persönlichkeiten leicht gelingt, geeignete junge
Leute auf den Beruf als Irrenpflegcr aufmerksam zu
machen und den Anstaltsdireetionen zu empfehlen.
Auch für die Prophylaxe der Geisteskrankheiten können
die Vertrauensmänner nützlich wirken, indem sie ihre
Umgebung auf die Gefahren des Alkoholmissbrauchs
und anderer die Entstehung von Psychosen begünsti¬
gender Schädlichkeiten aufmerksam machen.
Steht der Vertrauensmann ausserdem mit Rath
und That den in seinem Bezirk ansässigen Geistes¬
kranken im Einverständnis mit dem betreffenden An-
stallsdirectionen und gestützt auf die materiellen
Mittel des Hilfsvereins zur Seite, so sehen wir ihm
ein so weites und dankbares Feld der Bethätigung
geboten, dass es wohl die aufgewandte Mühe und
Arbeit lohnt, und dass sich auch geeignete Persön¬
lichkeiten für dieses Amt finden lassen. Die grosse
- -- •
[Nr. 15.
Zahl der Vertrauensmänner der bestehenden Vereine
bestätigt diese Annahme, z. B. gab es am 1. April
ic)Oi in Hessen 884 Vertrauensmänner, die über das
ganze Land vertheilt waren. Die Leitung der Hilfs¬
vereine fällt naturgemäss den Aerzten der Landes-
irrcnanstalten zu, welche sich im Interesse der guten
Sache der allerdings recht erheblichen Mühewaltung
nicht entziehen dürfen.
In den Irrenhilfsvereinen haben wir also ein
Mittel, die schon so oft beklagte materielle Noth
der aus der Anstaltspflege entlassenen Geisteskran¬
ken zu mildern, ferner den Geist der modernen
Irrenanstalt dem Volksbewusstsein näher zu bringen
und die in Betreff der Irrenanstalten bestehenden Vor-
urthcile zu verringern. Die Hilfsvereine haben sich
innerhalb und ausserhalb Deutschlands bewährt und
in einzelnen Staaten, ich nenne hier nur Hessen, eine
geradezu glänzende Entwicklung gewonnen. Es wäre
daher wünschenswerth, dass auch dort, wo bisher noch
kein derartiger Verein existirt, die Gründung eines
Irrenhilfsvereins ins Auge gefasst würde, und es wäre
ganz besonders zu begrüssen, wenn die Provinz
Hannover, in welcher unsere heutige Versammlung
tagt, sich den von mir genannten Staaten und Pro¬
vinzen durch Bildung eines Irrenhilfsvereins anschlösse.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Ueber einige Neubauten an der Göttinger Anstalt.*)
Von Privatdoccnt Dr. L. W. Weber , Oberarzt an der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen.
J e mehr sich unter dem Einfluss der freien Behand¬
lung die gesammte Bauart unserer Anstalten in
den letzten Jahrzehnten geändert hat, um so schwerer
war es für die vor dieser Periode entstandenen An¬
stalten , diesen geänderten Principien Rechnung zu
tragen. Die Anlage, namentlich der grösseren der¬
selben, in geschlossenen, gefängniss-, schloss- oder
klosterartigen Räumen erschwert die Anbringung der
den modernen Bedürfnissen entsprechenden baulichen
Einrichtungen um so mehr, als zahlreiche alte An¬
stalten viel stärker belegt sind, als bei ihrer Gründung
beabsichtigt war, ohne dass eine entsprechende bau¬
liche Erweiterung stattgefunden hat. Leichter ist eine
Umänderung durchzuführen bei kleineren Verhält¬
nissen, wie in unserer Göttinger Anstalt, die ursprüng¬
lich nur für 240 Kranke angelegt war. Hier hat
sich im Laufe der Jahre — die Anstalt wurde 1805
bis i8öh in einem geschlossenen quadratischen Bau
*) Nach einem Vortrag auf der Versammlung der Irren¬
ärzte Niedersachsens und Westphalens zu Hannover am 3. Mai
1902.
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angelegt — an den ursprünglich alten Kern, dem
jeweils hervortretenden Bedürfniss und den geänder¬
ten Anschauungen entsprechend, eine Anzahl neuer
Gebäude ankrystallisirt. Die alten aber haben durch
mancherlei Umbauten Acnderungen erfahren, so dass
die Anstalt in ihrer Gesammtheit jetzt ein recht inter¬
essantes Beispiel dafür bietet, wie die geänderte Be¬
handlungsmethode allmählich auch eine Umgestaltung
des äusseren Baues herbeigeführt hat.
Der alte Theil der Anstalt war nach den Plänen
und unter Leitung des Oberbauraths Funk in der
Form eines geschlossenen Quadrats errichtet, dessen
Vorderseite die Verwaltungsräume und die Pensionär-
Abtheilungen enthielt, während sich beiderseits die
Abtheilungen für die Kranken III. Klasse befanden;
die hintere Seite wird von den Wirthschaftsräumen
gebildet, zu deren beiden Seiten in Gestalt langer
Korridorbauten je eine Zellabthcilung liegt.
Es verdient übrigens darauf hingewiesen zu werden,
dass L. Meyer gleich bei der Eröffnung der Anstalt
1860 den unteren Stock der Pensionärabtheilung
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HARVARD UNIVERSUM
1902.]
177
beiderseits zu sog. klinischen Abtheilungen ausgestaltete,
in denen die Neuaufnahmen mit Bettruhe behandelt
wurden und unter permanenter Bewachung standen,
also Wachstationen in unserem heutigen Sinne.
Dieselbe Einrichtung hatte L. Meyer schon 1864 an
der Hamburger Staatsirrenanstalt getroffen.
Schon bald nach der Eröffnung der Anstalt stellte
sich das Bedürfniss nach umfassenderer Beschäftigungs¬
möglichkeit der Kranken heraus. Dieselbe wurde
1874 geschaffen durch grössere Landankäufe und
Errichtung entsprechender Oekonomiegebäude, in
welchen auch eine Anzahl Kranke unter denkbarst
freien Verhältnissen untergebracht wurden. Die Ueber-
füllung der übrigen Provinzialanstalten machte dann
eine Erhöhung der Belegzahl der Männerabtheilung
nöthig. Die geforderten 100 Plätze wurden beschafft
durch Errichtung von zwei völlig freien Villen nach
dem Muster der kolonialen iVnstalten. Endlich
machte sich zu Beginn der 90 er Jahre das Bedürf¬
niss geltend, die bisherige klinische Station zu beiden
Seiten des Verwaltungsgebäudes durch einen etwas
umfangreicheren und den betreffenden Bedürfnissen
mehr Rechnung tragenden Neubau zu ersetzen. Für
diesen Zweck wurden auf der Männer- und auf der
Frauenseite je eine kleine Villa errichtet, welche im
Erdgeschoss eine Wachabtheilung für ca. 15 Betten
nebst Zubehör, im Obergeschoss eine Station für
ebensoviel Rekonvalcscenten enthielt. Die beiden
Villen sind nach völlig modernen Grundsätzen ohne
Fenstergitter oder sonstige Zwangseinrichtung erbaut;
der Grundriss selbst und die dadurch nothwendig
gewordene Vertheilung der Räume kann allerdings
nicht als sehr glücklich bezeichnet werden.
Die Aufnahmeverhältnisse der Göttinger Irrenan¬
stalt sind ausserordentlich wechselnde. Im südlichsten
Zipfel der Provinz gelegen, hat sie nur einen kleinen
Aufnahmebezirk, da die meisten Kreise der kürzeren
Reise wegen lieber die anderen Provinzialanstalten
aufsuchen. Anderseits tritt bei Ueberfüllung der letz¬
teren häufig eine Ueberflutung der Göttinger Anstalt
mit Aufnahmeanträgen ein, die schon aus Rücksicht
auf die Zwecke der Klinik genehmigt werden müssen.
So kommt es zu einer zeitweiligen Ueberfüllung na¬
mentlich mit pflegebedürftigen, siechen oder unreinen
Kranken; ferner sind aus denselben Gründen stets
eine grosse Anzahl krimineller Elemente, sowohl
geisteskranker Verbrecher als gewaltthätiger, erregbarer
Kranker vorhanden. Dieser Zustand hatte sich nament¬
lich gesteigert in den Jahren vor Eröffnung der Heil-
und Pflegeanstalt Lüneburg und zu einer dauernden
Ueberfüllung der Göttinger Anstalt, besonders der
Männerseite mit siechen und besonderer Aufsicht be¬
dürftigen Individuen, geführt.
Für die „unreinen“ Kranken, namentlich die
Paralytiker mit Neigung zu Dekubitus, waren bis dahin
die sog. „Siechenstationen“, welche beiderseits die Seiten¬
flügel der Anstalt abschliessen, bestimmt. Diese Ab¬
theilungen hatten den Nachtheil einer alten, besonders
bei stärkerer Kälte ungenügenden I.uftheizung, für
die starke Belegzahl zu geringen Luftraum und eine
unglückliche Vertheilung der Räume, welche nament¬
lich eine dauernde Aufsicht unmöglich machte. Die
Einrichtung, durch eine sog. Laufwache alle 1 — 2
Stunden derartige Kranke herausnehmen zu lassen,
genügt nicht, da sie in der Zwischenzeit doch nass
oder schmutzig liegen können; und jeder weiss, dass
unter Umständen eine auch nur kurze Zeit dauernde
Maceration der Haut hinreicht, um das Zustande¬
kommen eines schweren Dekubitus einzuleiten. Nur
eine ständige Wache kann dies verhindern bei un¬
unterbrochener Beobachtung der betreffenden Kran¬
ken, welche in regelmässigen, aber ihrem Zustand
angemessenen Zwischenräumen herausgenommen wer¬
den, in der Zwischenzeit aber auch öfter in ihrer
Lage verändert werden müssen, also eine ständige
Aufsicht und Thätigkeit beanspruchen. Diese Um¬
stände bestimmten den Direktor, Professor Dr. Cramer,
die Behandlung sämmtlicher derartiger Kranken in
eine Wachstation zu verlegen. Die bisherige
klinische Station erwies sich für die Aufnahme dieser
Kranken als viel zu klein; auch aus anderen Gründen
war es unthunlich, chronische sieche und unreine
Kranke mit heilbaren, frischerkrankten Psychosen zu¬
sammenzubringen .
Es w'urde daher dem Landesdirektorium der Vor¬
schlag unterbreitet, mit den einfachsten Mitteln einen
sog. Barackenbau zu errichten, welcher zur geeigneten
Unterbringung von ca. 35, hauptsächlich körperlicher
Pflege bedürftigen Kranken Raum bietet. Der Provin¬
zialausschuss ging um so bereitwilliger auf diesen
Vorschlag ein, als durch die neugeschaffenen 35 Plätze
eine Entlastung der vor der Eröffnung der Lüne¬
burger Anstalt überfüllten Provinzialanstalten ermög¬
licht wurde.
Der als „Lazareth“ bezeichnete und erdge¬
schossige Barackenbau ist leichtester Construktion,
ohne Unterkellerung über Backsteinpfosten errichtet.
Die Wände bestehen aus einer doppelten Lage von
Gypsdielen mit Torfmullfüllung, an der Aussenseite
mit Cementverputz. Das flache mit Dachpappe ein¬
gedeckte Dach ist innen verschalt. Der Boden in
den Schlaf- und Tagesräumen ist auf Stampfbeton
gelegtes Xylopan, ein angenehmer, warmer und elasti-
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HARVARD UNIVERSITY
178 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15.
scher Fussboden, in den Nebenräumen Terazzo.
Der Grundriss ist ein ausserordentlich einfacher: An
den in der Mitte befindlichen Tagesraum schliessen
sich zu beiden Seiten je ein Schlafsaal an; an der
hinteren Längsseite des Tageraums befinden sich die
Nebenräume: Abstellraum, Garderobe, Spülküche,
Bad, Closett und ein Seitenausgang; der vorderen
Wand ist eine ungedeckte Veranda vorgelagert. Der
Tageraum hat auf diese Weise nach Süden 4 grosse
Fenster, nach Norden über den niedrigeren Neben-
Grundriss des Lazarethes.
1. Tagraum. 2. Schlafräume. 3. Veranda. 4. Closet. 5. Bad.
6. Spülküche. 7. Garderobe. 8. Abstellraum. 9. Oefen.
räumen noch kleinere Oberfenster zum Lüften. Jeder
Schlafsaal ist von 3 Seiten durch im Ganzen 8 Fenster
belichtet. Sämmtliche Fenster sind ohne jede Siche¬
rung, mit grossen Scheiben aus gewöhnlichem Glas
versehen. Auch die sonstige innere Einrichtung ist
sehr einfach, aber behaglich. Die Heizung wird
durch im Ganzen 4 Füllöfen besorgt, welche zu je
zweien in den Wänden zwischen Tageraum und
Schlafsälen untergebracht und mit einem Mantel aus
gelochtem Eisenblech versehen sind, so dass sie über
die Wandfläche beiderseits nur wenig hervorstehen;
diese Heizung hat sich bis jetzt in zwei strengen
Wintern bewährt. Obwohl nur bei der heftigsten
Kälte alle 4 Oefen gleichzeitig im Betrieb sind, ist
die Temperatur in allen Räumen eine angenehme
und gleichmässige; auch in der nächsten Nähe der
Oefen ist die Hitze nicht so strahlend, dass die im
Tageraum um die Ofenmäntel angebrachten Bänke
mit Lehnen nicht bequem benutzt werden könnten.
In den Schlafsälen befinden sich an der Innenwand
in der Nähe des Ofens Waschtische mit gusseisernen,
emaillirten Kippbecken. Die Beleuchtung ist elektrisch
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mit Nernstlampen und einigen Edisonlampen für den
Nachtbetrieb ; Schaltdosen zur Anbringung von Hand¬
lampen für genauere Untersuchungen sind reichlich
vorhanden. Der Cubikinhalt in der ganzen Abthei¬
lung ist nach den neuen Vorschriften für die Privat¬
anstalten reichlich bemessen; er beträgt pro Bett in
den Schlafräumen allein 25 cbm, in den Tageräumen
mit Schlafräumen pro Kopf 38 cbm. Die Kosten
für das Lazareth betragen (ohne Grunderwerb)
35000 M., wovon 8000 auf die innere Einrichtung
kommen. Der Betrieb der Abtheilung gestaltet sich
folgendennaassen. Der nach Südosten gelegene
Schlafsaal ist Wachsaal und mit 16 Betten belegt.
Dahin werden alle diejenigen Kranken gebracht,
welche wegen der Neigung zur Unreinlichkeit oder
Dekubitus oder wegen sonstiger schwerer Erkrankung
der nächtlichen Ueberwachung bedürfen; ein grosser
Theil von ihnen liegt auch bei Tag zu Bett oder
wird im Sommer mit dem Bett auf die Veranda ge¬
bracht. Im anderen Schlafsaal sind leichtere Kranke
untergebracht, welche Nachts keine besondere Für¬
sorge brauchen, sondern nur zeitweise zum Befriedigen
ihrer Bedürfnisse angehalten werden, unter Tags beim
Essen u. s. w. einer Beaufsichtigung bedürfen und zu
irgend welcher Beschäftigung ausser leichter Haus¬
arbeit nicht mehr im Stande sind.* Für diesen Be¬
trieb genügen 3 Wärter, von denen 2 im ruhigen
Saal schlafen, der dritte, natürlich im entsprechenden
Turnus, im andern Schlafsaal die Nachtwache hat.
Die auf dieser Abtheilung untergebrachten Kranken
sind der Hauptsache nach Paralytiker, dann aber
auch eine Anzahl Idioten, stark verblödete Epilep¬
tiker und katatonische Psychosen. Gelegentlich
werden auch schwer körperliche Kranke, welche
dauernder Aufsicht bedürfen, dorthin verlegt; für sie
ist die Veranda mit Liegestühlen ein ausserordent¬
lich angenehmer Aufenthalt.
Das Lazarett bedeutet eine wesentliche Entlastung
für unsere klinische Aufnahmestation ; eine grosse An¬
zahl entsprechender Fälle passiren jetzt die klinische
Station überhaupt nicht mehr, sondern werden nach
kurzer Untersuchung in einem Aufnahmezimmer so¬
fort nach dem Lazareth verbracht. Diese Zusammen¬
legung ziemlich gleichartiger Krankheitsfälle, die man
ja sonst vermeidet, hat sich in diesem Falle zweck¬
mässig erwiesen. Sie ermöglicht eine Gleichartigkeit
der Behandlung, welche z. B. auch in der Verpfle¬
gungsform ihren Ausdruck findet. Die sämmtlichen
Kranken dieser Abtheilung erhalten zum Mittagessen
ihre Fleischportion von Knochen befreit und ge¬
mahlen ; ebenso wird das Brod ohne Rinde nach
dieser Abtheilung geliefert, um Schluckstörungen zu
verhüten. Auch die Ausrüstung dieser Kranken mit
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HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Lazarethmänteln soll dazu beitragen, der ganzen Ab¬
theilung mehr den Charakter einer Station von körper¬
lich Kranken zu geben.
Die Hauptsache aber [ist ? dass auf diese Weise
das Vorkommen von Nassliegen, Unreinlichkeit oder
Dekubitus bei den siechen Kranken fast völlig ver¬
mieden wird; kommt es doch einmal vor, so kann
man das Personal dafür zur Rechenschaft ziehen,
und braucht keine Ausrede gelten zu lassen. Eine
finanzielle Erspamiss ist damit auch gegeben, wenn
man erwägt, dass Matratzen und Bettlaken durch
das seltene Vorkommen des Einnässens viel mehr ge¬
schont werden. Auch Gummieinlagen werden nur
in geringer Anzahl — fast nur bei einigen Epilep¬
tikern gebraucht, Wasser- und Luftkissen für Deku¬
bitusverdächtige gar nicht. Der Stationswärter muss
eben jeden einzelnen Kranken genau kennen und
wissen, was dieser an Pflege, Umlegen, Herausnehmen
u. s. w. braucht, und auf diese Punkte auch die
Nachtwache aufmerksam machen. Man kann sagen,
dass mit der Einrichtung dieser Wachstation der Be¬
griff der unreinen Kranken überhaupt weggefallen ist.
Die Anstalt hatte in der ersten Zeit ihres Be¬
stehens ca. 30 Isolirzimmer zur Verfügung, 15 für
jede Geschlechtsseite, von denen etwa 10 jederseits
in der sog. Zellabtheilung, den nach der Nord West¬
seite abgehenden Flügelbauten, sich befanden; die
übrigen waren zwischen den übrigen Abtheilungen
vertheilt Sehr bald wurden die letzteren nur noch
als Schlaf- oder auch Wohnzimmer für Kranke
III. Kl. verwendet, denen man theils wegen ihrer
Empfindlichkeit, theils aus anderen mehr socialen
Gründen die Wohlthat einer von dem Gros der
Kranken getrennten Wohnung erweisen wollte. Zum
Isoliren wirklich erregter, tobsüchtiger Kranker waren
diese Räume schon deswegen nicht geeignet, weil
sie mit keinerlei akustischen Isolirung versehen
waren. Dagegen machte sich in den Jahren 1880
bis 1890 ein Bedürfnis nach Vermehrung der Zellen
geltend. Es wurden daher in dem nördlichen Anbau
der Zellabtheilung, der bisher zu Beamtenwohnungen
verwendet war, jederseits noch 6 Zellen eingebaut.
So stellte bis in die allerletzte Zeit die Zellabtheilung
ein langgestrecktes Corridorgebäude dar, welches
ausser einigen Nebenräumen und dem zu Tageräumen
ausgestalteten Corridor 16 Einzelzimmer verschiedener
Construktion enthielt. Die zuletzt eingerichteten Isolir¬
zimmer besitzen grosse, weit herunterreichende Fenster
mit festen Scheiben; eine Anzahl anderer Zellen
haben ein kleineres vergittertes Fenster ca. 3 m über
dem Fussboden, das durch eine vom Dachboden aus
zugängige Vorrichtung ventilirbar ist. Endlich enthielt
ein Ausbau in der Mitte 4 Zellen, von einem ge-
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meinsamen Vorraum aus zugängig und nur mit
Deckenoberlichtern versehen, welche durch das Dach
durchgeführt waren. Diese sog. Tobzellen waren für
besonders schwer erregte Kranke bestimmt. Die
Ventilations-, Heizungs- und Bel euch tungs Verhält¬
nisse in diesen Zellen waren gleichmässig schlechte.
Die Kranken aber, selbst die erregtesten, empfanden
die, wenn auch nur vorübergehende Isolirung in diesen
düsteren, laut hallenden Zellen als eine entwürdigende
Strafe, und doch musste bei der Häufung gefährlicher,
gewaltthätiger und fluchtverdächtiger Kranker meist
jeder vorhandene Raum auf der Zellabtheilung aus¬
genutzt werden. Es wurde daher auf Vorschlag des
Direktors der ganze Mittelbau, der von den 4 Tob¬
zellen und ihrem dunklen Vorraum eingenommen
war, durch Herausnahme der Wände in einen Schlaf¬
saal von 70 qm Grundfläche verwandelt. Die Ober¬
lichter wurden zugebaut und dafür an den beiden
Seiten wänden je ein 2,8 qm grosses Fenster ange¬
bracht. Nach dem bekannten Hitzig’schen Modell
ist der mittlere Teil desselben fest, w'ährend zwei
schmalere Seitentheile um eine vertikale Achse dreh¬
bar sind. Die Scheiben bestehen aus dickem, halb¬
matten Spiegelglas. Hier sind mit Bequemlichkeit
10 Betten zu stellen und dadurch ein geräumiger
freundlicher Schlafsaal für Kranke geschaffen, welche
vorher wegen ihrer Neigung zu nächtlicher Unruhe,
zum Fenstereinschlagen (namentlich auf der Frauen¬
seite) in Zellen untergebracht werden mussten. Nachts
schlafen zwei Wartpersonen in dem Saal, der ausser¬
dem von der über die Abtheilung gehenden Nacht¬
wache kontrollirt wird; der Stationswärter schläft in
einem Zimmer in erreichbarer Nähe. Auch hier
zeigte es sich wieder, dass einzelne Kranke, die, so
lange sie die Zelle bewohnten, zu den unruhigsten
Elementen gehörten, durch die Verlegung in den
Schlafsaal ruhiger und socialer wurden. Die ganze
Abtheilung macht durch den Wegfall der dunklen
Zellen und die Einfügung des grossen, freundlichen
Schlafsaals einen ganz anderen Eindruck. Mit Leich¬
tigkeit lässt sich auch dieser Schlafsaal mit dem an-
stossenden Tageraum zusammen als eine 3. Wach¬
station betreiben, wenn das Bcdürfniss nach einer
derartigen Einrichtung zur dauernden Ueberwachung
gewaltthätiger und dabei Selbstmord- oder fluchtver-
dächtiger Elemente hervortreten sollte.
Die Verminderung der Zahl der Isolirzellen ist,
wie dies vorauszusehen war, durchaus nicht als stö¬
rend empfunden worden, eine weitere Verminderung
derselben ist vielmehr zu Gunsten noch anderer Ein¬
richtungen geplant. Angesichts dieser Thatsache
seien noch einige allgemeine Bemerkungen zu dem
neuerdings wieder entbrannten Streit für oder gegen
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HARVARD UNIVERSUM
180 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15.
die absolut zellenlose Behandlung gestattet. Gerade
die Geschichte unserer Anstalt zeigt ja, dass man
in der ersten Zeit ihres Bestehens mit einer geringeren
Zahl von Zellen auskommen zu können glaubte, als
später, und dass jetzt wieder die Zahl derselben
wesentlich herabgesetzt wird. Aber der jetzige Kampf
gegen die Isolirung ist doch mehr als eine augen¬
blickliche Modesache; überall, wo man ernstlich den
Versuch macht, mit weniger Zellen auszukommen,
zeigt sich, dass es geht und dass die Kranken dabei
besser fahren. Ich möchte, um nicht missverstanden
zu werden, ausdrücklich bemerken, dass ich unter
„Isoliren“ natürlich immer die Unterbringung eines
Kranken für kürzere oder längere Zeit in einem ver¬
schlossenen Zimmer verstehe, das durch seine Ein¬
richtung und Ausstattung gewaltthätige Handlungen
des Kranken verhindert; ob man dem Kranken dabei
in seiner „Zelle“ mehr oder weniger Möbelstücke,
Matratzen oder ganze Bettstellen hineingiebt, ist eine
Frage von untergeordneter Bedeutung und hängt im
Wesentlichen von der Art des unterzubringenden
Kranken ab.*) Gar nichts mit dem Begriff des
„Isolirens“ hat cs zu thun, wenn man einen leicht
erregbaren oder empfindlichen Kranken ein völlig
eingerichtetes, unverschlossenes „Einzelzimmer“ zum
Schlafen, Wohnen oder Arbeiten an weist, damit er
mit den anderen Elementen möglichst wenig zu¬
sammenkommt. Dass eine grosse Anzahl von solchen
behaglich eingerichteten Einzelzimmern in jeder An¬
stalt eine grosse Wohlthat für den Kranken betrieb ist,
steht bei Allen, die darin Erfahrung haben, fest. Was aber
das wirkliche Isoliren in Zellen betrifft, so glaube ich doch,
dass man auch bei weitgehendster Einschränkung diescr
Maassregel nicht soweit gehen darf, wie Watten-
berg u. A.; wenigstens in den Provinzialanstalten
und anderen grösseren Anstalten mit vielen chro¬
nischen Kranken wird man die Isolirung nicht völlig
entbehren können. In den jüngsten Erörterungen
über diese Frage ist als ein Grund sowohl für als
gegen die absolut zcllcnlose Behandlung von beiden
Seiten wiederholt die Zahl der frischen Aufnahmen
einer Anstalt angeführt worden. Man kommt aber
doch mehr und mehr davon ab, frisch erkrankte, neu
aufgenommene Fälle, auch wenn sie sehr erregt sind
und wenn dieser Zustand 2—4 — 6 Wochen anhält,
einfach mit Isoliren zu behandeln. Wir können ja
*) Dass man auch die „Tobzellen“ älterer Anstalten in
freundliche Krankenräume umgestalten kann, wenn nur die
Mittel vorhanden sind, beweist das Beispiel von Hildesheim,
wo Gerstenberg die gänzlich veraltete Zellabtheilung der
Frauenseite in einer, soweit die Verhältnisse es gestatteten,
entsprechenden Weise umgeändert hat.
jetzt, dank der Bettruhe, Dauerbäder, hvdropathischer
oder medicamentöser Behandlung viel mehr indivi¬
dualisieren und lassen solche Fälle ruhig im Wach¬
saal liegen, weil wir sie noch nicht genau kennen
und ausserdem auch weil wir uns bei der frischen
Erkrankung eher einen Erfolg der aufgewandten
Mühe versprechen. Auch das Personal verliert bei
solchen frisch erregten Kranken, auch wenn sie eine
Zeit lang sehr unangenehm sind, weniger leicht
Spannkraft und Geduld. Eine Anstalt mit vielen Neu¬
aufnahmen hat gewöhnlich überhaupt einen grösseren
Krankenumsatz und die Möglichkeit, chronisch ge¬
wordene Fälle irgendwohin abzuschieben. Das fehlt
aber den meisten grösseren (Heil- und Pflege-) An¬
stalten; sie müssen ihre chronischen Kranken, und
gerade die unangenehmsten Fälle gewöhnlich Jahre
lang behalten. Unter diesen finden sich aber die¬
jenigen Elemente, für welche mir die Möglichkeit
einer zeitweiligen Isolirung höchst werthvoll erscheint.
Es sind Epileptiker, Hysterische, Idioten und Im-
becille, überhaupt degenerative Psychosen mit Nei¬
gung zu häufigen Erregungszuständen, sinnlosen Wuth-
ausbrüchcn, Kranke, welche das Aeusserste an Auf¬
reizung ihrer Leidensgefährten, namentlich neu auf¬
genommener Fälle auf der Wachstation, Verdächti¬
gungen des Personals leisten und vor häufigen, wenn
auc h schwächlichen Selbstmordversuchen nicht zurück¬
schrecken. In jeder Pflegeanstalt finden sich der¬
artige Elemente, welche die Geduld ihrer Mitkranken,
die Aufopferungsfähigkeit des Personals in ungebühr¬
licher Weise in Anspruch nehmen. Dabei erreicht
man mit aller auf sie verwendeten Mühe: körperlicher
Behandlung ihrer wirklichen oder angeblichen Be¬
schwerden, Beschäftigungsversuchen, Verlegungen von
einer Station zur anderen, oft noch nicht einmal so
viel, dass ihre jeweilige Abtheilung vor ihnen Ruhe
hat. Für solche Fälle bietet die zeitweilige Isolirung
oft die einzige Möglichkeit, sie unschädlich zu machen
und man kann damit in gewissem Sinne auch er¬
zieherisch auf sie wirken. Sie verlieren nicht allen
Halt, wenn sie wissen, dass es ein Mittel giebt, sie
— für kurze Zeit wenigstens — an Angriffen auf ihre
Umgebung oder auch auf sich selbst zu verhindern.
Verfügt man auf der „unruhigen Abtheilung“ auch noch
über einen Schlafsaal, wie den beschriebenen, der im
Bezug auf Fenster pp., einigen Schutz bietet, so kann
man die wirklichen Isolirungen auch derartiger Kranker
an Häufigkeit und Zeitdauer auf ein Minimum redu-
ciren. Dass dabei eine erhebliche Verminderung der
Zahl der Isolirräume stattfinden kann, beweist das
Beispiel der Göttinger Anstalt.
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HARVARD UNIVERSITY
IQ02.]
PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCIIE WOCHENSCHRIFT. 181
Mittheilungen.
— Ueber die Benennung der Irrenanstalten.
Von verschiedenen Seiten wurde angeregt, das Wort
„Irrenanstalt“ durch eine andere Bezeichnung zu er¬
setzen. Der Name ist nicht ganz zutreffend, er ist
hart und anstössig; gewiss. Es wurde aber auch ge¬
sagt: Es ist heut zu Tage nicht die Irrenanstalt mit
ihrer modernen Einrichtung, die abschreckend wirkt,
sondern einzig nur der Name. Das heisst denn
doch die Motive gar zu sehr an der Oberfläche
suchen.
Die Anstalt, in der Schreiber dieser Zeilen arbeitet,
wird von den Behörden als „Irrenanstalt“ bezeichnet;
die Kranken wissen das; sie lesen auf manchem Brief
die Adresse „Privatirrenanstalt“, sie lesen gelegent¬
lich in der Zeitung „Privatirrenanstalt etc.“ Sie finden
es taktlos, dies Wort zu gebrauchen; eben das Wort
ist ihnen anstössig, wenn es ihnen entgegentritt. Im
Uebrigen machen sie sich nichts daraus, in einer
sog. „Irrenanstalt“ zu sein. Warum ? Weil in dieser
Anstalt im Allgemeinen ausser Nervenkranken nur
leichtere und heilbare Fälle von Psychosen aufge¬
nommen sind. Es ist „eigentlich keine Irrenanstalt“,
und der Name thut wenig zur Sache.
Andererseits, eine Anstalt, wie z. B. das Dresdener
Stadt-Irren- und Siechenhaus, das ausser Geistes¬
kranken und Epileptischen auch zahlreiche Fälle
organischer Nerven- bezw. Rückenmarkskranker, ino¬
perable Karcinomkranke u. dgl. aufnimmt, und das
im Volksmunde allgemein „die Sieche“ heisst, ist
„eigentlich eine Irrenanstalt“; und „in die Sieche
kommen“ ist gleichbedeutend mit „in’s Irrenhaus
kommen“ und „reif für Dalldorf“.
Also der Name macht nicht viel aus; der
Umstand, ob eine Anstalt vorwiegend für Geistes¬
kranke auch schwerer Art bestimmt ist, ist für die
Meinung der Leute ausschlaggebend. Wer kann denn
auch bei ernstlicher Ueberlegung wirklich etwas ande¬
res glauben, wo so viele triftige Gründe vorhanden
sind, sich über die Ueberführung in eine Irrenanstalt
zu erschrecken. Die Erkenntnis^, dass die Anstalt für
den Kranken nöthig, für ihn das Beste ist, dass das
Leben sich dort freundlich und sogar verhältnissmässig
heiter gestalten kann u. s. w'., mildert die Scheu vor
der Anstalt; aber es bleiben immer noch viele Gründe
zu Klagen und zu Besorgnissen, die sich nicht durch
glatte Worte beseitigen lassen.
Nun wird vorgeschlagen, die Irrenanstalt als
Nervenheilanstalt oder Nervcnklinik zu bezeichnen.
Freilich, wenn eine neue Staats-Anstalt plötzlich unter
solchem Namen bekannt würde, würden wohl die
Kranken lieber und eher hineinkommen. Aber was
wäre das andres als eine Täuschung des Publikums,
die bald an’s Lieht kommen würde. Wie steht dann
der Arzt dem Kranken gegenüber, der sich beklagt:
Man hat mich statt in eine Nervenheilanstalt zu
Geisteskranken gebracht!
„Warum den Geisteskranken nicht den Namen
geben, für was sich die sich selbst Bewussten halten:
Nervenkrank?“ Man sollte diese Frage nicht für
möglich halten. Denn so stellt die Sache doch nicht,
dass die Kranken die Geisteskrankheit schlechthin als
Nervenkrankheit bezeichnen; sie thun es im Allge¬
meinen nur für ihre eigene Person; im Uebrigen
unterscheiden sie recht w'ohl beide Begriffe. Und da
sollen wir dem Patienten, der sich aus Mangel an
Krankheitseinsicht für „nur nervenkrank“ hält, seine
Meinung bestätigen ? Unsern Pflegern verbieten wir
es doch, die Kranken ihren verkehrten Ansprüchen
entsprechend zu tituliren. In garnicht seltenen Fällen
ist es sogar geboten, dem Kranken zu sagen, dass er
geisteskrank ist; wie sollten wir das machen, wenn
Geisteskrankheit und Nervenkrankheit Synonyme
wären.
Was endlich die jetzigen Nervenheilanstalten be¬
trifft, so werden sie nach wie vor ein Interesse daran
haben, sich durch eine Bezeichnung von den An¬
stalten zu unterscheiden, die Geisteskranke — im
landläufigen Sinne — aufnehmen. Sie würden für
sich und ihre Kranken eine neue Bezeichnung suchen
und alles wäre wieder beim alten. Sie könnten auch
wegen unlauterem Wettbewerb klagen.
Von jeher haben die Worte ihre Bedeutung von
dem, was sie bezeichnen, nicht von ihrem Wortlaut.
Ein Namenswechsel kann das Urtheil des Publikums
über Geisteskrankheit nicht beeinflussen; dazu ist
mehr nöthig. Es kann nur Aufgabe sein, den Kran¬
ken und ihren Angehörigen so viel wie möglich ein
Wort zu ersparen, das sie schmerzlich berührt. Durch
das Wort „Irrenanstalt“ werden sie oft unnrithig vor
den Kopf gestossen.
Die Benennung mit „Gehirnheil- und Pflegeanstalt“
hat manches für sich, aber vielleicht noch mehr gegen
sich; sie ist gar zu materialistisch, um sich allgemein
einblirgem zu können. Die Privatanstalten, die sich
ihre Bezeichnung selber geben, sind der Schwierigkeit
seit lange dadurch begegnet, dass sie sich Anstalten
„für Nerven- und Gemüthskranke“ nennen. „Ge-
müthskrank“ ist ja auch nicht ganz zutreffend; aber
durch die Zusammenstellung mit „nervenkrank“ wird
cs so verstanden, wie es verstanden werden soll.
Diese Bezeichnung hat nicht das Anstössige der
„Irrenanstalt“ und ist seit einem halben Jahrhundert
dafür im Gebrauch. —f.
— Aus Baden. Am 27. Juni 1902 stand in
der badischen II. Kammer die Frage der Errichtung
zweier neuer Landesirrenanstalten — Heil- und Pflege¬
anstalten — zur Verhandlung.
In einem ausführlichen Referate, das auch ge¬
druckt vorliegt und das Interesse jedes Irrenarztes
durch seine Gründlichkeit und ein tiefes Verständnis**
für die Aufgaben der Irrenfürsorge wie auch unseres
irrenärztlichen Berufes zu fesseln geeignet ist, stellte
sieh der Abg. Wacker im wesentlichen auf den
Boden der von der Sachverständigenrommis-
sion ausgearbeiteten und von der Regierung
anerkannten Denkschrift und redete in ein¬
dringlichster Weise den gemachten Anforderungen
das Wort. Auch von sämmtlichen andern Rednern
wurde die Bedürfnissfrage durchaus bejaht und den
Forderungen der Sachverständigen beige-
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HARVARD UNiVERSITY
18.2 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15
stimmt, wie überhaupt für die Irrenfürsorge und die
Thätigkeit der Anstalten ungeteiltes Interesse und
Wohlwollen zum Ausdruck kam.
Die lokalen Wünsche einzelner Bezirke wurden
zurückgestellt und die allgemein ärztlichen und psychi¬
atrischen Gesichtspunkte für die Wahl des Ortes als
ausschlaggebend anerkannt.
Schliesslich wurde die Anforderung der Regierung
auf zunächst 400000 M., davon für Erstellung einer
neuen Irrenanstalt bei Wiesloch (vorwiegend Pflege¬
anstalt für das Unterland) 390000 M. und 10000 M.
zu Vorarbeiten behufs Erstellung einer neuen Irren¬
anstalt bei Reichenau (Heil und Aufnahme- , sowie
Pflegeanstalt für die Seegegend) — beide mit dem
Namen Heil- und Pflegeanstalten — vom Landtage
einstimmig genehmigt. Allgemein war man sich
klar, dass mit dieser Anfangsbewilligung zugleich
die Festlegung einer Summe von ca. 8 Millionen zum
Ausbau der beiden Anstalten für die künftigen Bud¬
getperioden ausgesprochen sei. Ebenso allgemein
wurde auch jetzt schon anerkannt, dass es auf diesem
Gebiete keinen Stillstand gebe und die unausbleiblichen
späteren Anforderungen von noch weiteren neuen An¬
stalten ebenso bewilligt werden müssten. So hat die
Verhandlung im badischen Landtage einen für die
Irrenfürsorge des Landes würdigen Abschluss gefunden
und eine neue Aera der staatlichen Anstaltsfürsorge
gleich würdig erschlossen.
— München. 27. Juni 1902. In der heutigen
Plenarsitzung der bayerischen Abgeordnetenkammer
wurde das Postulat für Errichtung einer Irren¬
klinik an der Universität München, von 1 200000
M., einstimmig angenommen. Quod bonum, felix,
faustumque!
— Darmstadt, den 30. Juni. Die zweite Kam¬
mer beschloss heute die Errichtung zweier neuer
Irrenanstalten, einer bei Giessen im Anschluss an die
psychiatrische Klinik und einer bei Alzey. —
— Eröffnungsfeier der zweiten mittelfränki¬
schen Kreisirrenanstalt zu Ansbach.*) Ans¬
bach, 28. Juni. Auf Einladung der k. Regierung
von Mittelfranken hatte sich heute Vormittag 10 Uhr
im Bet- und Erholungshaus der neuen Irrenanstalt
eine hochangesehene Gesellschaft eingefunden, em¬
pfangen von der Direction und der Bauleitung der
Anstalt. In dem mit Blumen prächtig geschmückten
Foyer des Bethauses begrüsste Regierungspräsident
Dr. v. Schelling Namens der k. Regierung von
Mittelfranken, sow-ie auch Namens der Staatsregierung,
ganz speciell aber auch Namens des Ministers Dr.
Freiherrn von Feilitzsch, der zu seinem eigenen Be¬
dauern verhindert sei, der heutigen Feier beiwohnen
zu können, die Erschienenen und dankte dem mittel¬
fränkischen Landrath für sein warmherziges Verständ¬
nis für die sociale Aufgabe der Zeit, für das tiefe
Mitgefühl für die Aermsten unter den Armen ihrer
Kreisangehörigen und für die im Vaterlande noch
nicht i'ibertroffene Opferwilligkeit, sowie der Bauleitung
und ihren Organen für ihre segensreiche Thätigkeit. Er
sprach die Hoffnung aus, dass die Anstalt den Zweck,
dem sie dienen soll, voll und ganz erreichen werde.
*) Siehe Seite 7, Jahrgang II dieser Zeitschrift.
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Anschliessend hieran ergriff Herr Kreisbaurath
Förster, der Erbauer des Ganzen, das Wort. Nach
einem gedrängten Ueberblick über die Entwicklung
und den Fortgang der Bau thätigkeit, der erkennen
liess, mit welchen Schwierigkeiten die Bauleitung, die
Zoll für Zoll die Plätze für die Gebäude dem bergi¬
gen, zähen und steinigen Boden abringen musste, zu
kämpfen hatte, übergab er unter Worten w f armen
Dankes an die Regierung und den Landrath von
Mittelfranken, an den Director der Kreisirrenanstalt
Erlangen, Herrn Medizinalrath Dr. W ü r s ch m i d t,
an seine Unterbeamten, an die Lieferanten und Ar¬
beiter die Anstalt dem Auftraggeber und Bauherrn,
dem Kreis Mittelfranken, vertreten durch den anwe¬
senden Landrath, zu Händen seines Präsidenten, Pro¬
fessor Dr. Eheberg, und bat ihn, über die Anstalt
zu verfügen. Namens des mittelfränkischcn Landraths
übernahm Professor Dr. Eheberg die Anstalt. Schon
vor sieben Jahren sei der Gedanke der Errichtung
einer zweiten mittelfränkischen Kreisirrenanstalt aufge¬
taucht, man habe aber den mit diesem Project ver¬
bundenen ungeheueren Kosten und der dermaligen
Unsicherheit auf dem Gebiet des Systems der Irrcn-
behandlung durch Erweiterung der Erlanger Anstalt
zu begegnen gesucht; gezwungen durch die wachsende
Zahl der Erkrankungsfälle sei man dennoch bald da¬
rauf zur Errichtung einer zweiten mittelfränkischen
Kreisirrenanstalt gekommen. Das Project sei in seiner
Ausführung nun soweit fortgeschritten, dass man heute
die Anstalt nahezu vollendet der Ocffentlichkeit über¬
geben könne. Unter Worten der Mahnung, die An¬
stalt zu dem zu machen, was der Landrath von
Mittelfranken von ihr erhofft, und den Kranken unter
Berücksichtigung thunlichster Freiheit diejenige Pflege
und Hilfe angedeihen zu lassen, die ihr bejammems-
werther Zustand erheischt, übergab Redner die Anstalt
ihrem ärztlichen Leiter, Herrn Direktor Dr. Herfcldt.
Anschliessend an die Dankeserstattung an alle Be¬
theiligten gab dieser einen interessanten Ueberblick
über die Entwicklung der Erkenntniss geistiger Er¬
krankung und der Irrenpflege vom Alterthum bis zum
Mittelalter, über den Verfall der Irrenpflege im Mittel-
alter und die zu dieser Zeit an Stelle der bereits im
Alterthum bethätigten Fürsorge für Geisteskranke ge¬
tretene, durch Aberglauben und Gefühlsroheit genährte,
geradezu unmenschliche Behandlung der als Zauberer,
böse Geister, Hexen und dergl. angesehenen Geistes¬
kranken mittelst Peitsche, Folter und Feuer, ferner
über den Aufschwung der Psychiatrie in neuer und
neuester Zeit und ihren heutigen hocherhabenen
Standpunkt. Mit dem Versprechen, die übernommene
Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen zu
wollen, übernahm Dr. H erfeldt die Anstalt und schloss
seine Ausführungen mit einem dreifachen Hoch auf
Se. k. H. den Prinz-Regenten, in das die Anwe¬
senden begeistert einstimmten. Ein sich anschliessen¬
der Rundgang durch die Anstalt, der die Versiche¬
rungen der Bauleitung, sow ie der Direktion, dass hier
nichts versäumt worden sei, um jenen Unglücklichsten
untep den Menschen ihre schwere Noth in jeglicher
Weise zu erleichtern, mehr wie bestätigte, schloss die
erhebende Feier. (Münch. Neueste Nachrichten.)
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HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 183
— Bei dem grossen Interesse, welches der Fall
v. Münch*) in der Tagespresse in Anspruch nimmt
und thatsächlich auch geniesst, glauben wir den Lesern
dieser Fachzeitschrift in extenso die württembergische
Landtagsverhandlung, welche erneute Anträge des
Freiherrn v. Münch zum Gegenstand hatte, (nach
der „Beilage zum Staatsanzeiger von Württemberg“
v. 24. 6. 1902) zugänglich machen zu müssen, zumal
bei dieser Verhandlung psychiatrische Gesichtspunkte
von allgemeiner Bedeutung zur Sprache kamen.
Stuttgart, 21. Juni. (114. Sitzung der Kammer
der Abgeordneten, vormittags 9 Uhr.)
Den Vorsitz führt Präsident Payer.
Am Ministertisch: Ministerpräsident Staatsminister
der Justiz Dr. v. Breitling, der Staatsminister des
Innern Dr. v. Pischek, Ministerialrath Schwab,
Ministerialrath H ofman n.
Antrag der Petitionskommission zu den Eingaben
des Frhrn. v. Münch auf Hohenmühringen, jetzt
in Berlin.
Ref. Nieder theilt mit, dass im ganzen 7 Ein¬
gaben vorliegen, davon 2 mit Abschriften von Be¬
schwerden an den Bundesrath und an das Reichs¬
justizamt; ausserdem hat der Petent 2 umfangreiche
Broschüren an die einzelnen Mitglieder des Hauses
gesandt. Bezüglich der 4 Eingaben aus dem Jahre
iqoi beantragt die Kommission ohne weiteres Ueber-
gang zur Tagesordnung; die Petitionen (woraus der
Referent bezeichnende Stellen verliest) beweisen zweifel¬
los, dass der Petent, der gegen alle mit ihm amtlich in
Berührung kommenden Personen die’maasslosesten Be¬
schuldigungen erhebt, damals an hochgradiger Ver¬
folgungssucht litt. Die drei neuesten Eingaben haben
die Verfügung der Kreisregierung betr. die (nicht voll¬
zogene) vorläufige Einweisung von Münchs als gemein¬
gefährlichen Geisteskranken in eine Staatsirrenanstalt
und die damit zusammenhängenden Maassregeln zum
Gegenstand. Die letzte Eingabe vom 3. Mai d. J.
ist veranlasst durch eine Entschließung des Ministeriums
des Innern vom 13. April d. J., wodurch die Auf¬
hebung der vorläufigen Einweisungverfügung neuer¬
dings abgelehnt wurde. Demgegenüber bittet der
Petent um Fassung eines seinen Gesuchen um Auf¬
hebung der Zwangseinweisung und jeder Beschränkung
seines Aufenthaltsrechtes entsprechenden Beschlusses
durch die Kammer. Wenn ihm nicht volle Bewegungs¬
freiheit zur Verwaltung seiner Güter gegeben werde,
müsse er seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat
einstellen. Die Kommission hat von der Einsichtnahme
sämmtlicher über Frhrn. v. Münch erwachsenen Akten
abgesehen, da das Urtheil des Verwaltungsgerichtshofs
im Zusammenhalt mit den Eingaben des Petenten
und den Erklärungen des Staatsministers des Innern
eine genügende Grundlage für die Entschliessung
bildet. Eine Nachprüfung der Frage, ob die vor¬
läufige Einweisung rechtlich begründet war, steht der
Kammer nicht zu, da diese Frage durch die zuständigen
Gerichte ordnungsmässig und rechtskräftig entschieden
ist. Dagegen ist die Kammer befugt, die Zweck¬
mässigkeit und Nothwendigkeit der polizeilichen Ein¬
weisungsverfügung zu prüfen, sowie darüber sich aus-
*) Siehe Seite 410, 430, 458 des vorigen Jahrgangs.
zusprechen, ob die Aufrechterhaltung dieser polizei¬
lichen Verfügung auch jetzt noch geboten ist. Die
erste Frage, ob die polizeiliche Einweisungsverfügung
seinerzeit mit Grund ergangen ist, bejaht die Com¬
mission. Die Polizeibehörden haben mit Recht so¬
wohl die Voraussetzung der Geisteskrankheit als die
der Gemeingefährlichkeit als gegeben erachtet. Die
Kammer hat selbst im Jahr 1897 bei der Petition
einer Frau, worüber seinerzeit der Abg. Kloss Bericht
erstattete, die Auffassung ausgesprochen, dass fort¬
gesetzte unbegründete Ehrenkränkungen von Personen
und Behörden, gegen die wegen Geisteskrankheit des
Urhebers bei den Gerichten kein Schutz zu finden
ist, ein Moment der Gemeingefährlichkeit darstellen,
das die Einweisung in eine Irrenanstalt rechtfertigt.
Das war eine arme Frau, deren Injurien lange nicht
die Bedeutung hatten wie bei Frhr. v. Münch, der
seine Beschuldigungen bis an die höchsten Stellen zu
bringen weiss. Referent erörtert ferner die verschie¬
denen Fälle von Gewalttätigkeiten v. Münchs, wie
sie aus dem Erkenntniss des Verwaltungsgerichtshofes
bekannt sind. Die Neigung des Petenten zu unbegrün¬
deten Drohungen und Thätlichkeiten ist unbestreitbar;
das gewöhnheitsmässige Mitführen von Waffen ist bei
einem Geisteskranken schon an sich eine Gefahr. Die
Commission hält es daher nicht für angezeigt, wegen
der polizeilichen Einweisungsverfügung bei der Staats¬
regierung vorstellig zu werden. Aber auch dazu sieht sich
die Commission nicht veranlasst, für die Wiederaufhebung
der Einweisungsverfügung bezw. für die Unterlassung
der Begleitung v. Münchs durch Irrenwärter bei seinen
Aufenthalten in Württemberg sich zu verwenden.
Eine wesentliche Aenderung des Geisteszustandes des
Petenten lassen die neuesten Eingaben nicht erkennen;
v. Münch fährt fort mit schweren Beschuldigungen
gegen alle möglichen Behörden, er hält alle seine
früheren Handlungen noch jetzt für gerechtfertigt, ist
irgend welcher Belehrung nicht zugänglich. Auch in
den vielen Eingaben an das Ministerium wiederholen
sich die schwersten und sonderbarsten Beschuldigungen;
u. a. bezichtigt er den Staatsmihister des Innern der
Kuppelei (Grosse Heiterkeit), weil ein ihn be¬
gleitender Irrenwärter sich häufig mit der
Köchin v. Münchs unterhalte und bereits ein-
maljnit ihr zu Nacht gegessen habe (Heiterkeit).
Von einer Aufhebung der seitherigen Bewachung haben
die Medizinalbehörden entschieden abgerathen. Auch
die Commission möchte die Verantwortung dafür
nicht übernehmen. Allerdings hat die Commission
nicht verkannt, dass es ein nicht befriedigender Zu¬
stand ist, wenn die Zivilgerichte den Frhrn. v. Münch
als geschäftsfähig, die Strafgerichte als unzurechnungs¬
fähig betrachten, wenn er in Württemberg als gemein¬
gefährlich bewacht wird, in Preusscn dagegen unge¬
hindert verkehren kann. Allein es ist in Aussicht zu
nehmen, dass dieser Rechtszustand in nicht zu ferner
Zeit eine Aenderung erfahren wird, sofern bei einem
der zahlreichen Prozesse, die Frhr. von Münch jetzt
noch führt, seine Geschäftsfähigkeit unter Beweis ge¬
stellt worden ist. Je nachdem die Entscheidung
des Gerichts ausfällt, wird das Ministerium zu einer
neuen Prüfung der Intemierungsfrage veranlasst sein.
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HARVARD UNIVERSITY
i«4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 15.
$« »dann hat der Minister des Innern persönlich wegen
der Broschüren v. Münchs Strafantrag in Berlin ge¬
stellt, so dass jetzt auch die preussischcn Gerichte
über die Geisteskrankheit v. Münchs sich werden aus¬
sprechen müssen. Die Commission gelangt c i n -
stimmig zu dem Antrag, über sämmtliche Eingaben
zur Tagesordnung überzugehen. (Referent sprach
etwa 1 3 / 4 Stunden.)
Präs. Payer: Es ist wahrend der Verhandlung
eine weitere telegraphische Eingabe des Petenten ein¬
gebauten (Heiterkeit), die ich der Commission zu
Händen des Berichterstatters übergebe.
H a u s s m a n n - Balingen : Auf die Rechtsfragen,
die rechtskräftig entschieden sind, will ich nicht ein-
gehen, wenn ich auch nicht alle Entscheidungen für
zutreffend halte. Hicher würden z. B. gewisse Dis¬
pensationen von den Bestimmungen des Irrenstatuts
gehören. Dagegen erhebt sich mir die Frage: Lag
eine Internierungsnothwendigkeit vor ? Die Thätlich-
keiten, die Herrn v. Münch vorgeworfen werden, sind
nach meinem persönlichem Eindruck unbedeutende
Fälle, im Fall Blatt kann der Gegenbeweis gegen
das Vorbringen der Nothwehr nicht geführt werden.
Uebrigcns hat ja die Verwaltung selbst auf Reklamation
der preussischcn Regierung den Petenten entlassen
und derselbe hält sich jetzt in anderen deutschen
Staaten uninternirt auf, ohne Thätlichkeiten zu voll¬
führen. Es ist doch ein etwas bedrückendes Gefühl:
hier muss er eingesperrt werden, wo anders kann man
ihn frei laufen lassen. Die zweite Frage ist: kann
man jemand interniren wegen Verbalinjurien in Schrift¬
sätzen u. dgl. ? Nach meinem persönlichen Stand¬
punkt kann ein so weit gehender Eingriff nicht auf
blosse Injurien gestützt werden, solange diese Injurien
nicht den Charakter einer Störung der öffentlichen
Ordnung annehmen. Jedermann liest dergleichen doch
mit dem Bewusstsein, einer nicht normalen Persönlich¬
keit gegenüberzustehen. Ausserdem liegt ja aber in
der Internirung gar keine Abhilfe, die Fluth der
Mtinchschen Eingaben hat sich seit der Intcrnierungs-
verfügung eher vergrössert, und sogar aus der Anstalt
heraus könnte er noch seine Eingaben machen. Das
Abhilfsmittel versagt also vollständig. Ist der Zustand,
der jetzt besteht, überhaupt gesetzlich richtig und
haltbar? Er läuft hinaus auf die Exilirung eines
Geisteskranken ausserhalb Württembergs. Ich finde
nirgends, dass das Irrenstatut eine Handhabe zu einer
so abnormen Behandlung giebt. Dieser Zustand ist
auf die Dauer nicht haltbar, und da ist doch zu er¬
wägen, ob es dann nicht viel bequemer für die Re¬
gierung ist, wenn wir über die letzte Eingabe — von
der rede ich allein — nicht unbedingt zur Tagesord¬
nung übergehen, sondern der Regierung Anlass geben
zu einer etwas plausibleren Gestaltung der Verhältnisse.
Namentlich aber wird man sich vor Parallelactionen
hüten müssen, an die der Fall Hegelmaier keine glück¬
lichen Erinnerungen zurückgelassen hat. Die Voraus¬
setzung der Strafverfolgung ist die Zurechnungsfähig¬
keit, und nun erhebt dieselbe Verwaltung, die auf dem
Standpunkt steht, dass bei Herrn v. Münch absolute
unheilbare Geisteskrankheit vorliegt, Strafklagc in Ber¬
lin ! Zu indirecten Feststellungsklagen ist das Straf¬
verfahren nicht da. Ucberweiscn wir die letzte Ein¬
gabe zur Kenntnissnahme oder Erwägung, so geben
wir der Verwaltung Anlass, die Angelegenheit auf ein
weniger unerspriessliches Gleis zu bringen. An sich
ist ja der Petent ein unglücklicher Mensch, der durch
die Art seiner Eingaben sich vollends um jeden Rest
von Sympathie bringt.
v. Gcss: Der Antrag der Commission ist durch¬
aus begründet. Anhaltspunkte für eine unrichtige
Verfügung der Behörden sind nicht gegeben. Dass
der Petent in Preussen bis jetzt keine gemeingefähr¬
lichen Handlungen begangen hat, beweisst nichts.
In Württemberg hat er nachgewissenermassen eine Reihe
von Gewaltthaten begangen und unzweifelhafte Spuren
von Geisteskrankheit gezeigt. Die württ. Behörden
waren also berechtigt, die gebotenen Massnahmen
gegen ihn zu ergreifen. Dass die Zivilgerichte die
Handlungsfähigkeit des Petenten anerkennen, während
seine strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint wird,
ist allerdings ein fataler Zustand, lässt sich aber nicht
ändern, denn wir können in die Verfügungen der Ge¬
richte nicht eingreifen.
Ref. Nieder regt an, ob nicht behufs Commissions-
berathung der neuesten Eingabe eine Pause von 10
Min. gemacht werden sollte. Piäs. Payer bittet, ein¬
mal das Nöthige vorzutragen, unter Umständen könne
man dann immer noch Commissionsberathung cintreten
lassen. Nieder fortfahrend: Frhr. v. Münch be¬
schwert sich in dem Telegramm, dass er beim Be¬
richterstatter vergeblich angefragt und keinen Bescheid
erhalten habe. Frhr. v. Münch hat thatsächlich tele¬
graphisch dieser Tage von mir wissen wollen, ob be¬
stimmt der Einweissungsbesrhluss gegen ihn aufge¬
hoben werde? Rückantwort war bezahlt. Ich habe
die Antwort gegeben: die Frage könne erst nach der
betr. Sitzung beantwortet werden. In einem zweiten
Telegramm hat v. Münch angefragt, ob seine Sache
gewiss heute verhandelt werde. Darauf habe ich er¬
widert, die Antwort darauf sei nicht Sache des Be¬
richterstatters. Ich habe Bedenken getragen, bei dem
Gesundheitszustand dieses Herrn dazu zu verhelfen,
dass er unserer heutigen Sitzung anwohnt; es wäre
schon für einen normalen Menschen keine Kleinigkeit,
all das Unangenehme hier anzuhören und sich nicht
rühren zu dürfen. Ich habe in dieser Sache auch
dem Herrn Minister des Innern Mittheilung gemacht.
(Schluss folgt.)
y^T"' Den dieser Nummer beiliegenden Prospekt
von
J. F. Lehmanns Verlag, München, Heustr. 20,
halten wir zur Beachtung empfohlen.
tür den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt L)r. J. liresler Kr.rschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schleus der Inseratenannahme 3 Tage vor der Aukube. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hcvnemann’scbe P.uchdruckerei (Gcbr. "Woiff) in Halle a. S.
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i86
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 16.
Verzeichn iss der vorliegenden Berichte.
Deutschland.
Premsen.
Prov. Ostpreussen.
1. Bericht über die Irrenanstalten Allenberg,
K o r t a u und T a p i a u für das Jahr 1900.
2. Bericht über die Idioten-Anstalt zu Rasten -
bürg für die Zeit vom 1. April 1899 bis 31. März
1901.
Prov. W e s t p r e u s s e n.
3. Bericht über die Verwaltung der westpreussi-
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Sch wetz für das
Rechnungsjahr 1. April 1900/01.
4. Bericht über die Verwaltung der westpreussi-
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Conrad st ein für
das Rechnungsjahr 1. April 1900/01.
5. Bericht über die Verwaltung ‘der wcstpreussi-
schen Provinzial-Irrenanstalt zu Neustadt für das
Rechnungsjahr 1. April 1900/01.
Prov. Pommern.
6. IV. Bericht über die Pommersehe Provinzial-
Irrenanstalt bei U eckermünde für die Zeit vom
1. April 1895 bis 31. März 1900.
Prov. Posen.
7. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu
Dziekanka für die Zeit vom I. April 1900 bis
31. März 1901.
8. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu
Owinsk für die Zeit vom 1. April 1900 bis 31.
März 1901.
Prov. Schlesien.
9. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu Brieg
über das Jahr 1900/01.
10. Aerztlicher Jahresbericht der Provinzial-Irren¬
anstalt zu Bunzlau. 1900 01.
11. Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Frei¬
burg, Schlesien. Achter Jahresbericht (Etatsjahr 1900).
12. Provinzial-Irrenanstalt zu Lcubus. Aus dem
Jahresbericht 1900/01.
13. Aus dein ärztlichen Bericht über die Verwal¬
tung der Provinzial-Irrenanstalt zu Plagwitz für das
Etatsjahr 1900.
14. Aerztlicher Bericht über das Verwaltungsjahr
1900 01 der Provinzial-Irrenanstalt Rybnik.
13. Breslau. Bericht über die Verwaltung des
städtischen Irrenhauses für die Zeit vom 1. April 1900
bis 31. März 1901.
Prov. Brandenburg.
16. Auszug aus dem Verwaltungsbericht des bran-
denburgischen Provinzial-Ausschusses für 1901.
17. Venvaltungsbericht der brandenburgischen
Landesirrenanstalt in Ebersw'alde für das Kalender¬
jahr 1901.
18. Verwaltungsbericht der brandenburgischen
Landesirrenanstalt in So rau N.-L. für das Kalender¬
jahr 1901.
19. Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin
für das Etatsjahr 1900. Nr. 19. Bericht der Depu¬
tation für die städtische Irrenpflege.
20. Dritter Bericht des Vereins Heilstätte für
Nervenkranke „Haus Sch ö n o w “ in Zehlendorf
bei Berlin.
Prov. Schleswig-Holste in.
21. Bericht über das 80. Verwaltungsjahr der
Provinzial-Irren-Heil- und Pflege-Anstalt bei Schles¬
wig für die Zeit vom 1. April 1900 bis ultimo März
1901.
Prov. Hannover.
22. Aerztlicher Bericht über die Provinzial-Heil-
und Pflege-Anstalt zu Göttingen für das Rechnungs¬
jahr 1900.
23. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalt zu Hildes heim vom 1. April 1900 bis Ende
März 1901.
24. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalt zu Osnabrück für das Rechnungsjahr 1900.
25. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalt für Geistesschwache zu Langenhagen bei
Hannover vom 1. April 1900 bis 31. März 1901.
Prov. Sachsen.
26. XXVIII. Jahresbericht pro 1900 über das Er-
zichungshaus für schwach- und blödsinnige Mädchen
„Zum guten Hirten“ zu Hasserode bei Wernigerode.
Prov. Westphalen. *)
27. Sechsundzwanzigster Bericht über die Thätig-
keit des St. Johannes-Vereins, insbesondere über die
Idioten-Anstalt zu Nied er-Marsberg p r*» 1900.
Rhein p r o v i n z.
28. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalten der Rheinprovinz. Rechnungsjahr pro
1900/01.
29. 1. Jahresbericht des Hülfsvcreins für Geistes¬
kranke in der Rheinprovinz. Jahrgang 1901.
30. DerTannenhof bei Lüttringhausen. Evan¬
gelische Heil- und Pflege-Anstalt für Gcmüths- und
Geisteskranke. Bericht über die Entstehung und die
ersten 5 Arbeitsjahre.
•) Anmerkung beider Correctur. Erst nach Ab¬
sendung des Manuscriptes erschien der Bericht über die west-
phiili sehen Provinzialanstalten Marsberg, Een ge rieh»
Münster, Aplerbeck, Eickelborn, welcher daher leider
nicht berücksichtigt werden konnte, obgleich er manches Inter¬
essante bringt. Ich will versuchen bei der Correctur einiges
nachzutragen.
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 187
31. Dreiundvierzigster Bericht über Hephata,
evangelische Idioten-Erziehungs- und Pflege-Anstalt
zu M.-Gladbach vom Jahre 1901.
Prov. Hessen-Nassau.
32. Jahresbericht über die Heil- und Pflege-An¬
stalt Eichberg im Rheingau vom 1. April 1900 bis
3 1. März 1901.
33. Bericht über die Verwaltung der Irrenheil-
und Pflege-Anstalt Weilmünster für das Rechnungs¬
jahr vom 1. April 1900 bis 31. März 1901.
34. Bericht über die Anstalt für Irre und Epi¬
leptische zu Frankfurt a. M. vom 1. April 1898 bis
3 1. März 1901.
Bayern.
35. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Bayreuth
für das Jahr 1900.
30. XV. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Ga-
bersee für das Jahr 1900.
37. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt München
über das Jahr 1900.
Württemberg.
38. Bericht über die im Königreich Württemberg
bestehenden Staats- und Privat-Anstalten für Geistes¬
kranke, Schwachsinnige und Epileptische auf das Jahr
1899. I. A. des K. Minist, des Innern herausgeg.
vom K. Medicinalkollegium.
39. Vierundfünfzigster Jahresbericht der Heil- und
Pflcgeanstalt für Schwachsinnige in Mari ab e rg vom
Jahre 1900—1901.
40. Dreiundfünfzigster Jahresbericht der Heil- und
Pf lege-Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische
in Stetten i. Remsthal 1900/01.
Sachsen.
41. Das Irren wesen im Königreich Sachsen im
Jahre 1900. Sep. -Abdr. a. d. 32. Jahresbericht des
Königl. Landes-Medicinalkollegiums.
Mecklenburg.
4 2. Verwaltungsbericht der grossherzoglich Meck¬
lenburgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Gehls-
heim für 1900.
43. Verwaltungsbcricht der grossherzogl. Mecklen¬
burgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Sachsen-
berg für 1900.
Sachsen - A ttenbu rg .
44. Zweiundvierzigste statistische Nachricht über
das Genesungshaus zu Roda auf das Jahr 1900.
Hohenxoüern.
45. Aerztlicher Jahresbericht über das Fürst Carl-
Landesspital zu Sigmaringen für das Jahr 1900.
Eisass - Loth ringen .
46. Bericht über die Verwaltung der vereinigten
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Bezirksirrenanstalt Stephansfeld-Hördt für die Ver¬
waltungsperiode vom 1. April 1900 bis 31. März 1901.
47. Verwaltungsbericht der Bezirks-Irrenanstalt bei
Saargemünd für das Rechnungsjahr 1900.
Hansestädte.
48. Bericht der Verwaltung der Irrenanstalt Fried¬
richsberg in Hamburg vom Jahre 1900.
49. Briefe und Bilder aus Alsterdorf. 26. Jahres¬
bericht 1901.
50. Aerztlicher Bericht über die Wirksamkeit der
Krankenanstalt zu Bremen im Jahre 1900.
51. Bericht über die Wirksamkeit der Privat-Heil-
und Pflege-Anstalt für Nervenleidende und Geistes¬
kranke des Dr. med. Hermann Engelken zu Rock-
winkel im Jahre 1900.
52. Jahresbericht der Vorstcherschaft der Irrenan¬
stalt über die Verwaltung im Jahre 1900. Lübeck.
Oesterreich-Ungam.
53. Niedernhart. Bericht über die oberöster¬
reichische Landes-Irrenanstalt für das Jahr 1900.
54. Rechenschaftsbericht der Salzburger Lan¬
desheilanstalt für Geisteskranke über das Jahr 1900.
55. Jahresbericht der Landes-Irrenanstalt Valduna
pro 1900.
56. Bericht der Landes-Irren-Heil- und Pflege-
Anstalt Feldhof bei Graz, nebst den Filialen
Lankowitz, Kainbach und Hartberg über das Jahr
1900.
Zugleich Bericht der Landes-Irren-Siechen-An¬
stalt Schwanberg.
57. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1900, ver¬
öffentlicht vom k. ung. Minist, d. Innern.
Schweiz.
58. Bericht über die kantonale Heil- und Pflege-
Anstalt Friedmatt 1900.
59. Evangelische Heilanstalt ,,Sonnenhalde“ für
weibl. Gemüthskranke bei Riehen. Erster Jahresbe¬
richt 15. Okt. 1900 bis 31. Aug. 1901.
60. Jahresberichte der bernischen kantonalen Irren¬
anstalten Waldau, Münsingen und Bellelay für
das Jahr 1900.
61. Achter Jahresbericht des kantonalen Asyles
in Wil vom 1. Jan. bis 31. Dec. 1900.
62. Dreiundvierzigster Jahresbericht der Heil- und
Pflege-Anstalt Sit. Pirminsberg pro 1900.
63. Rechenschaftsbericht über die Züricherische
kantonale Irrenheilanstalt Burghülzli für das Jahr
1900.
64. Jahresbericht der Direction und Verwaltung
der Pflegeanstalt Rheinau pro 1900.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
188
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16.
65. Zwölfter Jahresbericht der Trinker-Heilstätte
zu Ellicon a. d. Thur über das Jahr 1900.
66. Jahresbericht der Privat-Heilanstalt „Fried¬
heim“, ZihIschlacht (Thurgau) 1900.
67. Jahresbericht der Thurgauischen Irrenanstalt
Münsterlingen pro 1900.
68. Neunter Jahresbericht der kantonalen Irren-
und Kranken-Anstalt Waldhaus pro 1900.
69. Rapport annuel. Asile de Cery 1900.
Statistisches.
In den meisten Anstaltsberichten nehmen, neben
dem Kassenbericht und den ökonomischen Ergeb¬
nissen, die statistischen Mittheilungen den grössten
Raum ein. So wichtig und interessant diese für die
Chronik der einzelnen Anstalt sein mögen, für die
Beurtheilung allgemeiner Gesichtspunkte lassen sic
sich nur in recht beschränktem Umfange verwerthen.
Das liegt hauptsächlich daran, dass die Aufstellungen
und Berechnungen in den verschiedenen Verwaltungs¬
bezirken unter Zugrundelegung ganz verschiedener
Principien gemacht werden, sodass sie nur wenige
direkt vergleichbare Ergebnisse liefern. Ich darf da¬
her hier wohl auf eine eingehendere Darstellung der
Verhältnisse verzichten und mich darauf beschränken,
einige wichtigere Punkte hervorzuheben.
Die statistischen Mittheilungen über die Kranken¬
bewegung gruppiren sich naturgemäss nach Zugang,
Abgang und Bestand. In' einem zweiten Abschnitte
werden dann besondere Ereignisse oder Unglücksfalle
zu berichten sein.
a) Krankenbewegung.
Die blosse Zahl der Aufnahmen einer Anstalt
genügt nicht, um sich über die Morbidität ihres Auf¬
nahmebezirkes ein Bild zu machen; man müsste dazu
mindestens noch die Gesammtzahl und Art der Be¬
völkerung des Bezirkes kennen. Und eine eventuelle
Zu- oder Abnahme der Aufnahmeziffer gegen die
Vorjahre kann so verschiedenartige Ursachen haben,
dass auch damit nicht viel anzufangen ist.
Was das Geschlecht der Aufnahmen angeht,
so überwiegt in der grossen Mehrzahl der Anstalten
das männliche an Zahl ganz bedeutend (z. B. Bres¬
lau 499 M., 241 F., Eberswalde 151 M., 111 F.,
Eichberg 111 M., 58 F.). An einigen sind die Unter¬
schiede geringer oder verschwinden ganz (z. B. Owinsk
68 M., 62 F., Sachsenberg 58 M., 58 F., Stephans¬
feld 156 M., 161 F.). Endlich findet sich an einer
kleinen xAnzahl von Anstalten das umgekehrte Ver¬
halten, ein beträchtliches Ueberwiegen der weiblichen
Aufnahmen (Freiburg i. Schl. 39 M., 90 F., Niedern¬
hart 245 M., 288 F.). Den Ursachen dieser Er¬
scheinung nachzugehen, wäre gewiss interessant; doch
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können natürlich die nackten Zahlen der Berichte
darüber keine Anhaltspunkte ergeben; es bedürfte dazu
spezieller Erhebungen.
Hinsichtlich des Lebensalters, in dem die
Krankheit zuerst in die Erscheinung tritt, findet sich
allenthalben die bekannte Thatsache bestätigt, dass
das rüstigste Aller, etwa vom 20. — 40. Lebensjahre,
bevorzugt ist. Die Uebereinstiintnung ist so gross,
dass es überflüssig ist, Zahlen herzusetzen. Viele Be¬
richte geben übrigens nicht das Alter zur Zeit der
Erkrankung, sondern das zur Zeit der Aufnahme an,
und da reicht denn naturgemäss das bevorzugte Alter
etwas höher hinauf, etwa bis 50. Das höhere Lebensalter
(über 70) ist allenthalben nur mit kleinen Zahlen
vertreten. Das rührt natürlich davon her, dass über¬
haupt die Zahl der in diesem Alter Lebenden eine
geringe ist. Würde man hier Verhältnisszahlen er¬
setzen können, so ergäbe sich wohl ein wesentlich
anderes Bild.
In einigen Berichten wird die Vertheilung der
Erkrankten auf die verschiedenen Berufe tabellarisch
dargestellt. Da es sich um öffentliche Anstalten han¬
delt, deren Kranke zum weitaus grössten Theil den
unbemittelten Bevölkerungsschichten entstammen, so
ist es natürlich, dass die Arbeiter und kleinen Hand¬
werker an Zahl weitaus voranstehen.
Die Vertheilung der Aufnahmen nach Jahres¬
zeiten, über welche viele Berichte ebenfalls Tabellen
bringen, bietet wenig charakteristisches; die geringen
Schwankungen scheinen meist auf Zufälligkeiten zu
beruhen, was sich ja bei der kurzen, meist nur ein¬
jährigen Berichtszcit kaum vermeiden lässt. Bayreuth
bringt eine Zusammenstellung über 30 Jahre, nach
welcher der Mai die meisten Aufnahmen lieferte, an
zweiter Stelle Juni und Juli.
Auf die Krankheitsformen der Aufgenom¬
menen, welche natürlich ebenfalls in den meisten Be¬
richten eingehende Berücksichtigung finden, hier häher
cinzugehen, scheint mir ganz nutzlos, solange es uns
an einer einheitlichen Systematik und Nomenclatur
fehlt. Da fast jeder Bericht andere Krankheitsnamen
wählt, und unter den gleichen Namen die verschieden¬
sten Dinge verstanden werden, lassen sie einen direkten
Vergleich miteinander nicht zu. Am ehesten wäre
es noch da möglich, wo man sich an die Nomen¬
clatur der statistischen Zählkarten hält. Aber einmal
thut dies doch nur ein kleiner Theil der Berichte,
und dann sind diese Bezeichnungen auch so unwissen¬
schaftlich, dass sich nicht viel damit machen lässt.
Die einzige Thatsache von allgemeinerer Bedeu¬
tung, welche sich aus diesen Zusammenstellungen er-
giebt, ist eine beträchtliche Zunahme der Paralyse
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 189
welche freilich auch nicht allenthalben beobachtet
worden ist. Eberswalde hatte in den Jahren 77
bis 83 pro Jahr 18,8 (16,8 M., 2,0 F.) Paralysen,
84—92 durchschnittlich 30,7 (25,6 M., 5,1 F.), jetzt
dagegen schon 49 (41 M., 8 F.). Dalldorf hat
244 paralytische Männer, 96 paralytische Frauen auf¬
genommen, im Ganzen 28,8 °/ 0 seiner Aufnahmen.
In Frankfurt ist keine Zunahme, auf dem Sonnen¬
stein sogar wieder eine geringe Abnahme konstatirt
worden; immerhin haben beide eine recht hohe Pro-
centzahl. In Zschadrass ist dagegen wieder die
Zunahme sehr stark, unter den männl. Aufnahmen
waren dort 44,44% Paralytiker. In Stephansfeld
betrug diese Procentzahl bei den Männern 25,0 °/,„
bei den Frauen 6,2%, während vorher in 28 jähri¬
gem Durchschnitt 16,8 °/ 0 M. und 4,5 % F. Para¬
lytiker waren. Der ungarische Bericht hebt beson¬
ders die erschreckende Zunahme der weiblichen Pa¬
ralyse hervor. Auch in der Friedmatt ist das gleiche
beobachtet worden.
Eine alte Klage ist es, dass so selten die Kranken
frühzeitig in die Anstalt gebracht werden,
dass man sie vielfach solange wie möglich draussen
hält, erst alles mögliche andere mit ihnen versucht,
und die Anstalt schliesslich als ultimum refugium
dienen muss, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Nach der vergleichenden Zusammenstellung im Würt-
tembergischen Bericht hat es den Anschein, als
wenn hierin eine allmähliche Besserung zu verzeichnen
wäre. Die im ersten Monat der Erkrankung zur
Anstalt Gebrachten betrugen dort in den Jahren 77
bis 94 durchschnittlich 16,9% der gesammten Auf¬
nahmen, und nach mehrfachen Schwankungen in den
nächsten Jahren hob sich diese Zahl im Jahre 99 auf
29,5 %. Im ersten Vierteljahr der Erkrankung kamen
in den Württemberger Anstalten sogar 47,0% des
Zugangs zur Aufnahme.
In anderen Anstalten sind aber die Zahlen keines¬
wegs immer so günstig. In Ueckermünde ergiebt
die Zusammenstellung über die 5 jährige Berichtszeit
unregelmässige Schwankungen, aber keine Tendenz
zur fortschreitenden Besserung. Ferner kamen, um
nur wenige Beispiele zu nennen, inGabersee 29,8%
der Aufnahmen im 1. Monat, und das scheint ein ver-
hältnissmässig schon recht hoher Procentsatz zu sein ; in
München waren es nur 1 8 Ö n or in Rybnik unter 192
Aufnahmen nur 17, in Stephansfeld-Hördt 40 unter
315. Eine Vermehrung der Beispiele ist wohl nicht
mehr nöthig; man sieht, es sind wenige, die frühzeitig
kommen. In den Grossstädten verschiebt sich das
Verhältniss wesentlich durch die grosse Zahl der Alkohol-
deliranten, welche dort sehr frühzeitig zur Anstalt
□ igitized by Google
gebracht werden. Als Beispiel sei nur Frankfurt ge¬
nannt, wo für das Jahr 1900/01 allein 68 Fälle von
„Intoxications-Psychosen“ aufgeführt werden, die in
den ersten 7 Tagen zur Aufnahme kamen.
Ob eine frühzeitige Aufnahme wirklich die Prog¬
nose verbessert, bezweifelt Ueckermünde: „Im Inter¬
esse der Kranken ist der Mangel rechtzeitiger sach¬
verständiger Behandlung immer zu beklagen; die Frage
aber, ob wirklich die Prognose sich um so mehr
bessert, je früher die Aufnahme erfolgt, darf, obwohl
die Bejahung als ständige Phrase in den meisten
Jahresberichten wiederkehrt, nach dem Studium der
Ursachen und des Verlaufs der Seelenstörungen, in
der Kraepelin’schen Darstellung, keineswegs als ent¬
schieden angesehen werden“.
Eberswalde dagegen vertritt energisch den
entgegengesetzten Standpunkt: „Je frühzeitiger die
Aufnahme der Geisteskranken in die Anstalt erfolgt,
desto grösser die Aussichten auf Genesung und Besse¬
rung, ist ein altbewährter Erfahrungssatz, der sich
immer von neuem bewahrheitet“.
Das ist leider wieder nur eine Behauptung; so gern
wir deren Richtigkeit anerkennen möchten, es fehlt der
Beweis, der auch wohl kaum mit Sicherheit zu erbringen
ist; denn das dürfte einleuchten, dass er kein aus¬
schliesslich statistischer sein darf. Wie oft erleben wir
es, dass frisch Erkrankte ganz früh zur Anstalt gebracht
werden, dass wir nach der Krankheitsform eine gün¬
stige Prognose stellen, und die Kranken dann doch
verblöden. Und umgekehrt, w'ie viele Kranke werden
gegen unsern dringenden Rath aus der Anstalt fort¬
genommen und w erden zu Hause unter den ungünstig¬
sten Verhältnissen doch gesund. Solche Erfahrungen be¬
weisen zw'ar noch nichts, sprechen aber doch zu Gunsten
der Ueckermünder Auffassung.
Bei Gelegenheit der Besprechung der Aufnahmen
bringen die meisten Berichte auch tabellarische Zu¬
sammenstellung über das Vorkommen von erblicher
Belastung. So interessant und wichtig dies Kapitel
ist, es scheint mir richtiger, hier gar nicht darauf
einzugehen. Es sind eben auch hier wieder so ver¬
schiedene Eintheilungsprincipien und Nomenclaturcn
zu Grunde gelegt, dass die Angaben sich nicht unter
einen Hut bringen lassen. Das einzige, allgemein
gültige Resultat, das sich gewinnen liessc, wäre pro-
centuale Berechnung, bei wie vielen von den Aufge¬
nommenen überhaupt erbliche Belastung nachgewiesen
ist Und das ist werthlos; denn wenn irgendwo, so
erheischen in dieser Frage die verschiedenen Krank¬
heitsgruppen gesonderte Betrachtung.
Zudem wäre eine solche Besprechung sehr un¬
genau. In fast allen Berichten findet sich eine nicht
Original from
HARVARD UNIVERSITY
IQO
geringe Zahl von zweifelhaften Fällen, und Uecker-
mtinde illustrirt die Mangelhaftigkeit der gelieferten
anamnestischen Angaben recht drastisch durch die
Beobachtung, dass die Eltern von Kranken bei Be¬
suchen als schwachsinnig oder verrückt erkannt wurden,
obwohl im Fragebogen ihre geistige Gesundheit ver¬
sichert worden war. Als hübsches Curiosum wird
von dort auch mitgetheilt, dass einmal als erbliche
[Nr. 16.
Belastung die Geisteskrankheit der Schwiegermutter
angeführt wurde!
Ehe wir die Besprechung der Aufnahmen verlassen,
sei noch erwähnt, dass die Anstalten Weissenau und
Zwiefalten ihres Charakters als reine Pflegeanstalten
entkleidet und mit Aufnahmebezirken bedacht worden
sind. (Fortsetzung folgt.)
PSYCHIATR 1 SCU-N EUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT.
Schutz des Publikums vor den Psychiatern.
Einige Worte zu Dr. Pfausler’s Artikel.
Von Dr. J. Salgo , Primararzt und Docent in Budapest (Lipotmezö).
Jch bin mir voll bewusst, dass ich mich dem Vor¬
wurfe, ein Reactionär zu sein, aussetze, und möchte
doch die wenigen Bemerkungen nicht unterdrücken,
die der Artikel des Collegen Dr. Pfausler in Nr. 7
vom 1 . J. dieser Zeitschrift vielleicht nicht nur bei mir
auslöst. Die Frage des Schutzes der Geisteskranken
oder sagen wir: „des Schutzes des Publikums vor den
Psychiatern“ ist wichtig genug, dass sie auch von uns
Fachärzten sine ira et Studio verhandelt werde, vor
allem aber ohne Voreingenommenheit und ganz be¬
sonders ohne Empfindlichkeit. Denn es handelt sich
nicht nur um den Schutz des Publikums vor den
Psychiatern, sondern auch umgekehrt, um den Schutz
der Psychiater vor dem Publikum.
Ich gehöre, was das Urtheil der sog. „öffentlichen
Meinung“ Über Irrenärzte betrifft, nicht gerade zu den
Aengstlichen. Im Allgemeinen haben wir ja vielen
Grund, damit unzufrieden zu sein. Und wenn wir
auch wissen, dass dieses nicht eben günstige Urtheil
über Irrenärzte im Allgemeinen, und über Irrenan¬
staltsärzte im Besonderen ein Vorurtheil ist, welches
zum grösseren Theil aus Unwissenheit, zum kleineren
aber sicher aus Misstrauen und Bosheit entspringt, so
besteht dieses Urtheil doch nicht minder und bedarf
deshalb einer erhöhten und ganz objectiven Aufmerk¬
samkeit. Mit der einfachen sittlichen Entrüstung und
dem Stolz der Ehrlichkeit ist dem Vorurtheile sicher
nicht beizukommen.
Worum handelt es sich eigentlich?
Es handelt sich im Wesen darum, das Urtheil
über ein Individuum, das in eine Irrenanstalt wiegen
Geisteskrankheit gebracht wurde, pro foro extemo von
den Anstaltsärzten je unabhängiger zu gestalten.
College Pfausler meint nun: wer könnte darüber, ob
ein Anstaltspflegling krank oder gesund ist, richtiger
urtheilen als der „erprobte und vollkommen befähigte“
Anstaltsarzt, dem ausser seiner Erfahrung auch noch
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die fortgesetzte Beobachtung des betreffenden Individu¬
ums zur Verfügung steht ? Er meint mit Recht, dass das
Urtheil von fallsweise zugezogenen Aerzten, denen über¬
dies etwa noch die nöthige psychiatrische Vorbildung
fehlt, nicht zuverlässiger sein könne, ob mit oder ohne
unterlegte Krankengeschichte. Ich gehe noch weiter
und sage: selbst das Urtheil fachmännisch voigebil-
deter Gerichtsärzte, denen die Kranken zur kurzen
Untersuchung vorgestellt w-erden, kann nicht so zu¬
treffend sein, wie das der behandelnden Anstaltsärzte.
Und doch komme ich zu ganz entgegengesetztem
Schlüsse — im Interesse der Anstaltsärzte und in dem
der Kranken.
Ich kenne aus eigenem Dienstverhältnisse den Vor¬
gang der Untersuchung in den niederösterreichischen
Anstalten, wo psychiatrisch geschulte Gerichtsärzte
die Kranken behufs Feststellung ihres Geisteszustandes
zum Zwecke der Curatelsverhängung untersuchen. Ich
kenne ihn an der Stätte meiner derzeitigen Wirksam¬
keit, wo der Director der staatlichen Anstalt ganz
selbständig das Gutachten abgiebt, auf Grund dessen
das Curatelsverfahren eingeleitet wird. In beiden
Fällen sind es demnach amtlich geaichte Irrenärzte,
die das Gutachten abgeben. Ich muss gestehen,
dass weder das eine noch das andere Verfahren mich
selbst befriedigt, noch weniger kann es die grosse
Oeffentlichkeit befriedigen. Womit ich nicht behaupten
will, dass psychiatrisch ungeschulte Exploratoren Grund
zu grösserer Befriedigung geben würden.
Dass das Gutachten des Anstalts-Directors allein
und für sich zur Curatelsverhängung genüge, wird,
die grösste Befähigung und die bindendsten Eide vor¬
ausgesetzt, wohl Niemand behaupten. Besehen wir
doch die Angelegenheit näher. Die Entziehung aller
bürgerlichen Rechte, wie es die Curatelsverhängung
ist, ist ein Gerichtsverfahren mit den schwersten Fol¬
gen für das Individuum. Jedes andere Verfahren
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 191
gegend irgend Jemand von so schwerwiegenden oder
auch geringeren Consequenzen ist von zahlreichen
Cautelen umgeben; das Recht der freien Entschliess-
ung und Verfügung, das Recht der persönlichen Frei-
heit gegen etwaige richterliche Ueberhebung, gegen
Irrtümer der Justiz ist von Schutzwällen verschiedener
Instanzen geschützt. Und das mit vollem Rechte.
Denn im Allgemeinen sind alle gesetzlichen Verfüg¬
ungen besser ausgedacht als ausgeführt. Das liegt
in allen menschlichen Institutionen, deren Feststellung
und noch mehr deren Ausführung niemals frei sein
kann von den Fehlem, die den Menschen anhaften.
Wir wollen hier gar nicht an die mala fides denken,
obwohl es auch schlechte Menschen geben kann. Und
es wäre im höchsten Grade zu verwundern, wenn ge¬
rade das grosse Corps der Psychiater keinen fehler¬
haften Menschen in historischer Zeit besessen hätte.
Wir wollen aber annehmen, dass ein solcher nie
exislirte. Wir müssen aber das Gleiche von den Ge¬
richtspersonen voraussetzen; denn was dem einen
recht, ist dem Andern billig. Haben wir noch nie¬
mals von Rechtsirrthümern gehört ? Ist es wirklich nie
vorgekommen, dass in einer einzigen Rechtssache
viele Gerichtspersonen und Instanzen grob geirrt
haben? Es ist vorgekommen und wird immer Vor¬
kommen.
Und nun entsteht die Frage: Ist es vorge¬
kommen, dass ein Irrenarzt oder ihrer mehrere in
zweifellos gutem Glauben und ohne denkbares per¬
sönliches Interesse jemanden für unheilbar geistes¬
krank erklärt haben, der im weiteren Verlaufe völlig
geheilt erschien? Jeder erfahrene Irrenarzt wird
solche Fälle kennen. Und ist es weiter vorgekommen,
dass sehr erfahrene Fachmänner über den gleichen
Fall völlig verschiedener Meinung waren; so ver¬
schieden, dass die einen denselben für unheilbar krank,
die andern für vollständig gesund hielten und er¬
klärten ? Es ist vorgekommen. Es geht nun gewiss
nicht an zu sagen, dass, nur die Krankheitserklärung
in allen Fällen die richtige und wahrheitsgemässe sei.
Denn wir setzen von beiden Gutachten die fachge-
mässe Begründung und die bona fides voraus.
Wenn dem nun so ist, hat man wohl Grund zu
sagen, dass das Gutachten des Anstaltsdirectors zur
Verhängung der Curatel, d. h. zur Vernichtung einer
Individualität ganz ungenügend sein muss.
Aber die Untersuchung durch gerichtlich bestellte
und geschulte Aerzte macht die Sache keineswegs
besser oder doch nicht einwandsfrei. Wer den Her¬
gang in seinem ganzen summarischen und durch die
Gewohnheit stumpf und oberflächlich gewordenen Ver-
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laufe kennt, wird mir beistimmen. Zunächst ist es
die Kürze der Untersuchungszeit, die dem einzelnen
Kranken zugestanden werden kann, die ein zweifel¬
loses und unanfechtbares Urtheil über den Geistes¬
zustand eines Individuums wenig wahrscheinlich macht.
Der Einwurf, dass den Gerichtsärzten eine Wieder¬
holung der Untersuchung freisteht, ist kaum stich¬
haltig. Mehrere kurze Untersuchungen wiegen eine
langdauemde an Genauigkeit und Verlässlichkeit nicht
auf, speciell nicht in Fällen psychiatrischer Natur.
Diese lange fortgesetzte Untersuchung kann aber von
den Gerichtsärzten nicht geleistet werden und sind
diese deshalb auf das Beobachtungsergebniss des An¬
staltsarztes angewiesen. Und so sind wir wieder dort,
dass eigentlich die Anstaltsbeobachtung das Substrat
für das gerichtliche Urtheil giebt, und die gerichts¬
ärztliche Untersuchung giebt nur die Flagge ab, unter
welcher das Verfahren weiter fortgeführt wird. Die
denkbaren Fälle sind nun die, dass entweder die Ge¬
richtsärzte vertrauensvoll sich auf die Angaben der
Anstaltsärzte stützen und deren Urtheil sich zu
eigen machen —, dass also wieder nur die Meinung
der Anstalt die Curatelsverhängung herbeiführt, oder
dass die Meinungen der Anstalt und die der Gerichts¬
ärzte einander diametral gegenüber stehen, und der
Kranke es ist, auf dessen Rücken diese Meinungs-
differenz ausgefochten wird.
Es bedarf natürlich keiner weiteren Beweisfüh¬
rung, dass psychiatrisch ungeschulte, vom Gerichte
bestellte sog. Sachverständige die Sache nicht besser
machen können. Es ist gewiss nicht anzunehmen, dass
sie, w'as Gewissenhaftigkeit und Fachkundigkeit betrifft,
ein richtigeres und verlässlicheres Urtheil abgeben
werden. Und es entsteht nun die Frage, was denn
wohl zu veranlassen wäre, um ein nach jeder Rich¬
tung einwandfreies Verfahren zu ermöglichen? Und
hier angelangt, muss ich gestehen, dass ich seit Langem
nicht begreife, wie und warum diese Frage eine psy¬
chiatrische werden konnte ? Es bleibt mir unerfindlich,
warum gerade die Psychiatrie diejenige medizinische
Disciplin sein soll, welche sich den Kopf der Juris¬
prudenz zerbricht ? Man muss es an und für sich als
ein Unglück oder doch mindestens als eine fatale
Complication bezeichnen, dass mit der Frage der
Geisteskrankheit die der zwangsweisen Detenirung des
Kranken und seiner Entmündigung so unlösbar ver¬
knüpft erscheint. Und mir will es scheinen, dass
diese Verknüpfung nicht für alle Fälle nothwendig
und unerlässlich ist. Sie wird auch, soweit die neu¬
eren Bestrebungen der Behandlung und Verpflegung
der Geisteskranken erkennen lassen, nicht aufrecht zu
halten sein, — und das wird der Entwicklung der
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
IQ
psychiatrischen Disciplin und den Kranken in gleicher
Weise zu statten kommen.
Aber heute schon kann gesagt werden, dass es dem
Arzte, der Geisteskranke zu behandeln und nur zu
behandeln hat, doch völlig gleichgültig sein kann, in
welcher Form ein zuständiges Gericht die Frage der
Entmündigung im gegebenen Falle zu entscheiden für
gut und ausreichend befindet. Denn endlich sind
diese Entscheidungen doch rein juristischer Natur und
können und sollen nur von Juristen geleistet werden.
Und wenn eine Gesetzgebung fände, dass zur Entmün¬
digung eines Menschen die einfache richterliche Ueber-
zeugung genüge, die der Richter sich etwa durch
Zeugenaussagen oder durch eigenen Augenschein
verschaffen könne, so wäre es gewiss nicht Sache der
Psychiatrie, sich gegen das Gesetz aufzulehnen. Das
Entmündigungsverfahren müsste nur ein ordentliches
Prozessverfahren werden, in welchem die Meinung
des Psychiaters einfach den Werth einer Zeugenaus¬
sage bcsässe. Im Wesen ist dies ja auch heutzutage
der Fall. Der Richter ist ja avich derzeit nicht an
das psychiatrische Gutachten gebunden und es werden
vielen Collegen Fälle bekannt sein, in welchen für
die richterliche Entscheidung nicht die Meinung der
designirten Gerichtsärzte, sondern die des bei der Un¬
tersuchung anwesenden Landesgerichtsraths-Secretärs
massgebend war. Ich sehe darin keine Kränkung oder
Herabsetzung des einzelnen Irrenarztes oder des ganzen
Standes. Für die richterliche Entscheidung trägt aus¬
schliesslich der Richter die volle Verantwortung; es
geht deshalb nicht an, ihm den Weg und die Mittel
vorzuschreiben, den er gehen und die er benützen
muss, um zur Decision zu gelangen.
Es ist ebenso bezeichnend wie bedauerlich, dass
einzig und allein die Psychiatrie sich eine eigene
forensische Nebendisciplin geschaffen hat und von
einer „forensischen Psychiatrie“ spricht, während es
doch weder eine solche Chirurgie, Gynäcologie oder
eine andere medizinische Wissenschaft giebt. Dadurch
hat man der Irrenheilkunde viel mehr an Ernst und
Concentration genommen, als sie an Ansehen und
Achtung gewinnen konnte. Die meisten Angriffe und
herabsetzenden Vorurtheile, denen die Psychiatrie
überall ausgesetzt ist, stammen aus der Verballhorn¬
ung der rein ärztlichen Wissenschaft mit juristischen
Begriffen, die in Verkennung der wirklichen Aufgaben
der Irrenheilkunde hie und da geübt wird. Schon
zeigt sich auf psychiatrischem Gebiete eine wünschens-
[Nr. 16.
werthe Umkehr zum mindesten in strafrechtlichen
Fällen. Es mehren sich die Psychiater, die die Be¬
antwortung der Frage nach Zurechnungsfähigkeit und
freier Willensentschliessung bei criminellen Handlungen
Geisteskranker ablehnen. Denn endlich muss es
doch einleuchten, dass weder die Zurechnungsfähig¬
keit, noch die freie Willensentschliessung einer medi¬
zinischen Untersuchungsmethode zugänglich sind, und
daher vernünftigerweise nicht Gegenstand eines ärzt¬
lichen Urthcils sein kann. Der Fall ist ja denkbar,
dass eine metaphysische oder juridische Zurechnungs¬
fähigkeit und freie Willensentschliessung auch einem
Geisteskranken zugestanden wird, ohne dass die Psy¬
chiatrie, so weit sie sich mit diesen Begriffen pro foro
intemo beschäftigen will, ein solches Urtheil als rich¬
tig anerkennen müsste. Und ebenso kann es mit
dem Begriffe der Dispositionsfähigkeit geschehen.
Für die Psychiatrie resp. für die Irrenärzte würde sich
aus alledem ergeben, dass sie unbeschadet ihres An¬
sehens und ohne jede Empfindlichkeit ruhig Zusehen
könnte, wie das richterliche Forum die ihm obliegen¬
den Pflichten gegenüber den Geisteskranken erfüllt.
Für den „Schutz der Psychiater gegen das Publikum“
wäre völlige Leidenschaftslosigkeit in diesen Dingen
sicherlich vortheilhafter. Denn selbst in einer viel
weiter fortgeschrittenen Disciplin, als es die Psychiatrie
heute noch ist, und bei viel durchdringenderer Kennt-
niss der beobachteten Krankheitsprozesse ginge ein be¬
absichtigter Schutz der Kranken in allen um sie herum
aultauchenden Rechtsfragen weit über die zulässigen
Grenzen der Aufgaben eines behandelnden Arztes
und überschritte um ein Bedeutendes jene Humanität,
die vernunftsgemäss vom Arzte verlangt werden kann
und die der Arzt selbst sich als Richtschnur seines
Handelns ausstecken darf. Der Psychiater leistet seinen
Kranken vollkommen ausreichende Dienste, und er
erfüllt die ihm zugemessenen Pflichten vollauf, wenn
er, soweit es an ihm liegt, den Kranken der Heilung
zuführt oder doch seinen Zustand, soweit es geht,
erträglich gestaltet; er dient seiner Wissenschaft am
besten, wenn er die Resultate seiner Erfahrungen und
die Ergebnisse der Forschung wieder zur Herstellung
der Kranken verwendet. Die Erledigung der an die
Geistesstörungen ohne unser Hinzuthun und ohne
unsere Stimme geknüpften juridischen Fragen aber
überlassen wir ohne jede Minderung unseres Selbstge¬
fühls den Kreisen, die es angeht.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCI1 ENSCH RIFT.
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HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 193
Mittheilungen.
— Douziöme congrfcs des m£decins alie-
nistes et neurologistes. Session de Grenoble.
Programm.
Vendredi I er aoüt. — 9 heures: Seance solen¬
neile d’ouverture du Congres, ä 1 *Hotel de ville. —
10 h. 12: Visite du Musee-Bibliotheque. — 2 heu¬
res: Seance ä l’Ecole de medecine. Installation du
bureau. — Discussion de la i ro question du Pro¬
gramme: Des etats anxieux dans les maladies men¬
tales. Rapporteur: M. Lalanne, de Bordeaux. — 8
heures: Reception ä l’Hotel de ville.
Samedi 2. — Seance ä l’Ecole de medecine. —
Discussion de la 2 U question: Les tics en general.
Rapporteur: M. Nogues, de Toulouse. — 2 heures:
Continuation de la discussion; Communications diver¬
ses; designation du siege du prochain Congres et
election du president. — Le soir, banquet du Con¬
gres par souscription.
Diraanche 3. — Excursion ä La Mure. Retour
en voiture par les lacs de Laffrey.
Lundi 4. — Visite de lasile de Saint-Robert. —
8 h. 1 : 2 : Visite de la ferme. — 10 heures: Visite
de l’asile. — Dejeuner offert par le Conseil general.
— 2 heures: Seance ä lasile: Communications di¬
verses.
Mardi 5. — 9 heures: Seance ä l’Ecole de me¬
decine. — Discussion de la 3° question: Les auto-
accusateurs au point de vue medico-legal. Rapporteur:
M. Emest Dupre, de Paris. — 2 heures: Communi¬
cations diverses.
Mercredi 6. — Depart de Grenoble en ehern in
de fer pour la Grande-Chartreusc par Voiron et
Saint-Laurent-du-Pont. — Visite de la fabrique de
liqueurs ä Fourvoirie, — Dejeuner a Saint-Pierre-de-
Chartreuse. — 2 heures: Depart pour le couvent.
— Visite du couvent et seance: Communications di¬
verses. — (Les dames ne sont pas admises ä l’inte-
rieur du monastere.) — Excursion tres facile et facul-
tative a Notre-Dame-de-Casalibus et chapelle de Saint-
Bruno. — Retour et coucher a Saint-Pierre-de-Char-
treuse.
Jeudi 7. — Excursions au choix: i° Ascension
au Grand-Som (2,033 metres d’altitude). Se inunir
de bonnes chaussures ferrees; 2 Excursion facile au
habert de Malamille. Vu les nombreux sous-bois et
lointains, MM. les ainateurs photographes feront bien
de se munir de plaques orthochromatiques. — De¬
jeuner general ä Saint-Pierre-de-Chartreuse. — Ein
du Congres. — Retour en voiture ä Grenoble par
le Sappey. — (Si un certain nombre de congressistcs
le desirent, une excursion aura lieu le vendredi 8 ä
Bourg-d’Oisans, point de depart de nombreuses ex¬
cursions dans la haute montagne). Ant. Ritti.
— Die neue Landes-Irrenanstalt in Wien.
Wie bekannt, stand der Landesausschuss über Auf¬
trag des Landtages mit dem Aerar, dem Wiener
Krankcnanstaltsfonds und der Gemeinde Wien in
Unterhandlungen bezüglich der Abtretung der Landes¬
irrenanstaltsrealität im 9. Beziik zum Zwecke des
Neubaues von mechanischen Unterrichtskliniken ; die
Verhandlungen zur Erlangung von Gründen für den
Bau der neuen Irrenanstalt sind abgeschlossen und
die Vertragsbestimmungen bereits stipulirt. Die neue
Irrenanstalt wird auf einer gegen den Galitzynbcrg
sanft ansteigenden Höhe liegen. Um den modernen
Anforderungen der Irrenpflege einer Grossstadt zu ent¬
sprechen, werden auf dem vom Lande erworbenen
Grundcomplex drei Anstalten zu errichten sein, und
zwar: eine Heilanstalt mit 800 Betten, eine Pflege¬
anstalt mit 900 Betten und ein Pensionat mit 300
Betten, also insgesammt Unterkunft für 2000 Kranke.
Die Direction der niederösterreichischen Landes-Irren¬
anstalt, welche beauftragt wurde, ein Programm für
die neue Anstalt auszuarbeiten, hat dasselbe bereits
fertiggestellt und ein sechsgliedriges Comite, bestehend
aus den Herren Landesinspector Gerenyi, Landesbau¬
rath v. Boog, Rechnungsrath Bertgen, den Directoren
Dr. Tilkowsky und Dr. Krayatsch und Primararzt
Dr. Starlinger, stellte die Organisation der neuen An¬
stalt fest. Bereits in den nächsten Tagen wird sich
der niederösterreichische Landtag mit der diesbezüg¬
lichen Vorlage zu beschäftigen haben.
— Württembergische Landtagsverhandlung
über den Fall v. Münch. (Fortsetzung.)
Frhr. v. Münch beklagt sich weiter, dass ihm vom
Ministerium die Hieherkunft bei Androhung der Ein¬
weisung verboten worden sei; infolge dessen sei er
nicht im Stande, etwaigen sieh interessirenclen Abgg.
weitere Mittheilungen und Acten zu geben. Schliess¬
lich theilt er mit, dass er soeben von der Staatsan¬
waltschaft Berlin eine Zuschrift erhalten, dass die Vor¬
untersuchung gegen ihn in Sachen der Klage des
Herrn Ministers des Innern keinen Beweis für seine
(v. Münchs) Unzurechnungsfähigkeit ergeben habe,
der Prozess werde also seinen Lauf nehmen. — Re¬
ferent glaubt, es genüge, dass er das zur Kenntniss
des Hauses bringe.
Staatsminister des Innern Dr. v. Pisehek : Fürchten
Sie nicht, dass ich auf alle die Eingaben des Frhr.
v. Münch im Detail eingehe. Es liegt mir nur ob,
kurz zu antworten auf die Bemängelungen, die der
Herr Abg. von Balingen gegenüber dem von dem
Ministerium eingehaltcnen Verfahren vorgebracht hat.
Er hat die Dispensation von der Erstattung des
oberamtsärztlichen Gutachtens, welche das Ministerium
ausgesprochen hat, angefochten, aber erklärt, er wolle
selbst nicht auf diese rechtliche Frage sich einlassen,
nachdem der Verwaltungsgerichtshof erkannt habe.
Auch ich möchte bezüglich der Voraussetzungen und
Grenzen der Befugniss zu Dispensationen von all¬
gemeinen Vorschriften nur kurz bemerken, dass
meines Erachtens zweifellos jede Behörde eine Dis¬
pensationsgewalt insoweit hat, als sie zur Erlassung
der Anordnungen, von welchen dispensirt werden soll,
berufen ist. Das Ministerium kann also von einem
Gesetz nicht dispensiren, weil das Ministerium ein
Gesetz nicht erlassen kann; aber es kann von einer
Verfügung, die es selbst erlassen hat, nach der, wie
ich glaube, übereinstimmenden Anschauung der Rechts¬
lehrer im einzelnen Fall dispensiren, es kann eine
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
u»4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16.
von ihm erlassene Verfügung ad hoc ausser Wirkung
setzen, wenn hiezu ein genügender Anlass vorliegt.
Dass ein solcher liier Vorgelegen ist, da es gar keinen
Sinn gehabt hätte, den Oberamtsarzt von Horb, der
den Frhr. v. Münch nicht kannte und nicht beob¬
achtet hatte, zu einem Gutachten zu veranlassen,
nachdem die bewährtesten Psychiater und das Medi¬
zinalkollegium sich über seinen Geisteszustand auf
Grund eingehender Beobachtung ausgesprochen hatten,
scheint mir wenigstens einleuchtend zu sein. — Der
Herr Abg. von Balingen ist dann auf die Frage der
Gemeingefährlichkeit eingegangen. Dass Frhr. v. Münch
ein Kranker ist, wird von keiner Seite in Frage ge¬
stellt, und ich kann in dieser Richtung sagen, dass
auch die preussische Regierung davon ausgeht, dass
Frhr. v. Münch geisteskrank oder wenigstens nicht
normal veranlagt ist. Eine besondere Frage ist aber
die, ob er gemeingefährlich ist. Diese Frage ist in
der That weniger zweifellos, wie ich ohne weiteres
zugebe. Der Herr Abg. Haussmann betont, wenn
der Kranke nicht zu Gewaltthätigkeiten vorgehe, son¬
dern sich nur in Verbal-Injurien ergehe, sei die Ein¬
sprech ung in eine Anstalt nicht anzuerkennen. Ich stehe
mcinestheils auf einem andern Boden; ich glaube, dass
es ein durchaus unbefriedigender und unhaltbarer Zu¬
stand wäre, wenn selbst masslosen und unausgesetzten
Beleidigungen gegenüber, welche ein Geisteskranker
verübt, keine Remedur möglich sein sollte. Entweder
muss ein solcher Mann bestraft werden können; wenn
aber die Gerichte ihrerseits ihn für unzurechnungs¬
fähig erklären und damit aussprechen, dass er nicht
bestraft werden könne, so muss nach meinem Rechts¬
gefühl der Angegriffene ein anderes Mittel haben, sich
dagegen zu wehren. Auf diesen Standpunkt hat sich
auch die Kammer gestellt in dem Fall einer Frau
von Gablenberg, wie der Herr Berichterstatter verlesen
hat. Hier ist ausdrücklich ausgesprochen worden, dass
dem Angegriffenen ein Schutz gegen solche Beleidig¬
ungen und Beschimpfungen zu Gebot stehen muss.
Im vorliegenden Fall kommt überdies in Betracht,
dass es sich nicht ausschliesslich um Verbal-Injurien
gehandelt hat, sondern — und das ist wesentlich mit
der Grund, warum Frhr. v. Münch als gemeingefähr¬
lich eingewiesen worden ist — es liegt ja eine ganze
Reihe von Gewaltthätigkeiten gegen Personen seitens
desselben vor. Allerdings ist ja in dem Fall Blatt
die Frage, ob sich Frhr. v. Münch in Nothwehr be¬
funden habe, durch ein gerichtliches Erkenntniss nicht
entschieden worden, aber gerade im Fall Blatt hat
das Gericht seinerseits den Frhr. v. Münch den Ver¬
waltungsbehörden als gemeingefährlich übergeben mit
dem Ansinnen, die Verwaltungsbehörden sollen die
polizeilich geeigneten Massnahmen treffen. Aber es
ist das ja nicht die einzige Gewaltthätigkeit, die dem
Frhr. v. Münch zur Last fällt, es liegt vielmehr auch
der Fall vor mit dem Metzger Thoma, der zufällig,
aus durchaus erlaubter Ursache, sich in dem Stall des
Frhr. v. Münch befand, als ein Pferd des Frhr. v.
Münch verendete, weil es, wie die Section ergeben
hat, Taxusblätter (Eibennadcln) gefressen hatte, die
giftig waren. Diesen Mann hat Frhr. v. Münch ohne
alles Weitere beschuldigt, er habe ihm sein Pferd
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vergiftet, und hat ihn, als er den Stall nicht sofort
verliess, mit Faustschlägen tractiert. Ein weiterer Fall
von Gewaltthätigkeiten liegt darin, dass er dem Pächter
Treiber gedroht hat, es gehöre ihm eine Kugel durch
den Leib. Endlich sind ja bereits angeführt worden
der Fall des Mannes, den er mit der Peitsche be¬
handelt hat, und die Thatsache, dass er dem Bau¬
führer Häcker einen Revolver zur eventuellen Be¬
nutzung gegen die Bauarbeiter übergeben hat; hiezu
kommt noch, dass v. Münch nach seiner eigenen An¬
gabe gewöhnt ist, nicht ohne Revolver auf Reisen
zu gehen. Es sind also Thätlichkeiten des Frhr. v.
Münch genügend Vorgelegen und weiterhin zu be¬
fürchten. — Das Medizinalkollegium stellt sich in
einer, wie mir scheint, durchaus einleuchtenden Weise
auf den Boden, dass die Frage der Gemeingefährlich¬
keit überhaupt nicht ausschliesslich oder hauptsächlich
nach bestimmten einzelnen Handlungen eines Kranken
beurtheilt werden kann, sondern aus der Gesammtheit
seiner Handlungen. Und von diesem Gesichtspunkt
aus ist das Medizinalkollegium und das Ministerium
des Innern zu der Ueberzeugung gelangt, dass bei
dem Frhm. v. Münch die Frage der Gemeingefähr¬
lichkeit zu bejahen ist. — Der Herr Abg. v. Balingen
hat nun weiter geltend gemacht, der bisherige
Zustand, wonach der Frhr. v. Münch von den Straf¬
gerichten für unzurechnungsfähig, von den Zivilgerichten
für handlungsfähig und von den Polizeibehörden für
gemeingefährlich geisteskrank erklärt werde, sei unhalt¬
bar. Ja, das Unbefriedigende dieses Zustandes fühle
ich auch. Aber ich kann ihn meinerseits nicht ändern.
Wenn der Herr Abg. von Balingen gemeint hat, das
Ministerium müsse konsequent handeln, so wäre die
Konsequenz, dass das Ministerium des Innern anordnet,
sobald der Herr v. Münch in seine Polizeigewalt
kommt, sei er in die Irrenanstalt einzusperren. (Zu¬
stimmung.) Mit Rücksicht darauf aber, dass auch
von psychiatrischer Seite geltend gemacht wurde, es
lasse sich, wenn Herr v. Münch aus den bisherigen
Verhältnissen herauskommc, hoffen, dass er sich in
gemeingefährlicher Weise weiterhin nicht bethätigen
werde, glaubte das Ministerium ihm gestatten zu können,
dass er nach Preussen geht, nachdem die preussische
Regierung ihrerseits sich bereit erklärt hatte, ihn zu
übernehmen. Das geschah in einer gewissen Berück¬
sichtigung und Milde, nachdem die psychiatrischen
Behörden erklärt hatten, es sei das zulässig. — Der
Herr Abg. von Balingen hat schliesslich mit Bezug
auf die von mir in Berlin gegen v. Münch erhobene
Strafklage geltend gemacht, das sei nicht konsequent
und es empfehle sich nicht, eine solche Parallelaction
einzuleiten. Wenn der Mann in Württemberg für
geisteskrank und für gemeingefährlich erachtet werde,
so könne nicht gleichzeitig in Preussen gegen ihn ge¬
klagt werden. Als auf Grund von vorausgegangenen
Verhandlungen Herr v. Münch an das Polizeipräsidium
in Frankfurt übergeben wurde, hat die Iv. preussische
Regierung initgetheilt, auc h sie gehe davon aus, dass
die gemeingefährliche Bethätigung der Geisteskrank¬
heit des Herrn v. Münch im wesentlichen mit den
Verhältnissen, in denen er bisher lebte, Zusammen¬
hänge. Sollte v. Münch auch auf preussischem Ge-
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HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 195
biet Verletzungen der Strafgesetze begehen, ohne dass
er strafrechtlich dafür verantwortlich gemacht werden
könne, so werde selbstverständlich auch dort ein
polizeiliches Einschreiten gegen ihn in Frage kommen.
Er hat nun von Preussen aus seine masslos beleidi¬
genden und beschimpfenden Eingaben fortgesetzt und
ich war daher in die Notlvwendigkeit versetzt, durch
eine Klage, die in Berlin erhoben wurde, eine Ent¬
scheidung darüber herbeizuführen, entweder dass der
Mann als nicht geisteskrank in Preussen angesehen
wird, gut, dann soll er bestraft werden, oder dass er
auch in Preussen als geisteskrank gilt. — Schliesslich
habe ich noch auf die neueste telegraphische Eingabe
des Herrn v. Münch mit ein paar Worten einzugehen.
Der Herr Berichterstatter w'ar gestern bei mir und
hat mir mitgetheilt, dass Herr v. Münch beabsichtige,
in die heutige Verhandlung zu kommen. Er hätte
das nur in der Weise thun können, dass er in Be¬
gleitung seines Wärters hier oben auf der Galerie
erschienen wäre. Ich habe mich nun zunächst durch
Vernehmung des Landespsychiaters darüber zu infor-
miren gesucht, ob es seiner Gesundheit nicht schäd¬
lich sein werde, wenn er hier die grosse Verhandlung
mit anhöre, und cs wurde mir bejaht, dass durch das
Anwohnen bei einer derartigen Verhandlung sein Auf¬
regungszustand voraussichtlich eine erhebliche Steige¬
rung erfahren werde. Ich habe mir aber auch weiter
gesagt, dass es ein für dieses hohe Haus nicht ganz
w'ürdiger Zustand wäre (allgemeines sehr richtig!),
wenn ich einen Geisteskranken von einem Wärter
hieher führen liesse, um den Verhandlungen hier oben
anzuwohnen und eventuell durch Auf- und Abgehen
mit einzelnen Herren Abgeordneten zu verhandeln
(sehr richtig!), und ich habe ihm daher telegraphiren
lassen, er dürfe nicht hieher kommen, und w'enn er
doch komme, w-erde ich ihn in eine Irrenanstalt ab-
führen lassen. (Lebhafter Beifall.)
Keil: Die psychiatrische Frage zu beantworten,
fühle ich mich nicht berufen. Ich glaube aber, der
ganze Fall hätte das Aufsehen nicht erregt, wenn
nicht verschiedene Handlungen der Verwaltungsbe¬
hörden zu Bedenken Anlass gegeben hätten. Man
hat mir von juristischer Seite gesagt, es sei unzulässig,
dass eine einmal allgemein gegebene Vorschrift (betr.
das Gutachten des Öberamtsarzts) von der Verwal¬
tung in einem bestimmten Fall ausser Kraft gesetzt
werde; ganz unstichhaltig sei die Rechtfertigung dieser
Handlung im Urtheil des Verw’altungsgerichtshofes.
Der Instanzengang hätte eingehalten werden müssen,
geradeso wie bei den Gerichten. Es kommt hinzu,
dass man hörte, der betreffende Oberamtsarzt hätte
anders begutachtet, als die Oberbehörde wünschte;
das gab der Sache in der öffentlic hen Meinung eine
ungute Seite. Aufgefallen ist ferner, dass die württ.
Behörde keinen ausserwürtt. Psychiater gehört, dass
aber die von Herrn v. Münch selbst aufgerufenen
Psychiater ihn für nicht anstaltsbedürftig erklärt haben.
Die komische Rcvolvergcschichtc hat dann dazu ge¬
führt, dass man Herrn v. Münch den Tag über an¬
strengenden Verhandlungen anwohnen liess und ihn
abends nach Winnenthal transportirte. Das hat auch
keinen guten Eindruck gemacht. Endlich die ver¬
schiedene Behandlung v. Münchs hier und in Preussen.
Das ist auf die Dauer nicht haltbar, wir brauchen
eine reichsgesetzliche Regelung des Irrenw’esens. Der
Herr Minister verklagt v. Münch in Preussen, bei uns
verfolgt er nur den Redacteur der „Tagwacht“, der
v. Münchs Angriffe in seinem Blatt veröffentlicht hat
an der Stelle, wo auch Wurst und Fleisch angepriesen
werden. Ich will die Handlungen v. Münchs nicht
beschönigen und nicht behaupten, dass sie mit dem
gesunden Menschenverstand vereinbart wären, aber
die Massnahmen der Behörden, deren wichtigste ich
ausgeführt habe, haben eben Stimmung für ihn beim
Publikum gemacht
Staatsminister des Innern Dr. v. Pischek: Die
„grosse Bedeutung“, welche der Fall des Frhm. v. Münch
in der Oeffentlichkeit angenommen hat, ist, wie ich
glaube, im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass
es dem Herrn v. Münch infolge des Besitzes sehr
grosser Mittel gelungen ist, in den Zeitungen, in der
Presse, in der Oeffentlichkeit (sehr richtig!) in einem
ganz anderen Masse zu agitiren, als das sonst einem
gewöhnlichen Manne möglich ist. (Lebh. Zustimmung.)
Und insbesondere haben die verschiedenen Inserate
in der „Schwäbischen Tagwacht“ dazu beigetragen.
(Sehr richtig!) Der Herr Abg. Keil hat wiederum
bemängelt die Eintheilung der Dispensation von dem
oberamtsärztlichen Zeugniss und hat sich für die be¬
hauptete Unzulässigkeit derselben auf Juristen berufen.
Es mag ja sein, dass es auch Juristen giebt, die die
Eintheilung der Dispensation für unzulässig erklären,
aber der Verwaltungsgerichtshof hat gesprochen. Wenn
aber der Herr Abg. Keil vorhin erwähnt hat, es sei
um so auffallender, dass das Ministerium die Dispen¬
sation von dem oberamtsärztlichen Gutachten erthcilt
habe, w'eil der Oberamtsarzt vorher schon einmal ein
Gutachten abgegeben habe, welches den Absichten
des Ministeriums nicht entsprochen habe, so weise ich
den hierin liegenden Vorwurf, als habe das Ministe¬
rium das oberamtsärztliche Gutachten wegön seines
vorausgesehenen Inhalts abgeschnitten oder es habe
jemals irgend ein Gutachten beeinflussen wollen, mit
Entschiedenheit zurück. (Beifall.) Ich weiss davon
gar nichts, dass der Oberamtsarzt in Horb früher
schon ein Gutachten für das Ministerium abgegeben
hätte; im Aufträge des Ministeriums ist es meines
Wissens nicht geschehen. Der Oberamtsarzt selbst
hat im vorliegenden Falle erklärt, er kenne den Herrn
v. Münch gar nicht, er habe ihn kaum gesehen. Der
Herr Abg. Keil hat weiter ausgestellt, das Ministerium
habe versäumt, nichtwürttembergische Psychiater über
den Fall zu hören. Es sind aber verschiedene nicht¬
württembergische Psychiater, zwar nicht von dem Mi¬
nisterium, aber von den Gerichten gehört worden;
es liegen im ganzen 10 psychiatrische Gutachten bei
den Acten. Aber es lag ausserdem für das Ministe¬
rium des Innern in der That kein Grund vor, aus¬
wärtige Psychiater beizuziehen. Das Land Württem¬
berg verfügt über eine Reihe von Psychiatern, deren
Befähigung nicht bezweifelt werden kann und selbst
im Auslande durchaus anerkannt ist; und cs liegt gar
kein Grund vor, in die Gutachten, die von diesen
w ürttembcrgischcn Psychiatern, einschliesslich des Pro-
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196 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16.
fessors Siemerling in Tübingen, der ja kein Württem-
berger ist, abgegeben worden sind, einen Zweifel zu
setzen und ein Obergutachten von auswärtigen Psy¬
chiatern einzuverlangen. — Der Herr Abg. Keil hat
erklärt, es habe die infolge des Revolverbesitzes an¬
geordnete Wärterbegleitung „komisch“ gewirkt. Ich
weiss nicht, warum das komisch gewirkt haben soll.
Dem Frhm. v. Münch war die Betheiligung an den
Verhandlungen dos Verwaltungsgericlitshofs nur unter
der Bedingung gestattet worden, dass er keine Waffe
bei sich führe, es war ihm angedroht, dass er, wenn
er dieser Bestimmung zuwiderhandle, des freien Ge¬
leites verlustig sei und nach Winnenthal komme.
Gleichwohl wurde ein Revolver bei ihm gefunden
und er infolgedessen unter Bewachung gestellt. Was
daran Komisches sein soll, weiss ich nicht; hätte
v. Münch die Bedingungen eingehalten, unter welchen
er zugelassen war, so wäre sein freies Geleit nicht
verwirkt worden. — Der Herr Abg. Keil ist sodann
auf die verschiedenartige Behandlung in Württemberg
und Preussen eingegangen und hat erklärt, es sei
wünschenswerth, dass man an die Erlassung eines
Reichs-Irrengesetzes gehe. Die Frage gehört ja nicht
hierher, aber ich kann mittheilen: die württ. Regierung
hat in Berlin erklärt, dass sie gegen die Erlassung
eines Reichs-Irrengesetzes nichts einzuwenden habe,
im Gegentheil befürworte sie die Erlassung eines solchen,
wenn es auch wahrscheinlich grosse Schwierigkeiten
bieten werde.
ländlich ist der Herr Abg. Keil zu sprechen ge*
kommen darauf, dass es nicht am Platze sei, dass ich
in Berlin gegen den Frhrn. v. Münch, in Württem¬
berg aber unter Ausschaltung des Frhrn. v. Münch
nur gegen die „Sehwäb. Tagwacht“ geklagt habe.
Warum ich in Berlin geklagt habe, das habe ich schon
vorhin mitgetheilt. Dass ich aber hier in Württem¬
berg nicht gegen ihn klagen konnte, versteht sich von
selbst, da ja der Frhr. v. Münch von den Strafge¬
richten für unzurechnungsfähig erklärt worden ist, es
wäre der reinste Schlag ins Wasser gewesen, wenn
ich diese Klage erhoben hätte. Dagegen habe ich
gegen die „Sehwäb. Tagwacht“ Klage erhoben, weil
ich es meiner Person und meiner Stellung schuldig
zu sein glaubte (Zustimmung), dass ich mir nicht in
den Zeitungen die Begehung entehrender und ver¬
brecherischer Handlungen vorwerfen lasse, wie das in
der „Sehwäb. Tagwacht“ geschehen ist. Nun hat der
Herr Abg. Keil gesagt, die Annonce, welche diese Be¬
schuldigung enthielt, sei in die „Tagwacht“ aufge¬
nommen worden, wie eine beliebige Fleisch- und Wurst-
anzcigc auch. Das ist nicht wahr. Diese Anzeige
ist zwar im Annonccntheil der „Sehwäb. Tagwacht“
erschienen, aber im redaclionellen Thcil kam in der¬
selben Nummer, in welcher die Anzeige erschien, ein
redactioneller Artikel, welcher auf diese famose An¬
zeige als besonders beachtenwerth hingewiesen hat.
(Zustimmung und Heitcrkeit.C Mir liegt an der Be¬
strafung der Redacteure der Sehwäb. Tagw-acht gar
nichts. Wenn die Redacteure ihrerseits öffentlich er¬
klären, dass sie sich dem Vonvurf, den der Frhr. v.
Münch gegen mich erhoben hat, als habe ich ent¬
ehrende oder verbrecherische Handlungen begangen,
nicht anschHessen und dass sie diesen Vorwurf für
durchaus unbegründet erkennen, dann bin ich bereit,
die Klage zurückzuziehen; wenn nicht, nicht. (Leb¬
hafter Beifall.)
Keil: Eine Verdächtigung dahin, dass das Mini¬
sterium auf ärztliche Gutachten einwirke u. s. w\, habe
ich meinerseits nicht erhoben, ich habe nur gesagt,
die öffentliche Meinung habe sich mit solchen Ge¬
danken beschäftigt. Redner verliest einen Artikel, der
seinerzeit im „Beobachter“ gekommen sei und der für
Herrn v. Münch entschieden Partei genommen habe,
ein Beweis, dass in der Oeffentlichkeit thatsächlich
solche Anschauungen vorhanden gewesen seien. Red¬
ner will schliesslich darthun, dass der redactionellc
Hinweis auf eine grössere Annonce nichts Ungewöhn¬
liches sei. (Heiterkeit.)
Die Debatte ward geschlossen. — Der Commissions¬
antrag wird zunächst angenommen zu den Ziffern
1—ö, über die Ziffer 7 wird gesondert abgestimmt,
weil hier ein Einwand aus dem Hause gemacht worden
ist. Auch über Ziffer 7 wird zur Tagesordnung über¬
gegangen, ebenso über die heutige telegraphische Ein¬
gabe des Frhrn. v. Münch.
Schluss der Sitzung l/ 2 i Uhr.
• Personalnachricht.
(Um Mittheilung von Personalnachrichten etc. an die Rednotion
wird gebeten.)
— Wormditt, Ostpr. Als leitender Arzt der
am hiesigen Orte Mitte April d. J. cröffneten Prival-
anstalt für katholische Epileptische, w'elche den Namen
„Heilstätte St. Andreasberg“ erhalten hat, ist
Dr. H a n k e 1 n angcstellt worden.
Herr A. Grohmann (Zürich, V, Forchstrasse 138) hat
eine Brochlire: „Geisteskrank. Bilder aus dem Verkehr mit
Geisteskranken und ihren Angehörigen“ —veröffentlicht, durch
welche er zur Bekämpfung des Vorurtheils gegen die
Irrenanstalten beitragen will. Wir empfehlen dies Schriftchen
wärmstens der Beachtung seitens der Anstaltsleitungen; es
eignet sich besonders zur gesehenkweisen Vertheilung an die
Angehörigen der Kranken. Herr Grohmann giebt bis spätestens
1. August 1902 gegen Postnachnahme oder vorherige Ein¬
sendung des Betrages (auch in Briefmarken) die Schrift zu
folgenden Sätzen ab:
Anzahl: 10 25 50 100 200 500 1000 Stück
Preis: 0,60 1,25 2,25 4,25 8,25 20 38 Frcs.
Für den re daetionullcn Thcil verantwortlich : Oberarzt I)r. J. Iireslrr Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannnhme 3 Tage vor der Ausgabe.. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S
Hevnemann’sche I’.nehdrnckerei ((lehr. Wulff) in Halle a. S.
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
hnrausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
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Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland).
Dr. metl. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Wür/.burg.
Unter Benützung amtlichen Materials
reefigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2572.
Nr. 17. . 2 b. juii. 1902.
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Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal .4 Mk.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenvvesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters,
Andernach (S. 107). — Wahrendorfl'denkmal in Ilten (S. 201). — Mittheilungen (S. 203). — Personalnachricht (S. 208).
Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets
im Jahre 1900/01.
Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Z)**/V<»rr-Andernach.
(Fortsetzung.)
Die Entlassungen bieten weit weniger An¬
lass zu allgemeinen Erörterungen. Es interessirt da
hauptsächlich nur die Frage, wie viele von* den Ent¬
lassenen als geheilt und gebessert zu bezeichnen
waren. Aus der Zahl der so Bczeichneten Rück¬
schlüsse zu ziehen, ist aber recht misslich ; jeder weiss,
wie viel Subjcctives in diesen Bezeichnungen liegt.
Thatsächlich sind dann auch die Zahlen ausserordent¬
lich verschieden. Häufige Mittelzahlen für die Ge¬
heilten sind etwa 15—18 0 0 , auf den Gesammtab-
gang berechnet, doch kommen auch geringere und
stellenweise beträchtlich höhere Zahlen vor. Wo die
letzteren nicht durch lokale Verhältnisse bedingt sind,
wie etwa in den grossen Städten, denen die grosse
Zahl der Alkoholdeliranten die Statistik verbessert,
da wird man aus einer grossen Zahl von Geheilten
wohl auf einen entsprechenden, vielleicht nicht immer
unbewussten Optimismus des Berichterstatters schliessen
dürfen.
Constantere Werthe erhält man, w r enn man die
Geheilten und Gebesserten zusammenfasst, also die
Zahl derjenigen berechnet, bei denen überhaupt ein
Kurerfolg zu verzeichnen war. Da liegen die häufig¬
sten Durchschnittswerthe zwischen 40 und 50 °/ 0 des
Gesammtabganges. Natürlich kommen auch hier
Ueberschreitungen dieser Mittelwerthe nach unten
und nach oben vor, doch sind die Differenzen bei
weitem nicht so erheblich wie bei den Geheilten. —
Uebrigcns enthalten nur wenige Berichte die Procent¬
berechnung in der Form, wie sie hier wiedergegeben
ist; vielmehr habe ich, um vergleichbare Zahlen zu
gewinnen, die meisten umrechnen müssen. Viele be-
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ic>8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17.
schränken sich darauf, nur die absoluten Zahlen an¬
zugeben, andere berechnen sie in Procenten der Auf¬
nahmen, wieder andere in Procenten des Normal¬
bestandes. Zur Umrechnung auf einheitlicher Grund¬
lage schien es mir am korrektesten , den Gesammt-
abgang zu Grunde zu legen.
Der dritte Punkt, auf den die Statistik sich er-
‘ I . * *
streckt, ist der Bestand an Pfleglingen, der natür¬
lich einem beständigen Wechsel unterworfen ist.
Eine recht charakteristische Erscheinung ist es, dass
in sehr vielen Anstalten der thatsächlich vorhandene
Bestand den festgesetzten Normalbestand dauernd
um ein Beträchtliches übersteigt. In der That wird
in sehr vielen Berichten über Ueberfüllung geklagt.
Selbst in neuen Anstalten oder solchen, die durch
Neubauten vermehrten Platz geschaffen haben, dauert
die Erleichterung meist nicht lange; bald ist die alte
Ueberfüllung wieder da. Manche helfen sich durch
stärkere Belegung; z. B. ist Göttingen unter das
durch ministerielle Verfügung geforderte Mindestmaass
an Luftraum ganz bedeutend heruntergegangen und
hat stellenweise nur 15, selbst 13 cbm Luftraum pro
Kopf, hebt aber selbst hervor, dass dies seine grossen
Bedenken hat.
Bayreuth giebt eine anschauliche Schilderung
der Entwicklung seiner Ueberfüllung. I111 Decennium
76—85 betrug die jährliche Zunahme des Kranken¬
bestandes etwa 10, stieg im nächsten Jahrzehnt auf
18, weiter auf 20, im Jahre 99 sogar auf 25, sodass
nun die „Ueberfüllung der Anstalt sowohl vom psy¬
chiatrischen als vom sanitären Standpunkt aus als
geradezu gefährlich und bedenklich“ bezeichnet werden
musste. Durch die Eröffnung der 2 neuen Pavillons
!: 50 Kranke wurde nur dem dringendsten Bedürf-
niss abgeholfen; der Bau einer zweiten Anstalt für
Oberfranken wird als dringend erforderlich bezeichnet.
Dziekanka hat durch Entfernung von Zwischen¬
wänden aus 2 Zellen und einem Corridor Schlaf-
rüume für 10 Kranke geschaffen, hat ferner eine
Pensionärabtheilung mit Normalkranken belegt und
endlich in mehreren Räumen eine dichtere Belegung
vorgenommen und so im Ganzen für 113 Kranke
über den Normaletat hinaus Platz geschaffen. Doch
soll diese Einrichtung nur provisorisch sein und mit
Eröffnung der im Bau begriffenen neuen Anstalt
aufhören. Sonnenstein hat dank seiner Aussen-
abtheilungen in der Unterbringung der ruhigen und
halbruhigen chronisch Kranken keine Schwierigkeiten,
während die Abtheilungen für unruhige und über¬
wachungsbedürftige ständig überfüllt sind. Abhilfe
wird von den Neubauten erwartet.
Ueberaus unerquicklich scheinen die Verhältnisse
ira Burghölzh zu sein. Die Anstalt, ursprünglich
auf 300 Plätze berechnet, beherbergt allein 351 Un¬
heilbare und hat zum Wechseln für neu Hinzukommende
noch ca. 20—40 Betten zur Verfügung, während die
Anmeldungen des Jahres die Zahl 409 erreichten.
Den Hauptgrund für die Ueberfüllung erblickt der
Bericht nicht in der Zunahme der Geisteskranken,
sondern darin, dass von vomeherein zu wenig Plätze
vorgesehen waren. Die üblen Folgen der Ueberfül¬
lung hebt Burghölzli scharf hervor: „Ich glaube zwar
nicht, dass dieselbe (nämlich die schlechte Unter¬
bringung) auf die eigentlich heilbaren Kranken grossen
Einfluss ausübe. Die meisten derselben werden ge¬
sund unter guten wie unter schlimmen Umständen,
wenn ihnen auch die Unruhe überfüllter Abtheilungen
die Kur zu einer Qual werden lässt. Einen enormen
Unterschied aber macht die Behandlungsart bei den
Unheilbaren, die ja leider die Mehrzahl unserer Kran¬
ken bilden. Manche unserer Unruhigen sind nur
deshalb so störend und so gewaltthätig, weil sie vor
dem Lärm und den Insulten der Mitpatienten nicht
genügend geschützt werden können. Vielleicht die
Hälfte der „Unheilbaren“ ist aber, wenn einmal das
eigentliche Erregungsstadium abgelaufen ist, fähig,
draussen zu leben, oft sogar ihr Brod zu verdienen,
ja manche, die wir als im strengen medicinischen
Sinne ungeheilt entlassen mussten, werden von ihren
Verwandten als ganz gesund angesehen. Sind einmal
unsere unruhigen Abtheilungen nicht mehr überfüllt,
sodass die Kranken nicht einander selbst den gröss¬
ten Schaden zufügen, so werden viel mehr Aufge¬
regte zu Ruhigen, und von diesen können mehr ent¬
lassen werden“. Man wird diese Darstellung kaum
übertrieben finden, wenn man beobachtet, wie auch
in nicht überfüllten Anstalten manche Kranke nur
durch ihre Umgebung erregt werden und durch Ver¬
setzung in andere Umgebung sich alsbald beruhigen.
Dass aber bei Heilbaren die Art der Unterbringung
für den Kurerfolg so gleichgültig sein soll, ist doch
zunächst nur eine subjective Meinung.
Momentane Abhilfsmittel gegen Ueber¬
füllung giebt es zwei: entweder werden keine neuen
Kranken aufgenommen, bevor Plätze frei werden,'
oder es werden Kranke entlassen, um für neue Platz
zu machen.
Ersterer Modus hat grosse Härten in seinem Ge¬
folge und führt in systematischer Ausbildung zu den
berüchtigten Exspectantenlisten. Doch sind viele An¬
stalten einfach gezwungen so zu verfahren.*) So hat
*) Anmerkung bei der Correctur. Auch die west-
phiilischen Anstalten leiden unter diesem System. Obgleich
gegen das Vorjahr 99 Plätze mehr geschaffen worden sind,
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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
z. B. Osnabrück eine grosse Zahl frischer, heil¬
barer Fälle abweisen müssen; H i l d e s h e i m hat von
439 Aufnahme-Anträgen 149 abgelehnt, in den würt-
tembergischen Anstalten konnten von dem insge-
sammt 798 Aufnahmegesuchen nur 492 berücksichtigt
werden, „obwohl die hygienischen Anforderungen an
den Luftraum dringlichen Aufnahmegesuchen gegen¬
über stets erst in zweiter Linie berücksichtigt“ wurden.
Waldau hat 1 3 aller weiblichen Aufnahmegesuche
ablehnen müssen. W i 1 war nach Eröffnung der
neuen Häuser im Stande, alle Aufnahmegesuche,
darunter 69 rückständige aus dem Vorjahre, zu be¬
willigen.
Die Bekämpfung der Ueberfüllung durch Ent¬
lassungen wird immer nur in beschränktem Umfange
möglich sein. Württemberg berichtet, dass im Vor¬
jahre dieser Versuch in grossem Umfange gemacht
worden sei, indem alle entlassen wurden, die nicht
mehr unbedingt anstaltsbedürftig waren, dass aber
eine weitere Steigerung nicht mehr möglich war, im
Gegentheil wieder ein gewisser Rückschlag sich geltend
machte, da die Zahl der Entlassungen von 471 auf
428 gefallen ist.
Von manchen Anstalten wird geklagt, wie schwierig
es oft ist, Kranke, die nicht mehr für anstaltsbedürftig
zu halten sind, wieder herauszubringen.' Ebers¬
walde erläutert dies an einigen charakteristischen
Fällen. Eine Frau war nach mehrjährigem Anstalts¬
aufenthalt wesentlich gebessert und sollte entlassen
werden ; erst nach langen Mühen gelang es mit Hülfe
des Ortsgeistlichen, den Ehemann aufzufinden, und
dann musste die Familie erst wieder rekonstruirt
werden, denn die Kinder waren auswärts in Pflege
gegeben. Der Ehemann einer andern Frau hatte
sich, während diese in der Anstalt war, an der eige¬
nen Tochter vergangen, was natürlich die Kranke bei
ihrer Rückkehr in grosse Erregung versetzte; erst die
alsbald erfolgte Verhaftung des Mannes ermöglichte
das Zuhausebleiben der Frau. In einem andern
Falle hatten die Angehörigen das beliebte Verfahren
eingeschlagen, der Kranken immer wieder zu ver¬
sprechen, dass sie sie sogleich nach Hause nehmen
würden, sobald nur die Aerzte es gestatteten; als
mussten von im Ganzen 1024 Aufnahmeanträgen 331 abgelehnt
werden. Am stärksten ist Münster betroffen, wo von 222 An¬
trägen 112 abgelehnt wurden, am schwächsten Lengerich. das
von 204 Anträgen 30 ablehnte. — In Wahrheit liegen die
Verhältnisse noch ungünstiger, als es nach diesen Zahlen scheint;
denn auch von den Kranken, welche schliesslich zur Aufnahme
gekommen sind, hat ein grosser Theil monatelang auf das Frei¬
werden eines Platzes warten müssen. Ob die begonnenen Er¬
weiterungsbauten ausreichen werden, um Abhülfe zu schaffen,
ist noch fraglich.
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das aber geschah, versagten alle und es kostete
wochenlange Bemühungen eine passende Unterkunft
für sie zu finden.
Aehnliche Erfahrungen dürften in den meisten
Anstalten gemacht werden. Wenn R y b n i k schreibt;
„wir haben noch keine Ueberfüllung gehabt, wir haben
derselben aber auch beständig dadurch entgegenzu*
arbeiten gesucht, dass wir immer in liberalster Weise
solche Leute, die irgend wieder einigermaassen geordnet
und arbeitsfähig erschienen, mit Urlaub in die eigene
Familie zurückschickten“, so hat man dort eben in
dieser Hinsicht mehr Glück gehabt als anderswo;
freilich hat R y b n i k auch auf der vorhergehenden
Seite zugegeben, dass die „schlimme Anwärterliste“
noch nicht ganz überwunden, vielmehr wieder „auf
eine recht bedenkliche Höhe angeschwollen“ sei.
Möglichste Liberalität im Entlassen empfiehlt auch
So rau, weil „nicht selten, namentlich bei sehr leb¬
haft nach Hause drängenden Kranken, wenn eine
Besserung eingetreten ist, die Heilung in der Heimath
beschleunigt wird“. Zschadrass ' äussert sich viel
vorsichtiger; die Vorschrift des Regulativs, „ungefähr¬
liche Unheilbare“ in Gemeindepflege abzugeben, stösst
dort auf Schwierigkeiten, weil der Begriff der Unge¬
fährlichkeit ein sehr unbestimmter, subjectiver sei,
und man jede Verantwortung dafür ablehnen müsse,
dass die Kranken wieder gefährlich werden und
schweres Unglück veranlassen könnten. Sicher sind
viele Psychiater in dieser Hinsicht noch viel zu ängst¬
lich, und mancherorts könnte wohl durch mehr Nach 1
giebigkeit gegen solche Wünsche noch eine Entlastung
erzielt werden.
Zur Entlastung der Heilanstalten bleibt noch das
Auskunftsmittel, für Unheilbare anderweit Unter*
kommen zu schaffen. Manche Provinzen geben ihre
Unheilbaren an Privatanstalten, andere haben eigene
Pflegeanstalten. Die diesjährigen Berichte enthalten
darüber nicht viel. Der Brandenburger Bericht hebt
hervor, dass man dort nur noch eine ganz geringe
Zahl von Kranken in Privatanstalten habe, „denn an
und für sich halten wir nach wie vor an dem Grund¬
satz fest, dass die schwierige und verantwortungs¬
reiche öffentlich-rechtliche Pflicht der eigentlichen
Irrenfürsorge grundsätzlich nicht durch Ueberweisung
Kranker an Privatanstalten erfüllt werden darf“. Das
ist eine Auffassung, der wohl die Mehrzahl der Psy¬
chiater zustimmen wird.
Manche Anstalten haben eigene auswärtige Pflege¬
stationen, die von der Anstalt aus controllirt werden;
z. B. giebt R y b n i k eine nicht unbedeutende Zahl
Unheilbarer an solche ab. Conrad st ein berichtet,
dass man eine grössere Zahl ungefährlicher Verblö-
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200
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17.
deter ins Landarmenhaus abgegeben habe, immerhin
ein bedenklicher Nothbehelf.
Im Allgemeinen laufen allenthalben die Erörte¬
rungen über die Ueberfüllung schliesslich darauf hinaus,
dass durch Neubauten, sei es neue Anstalten, oder
Vergrösserung der bestehenden, mehr Plätze geschaffen
werden müssen.
b) Besondere Ereignisse und Unglücksfälle.
Eine natürliche Folge der freieren Behandlung ist
die grössere Häufigkeit der Entweichungen. An¬
stalten, in denen gar keine Entweichungen in einem
Jahre vorgekommen sind, giebt es kaum; Zahlen von
mehr als 20 pro Jahr sind keine Seltenheit; aus
Dalldorf sind allein 124 Männer und 3 Frauen
im Berichtsjahr entwichen.
Gegen die grossen Vorth eile der freien Behand¬
lung gehalten, ist dieser Nachtheil sicher gering und
kann wohl in Kauf genommen werden. Man gewöhnt
sich mehr und mehr daran, in einer Entweichung ein
gar so schlimmes Ereigniss nicht mehr zu sehen, da sie
im Verhältniss zu der grossen Häufigkeit ihres Vor¬
kommens doch recht selten zu üblen Folgen führt.
Die Mehrzahl der Entweichungen geschieht von der
Feldarbeit aus, von Spaziergängen oder aus offenen
Abtheilungen und betrifft somit Kranke, bei denen
man ohnehin schon die Aufsicht vermindern zu dürfen
glaubte; sie erledigen sich meist dadurch, dass die
Kranken zu Hause ankommen und versuchsweise
dort belassen werden, oder dass sie nach kurzer Zeit
der Anstalt wieder zugeführt werden. Nur selten
liest man einmal die Mittheilung, dass ein Entwichener
nachher dauernd verschollen blieb.
Ernstere Bedeutung hat schon die Entweichung
aus einer geschlossenen Abtheilung; einmal, weil es
da doch meist möglich sein sollte, die Entweichung zu
verhindern, also in der Regel irgend eine Nachlässig¬
keit Vorgelegen hat, vor allem aber, weil sie in dubio
einen Kranken betrifft, der noch der Aufsicht bedarf
und draussen für sich oder andere gefährlich werden
könnte. Letzteres kann freilich auch bei Kranken
Vorkommen, die schon grössere Freiheit genossen,
und die entweder ihre Umgebung über ihren wahren
Zustand zu täuschen wussten, oder die eine nicht
rechtzeitig bemerkte Verschlimmerung ihres Zustandes
erlitten haben. So berichtet Ueckermünde über
einen älteren Mann, der von der Arbeit aus entwich,
längere Zeit verschollen blieb, und nach Monaten als
Leiche in einem benachbarten Teich gefunden wurde;
es blieb unsicher, ob er absichtlich ins Wasser ge¬
gangen oder verunglückt war. Ein ähnliches Ereigniss
hat Kor tau zu verzeichnen.
Gefürchtet sind Entweichungen von geisteskranken
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Verbrechern. Das sind oft geriebene Subjecte, an
deren Ausdauer, Unternehmungslust und Schlauheit
jede Vorsicht scheitert. Eine ganze Anzahl von An¬
stalten hat über solche Erfahrungen zu klagen. In
Plagwitz sind 2 Verbrecher von der geschlossenen
Abtheilung entwichen, nachdem sie das Feuergitter
geöffnet hatten; wie sie letzteres fertiggebracht haben,
blieb unaufgeklärt. Noch drastischer ist der von
Rybnik mitgetheilte Fall, wo zwei Verbrecher Nachts
im Oberstock der unruhigen Abtheilung das Fenster¬
gitter demolirten, mit Hülfe eines aus der Bettwäsche
gedrehten Strickes hinausstiegen, dann, da sie nicht
im Hemde gehen wollten, in dasselbe Haus durch
den Keller wieder einbrachen, aus der Garderobe
nach Aufbrechen eines Kleiderschrankes Kleider ent¬
nahmen und dann entflohen, und alles dies so leise,
dass niemand sie hörte! Der Frankfurter Bericht
bringt anlässlich solcher Erfahrungen eine eingehen¬
dere Würdigung der Schwierigkeiten und Unzuträg¬
lichkeiten, w'elche die Unterbringung von Verbrechern
in Irrenanstalten zur Folge hat, und kommt zu dem
Schluss: „wir können nicht den wenigen verbreche¬
rischen Kranken zu Liebe den glücklicherweise abge¬
streiften Gefängnisscharakter der älteren Irrenanstalten
zum offenbaren Nachtheil der anderen Kranken wieder
einführen“, und betont weiter das Bedürfnis, „für die
Verwahrung der verbrecherischen Geisteskranken in
anderer Weise zu sorgen, sei es jetzt durch eine
Unterbringung in Adnexen zu den Strafanstalten, die
unter einer psychiatrischen Leitung stehen, oder in für
die besonderen Zwecke besonders eingerichteten Ab¬
theilungen der Irrenpflegeanstalten“.
Selbstmorde gehören zu den aufregendsten
und betrübendsten Ereignissen im Anstaltsleben. Zgm
Glück sind sie nicht gar so häufig; aber trotz aller
Vorsicht und Aufsicht werden sie sich doch nie ganz
aus der Welt schaffen lassen. Kranke, die Suicid
planen und dabei eine gewisse Besonnenheit bewahrt
haben, verstehen es oft ausgezeichnet, ihre Absichten
vor ihrer Umgebung zu verheimlichen. Von einigen
derartigen Fällen, die aus Ueckermünde mitgotheilt
werden, sei einer hier erwähnt: Ein älterer Herr, der
von seinen melancholischen VerSündigungsideeh an¬
scheinend ganz zurückgekommen war, und bereits
völlig freie Bewegung genoss, erhängte sich eines
Tages in seinem Zimmer. Göttingen berichtet
den Selbstmord eines Paranoikers, der bei der Feld¬
arbeit beschäftigt war und ein solches Vorkominniss
durch nichts vermuthen liess. E b e r s \v aide knüpft an
die Mittheilung eines ganz unerwarteten Selbstmordes
die Bemerkung: „So unheimlich solche Fälle sind,
so schwer dürften sie auch, namentlich bei so plötz-
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 201
lieh auftretenden, triebartigen Neigungen, überhaupt
zu verhindern sein“.
Etwas anders lag ein weiterer Fall aus Uecker-
münde. Eine ältere Frau, die wegen ihres gewöhn -
heitsmässigen Jammems keiner Wachsaalbehandlung
mehr bedürftig zu sein schien, benutzte einen unbe¬
wachten Moment, sich zu erhängen. Der Bericht äussert
dazu: „Der Arzt steht solchen Kranken gegenüber, die
an jahrelang anhaltender innerer Beängstigung leiden,
vor einer schwierigen Wahl. Es wäre ja sicher mög¬
lich sie bei dauernder Bettbehandlung auf der Wach-
abtheilung vor der Gefahr des Selbstmordes zu
schützen, aber andererseits führt die dauernde Bett¬
behandlung schliesslich zu körperlichem Siechthum,
und ausserdem macht eine solche Abschliessung dieser
in der Regel geistig noch nicht ganz abgestumpften
Kranken von jeder körperlichen und geistigen An¬
regung und Ablenkung ihnen ihr ohnehin qualvolles
Leben ganz unerträglich“. — Die Grausamkeit einer
dauernden Wachsaalbehandlung bei solchen Kranken
hat wohl jeder von uns schon empfunden.
Dass übrigens die Ueberwachung auch nicht immer
im Stande ist, Selbstmorde zu verhüten, lehrt der Fall
aus dem Tannenhof, wo ein Kranker im Wachsaal
sich unter der Decke erdrosselte; bemerkenswerth ist
auch ein Fall aus Göttin gen, wo ein Kranker sich
selbst die Zunge abbiss, eine Verletzung, von der er
wieder genas.
Eine charakteristische Meinungsäusserung aus dem
Osnabrücker Bericht, die an .die Mittheilung eines
unerwarteten Selbstmordes angeschlossen wird, möchte
ich noch wörtlich hier hersetzen: „Man kann meiner
Ansicht nach vernünftigerweise keine Vorkehrungen
treffen, um derartige Unglücksfälle mit Sicherheit zu
vermeiden. — Vielleicht ist der Ausdruck Unglücks¬
fall nicht einmal ganz richtig. Ich bin überzeugt,
dass, wenn sich geistig Gesunde in solcher Lage be¬
fänden, in der sich viele Geisteskranke theils ver¬
meintlich, theils wirklich befinden, bei ihnen Selbst¬
mord viel häufiger als bei den Kranken Vorkommen
würde. Mag den Voraussetzungen der Kranken noch
so viel Krankhaftes ankleben, der Schluss und der
Entschluss, dass es dann besser sei, aus dem Leben
freiwillig zu scheiden, scheint mir an und für sich
betrachtet nicht so ungesund. Nach meinem Gefühle
ist es geradezu eine Härte, ihnen diesen Erlösung
bringenden Ausweg gewissermaassen mit Gewalt zu
verlegen. Dazu kommt, dass die einzige Maassnahme,
mit der man einigermaassen sicher dieses Ziel er¬
reichen kann, — die dauernde Ueberwachung —
von dem Betreffenden ungemein peinlich empfunden
wird, dass sie fast immer den Lebensüberdruss pro¬
gressiv steigert und das an sich schon so klägliche
Dasein immer noch unerträglicher macht“. — Sollte
nicht Mancher schon in seinem verschwiegenen Innern
Aehnliches gedacht haben? Und es nur nicht aus¬
sprechen mögen, um nicht für frivol gehalten zu
werden? Gewiss wird kein Anstaltsarzt nach solchen
Grundsätzen handeln, auch Schneider-Osnabrück nicht.
Aber der Muth, solchen Erwägungen einmal Worte
zu leihen, ist selten.
Auch sonstige Unglücksfälle werden von
verschiedenen Anstalten berichtet, die aber meist
wenig Bemerkenswerth es bieten. Von Interesse ist
vielleicht eine aus Hubertusburg gemeldete Saprol-
vergiftung; die Kranke war durch Uebersteigen einer
Scheidewand in einen abgeschlossenen Raum gelangt,
wo ein Eimer mit der Flüssigkeit stand; der Tod
erfolgte am nächsten Tage unter den Erscheinungen
des Lungenödems. Sonst handelte es sich um Fall
aus dem Fenster oder die Treppe hinab (Branden¬
burg), Ertrinken beim Baden (Schwerin) und Aehn¬
liches. Der Fall aus Hcphata, wo ein schwachsinniger
Knabe einen andern in einen tiefen Schacht gestossen
hat, weil er ihm mehrfach fortgelaufen war, als er ihn
zum Abort führen sollte, dann angab, er sei fortge¬
laufen, und Schweigen beobachtete, bis nach fast 2
Monaten die Leiche gefunden wurde, ist ja durch
die Zeitungen hinlänglich bekannt geworden. Der
Bericht giebt eine ausführliche Darstellung des Falles
und der Gerichtsverhandlung darüber, welche nach¬
wies, dass keinerlei Verschulden vorlag. (Forts, folgt.)
Wahrendorffdenkmal in Ilten.
F reunde und Verehrer des menschenfreundlichen
Schöpfers der bedeutenden Privat-Pflegeanstalt für
Geisteskranke in Ilten, des berühmten Arztes Dr.
Ferdinand Wahrendorff, haben ihm hier zum
ehrenden Gedächtniss seines Wirkens ein Denkmal ge¬
setzt, das am 25. Mai d. J. enthüllt wurde. Aus Ilten
und den benachbarten Gemeinden, aus Hannover u. s. w.
hatten sich die Theilnehmer an dem feierlichen Akte
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in grosser Zahl eingefunden. Nach einem einleitenden
Musikstücke hielt der Vorsitzende des Denkmals¬
komitees, Amtsgerichtsrath Freydank -Burgdorf, die
Festrede. Redner wies einleitend darauf hin, dass
ein derartiges Ereigniss, die Enthüllung eines Denk¬
mals, in dem uralten Gau des Grossen Freien seit
Menschengedenken nicht vorgekommen sei. Dieses
erste Denkmal im Gau solle reden von den Tugenden
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202 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 17.
Ferdinand Wahrendorffs und seiner treuen Gattin
Julie Wahrendorff, deren Bildnisse es trage. Redner
schilderte dann die Begründung der Iltener Anstalt
und ihr Heranwachsen zu einer Musteranstalt, die
eine Quelle reichen Segens für die Leidenden ge¬
worden sei, sowie Wahrendorffs herrliche Charakter¬
versprach, das Denkmal in treue Hut nehmen zu wollen.
— Der Denkmalsentwurf ist aus einer Preiskonkurrenz
hervorgegangen, das Denkmal ist vom Bildhauer Roland
Engclhard-IIannover modellirt und aus Ostcrwalder
Sandstein ausgeführt. Es lehnt sich in einem sockel¬
artigen halbkreisförmigen Unterbau an die den Wahren-
eigenschaften. In einem Leben voll Mühe und Arbeit
habe ihm seine treue Gattin helfend zur Seite gestanden.
Das Denkmal sei begründet mit Hilfe von Hunderten
von Beiträgen aus allen Teilen des Vaterlandes;
grosse und kleine Gaben seien von treuen und dank¬
baren Freunden gespendet worden. Als die Hülle
des Denkmals gefallen war, stimmte ein Sängerchor
Wahrendorffs Lieblingslied „Lobe den Herren“ an,
nach dessen Beendigung der Redner das Denkmal
im Namen des Komitees dem Sohne und Nachfolger
Wahrendorffs und dem Gemeindevorsteher von Ilten
übergab. Dr. Wahrendorff dankte herzlich für das
Denkmal und die schöne Aufgabe, die ihm als Sohn
übertragen sei. Auch Gemeindevorsteher Weh ler
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dörfischen Garten nach der Strasse zu abschliessende
Mauer an. In der Mitte des Bogens erhebt sich cin r
sechs Meter hoher Obelisk. In einer Nische ist die
Büste Wahrendorffs angebracht, darüber das Reliefpor¬
trät seiner Gattin. An der Innenseite der Seitenflügel
befinden sich Reliefs, die auf dieThätigkeit Wahrendorffs,
die Pflege der Geisteskranken in den Familien
und deren Beschäftigung in der Landwirtschaft
hinweisen. Reliefs, Porträt und Büste sind aus Bronze
hergestellt. — Den Schluss der Enthüllungsfeier bildete
die Niederlegung einer grossen Zahl prächtiger Kränze
an den Denkmalstufen. Dem Enthüllungsakte folgte
ein Festmahl im Schaperschen Gasthause.
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1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 203
Mittheilungen.
— Regelung des Irrenwesens. Wie jetzt be¬
kannt wird, hat das Reichsamt des Innern eine Um¬
frage veranstaltet bei sämmtlichen Bundesstaaten wegen
ihrer Stellung zu dem Beschluss des Reichstags, der
eine reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens be¬
fürwortet.
— Schlesien. Der Provinzialausschuss der
Prov. Schlesien hat in seiner Sitzung vom I, Juli
1902 folgenden bemerkenswerthen Beschluss gefasst:
„1. Die Gewährung von Uilaubsunterstützungen
an solche Geisteskranke des Provinzialverbandes, welche
nach dem Urtheil der Anstaltsdirection nur bei Ge¬
währung einer Unterstützung aus der Anstalt beurlaubt
werden können, sowie die Verrechnung dieser Unter¬
stützungen bei Titel „Insgemein“ des Anstaltsetats
wird genehmigt.
2. Für die dadurch etwa bedingte Etatsüberschreit¬
ung wird dem Provinziallandtage gegenüber die Ver¬
antwortung übernommen.“
(An die Landarmenverbandskranken dürfen schon
seit längerer Zeit derartige Beihilfen seitens der An¬
staltsleitungen gezahlt werden. S. Seite 258, Jahrg.
II, dieser Wochenschrift.)
— Berlin. Die Vossische Ztg. vom 12. 7. 02.
schreibt: „Während noch die dritte städtische Irren¬
heilanstalt in Buch im Bau ist, hat sich gezeigt, dass
noch zwei weitere städtische Irrenanstalten er¬
forderlich sind, um den Erfordernissen der.Irrenpflege
in Berlin zu genügen. Es ist von Interesse, 1 zu prüfen,
worauf diese in einem Gutachten Sachkundiger aus¬
führlich begründete Forderung von zwei neuen Irren¬
anstalten für Berlin beruht. Wie viele andere Com-
munalverbände hat die Stadt Berlin darauf verzichtet,
für alle Geisteskranken, die der Anstaltspflege be¬
dürfen, eigene städtische Anstalten zu errichten. Es
ist immer ein verhältnissmässig beträchtlicher Theil
von Geisteskranken, welche die Anstaltspflege nöthig
haben und für welche die Stadtgemeindc zu sorgen
hat, Privatanstaltcn fürGeisteskranke zugewiesen worden.
In den Privatirrenanstalten um Berlin, in den kleineren
und grösseren, giebt es Abtheilungen für Communal-
kranke, d. h. für Kranke, für welche die Stadt Berlin
die Pflegekosten trägt. Dass sich solche privaten
Pflegestellen für Geisteskranke leicht finden, entspricht
einem besonderen Umstande: Durch die Zuweisung
von Communalkranken in private Heilanstalten wird
deren Betrieb in einem bestimmten Umfange gesichert.
Das gemischte System der geschlossenen Irrenfürsorge,
wie es die Stadt Berlin übt (ein Theil der Kranken
wird in den städtischen Irrenanstalten, der andere Theil
in privaten Heilanstalten verpflegt), ist aber von Fach¬
männern vielfach beanstandet worden. Wiederholt
ist in der medizinischen und in der politischen Presse
eindringlich gefordert worden, dass die Stadt Berlin
das gemischte System aufgebe und aus Stadtmitteln
so viele und so grosse Anstalten errichte, dass alle
Geisteskranken in Irrenanstalten der Stadt Berlin ver¬
pflegt werden können. Es ist nicht zu verkennen —
von der Erörterung der Ursachen* sei hier abgesehen
— dass die Stadtgemeinde Berlin mit dem Bau eigener
Irrenanstalten langsam vorgegangen ist. Sie bat erst
verhältnissmässig spät einen Anfang gemacht. Die
grosse Anlage der städtischen Irrenheilanstalten Dall¬
dorf und Herzberge darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass trotz der hohen Belegziffern der beiden Anstalten
den wirklichen Forderungen der Irrenpflege noch
nicht genügt ist. Man kann getrost sagen, dass ehe
noch ein städtisches Irrenhaus baulich fertig gestellt
war, unzweifelhaft das Bedürfniss nach einer weiteren
neuen Anstalt zu Tage trat. Woher kommt das ?
. . . . (Folgt Erörterung bekannter Dinge.) ....
Diese Organe (sc. der öffentlichen Krankenfürsorge)
werden sich Dank erwerben, wenn sie in einem der
Hauptzweige ihrer Thätigkeit, in der Irrenpflege, wie
jetzt beabsichtigt wird, je schneller um so besser gründ¬
lichen Wandel schaffen. Erst dann kann von
einem solchen Wandel die Rede sein, wenn
alle Kranken, für welche die Stadt Berlin zu
sorgen hat, in städtischen Anstalten unterge¬
bracht sind. “
— Norddeutscher psychiatrischer Verein.
Neunte Sitzung in Danzig am 11. Juli 1902.
Anwesend: 3 3 Theilnehmer. Vorsitzender: S i e m e n s-
Lauenburg. Zum Versammlungsort für 1903 wurde
wieder Danzig gewählt, als Geschäftsführer Frey-
m u t h - Danzig und Rabbas-N eustadt W.-Pr.
1. G1 uszczewskv-Conradstein: Die acute hal¬
luzinatorische Verwirrtheit als Initial¬
stadium bei Melancholie. (Autoreferat).
Vortragender bespricht zunächst die Amentia als
selbständiges Krankheitsbild, das heute allgemein an¬
erkannt sei. Ihr Symptomencomplex, wie ihn Mevnert
aufstellt, besteht in der tiefen Bewusstseinstrübung,
dem rath- und hilflosen Wesen der Kranken, der
illusionären Verfälschung der Wirklichkeit und in Hallu¬
zinationen, welch’ letztere indessen keinen wesentlichen
Bestandteil dieser Erkrankung bilden. Ihr Vorkom¬
men betrifft vorwiegend das weibliche Geschlecht,
was sich zwanglos aus der Aetiologie — grossen Er¬
schöpfungszuständen, wie sie Geburt, Wochenbett etc.
setzen — ergiebt. Sie nimmt 2 Verlaufsrichtungen,
eine manische und eine stuporöse, kann auch unter
dem Bilde des Kollapsdelirs auftreten, der acutesten
Form der puerperalen Verwirrtheit, während das
delirium acutum wohl in die Reihe der fieberhaften
Erkrankungen zu rechnen ist oder als Symptomen-
complex bei der progressiven Paralyse auftritt.
Die Prognose der Amentia ist günstig, Genesung
in 6— 9 Monaten, in seltenen Fällen Exitus letalis,
seeundäre Verwirrtheit, Verrücktheit oder Demenz.
Die Therapie besteht in ausgiebiger Ernährung,
nebenbei in Bädern, Morphium, Alkohol. Medicamente
sind möglichst zu vermeiden.
In zweiter Hinsicht wird die Amentia als Symp-
tomencomplex bei verschiedenen andern Seelenstö¬
rungen besprochen.
Bei der Syphilis des Centralnervensystems tritt
sic relativ häufig auf und ist für diese Erkrankung
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204 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17
geradezu charakteristisch. Man suche frühzeitig die
wahre Natur des Leidens zu erkennen, um eine spe¬
zifische Behandlung einleiten zu können.
Im Verlauf der progressiven Paralyse ist sie nicht
selten; der somatische Befund, die Grössenideen in
den ideenflüchtigen Reden, der einförmige Bewegungs¬
drang etc. geben Aufklärung. Bei der foudroyanten
Form der Paralyse ist die Unterscheidung zwischen
dieser und der Amentia sehr schwierig.
Ebenso bekannt sind die Zustände von Amentia,
die sog. Dämmerzustände, vor, nach und statt epilep¬
tischer und hysterischer Anfälle.
Im Beginn und auf der Höhe der Manie ist die
Amentia nicht selten, episodisch tritt sie auch bei
der chronischen Verrücktheit auf.
Ausführlich wird dann die Abgrenzung der Amentia
gegenüber der acuten Verrücktheit und der Katatonie
besprochen und darauf hingewiesen, dass man sich
hüten müsse vor Fehldiagnosen zu Gunsten der
Katatonie, da das Vorkommen katatoner Symptome
gerade bei der Amentia ein recht häufiges ist.
Kurz werden dann noch die Verwirrtheitsprocesse
bei den jugendlichen Irreseinsformen und bei den
senilen Involutionspsychosen besprochen und die
Kriterien für die Differentialdiagnose angegeben.
Erwähnt wird auch das Vorkommen einer Amentia
beim chronischen Alkoholismus, und die Schwierig¬
keit betont, sie von der acuten Alkoholverrücktheit
zu sondern.
Vortragender bespricht dann an der Hand von
5 Fällen, wie die Amentia in ihren charakteristischen
Merkmalen und in dem ihr eigenartigen Verlauf eine
Melancholie einleitet.
In allen Fällen musste die Diagnose zunächst auf
Amentia gestellt werden; der Entstehung der Seelen¬
störung sind greifbare somatische Schädigungen vor¬
ausgegangen.
Im Fall I gehäufte Wochenbetten und beginnende
Gravidität, im F^ill II Influenza und Ueberanstrengung
im Dienst, im Fall III Chlorose, Nachtwachten, Alko-
holabusus und schlechte hygienische Verhältnisse, im
Fall IV Abort, im Fall V Puerperium.
Alle erkranken mit hochgradiger Verwirrtheit und
Desorientirtheit, sowie Illusionen und Halluzinationen.
In einigen Fällen nimmt die Erkrankung einen furi-
bunden Charakter an. Bei allen bahnt sich nach
mehreren Wochen bis Monaten Genesung oft mit
einem moriaartigen Stadium als Vorläufer an. Die
Erkrankten zeigen Krankheitseinsicht, suchen sich zu
orientiren, benehmen sich leidlich geordnet und be¬
schäftigen sich. Dieses auf die Amentia folgende
Intervall dauert bis zu einer Woche.
Erst dann setzt in allen Fällen eine Melancholie
ein, die ihren gesetzmässigen Verlauf nimmt und nach
Monaten in Genesung oder Besserung übergeht.
In den Schlussfolgerungen wird hervorgehoben,
dass zunächst in Folge schwerer Erschöpfung eine
Amentia, diese Erschöpfungskrankheit xar'
auftritt, um späterhin einer Melancholie Platz zu
machen. Es folgt daraus, dass, wie es auch Meyer
in Tübingen hervorhebt, Erschöpfungszuständen Psy¬
chosen von verschiedenartigem Gepräge nachfolgen
können, und dass der ätiologische Faktor nicht allzu
hoch bewerthet werden darf.
In der Diagnose und Prognose lehren die Fälle
vorsichtig zu sein. Bei allzu rasch sich anbahnenden
Heilungen soll man sich keinen trügerischen Hoff¬
nungen hingeben und erwägen, wie häufig die Amentia
bei den verschiedenartigsten Psychosen als Svnip-
tomenkomplex vorkomint.
Auch in praktischer Beziehung sind die Fälle eine
Mahnung, mit der Entlassung der Kranken, die eine
Amentia überstanden haben, recht vorsichtig zu sein,
bis man sieht, dass die Amentia die Grunderkrankung
und nicht eine komplicirende Psychose ist, da sonst, w ie
bei nachfolgenden Melancholien, recht unangenehme
Ereignisse durch gewaltthätige Akte der Patienten
gegen sich und andere eintreten könnten.
Zum Schluss wird noch kurz der Gesammtverlauf
der einzelnen Fälle hervorgehoben, der sich durchweg
günstig zu gestalten scheint.
Discussion. Meschede bekundet sein Einver¬
ständnis mit den Anschauungen des Vortragenden
bezüglich der Begriffsbestimmungen der Melancholie
und der Amentia, entgegen den Lehren der Krae-
pelin’schen Schule.
Freymuth und Siemens vertreten den Stand¬
punkt der Kraepelin’schen Lehren. Angst, Verwirrt¬
heit, Halluzinationen und Illusionen seien Symptome,
die bei jeder Psychose Vorkommen können. Ent¬
stehung und Gesammt-Verlauf entscheiden. —
2. Wickel -Dziekanka: Ueber Gehirnsection
mit Demonstrationen.
Die Ausführungen Siemerlings: „Ueber die zweck -
mässigste Art der Hirnsection“ (Jahresversammlung
des Vereins deutscher Irrenärzte; Frankfurt 1893)
sind auch heute noch maassgebend, sofern man nicht
auf eine macroscopische Betrachtung des frischen
Hirns verzichten will und die microscopische Unter¬
suchung des Hirns an ganzen Schnitten nicht anstrebt.
In Anlehnung an ein ähnliches Vorgehen Siemer-
ling’s (cfr. auch: Ueber Technik und Härtung grosser
Hirnschnitte; Berl. klin. Wochenschr. 1899, Nr. 32)
nimmt W. von einer Section des frischen Hirns
überhaupt Abstand.
Die Hirne kommen ohne Ausnahme gleich nach
Herausnahme aus der Schädelhöhle in io°/ 0 Formol
und werden nach 8— 14 Tagen bezw. 4 — 6 Wochen
in Frontal-, Sagittal- oder Horizontal-Schnitte zerlegt
— je nach der Eigenart des Einzel falls.
In der Regel genügen Frontal-Schnitte von der
Basis zur Convexität.
Dieses Verfahren hat sich bewährt.
W. empfiehlt es besonders für Irren-Anstalten,
da hier bei nicht allzu grosser Zahl der Sectionen
gutes pathologisch-anatomisches Hirnmaterial.
Es werden 12 Gehirne demonstrirt, bei welchen
das geschilderte Verfahren in Anwendung kam. (Tu¬
moren, Apoplexien, haemorrhag. Cysten, traumatische
Veränderungen, Meningitis, Paralyse, Idiotie).
W. zeigt im Anschluss Photogramme von einigen
der demonstrirten Hirnpräparate (angefertigt von
Herrn Dr. Knust-Dziekanka).
Die Photogramme sind ein wesentliches Hilfs-
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ir,o2.] PSYCHIATRISCH-NEUR< ILOGISCIIE WOCHENSCHRIFT. 205
mittel bei dem Studium der Präparate. Manches tritt
auf ihnen deutlicher hervor, wie am Präparat selbst.
Discussion. Wallen borg fragt, wie nach E'or-
mnlhärtung die Weigertfärbung ausfiele. Der Vortragende
erwidert, dass Müll er-Formel bessere Weigert bilder
gäbe. Sander fragt wegen Nisslfärbung. Nach
Verf. sind die Ansichten darüber getheilt.
3. N e ug c b a 11 c r-Conrndstein: Die Familien-
p fl ege Geisteskranker bei d er Pro v.-Irren -
Anstalt Co n ra d s t e i n.
Dr. Neugebauer berichtet über die Entwicklung
und den Stand der kolonialen und der Familienpflege
zu Conradstein. In Familienpflege sind Kranke seit
dem 1. April iqoi theils in dem nahen Dorfe Saaben,
theils in der benachbarten Stadt, Pr. Stargard, unter¬
gebracht. Die Vcrpflogungsbedingungen sind im
Ganzen die allgemein üblichen, bis auf gewisse Ab¬
weichungen, welche die dürftige wirtschaftliche Lage
der Bevölkerung dortiger Gegend notwendig machte;
so kann den Pfleglingen nur in Ausnahmefällen ein
eigenes Schlafzimmer gewährt werden. Zunächst
wurden 19 Kranke, darunter 12 Männer und 7 Frauen
untergebracht. Allmählich stieg ihre Anzahl, doch
mussten manche auch wieder zurückgenommen werden.
Es geschah das theils wegen körperlicher Erkrankung,
theils in Folge von Erregungszuständen und ühnl.;
entwichen sind 3 Kranke. Zwei Pflegestellen wurden
wegen des ungeeigneten Verhaltens der Pfleger auf¬
gehoben. Ain Ende des Etatsjahrs 1900 01 befanden
sich noch 21 Kranke in Pflege, davon 8 Männerund
13 Frauen. Dieselben vertheilen sich auf primäre
und secundürc Geistesschwäche in folgender Weise:
Sccundärc Imbecille
Demenz u. Idioten L d *
M. F.
M.
F.
M.
F.
In Pflege gegeben . .
. 10 4
10
16
20
20
Zurückgent mimen . .
7 2
5
5
I 2
7
In Pflege am Ent 1 e desJ ahres 3 2
5
1 i
8
US
Die Pflegerfamilien
verthcilen
sich
dem
Be;
rufe
nach folgendermaassen:
4 Handwerker,
2 Arbeiter,
1 Gärtner,
5 Krankenwärter.
Von den Kranken befanden sich 8 bei den Wärter-
familien, 13 bei Handwerkern u. s. \v\, 6 waren im
Dorfe Saaben, 13 in Pr. Stargard untergebracht.
Unter den primär Schwachsinnigen bestand die
grössere Anzahl aus jugendlichen Kranken.
Seither sind noch mehrere Frauen in Pflege ge¬
geben worden; bei diesen erhöht sich die Zahl der
Idioten um 4, die der seeundären Dementen um 5.
Die Gesam int zahl der in Familien verpflegten Kranken
betrug bis zum 30. Juni d. J. 30. Drei Pflegestellen
waren neu hinzugekommen, davon zwei I landwerker¬
und eine Wärterfamilie.
Die Erfahrungen, die hier gemacht wurden, sind
im Allgemeinen als befriedigende zu bezeichnen.
Günstig in Bezug auf äussere Umgebung, und auf
Behandlung erscheinen die Kranken namentlich in
den Wärterfamilien untergebracht. Um nach dieser
Richtung noch weiter vorzugehen, besteht die Absicht,
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bei dem projcctirten Bau von Wärterwohnungen diese
zugleich den Bedürfnissen der Familienpflegc ent¬
sprechend ein zurichten.
Discussion: Stoltenhoff fragt nach den Be¬
stimmungen der Verträge mit den Pflegern. Krömer
theilt mit, dass die Verträge vom Direktor abgeschlossen
und täglich aufgehoben werden können. —
4. S a nder - Graudenz : Die neu errichtete
I r r e n a b 1 1 1 e i 1 u n g an der Strafanstalt zu
Graudenz.
Seit dem 1. April d. J. ist an der Strafanstalt zu
Graudenz eine besondere Abtheilung für geisteskranke
Gefangene eingerichtet , die letzte von 5 ähnlichen
Abtheilungen, welche im Laufe der letzten Jahre in
Preusscn errichtet wurden. Die Graudenzer Anstalt
besteht aus einem 2 stockigen Bau, welcher von dem
eigentlichen Strafanstaltsgebiet durch eine besondere
Umfassungsmauer getrennt ist. Im Erdgeschoss be¬
findet sich die Abtheilung für unruhige Kranke, im
I. Stock die Aufnahme und Wachabtheilung, im II.
Stock zwei Abtheilungen für ruhige und arbeitsfähige
Kranke und Reconvalescenten. Die Belegzahl beträgt
50 Kranke, die Zahl der Einzelzimmer 9, davon 4
als Isolirzellen eingerichtet. Die Fanrichtung der
Wachsäle und Einzelzimmer entspricht psychiatrischen
Anforderungen, Thüren und Fenster sind mit den
in Strafanstalten üblichen Sicherheitsvorrichtungen ver¬
sehen, um ein Entweichen zu verhindern. Die Kran¬
ken tragen besondere Kleidung, die sie von den
übrigen Gefangenen unterscheidet, die Aufseher sind
in Irrenanstalten vorgebildet. Die Kranken werden
mit Stuhl- und Mattenflechten, ein Theil mit Garten¬
arbeit beschäftigt. Die Abtheilung ist telephonisch
mit der Hauptanstalt und der Wohnung des Arztes
verbunden, ausserdem führen von allen Abtheilungen
elektrische Klingelzüge nach einem Zimmer im Erd¬
geschoss, von dem aus bei Tag und Nacht sofort
Hülfe herbeigeholt werden kann.
Die Graudenzer Abtheilung nimmt alle Gefange¬
nen aus den Strafanstalten und Gefängnissen der
Verwaltung des Innern innerhalb der Provinzen Ost-
preussen, Westpreussen, Posen und Poinmern auf,
sofern sic in Folge ihres Geisteszustandes einem Heil¬
oder Bcobachtungsverfahren unterzogen weiden sollen,
ferner die gleiche Kategorie von Gefangenen aus den
Justizgefüngnissen der Oberlandcsgcrichtsbezirke Königs¬
berg, Marienwerder und Posen. Die Aufenthalts¬
dauer in der Anstalt soll in der Regel nicht mehr
als 0 Monate betragen, man nimmt an, dass dieser
Zeitraum genügt, um eine endgültige Feststellung des
Geisteszustandes herbeizuführen. Ueber diese Zeit
hinaus können Kranke nur dann in der Irrenabthei¬
lung verpflegt werden, wenn mit Sicherheit vorauszu¬
sehen ist, dass im Laufe der nächsten 9 Monate
durch die Weiterbehandlung eine Besserung bis zur
Strafet »llzugsfäliigkeit eintreten wird.
Die Graudenzer Abtheilung bietet somit ebenso
wie die anderen derartigen Irrenabtheilungen eine
erhebliche Entlastung: der Irrenanstalten von den ge¬
fährlichsten und unangenehmsten Elementen. Auf
der andern Seite steigt aber mit der erleichterten
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206 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17.
Aufnahme aus den Strafanstalten die Zahl der unheil¬
baren geisteskranken Verbrecher, die nach wie vor
in den Irrenanstalten Aufnahme finden müssen.
Ueberall da, wo keine besonderen Abtheilungen für
derartige Kranke existiren, ist deren Aufnahme er¬
schwert, sodass hierdurch bereits eine Ueberfiillung
einzelner Irrenabtheilungen eingetreten ist. Es giebt
2 Wege zur Abhilfe hierfür, entweder, dass die grösse¬
ren Communalverbände gesetzlich genöthigt werden,
besondere Abtheilungen zur Internirung unheilbarer
geisteskranker Verbrecher einzurichten, wie dies an ein¬
zelnen Orten bereits geschehen ist,- oder die Errich¬
tung besonderer Centialanstalten für derartige Kranke,
wie in England, Amerika, Italien. Das letztere würde
bei uns nur durch einen besonderen gesetzlichen Akt
ermöglicht werden.
Discussion. Krömer fragt, ob auch Untersuchungs¬
gefangene nach § 81 Str. P. O. aufgenommen würden
und wie viel Aufseher bei Tage nöthig seien. S. er¬
widert, dass nur besonders schwer zu behandelnde
Untersuchungsgefangene kämen und dass 1 Aufseher
auf 5 Kranke komme. Der Arzt der Irrenabtheilung
sei auc h Arzt der Strafanstalt überhaupt Auf eine
Frage Encke’s erwiedert S., dass Disciplinarstrafen
angewendet werden könnten, dass sie aber im Allge¬
meinen mit denselben Mitteln wie in andern An¬
stalten auskämen. K a y s e r und Stoltenhoff
wünschen, dass die Insassen möglichst lange zurück¬
gehalten und dass nur die Verblödeten in die Pro-
vinzial-Irren-Anstalten übergeführt werden möchten.
S. macht aufmerksam, dass, wenn die Unheilbarkeit
festgestellt sei, die Insassen nicht mehr Gegenstand
des Strafvollzugs sein könnten und daher entlassen
werden müssten. Siemens hat stets betont, dass
die Provinzial-Anstalten durch diese, an sich segens¬
reichen Abtheilungen nur noch mehr mit geisteskran¬
ken Verbrechern beglückt werden, als früher. —
5. Krö m e r-Con radstein: Körperverletz¬
ungen, k ö r p erliche Misshandlungen als
Ursache von Gei st e sst ü rungen. (Autoreferat).
An der Hand seiner Erfahrung als gerichtlicher
Sachverständiger trägt Kr. zehn Fälle von Geistes¬
störung vor, die in Folge erlittener körperlicher Miss¬
handlung zum Ausbruche gekommen sein soll.
Fälle, in denen es sich um direkte Kopfverletzungen
handelt, werden bei der Betrachtung ausgeschlossen.
An sich solle die Möglichkeit, dass körperliche Miss¬
handlungen eine Geistesstörung zur Folge haben
können, nicht geleugnet werden. Nach Analogie
der Reflexcpilepsie könne durch anhaltende und
schwere Misshandlung peripherer Körpertheile even¬
tuell ebensogut einmal eine Geistesstörung hervorge¬
rufen werden, zumal dann, wenn cs sich um Ver¬
letzung von grösseren Nervei »Stämmen handle, um
Narben an ungünstiger Kürperstelle, die häufigen
neuen Reizen ausgesetzt seien. In gewisser Bezieh¬
ung käme es hierbei auf die Art des Gegenstandes
an, mit welchem die Misshandlung erfolgt sei, inso¬
fern als ein weicher und nachgiebiger w eniger gefähr¬
lich sei, als ein harter und fester. Reizungen, Drücken,
Schlagen ungünstig gelegener Narben bezw. Verletz¬
ungen können wüthetide Schmerzanfälle (Wuthpa-
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roxvsmen) auslösen. Kommt es zu einer Betheiligung
des Gehirns, zum Ausbruche einer Geistesstörung, so
müssen sich die Zeichen einer Hirnerschütterung be¬
merkbar machen, es müssen in der Regel nachzu¬
weisen sein, Hyperästhesieen, Paraesthesieen, vaso-.
motorische Störungen, Pulsverlangsamung, Kälte
oder Hitze der getroffenen Glieder, ausstrahlende
Schmerzen derselben, Pupillenveränderungen, denen
sich Lähmungserscheinungen, Erbrechen, Schwindel,
Ohnmächten und ataktische Störungen anschliessen
können. Psychisch macht sich eine erhöhte Reizbar¬
keit, Intoleranz gegen Alkohol, Energielosigkeit, Mat¬
tigkeit, Herabsetzung der rohen Kraft, Kopfweh,
Abnahme des Gedächtnisses, Aenderung der Stim¬
mung und des Charakters, auch Störungen der Sensi¬
bilität und der Sinnesthätigkeit bemerkbar.
Pathologisch-anatomisch findet man eine geringe
Färbbarkeit der Zellen, Umwandlung derselben in
eine stark gefärbte granulirte Masse, Ausdehnung der
Gefässscheiden, die sich abheben, kleinzellige Infiltra¬
tion ihrer Umgebung und eine abnorme starke Fül¬
lung der Gefässe selber. (Apelt, Kronthal, Schmauss,
Kirchgaesser, Koeppen, Sperling, Edel, Friedinann u. A.).
Scaliosi fand an Nisslpräparatcn die Gliazellen schon
nach einer Stunde, die Ganglienzellen etwas später ver¬
ändert, er sah variköse Atrophie oder Entartungshyper¬
trophie der Zellen, Chromatolvse, Vacuolenbildung im
Zellleib, Homogenisirung des Kerns bis fast zum völligen
Schwund der Gestalt des Zellkörpers. Parascandolo
fand nach Körpererschütterungen ähnliche Deforma¬
tionen des Zellkörpers, Fragmentation der Dendriten,
variköse Anschwellung derselben und sonst Befunde
wie Scaliosi.
Je mehr die feineren hirnanatomischen Unter¬
suchungen bei Erschütterungen des Gehirns, bezw.
des Körpers positive Befunde ergeben haben, um so
weniger wird man behaupten können, dass es krank¬
hafte Himsymptome ohne solche und ähnliche Be¬
funde gäbe.
Der Vorgang bei solchen Erschütterungen sei
etwa ebenso zu deuten, wie bei den hierauf bezüg¬
lichen Experimenten von Kocher, die die vorzugs¬
weise Betheiligung des Blutgefässsystems erklären.
Gesunde Personen können selbst schweren Er¬
schütterungen und Verletzungen ausgesetzt werden,
ohne dass sie von seiten des centralen Nervensystems
irgendwelche Erscheinungen zeigen. Anders ist es
bei Personen, die Erkrankungen des Gefässsystems
darbieten, bei Trinkern und Luetikern und Personen
die aus disponirten Familien stammen. Bei diesen
könne eine geringfügige Erschütterung grössere Er¬
scheinungen * machen, als eine erhebliche Erschütte¬
rung bei sonst Gesunden. Die verschiedenen Lebens¬
phasen, die Zeit der körperlichen und geistigen Ent¬
wickelung in der Jugend, die Zeit der Geschlechts¬
reife, der Reconvalcscenz, überstandene Krankheiten
können disponirend wirken.
In Fällen, in denen eine solche Erschütterung des
centralen Nervensystems zunächst nicht nachgewiesen
sei, könne es sich um ungünstige psychische Einflüsse,
um psychischen Sliok, vorzugsweise um Schreck han-
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i 9 o2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 207
dein, welche gleichfalls heftige Blutdmckschwankungen,
Anämieen und Hyperämieen, ev. capillare Blutungen
herbeiführen und darnach plötzliche Hemmungen
aller geistigen Functionen, besonders auf psychomoto¬
rischem Gebiete bis zum Stupor und zur Aufhebung
des Bewusstseins nach sich ziehen können. —
Die anatomischen und klinischen Erscheinungen
seien vorzugsweise von fortschreitendem Charakter,
könnten klein und kaum merkbar beginnen und mit
den gröbsten Störungen enden. —
In der Praxis habe man nach solchen anatomischen
und psychischen Krankheitserscheinungen zu suchen;
der Erfahrene wird sie oftmals entdecken, wo ein Un¬
erfahrener Nichts sieht. Immer sei eine genaue
Anamnese aufzunehmen, die Persönlichkeit in körper¬
licher und psychischer Hinsicht vor der erlittenen
Misshandlung festzustellen; eine gewisse Skepsis zu
üben sei zweckmässig, da das Publikum nur zu ge¬
neigt sei, alle nachfolgenden Krankheitszustände auf
einen Unfall, auf eine Verletzung bezw. Misshandlung
zurückzuführen und vorausgegangene Schäden zu ver¬
schweigen.
Nach Anführung einiger Fälle aus der Literatur
(von Bühr, Köster, Blcncke u. A.) berichtete Vor¬
tragender cursorisch über seine eigenen Fälle, die
zum Theil strafrechtlich zum Austrag gebracht worden
seien.
1. i6j. Dienstjunge wurde Dccember 1890 von
seinem Dienstherrn mit einem Stock gezüchtigt, sehr
bald darauf soll er geisteskrank geworden sein.
Maniakalische Erregung, die mehrere Wochen anhält
und Anstaltsbehandlung erforderlich machte, aber in
Genesung überging.
Die Untersuchung ergab ausser einigen Striemen
auf dem Rücken und dem r. Schulterblatt keine der
oben angeführten Störungen, dass der Geschlagene
bereits Wochen lang vor der Prügel psychisch ver¬
ändert war. Die seitens der kgl. Staatsanwaltschaft
eingeleitete strafrechtliche Untersuchung gegen den
Dienstherrn wurde niedergeschlagen, da nach dies¬
seitigem Gutachten ein direkter Zusammenhang zwischen
Misshandlung und Geistesstörung nicht mit Klarheit
nachgewiesen sei.
2. 2öjähr. jung verheirathete Frau — Mutter
geisteskrank — war von einer Flurnachbarin nach
vorausgegangenen längeren Plänkeleien überfallen und
durchgeprügelt worden. Darnach erst erregt, dann
depriinirt, theilweise stuporös. Zustand von kurzer
Dauer, von wenigen Tagen. Anstaltsbehandlung nicht
nöthig. Der Ehemann der Misshandelten erhebt An¬
klage gegen die Schlägerin. Die Untersuchung ergab,
dass die Misshandelte seit Jahren neurasthenisch sei,
in der Jugend wiederholt an Ohrenentzündung ge¬
litten, noch im Alter von 22Jahren nach kurzer Ent¬
fernung von der Heimath von schwerem krankhaften
Heimweh überfallen wurde, das erst nach ihrer Rück¬
kehr nachliess. — Im Gutachten wurde hervorgehoben,
dass eine derartig beschaffene Person durch den er¬
littenen plötzlichen Ueberfall hätte aus dem psychi¬
schen Gleichgewicht gebracht werden können, um so
eher, als sie durch ihre eben erst erfolgte Verhei-
rathung und die damit verbundene Erregung, sowie
durch erneutes starkes Heimweh und unbefriedigende
äussere Verhältnisse psychisch sich nicht mehr in ge¬
ordnetem Gleichgewicht befunden habe: eine gesunde
Frau würde durch die erlittenen Schläge voraussicht¬
lich nicht geisteskrank geworden sein. — Die Be¬
klagte wurde wegen Misshandlung mit einer Geldstrafe
belegt.
3. I2jühr. Schulknabe, gesunde Abstammung,
war von seinem Lehrer mit einem Stock gezüchtigt
und am Ohre gerissen worden. Der Vater erhob
Strafantrag gegen den Lehrer, weil sein Sohn dar¬
nach körperlich und geistig erkrankt sei. Er zeige
Krampferscheinungen, sei rechtsseitig gelähmt, geistes¬
abwesend, starre vor sich hin, lasse den Speichel aus
dem Munde laufen. Ein beamteter Arzt diagnosti-
zirte zunächst Hirnhautentzündung, dann Hirnabsccss,
und als der Junge nicht, wie erwartet, starb, sondern
sich erholte, hysterisch-traumatische Lähmung. Ein
anderer Arzt konnte in nichrwöchentlicher Krankcn-
hausbehandlung weder Krämpfe noch Lähmungser¬
scheinungen beobachten.
Mit Abgabe eines Obergutachtens betraut, konnte
ich auf Grund der Untersuchungsakten fcststellen, dass
der Knabe schon seit mehreren Jahren ein chroni¬
sches Ohrenleiden habe, dass er seit ebensolänger
Zeit träge w r ar, nichts mehr lernte und in der Schule
nicht mehr mit fortkam. Die vorliegenden ärztlichen
Untersuchungen seien ungenau und lückenhaft; jeden¬
falls habe der Knabe weder an Hirnhautentzündung,
noch an einem Hirnabsccss, noch an hysterisch-trau¬
matischer Lähmung gelitten. Es sei unmöglich, den
Beweis zu liefern, dass die Krankheit durch die er¬
littenen Misshandlungen hervorgerufen sei. — Der
Lehrer w'urde wegen Ueberschreitung seines Züch¬
tigungsrechts unter Annahme mildernder Umstände
mit einer Geldstrafe belegt.
4. 2ojähr. Dienstjunge, Vater Vagabond, der
seinen Sohn gleichfalls dazu erzog, sodass er keine
Schule besuchte und geistig beschränkt blieb. Als
Dienstjunge vermiethet, bekam er von einem Mitknecht
Stockprügel wegen Trägheit, von denen er nur einige
blutunterlaufene Stellen auf dem Rücken zeigte. Er
bekam epileptische Krämpfe darnach, zeigte ein blöd¬
sinniges Verhalten, die ersteren häuften sich sehr stark,
Status cpilepticus, T<xi. — Anklage wegen Körper¬
verletzung mit tödtlichem Ausgange. — Die Unter¬
suchung ergab, dass der Geprügelte schon von Jugend
auf epileptisch war, dass er deshalb die Schule nicht
besuchen konnte, dass er durch die zahlreichen epi¬
leptischen Anfälle verblödet war. — Gutachten : es
sei nicht zu erweisen, dass die gehäuften epileptischen
Anfälle und der nachfolgende Tod mit Sicherheit
auf die erlittenen Prügel zuiückzuführen sei. — Unter¬
suchung niedergeschlagen.
5. 2ijähr. Soldat, in der Familie mehrfach Epi¬
lepsie, in der Jugend und während der Schulzeit
selbst epileptisch, deshalb geistig beschränkt. — Seit
Jahren frei von Krämpfen, wurde er zum Militär
ausgehoben, wurde dort wegen Trägheit und seinem
sonst etwas auffälligen Wesen von seinen Kameraden
öfters geprügelt und mit Fussspitzen an die Knie
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208 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
gestosscn. Wegen dieser Behandlung desertirte er
zweimal. Als er das zweite Mal zurückgebracht
wurde, erschien er verwirrt, dann tobsüchtig, weshalb
er in das Garnisonlazareth, später in die Irrenanstalt
gebracht wurde. In letzterer war er erst stuporös,
später leicht maniakalisch, dann reizbar, mürrisc'h, un¬
zufrieden, witterte überall Zurücksetzung und Benach-
theiligung. Gebessert entlassen, mac hte er beim Militär
Versorgungsansprüclie, da er durch die Misshand¬
lungen aufgeregt und in Geistesstörung versetzt worden
sei; gegen eine Anzahl von Soldaten wurde Anklage
wegen schwerer Körperverletzung erhoben. Die* be¬
gutachtenden Aerzte erkannten an, dass das Hirn
durch Epilepsie invalide sei, dass indessen die er¬
littenen Misshandlungen für sich allein im Stande
gewesen wären, die Geistesstörung hervorzurufen.
Diesem Urtheil wurde diesseits widersprochen, da
sich herausstellte, dass der Geisteszustand des Ge¬
schlagenen von Jugend auf invalide und durch Epi¬
lepsie beeinträchtigt war und dass er beim Eintritt
in’s Militär bereits geistig abnorm war. Die Beklagten
wurden wegen Misshandlung bestraft, wobei nicht an¬
genommen wurde, dass die Misshandlung die Geistes¬
störung erzeugt habe.
b. 32jähr. Kutscher, Fall eines mit Iläksel ge¬
füllten Sackes von einer schicfstehenclen Leiter herab
auf Schulter und Nacken.
Familie und Betroffener gesund. Nach dem Fall
kurze Zeit bewusstlos, darnac h Schmerz- und Schwin¬
delanfälle, neurasthenischc Zustände, hvporhondrisch-
melancholische Depression. — 40% Invalidenrente
zuerkannt.
7. ca. äojähr. Arbeiter aus gesunder Familie,
beim Ausschachten eines Kanals mit Erde befallen,
Quetschung des Brustkorbes. Darnach nervöse Er¬
regbarkeit, Selbstmordversuche, Vergiftungs- und Ver¬
folgungsideen, hystcro-cpileptisehe Krampfanfälle nach
ca. 1 l / 2 Jahren. — 75 0 0 Rente. — Noch in der
Anstalt.
8. ca. ^ojähr. Mann, Hilfsbremser aus gesunder
Familie; erlitt vor 9 und 8 Jahren zweimal Eisen-
bahnunfälle, wobei er das eine Mal einen Bruch der
Kniescheibe, das andere Mal durch Schleifung auf
einer Strecke von 10 m Länge eine Körperersclüitte-
rung erfuhr; nach 1 Jahr epileptische Krämpfe, nach
b Jahren geisteskrank, maniakalisch, Verfolgungsideen.
Nach halbjährigem Anstaltsaufenthalt genesen entlassen.
9. 2 5jähr. Eisenbahnarbeiter, gesunde Familie,
Soldat gewesen. Eine mit Schienen beladene Hand¬
le »wrv ging über seinen linken Fuss und zerquetschte
die ersten Zehen desselben. Amputation derselben,
3 monatliches Krankenlager. Ungünstig liegende straffe
Narben von grosser Schmerzhaftigkeit. Darnach starke
Erregung, Wahnideen religiösen Inhalts, noch in der
Irrenanstalt. —
10. gojähr. Frau, gesunde Famlie; geistig gering
veranlagt, 14 mal geboren, jedes Jahr einmal. Ehe
anfangs glücklich, später sehr unglücklich, da der
Mann sich dem Trünke ergab — und seine Frau in
[Nr. 17.
der Trunkenheit häufig schlug. Wurde abwechselnd
traurig und erregt. Wegen Tobsucht nach der Irren¬
anstalt, in der sie sich rasch erholte. Neben vielen
Geburten und häuslichem Elend wurden die Prügel
als vorzugsweise Krankheitsursache beschuldigt.
Die Discussion wird auf die nächste Sitzung ver¬
tagt. S.
— Irren rechtliches. Wenn man auf dem
Gebiete des Irrenrechts so häufig Unsicherheiten
und Unklarheiten begegnet, so trägt daran z. Th.
der Umstand Schuld, dass der Begriff der Geistes¬
störung sich nicht willkürlich umschreiben lässt,
sondern dass es sich liier um ein medicinisch-natur-
wissenschaftliches Object handelt, dessen Unter¬
suchung und Beurtheilung auf naturwissenschaftlic hem
Wege zu erfolgen hat. Aber „die Natur macht keine
Sprünge“ und so lange man die geistige Gesundheit,
die Zurechnungsfähigkeit nicht mit Mass und Wage
prüfen kann, etwa wie die Tauglichkeit für den Militär¬
dienst nach Brust- und Längcnmass, so lange werden
immer Fälle zweifelhafter geistiger Gesundheit bezw.
Krankheit den Köpfen der Mediciner und Juristen
zu schaffen machen und sensationelle Geisteskrank¬
erklärungen die Presse in Athcm erhalten. Eine andere
Sache aber ist es, wenn in rein formellen Rechts¬
bestimmungen Unklarheiten fortgesetzt ihr Dasein
fristen und zur Benachtheiligung der betreffenden
geisteskranken Personen führen. Ein solcher Fall
liegt vor, wenn, wie es thatsächlich zu geschehen pflegt,
einem während der Strafhaft in Geisteskrankheit ver¬
fallenen Gefangenen die in der Irrenanstalt verbrachte
Zeit nicht auf die Strafzeit abgerechnet wird, obgleich
der $$ 490 der deutschen Strafprozessordnung vor¬
schreibt: „Ist der Ycrurthcilte nach Beginn der Strat-
vollstrcckung wegen Krankheit in eine von der Straf¬
anstalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so
ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt
in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Ver-
urtheilte mit der Absicht, die Strafvollstreckung zu
unterbrechen, die Krankheit herbeigeführt hat“. Es
kann doch für diese Anrechnung keinen Unterschied
ausmachen, ob ein Gefangener an einem Lungen-,
Herz- u. s. w. oder einem Gehirnleiden erkrankt ist; der
äussere Unterschied, dass der geisteskranke Strafge¬
fangene in der Anstalt ohnehin seine Freiheit mehr
weniger entbehrt, lässt es gerecht erscheinen, dass
gerade ihm eine solche angerechnet werde. Es ist
unverständlich, aus welchen Gründen und mit welchem
Rechte sich bei Staatsanwälten die entgegengesetzte
Praxis eingebürgert hat. Mögen diese Zeilen dazu
beitragen, dass Remcdur geschaffen werde. Br.
Personalnachricht.
lUm Mitlheilung von Personalnachrichtcn etc. an die Redartion
wird gebeten.)
— Baden. Dr. Pfister, der bisher Prof. Ernming-
haus in Freiburg vertreten hat, ist zum außerordent¬
lichen Professor ernannt worden.
Für den redaktionellen Tlieil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Hresler K rasch nitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Insei atenannahme 3 Tage vor der Au-.^abe. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S
Ilevnoraann’sche Euchdruckerei (Ciebr. Woiff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In-» und Auslandes
herauiKegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ii. Edinger,
Urhtspnnflrff (Altmarki Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
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Budapest. St. Maurice iSeine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et jpbil. W. Weygandt,
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redigirt von
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Kraschnitz (Schlesien).
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Nr718. 2. August. “ 1902:
Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. J. Brerler, KrasChnit« (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters,
Andernach (S. 209). — Nochmals zur Benennung der öffentlichen Irren Heilanstalten (S. 216). — Mittheilungen (S. 216).
Referate (S. 218). — Bibliographie (S. 219).
Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets
im Jahre igoo/oi.
Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. i>/'/<?rr-Andernacli.
(Fortsetzung.)
Um- und Neubauten.
Die kleineren baulichen Veränderungen, welche
in den meisten Anstalten fast alljährlich vorgenommen
werden und in den Berichten mehr oder weniger aus¬
führliche Besprechung finden, haben wenig allgemeines
Interesse und können hier füglich übergangen werden.
Ueber eigentliche Neubauten, sowie über Um¬
bauten von principieller Bedeutung haben nur wenige
Anstalten zu berichten.
Folgen wir der Reihenfolge des obigen Verzeich¬
nisses, so wäre zunächst die Idioten-Anstalt zu Rasten¬
burg zu erwähnen, welche ein auf ioo Insassen be¬
rechnetes Haus gebaut hat. Däs Haus ist einflügelig,
doch so eingerichtet, dass bei Bedarf leicht ein
zweiter Flügel angebaut werden kann. Im Erdge¬
schoss sind 2 Tagesräume und 2 Schlafsäle für Kna¬
ben, im 1. Stock die 'gleichen Räume für Mädchen;
im 2. Stock einige Pensionärzimmer; das Souterrain
enthält den Speisesaal und Wirthschaftsräume.
Ueber umfangreiche Erweiterungsbauten berichtet
Ueckermünde. Es sind dort in der 5jährigen
Periode., auf welche der Bericht sich erstreckt, ge¬
baut worden: je ein Beobachtungs- und je ein Isolir-
gebäude für Männerr und Frauen-Abtheilung; ein
Wirthschaftsgebäude; ein Kesselhaus; eine Leichen¬
halle mit Sektions- und Microscopirzimmer; ein Be¬
amtenwohnhaus. Ferner ist dort 300 m von den
Krankenhäusern entfernt und durch Wald von ihnen
getrennt ein Wirthschaftshof angelegt worden, mit
Wohnung für 8 Kranke und 1 Wärter.
Die Beobachtungshäuser enthalten im Erdgeschoss,
ausser einem geräumigen Tagesraum, einem Schlaf-
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HARVARD UNIVERSITY
2 10
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. iS.
saal und den nöthigen Nebenräumen, die beiden
durch eine grosse Schiebethür mit einander verbun¬
denen Wachsäle, jeder auf 14 Betten berechnet;
eine vorgebaute Veranda ist von beiden Wachsälen
aus zugänglich. — Es wird besonders hervorgehoben,
dass alle Fenster unvergittert sind, und dass die Lüf¬
tung durch aufklappbaren Oberflügel erfolgt. — Das
Weglassen der Gitter ist, wenn man dafür die Fenster
nicht öffnet, immerhin nur ein bedingter Fortschritt in
der freiheitlichen Behandlung.
Die Häuser der Unruhigen sind nach dem Corri-
dorsystem gebaut, wobei der Corridor als Tagesraum
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HARVARD UNiVERSITY
1902.]
PSVCHIATRISCH-NEUROLOGISCH E WOCHENSCH RIFT.
21 I
dient. Diese Art der Unterbringung der reizbaren
und ungeselligen Kranken wird für zweckmässiger ge¬
halten, als das Zusammensein in kleinen, mehr qua¬
dratischen Tagesräumen, weil sie mehr die Möglich¬
keit räumlicher Zerstreuung bietet; man wird dieser
Ansicht wohl zustimmen.
Der Beschreibung der Neubauten sind mehrere
Abbildungen beigefügt, von denen 2 in Nr. 5 des
vorig. Jahrgangs dieser Wochenschrift wiedergegeben
sind. Die Häuser sind bereits seit 97 im Gebrauch
und haben sich bewährt.
wachungszimmer. In der Mitte des Gebäudes liegt
ein Tagesraum mit vorgebauter Veranda, an dessen
anderer Seite noch Schlafräume. Bäder, Aborte, Spül¬
küchen, Garderobezimmer sind zweckmässig angeord¬
net. Ein Besuchszimmer hat direkten Zugang von
aussen.
Das Obergeschoss enthält Dienstwohnung für den
Oberwärter (resp. -Wärterin), Heim und Krankenzimmer
für Wartpersonal und den Schlafraum für die Nacht¬
wache; im Mittelbau ist oben noch eine kleine Kran¬
kenstation vorgesehen.
»In tc
Raum No. 1 Operationszimmer.
„ „ 2 Verbamlzimmer.
„ „ 3 Abort.
„ „ 4—6 Einzel- und Isolir-
zirnmer.
>. 1, 7 Flurgang.
„ „ 8 Bade-u. Waschraum.
„ „ 9/10 Wachs, f. Unruhige.
„ „ 11 Garderobe und
Wärterzimmer.
„ „ 12 Tagesaufenthaltsraum.
|: ^
>■ »-
b
V»
■ ■
]—f
Eb e rs w a 1 d e.
Raum No. 13 Liegehalle.
„ 14 Spülküche.
„ 15 Abort.
„ 16 Wachsaal für Ruhige.
„ 17 Wachzimmer für
Pensionäre.
„ 18 Ueberwachungszimmcr.
„ 19 Bade- und Waschraum.
„ 20 Vor-und Besuchszimmer.
„ 21 Abort.
„ 22 Eingangsflur.
Ebersw'aide hat den Bau von zwei Aufnahme¬
häusern begonnen, je eins für Männer- und Frauen¬
seite. Das Project wird unter Beifügung von Grund¬
risszeichnungen im Anstaltsbericht durch den Landes¬
baurath beschrieben.
Das Erdgeschoss enthält auf der einen Seite 3
Isolirzimmer, durch einen Corridor von den übrigen
Räumen geschieden, ferner, mit besonderem Eingang
von aussen her, ein Operationszimmer und ein Ver¬
bandzimmer; auf der anderen Seite die Ueberwach-
ungsräume: einen grossen Wachsaal, der mir im
Interesse einer zuverlässigen Uebcrwachung schon
fast zu gross erscheint, mit ihm verbunden einen
besonderen Pensionärwachraum und ein Einzel-Ueber-
Die Heizungsanlage ist mit Niederdruckdampf ein¬
gerichtet, die Heizkörper sind in Mauernischen ange¬
bracht. Die Fussböden der Aborte, Bade- und Spül¬
räume, erhalten Fliesenbelag, in den anderen Räumen
Linoleum. Die Fenster werden mit Drehflügeln ver¬
sehen. Warum ? Die Gefährlichkeit der einfachen
Stubenfenster für Krankenräume wird von vielen Irren¬
ärzten noch sehr überschätzt. Wenn man aber glaubt,
es damit nicht w r agen zu dürfen, dann soll man lieber
auch consequent sein und Gitter vorsetzen; dann
kann man wenigstens ausgiebig lüften.
In So rau wird ein neues Frauenhaus für 100
Kranke gebaut. Auch im Sorauer Bericht giebt der
Landesbaurath die Beschreibung des Neubaus unter
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18.
Beifügung von Grundrissen. Das Haus ist 2 stockig
und hat in jedem’ Stockwerk 2 Abtheilungen, von
2 gesonderten Treppenhäusern zugänglich, in der
Mitte durch den gemeinsamen Bade- und Waschraum
verbunden. Den Tagesräumen des Erdgeschosses
sind Liegehallen vorgebaut. Die beiden Abtheilungen
des Erdgeschosses sind für tobsüchtige und unrein¬
liche Kranke bestimmt, darum sind hier 2 Wachsäle
a 14 Betten und nicht weniger als 8 feste Zellen.
Die Zellenflügel enthalten noch besondere Badezimmer.
— Die Abtheilungen des Obergeschosses sind für
ruhigere Kranke bestimmt und sollen darum enger
belegt werden. Hier werden in den Schlafräumen
2 5 cbm auf den Kopf gerechnet, während unten mit
Rücksicht auf die Bettlägerigen' 30 cbm angenommen
werden. Auch oben ist noch eine Anzahl Einzel¬
räume, wenn auch nicht in Form fester Zellen, vor¬
handen. — Der Mittelbau enthält noch ein Dachge¬
schoss, welches als Tuberkulose-Station gedacht .ist.
Dieses ist an die Niederdruckdampfheizung der Bade¬
räume angeschlossen, während die übrigen Räume
Luftheizung haben. Abfuhr nach dem Tonnensystem.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Art der
Umzäunung des Gartens. „Um das gefängnissartige
Aussehen einer Umwährungsmauer zu vermeiden“,
soll der Garten eine Umzäunung aus Drahtgeflecht
erhalten, diese aber „von besonders starker Construc-
tion“ sein und zudem auf einen 1 m hohen Sockel
gesetzt werden. Letzterer wird von aussen durch
eine zu bepflanzende Erdböschung verdeckt. —- Also
auch hier das Bestreben, nach aussen hin einen an¬
deren Anschein zu erwecken, als den Thatsacheh
entspricht.
Ich sehe hierin ein Symptom eines Uebels, das
sich vielfach bemerkbar macht. Die moderne Irren¬
pflege scheint mir in manchen Punkten auf Ab¬
wege zu gerathen; es wird ein in bedenklicher Weise
sich steigernder Werth auf den äusseren Schein ge¬
legt. Es liegt mir fern, speciell der Anstalt Sorau
hieraus einen Vorwurf zu machen; ich benutze nur
diesen Anlass, um die überall vorhandene Tendenz
festzunageln. — Wir haben doch sonst das bewährte
Princip, den Kranken immer offen die Wahrheit zu
sagen: warum also sollen wir in den äusseren Ein¬
richtungen der Anstalt unsere wahren Absichten ver¬
schleiern, den Kranken — und auch dem Publikum
— Sand in die Augen streuen? Das Vertrauen, so¬
wohl des Publikums wie der Kranken, gewinnt man
nur durch rückhaltlose Offenheit. — Ich für meinen
Theil habe die Ueberzeugung, dass wir keine Mauern
brauchen, dass eine lebende Hecke oder ein gut ge¬
arbeiteter Lattenzaun überall ausreicht. Wenn aber
eine Anstalt festere Umschliessung nöthig zu haben
glaubt, ist es nöthig, das zu verbergen? Dass die
Kranken durch den Anblick einer Umschliessungs¬
mauer unangenehm berührt werden, ist doch nicht
so häufig, wie man behauptet; man geht in solchen
Sentimentalitäten heutzutage viel zu weit. Kranke, die
überhaupt für solche Eindrücke empfänglich sind, wissen
auch ohne Mauer, dass sie eingesperrt sind und em¬
pfinden es vor allem. Eher käme schon in Betracht,
dass das Publikum lieber seine Kranken in die Anstalt
bringt, wenn diese einen freieren Eindruck macht.
Aber auch da ist es gefährlich, mit äusserem Schein
zu arbeiten; wenn der Schein dem Innern nicht
entspricht, wird dies nicht lange verborgen bleiben.
Mache man es sich lieber zum Princip, die Kenntniss
der Anstalts-Einrichtungen möglichst zu verbreiten,
jedem, der sich dafür interessirt, die ganze Anstalt zu
zeigen und zu beweisen, dass die Anstalt nichts zu ver¬
bergen hat; dann wird man besser dem Misstrauen
entgegenarbeiten und braucht keinen äusseren Schein.
Der Berliner Bericht führt nur .wenig Neubauten
auf. In Dalldorf soll dai Haus für Unruhige einen
besonders festen Anbau für die Allergefährlichsten
mit 10 Einzelzimmern, darunter 5 festen Zellen, er¬
halten. In Herzberge wird für Unterbeamte ein
Wohnhaus mit 4 Dienstwohnungen gebaut Ferner
müssen die Stallungen etc. vergrössert werden. Der
Bau der neuen Anstalt in Buch ist begonnen werden,
nachdem die Versuchsbohrungen die erforderliche
Wassermenge (120 cbm p. Stunde) ergeben haben.*)
Württemberg berichtet über den Umbau von
überflüssig gewordenen Zellen-Abtheilungen in Schlaf¬
säle in Winnenthal, Zw r iefalten und Weisse-
nau. Ausserdem wurde in Winnenthal der Neubau
einer Wachabtheilung für unruhige Frauen im Rohbau
vollendet. Eine Beschreibung dieser Bauten wird nicht
gegeben.
Sonnenstein hat ein Gebäude für Paralytiker
und unsociale Kranke im Rohbau vollendet, ferner
den Bau einer Kirche begonnen und plant weitere
Neubauten. Eine Beschreibung dieser Gebäude wird
nicht gegeben.
Hochweitzschen hat in der „Ansiedlung“ 2
Kinderhäuser, je eins für Knaben und Mädchen,
*) Aumerkung bei der Correctur. Von den west-
phäiischen Provinzialanstalten berichtet Lenge rieh über den
Beginn wichtiger Erweiterungsbauten, welche theils im Rohbau
vollendet, theils eben begonnen sind. Auf eine Beschreibung
werden wir wohl erst nach Fertigstellung der Gebäude rechnen
dürfen. — Die Anstalt Aplerbeck wird im Berichte ausführlich
beschrieben; näheres Eingehen hierauf ist jetzt leider nicht mehr
möglich. Auch in Aplerbeck sind noch Erweiterungsbauten
geplant.
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i 9 o 2 ) PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 213
jedes für 40 Kinder nebst dem nöthigen Personal, Sie ist für 316 Kranke beiderlei Geschlechts berech-
gebaut. Das Mädchenhaus enthält ausserdem Schul- net und wurde „unter Benutzung aller modernen
räume und die Wohnung des Lehrers. Warmwasser- technischen Errungenschaften, und unter Berücksich-
heizung; Tonnenaborte; Fussböden: Asphalt mit tigung aller Anforderungen der Irrenpflege aufgebaut“.
Linoleum. Im Keller Baderäume mit je 4 Wannen. Eine genauere Beschreibung wird nicht gegeben; doch
Ferner ist dort ein Krankenhaus gebaut, das ist eine Photographie und ein Grundriss dem Bc-
Erdgeschoss für 38 Frauen und Kinder, das Ober- rieht beigegeben.
W i 1 .
geschoss für 42 Männer. In jedem Geschoss ist
eine überdachte Loggia für Freiluftbehandlung einge¬
baut. Auch ist in jedem Geschoss ein Besuchs¬
zimmer, ein Operations- und Verbandzimmer, ein
Wartezimmer für ambulante Kranke, ein Badezimmer
mit 4 Wannen vorhanden; im Erdgeschoss ist auch
die Hausapotheke untergebracht.
Von ausserdeutschen Berichten ist zunächst
Ungarn zu erwähnen, welches die Eröffnung einer
Irrenabtheilung beim Staatsspital zu Pozsonv meldet.
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Endlich hat noch W i I über die Eröffnung zweier
neuer Häuser zu berichten, welche ausführlich be¬
schrieben und durch Beifügung von zwei Ansichten
und 3 Grundrissen veranschaulicht werden. Die
Häuser sind ganz symmetrisch gebaut, je eins für
Männer und Frauen. Sie sind einstöckig; nur der
mediale Flügel hat einen Oberstock, der eine Privat¬
wohnung enthält. Der mittlere Theil des Erdge¬
schosses umfasst 4 grosse Räume, deren grösster als
Wachsaal gedacht und für im Ganzen 15 Botten be-
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2 14 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18.
stimmt ist. Der Wachsaal hat einen eigenen Abort;
seitlich stossen an den Wachsaal 3 Isolirzimmer. Die
3 andern grossen Räume des Mittelbaues sind noch
ein Schlafsaal, der mit dem Wachsaal in direkter
Verbindung steht, und 2 Tagesräume, von denen
einer als Speisesaal eingerichtet ist. Die Nebenräume
sind zweckmässig angeordnet. Als Wandbekleidung
ist sogenannte Salubratapete verwendet worden, ein
auf Leinwand gedrucktes Oelfarbenmuster, die wie
Oelfarbenanstrich gereinigt werden kann. Für den
Fussboden der Isolirzimmer ist Xylolith-Belag ver¬
wendet worden. Niederdruckdampfheizung. — Zur
Einfriedigung des Gartens dient ein 1,7 m hoher
Staketzaun.
Ausser diesen beiden schon bezogenen Häusern
waren zur Berichtszeit noch 2 weitere, für Halbruhige
bestimmte Häuser im Bau.
Hygieni sch es.
Ueber sanitäre Einrichtungen pflegen die Anstalts¬
berichte sich nur dann zu äussern, wenn über Neue¬
rungen oder Verbesserungen zu berichten ist,
oder wenn besondere Nothstände im Berichtsjahr
zu verzeichnen waren. Die Ausbeute an interessi-
renden Mittheilungen über solche Dinge ist daher in
unsern Berichten gering.
Zu den wichtigsten solcher Einrichtungen gehört
natürlich die Wasserversorgung. Göttin gen
hat im Berichtsjahr sich an die städtische Wasser¬
leitung angeschlossen. G e h 1 sh ei m hat einen dritten
Tiefbrunnen angelegt, nachdem Bohrungen in 42 m
Tiefe ein an Menge und Qualität befriedigendes
Wasser ergeben hatten, und hat dadurch den Wasser¬
mangel der früheren Jahre beseitigt. In Rvbnik
hat man auf dem sog. Josefshof erst nach langen
Bohrversuchen geeignetes Wasser gefunden, sodass
nun erst der Bau einer Krankenvilla dort in Aussicht
genommen werden konnte. In W e i s s e n a u war
durch anhaltende Trockenheit die vorhandene Wasser¬
menge auf 75 Liter pro Kopf gesunken, so dass man
genöthigt war, zeitweilig die Bäder ganz auszusetzen
und sonst aufs äusserste zu sparen; es soll deshalb
nun eine neue Wasserleitung gebaut werden. Auch
Untergöltzsch hatte über Wassemoth zu klagen
und will darum Sammelbassins anlegen, in denen in
wasserreicher Zeit Wasser angesammelt wird.
Ueber Ventilationseinrichtungen finde
ich gar keine Angaben, über den auf den Kopf der
Insassen zu berechnenden Luftcubus nur wenige An¬
deutungen. G ö 11 i ng en ist, wie anderwärts schon
erw'ähnt wurde, unter das durch die Ministerialver-
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fügung für Privatanstalten vorgeschriebene Mindest-
maass beträchtlich herunteigegangen, weil eben mehr
Kranke untergebracht werden mussten. Zschadrass
rechnet für ruhige 14 — 17, für unruhige 22 — 23,
für die Bcttbehandlung 26 — 33 cbm pro Kopf.
Ueber Heizung und Beleuchtung ist fast
nur bei den Neubauten die Rede, sonst wird kaum
etwas Bemerkenswerthes mitgetheilt.
Hinsichtlich der Abfuhr ist wieder Göttingen
zu erwähnen, welches seine Rieselfelder gegen den
Vorwurf in Schutz nimmt, dass sie durch ihre un¬
genügende Grösse die Anwohner gefährden.
An dieser Stelle mag erwähnt werden, dass von
einer Brandenburgischen Anstalt dem Kreisärzte, wel¬
cher revidiren wollte, der Zutritt verweigert wmrde
mit der Begründung, dass nur der Aufsichtsbehörde
des Provinzialverbandes das Recht der Revision zu¬
stehe. Ob diese Auffassung richtig ist, fragt sich; es
ist mir zufällig bekannt geworden, dass eine andere
Provinzialbehörde in anderm Sinne entschieden hat.
Nach dem Wortlaute des § 100 des Kreisarztgesetzes
könnte man vermuthen, dass Brandenburg Recht hat.
Denn dort wird der Kreisarzt ausdrücklich nur zur
Revision der Anstalten angewiesen, die der Aufsicht
des Regierungspräsidenten unterstehen; und das trifft
auf die Provinzialanstalten nicht zu; diese unterstehen
nach der Provinzialordnung der Oberaufsicht des Ober¬
präsidenten. Andererseits dürfte der Kreisarzt das
Recht haben, aus bestimmten Anlässen, z. B. beim
Ausbruch einer Epidemie, die Anstalt zu besuchen;
leider ist im Brandenburger Bericht nicht mitgetheilt,
welcher Anlass den Kreisarzt in die' Anstalt geführt
hat.
In den Mittheilungen über den Gesundheits¬
zustand nehmen die Zusammenstellungen über die
Todesfälle nach Zahl undUrsachen einen breiten
Raum ein, ohne dass sonderlich wichtige Ergebnisse
dabei zu verzeichnen wären. Von allgemeinerem In¬
teresse sind eigentlich nur die Mittheilungen über
Infectionskrankheiten.
Die Hauptrolle spielt da natürlich die Tuber¬
kulose. Ueckermttnde ist in der Lage, durch
Zusammenstellung aus den letzten 5 Jahren nach-
zuw'eisen, dass, entsprechend den Ergebnissen des
Noetel’schen Referates, die Zahl der Erkrankungen
an Tuberkulose von der Dichtigkeit der Belegung der
Anstalt abhängig ist. Vielleicht beruhen hierauf die
grossen Verschiedenheiten in den Zahlen der einzel¬
nen Anstalten. Nur wenige Beispiele mögen diese Ver¬
schiedenheit illustriren: in Leubus war bei der Hälfte
aller Gestorbenen Tuberkulose die Todesursache, in
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902J
Brieg bei 25° 0 , in Conradstein bei 12 : 77;
in den rheinischen Anstalten schwankte die Zahl
von 7°/ 0 in Grafenberg bis 24°/ 0 in Ander¬
nach; Sorau hat auf der Frauenseite viel Tuber¬
kulose und vermuthet die Ursache in der Ueber-
ftillung. E i c h b e r g berichtet, dass dort die Tuber¬
kulose auffallend häufig zur Ausheilung gelangt, und
sieht in der günstigen klimatischen Lage die Ursache
für diese Erscheinung. Sehr viel Tuberkulose haben
die Idiotenanstalten aufzuweisen, z. B. waren in
Rastenburg unter 17 Gestorbenen 16 tuberkulös.
Eine eingehende Untersuchung über das Vor¬
kommen der Tuberkulose in der Anstalt theilt im
Bericht der Friedmatt Dr. Fankhauser mit Er
fand, dass die Sterblichkeit an Tuberkulose in der
86 eröffneten neuen Anstalt bedeutend geringer ist
als sie in der alten war, und dass sie in der Anstalt auf die
Zahl der Todesfälle berechnet 3 1 j 2 mal kleiner, auf
die Zahl der lebenden Bewohner berechnet 2 l / 2 mal
grösser ist, als bei der Bevölkerung der Stadt Basel.
Die durchschnittliche Phthisemortalität in den 4 An¬
stalten Friedmatt, Waldau, Burghölzli und Königs-
felden zusammen betrug 12,4 °/ 0 der Gestorbenen
und 1 °/ 0 der Insassen; in der Friedmatt allein nur
7,08 ° 0 resp. 0,9%. Ferner fand er, dass mehr
geisteskranke Frauen an Phthise sterben als Männer;
dass die Phthisiker in der Anstalt durchschnittlich
ein höheres Alter erreichen ; und dass bei mehr als
der Hälfte der Fälle die Geisteskrankheit der Tuber¬
kulose vorangeht. Die Ergebnisse stützen sich auf
ein umfangreiches statistisches Material, welches in
der Arbeit mitgetheilt wird.
Von anderen Infectionskrankheiten wird in den
meisten Berichten die Influenza erwähnt; doch
handelt es sich in der Regel nur um einzelne Fälle,
nur wenige Anstalten berichten über umfangreiche
Epidemien.
Der Typhus ist in diesem Berichtsjahr nur spora¬
disch aufgetreten. Einige Anstalten, z. B. W eil m ün s t e r,
Hördt berichten über eine auffällige Bevorzugung des
Pflegepersonals durch den Typhus.
215
Vermehrtes Interesse finden, seit Kruse’s Mit¬
theilungen (Psychiatrische Wochenschrift 1901, Nr.
41) die Ruhr und ruhrähnliche Erkran¬
kungen. In Sorau fand man bei der Section von
2 Kranken, die an ruhrartigen Durchfällen gelitten
hatten, eine Pseudodiphtherie des Darmes, „wie diese
besonders bei alten verblödeten Kranken nicht allzu
selten vorkommt“. In Stephansfeld kamen in
den heissen Sommermonaten Fälle von „Pseudodysen¬
terie“ vor, der 2 70jährige erlagen. Sonnenstein
berichtet über eine ruhrartige Erkrankung, die schon
im Voijahr beobachtet wurde, und sich in einzelnen
Fällen das ganze Jahr hindurch fortgeschleppt hat.
Der Berichterstatter hält die Erkrankung nicht für echte
Ruhr, sondern für identisch mit der von Kruse be¬
schriebenen Krankheit, welche auf einen dem Ruhr¬
bazillus zwar ähnlichen, aber doch von ihm ver¬
schiedenen Erreger zurückzuführen ist. Der rhei¬
nische Bericht erwähnt die Bonner Epidemie, an
der Kruse seine Studien gemacht hat, und die 100
Männer und 200 Frauen, meist Schwache und Sieche,
betraf. Die im Berichtsjahr in Düren aufgetretenen
Fälle wurden dagegen als Magendarmkatarrh bezeich¬
net, und die Grafenberger Fälle (n Männer, 10
Frauen) waren echte Ruhr, deren Einschleppung von
aussen nachgewiesen werden konnte. Echte Ruhr
ist ausserdem in Saargemünd in 6 Fällen be¬
obachtet worden.
Behandlung und Pflege der Kranken,
a) In der Anstalt.
Der erbitterte Kampf zwischen den begeisterten
Vorkämpfern des Fortschritts und den konservativen
Anhängern der alten Tradition in Sachen der Irren¬
behandlung lenkt mehr und mehr in ruhigere Bahnen
ein, und die ersteren sind bald unbestritten Herren
des Schlachtfeldes. Das musste ja so kommen; denn
die Zukunft gehört immer der Jugend, und die alten
Machthaber können wohl eine Zeit lang hemmen,
verzögern, aber endlich schreitet die Zeit über sie
hinweg. (Fortsetzung folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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HARVARD UNIVERSITY
216 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18.
Nochmals zur Benennung der öffentlichen Irrenheilanstalten.
TTnter den Mittheilungen der Nummer 15 dieser
Wochenschrift wurde die hie und da rege wer¬
dende Strömung gegen die Bezeichnung „Irre“ glussirt
und unter anderem gefunden, dass die von mir auf¬
geworfene Frage: „Warum den sich selbst bewussten
Geisteskranken nicht den Namen belassen, für was
sich die meisten halten, — nervenkrank!“ überhaupt
nicht zu stellen sei. Ich kann nicht umhin dieser
Kritik Einiges zur Berichtigung entgegen zu stellen.
Schreiber jener Mittheilung findet, dass die Belassung
der psychisch Kranken in dem Glauben, sie seien
nervenkrank, eine Irreführung derselben und mit jenem
Missgriff gleich zu stellen sei, wenn Kranke ihren
Wahnideen gemäss titulirt werden. Da muss ich denn
doch bitten: Der Vergleich stimmt nicht. „In gar
nicht seltenen Fällen — sagt Herr .... f. — ist
es sogar geboten dem Kranken zu sagen, dass er
geisteskrank sei.“ Gewiss ist solches manchmal ge¬
boten, gelegentlich um Krankheitseinsicht zu erwecken,
Zwangsideen als solche im Bewusstsein des Kranken
zu objcctiviren u. s. w. Doch geschieht dies zumeist
mit Umschreibung und mit eventueller Geltendlassung
der Nervenkrankheit. Das Vorhalten des Wortes
Geisteskrank oder Irrenanstalt ist psychiatrisch niemals
geboten. In einer weit grösseren Zahl der Fälle ge¬
bieten es irrenärztlicher Takt und psychotherapeutische
Rücksichten den psychisch Kranken im Glauben zu
belassen, er sei nervenkrank. Geschieht denn das
nicht tagtäglich in gemischten Privatanstalten, wo der
Kranke unter diesem Titel sich willig jeder Anordnung
fügt? Ist es durchaus nothwendig, dem Kranken vor¬
zuhalten: „Sie befinden sich im Irrthum, Sie sind hier
als Geisteskranker“. In gewissen leichten Fällen —
ich erinnere nur an die auf dem Boden neuropathischer
und psychopathischer Diathese entstandenen Zustands¬
bilder — ist die Benennung Nervenkrank schonender
und ist auch pathologisch nicht widersinnig, anderer¬
seits dient sie bei vielen schwer Gestörten als er¬
wünschtes Beruhigungsmittel.
Nervenkrank oder Gehirnkrank istzwar nicht synonym
mit Geisteskrank. Aber der landläufige Sinn dieses
letzteren Wortes ist so ziemlich synonym mit „Ver¬
rückt“, „Narr“ und entspricht durchaus nicht jenen
vielen leichteren Fällen ohne augenfällige Bewusstseins¬
störung, die einer öffentlichen Irrenheilanstalt Zuströmen.
Es handelt sich hier weniger um Präcision als um
einen Modus, die sich bew'ussten Kranken vor einer
höchst beunruhigenden Erkenntniss zu schonen, ande¬
rerseits die Heilstätte für psychisch Kranke denselben
ohne die Gefahr ihrer socialen Schädigung zugänglicher
zu machen.
Gegen die Zusammenstellung „Nerven- und Ge-
müthskranke“ lässt sich nichts einwenden. Hauptsache
bleibt, dass das Wort „Nervenkrank“ mit darin ist,
was ja auch den pathologisch-anatomischen Beziehungen
entspricht. Sind doch die Geisteskrankheiten nichts
anderes als specifische Erkrankungen des Nerven¬
systems mit mehr oder weniger vorwiegenden psycho¬
tischen Symptomen. Wir können die Benennung
Nervenkrank als wichtiges psychotherapeutisches Hülfs-
mittel in der Anstaltspraxis kaum entbehren, weil das
Bewusstsein der körperlichen Krankheit eine oft sehr
erwünschte Basis zur weiteren Behandlung liefert
Was den „unlauteren Wettbewerb“ anlangt, dar¬
über kann ich mir kein Urtheil bilden, weil ich nur
Heilanstalten für die grossen Volksklassen als Organe
der staatlichen Irrenfürsorge im Auge halte und über
den geschäftlichen Theil der Frage nicht nachdachte.
Olah.
Mittheilungen.
— Ueber krankhafte Furcht schreibt ein
medicinischer Mitarbeiter des „Matin“: Die Krankheit
des Königs von England hat unter anderen Folgen
die gehabt, bei unseren Neuropathen ein besonderes
Leiden, das man „die Furcht vor der Blinddarm¬
entzündung“ nennen kann, zu entwickeln oder viel¬
mehr zu erwecken. Seit vierzehn Tagen legen sich
viele Leute Abends nicht schlafen, ohne sich angst¬
voll zu fragen, ob sie nicht am nächsten Morgen mit
einer Blinddarmentzündung aufwachen werden. Sic
befühlen sich ihren Unterleib oder lassen sich ihn von
Aerzten befühlen, um wenn möglich genaue Auskunft
über den Zustand ihres Blinddarms zu erhalten. Sie
haben, wenn man sich so ausdrücken darf, ihren
Blinddarm mindestens ebenso im Kopf wie im Leib.
Die geringste Bewegung im Innern ihrer Organe ist
für sie ein Zeichen von Blinddarmentzündung, und
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wenn sie unglücklicherweise in ihrer Jugend einen
Kirschkern verschluckt haben, gidjt es überhaupt
keinen Zweifel mehr. (Hamburger Nachrichten.)
— Ungarn. Ende Oktober d. J. findet in Bu¬
dapest die zweite irrenärztliche Landesconferenz statt.
— Berlin. Am physiologischen Institut der hiesigen
Universität ist eine neurobiologische Abtheilung
neu eingerichtet. Sie wird sich im Wesentlichen mit
der Ge hi rn forsch ung zu befassen haben, und ihre Er¬
richtung erfolgte in der Erwägung, dass die Erforschung
des menschlichen Gehirns bisher sehr langsame Fort¬
schritte gemacht hat, weil die Pflege dieses Wissens¬
zweiges nach der anatomischen und physiologischen,
der psychiatrischen und psychologischen Richtung
bisher in getrennten Instituten und unter Zerreissung
natürlicher Zusammenhänge verfolgt wurde. Der Be-
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
igo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 217
deutung dieses wichtigsten, alle sonstigen Theile be¬
einflussenden Organs des menschlichen Körpers ent¬
sprach es daher, dafür ein besonderes Laboratorium
einzurichten, welches, an das physiologische Institut
angegliedert, die verschiedenen Seiten der neurobio-
logischen Forschung zusammenzufassen und so die
Erkenntniss auf diesem Gebiete zu vertiefen und zu
fördern im Stande ist. Die Aufgabe dieser Anstalt
für Gehirnforschung soll darin bestehen, die Leistungen
anderer wissenschaftlicher Institute ergänzend, auf dem
Gebiete der Nervenanatomie, Nervenphysiologie und
Psychologie solche Erscheinungen des einen dieser
Wissensgebiete, welche gerade von specieller Bedeutung
für die anderen sind, sowie ärztlich wichtige normale
Erscheinungen vom Standpunkt des Arztes und um¬
gekehrt für die Wissenschaft des Normalen werthvolle
pathologische Phänomene mit Rücksicht auf diese be¬
sondere Bedeutung systematisch durchzuarbeiten. Im
Kreise dieses Arbeitsprogrammes soll die neue Anstalt
auch soweit lehren und anderweitiges Lehren und
Forschen fördern, als es bisher in anderen Instituten
noch nicht geschieht. Diese Forschungen hat bisher
der Dr. Oskar Vogt in seinem Privatinstitut auf eigene
Kosten betrieben und eine sehr instruktive Sammlung
von neurobiologischen Präparaten zusammengebracht,
die in Fachkreisen gerechte Anerkennung gefunden
hat. Die Regierung hat daher diese Sammlung für
50000 M. angekauft und sie als Grundstock für die
neurobiologische Abtheilung dem physiologischen In¬
stitut überwiesen. Zum Vorsteher dieser Abtheilung
ist nunmehr, der „Nat.-Z.“ zufolge, Dr. Vogt ernannt
worden, der dadurch in die erwünschte Lage versetzt
wird, sein specielles Forschungsgebiet weiteren wissen¬
schaftlichen Kreisen zugänglich zu machen.
— Hildburghausen. Der Hilfsverein für
Geisteskranke im Herzogthum Meiningen hat sich
zu Massnahmen entschlossen, die verdienen, weiteren
Kreisen bekannt zu werden. Es ist eine tausendfach
bewiesene und von sachverständiger Seite allgemein
anerkannte Thatsache, dass Nerven- und Gemüthsleiden
um so schneller und günstiger verlaufen, je frühzeitiger
sie sachverständig behandelt werden. Mit Rücksicht
hierauf erbietet sich der Hilfsverein für Geisteskranke
im Herzogthum für derartig Leidende, welche nach¬
gewiesen mittellos, aber nicht gemeingefährlich und
nicht länger als vier Wochen krank sind, die Kosten
eines Aufenthaltes in der Heilanstalt zu Hildburg¬
hausen auf die Dauer von drei Monaten je nach
Umständen ganz oder theilweise zu übernehmen.
Zur Aufnahme solcher Kranken in die Anstalt er¬
forderlich ist also der Nachweis: a) der Staatsange¬
hörigkeit als S.-Meininger, b) der Mittellosigkeit, c)
der Krankheit und ihrer bisherigen, vier Wochen
nicht überschreitenden Dauer (von einem approbierten
Arzt zu erbringen).' Gleichzeitig wird darauf auf¬
merksam gemacht, dass allen solchen Kranken ohne
Ausnahme im Hauptgebäude der genannten Anstalt
jeden Mittwoch und Sonnabend nachmittags von 2
bis 4 Uhr ärztlicher Rath und ärztliche Hilfe unent¬
geltlich zur Verfügung stehen.
— Gewerbesteuerfreiheit der Heilanstalten
für Nervenkranke. Nach einer Entscheidung
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des Oberverwaltungsgerichts sind Irren- und Nerven -
Heilanstalten, deren Betrieb vorzugsweise als Mittel
zürn Zweck der irrenärztlichen Thätigkeit dient, der
Gewerbesteuerpflicht nach § 4 Nr. 7 des Gewerbe¬
steuergesetzes nicht unterworfen. Im übrigen ist der
Betrieb einer vom Arzte betriebenen und geleiteten
Irren- oder Nervenheilanstalt regelmässig gewerbe¬
steuerpflichtig. Im vorliegenden Streitfälle waren aber
keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass die Anstalt
anderen Zwecken dienen soll, als der Ausübung des
ärztlichen Berufes des Leiters. Eine erfolgreiche Be¬
handlung zur Heilung von Geistes- und Nervenkranken
könne regelmässig nur in einer solchen Anstalt ge¬
schehen und diese wiederum diene erfahrungsmässig
am besten ihrem Zwecke, wenn sie unter der obersten
Leitung eines Special-Irrenarztes stehe.
— Irrenrechtliches. Die „Nation“ vom 12. Juli
schreibt: „Von einem Freunde der „Nation“ werden wir
auf eine Prozessverhandlung aufmerksam gemacht, die
sich in Greifswald abgespielt hat. Es stand ein Mann
vor Gericht, der des Mordes mehrerer Knaben angeklagt
war und der daher, wenn er bei Begehung der Thaten
zurechnungsfähig gewesen, nicht das geringste Mitleid
verdient. Und um die Frage der Zurechnungsfähig¬
keit handelte es sich vor allem bei der Verhandlung.
Der eine Sachverständige war der Ansicht, dass das
„Bewusstsein des Angeklagten in gewissem Grade
getrübt gewesen sei; die anderen vier Sachverständigen
halten es für ausgeschlossen, dass der Angeklagte mit
Ueberlegung gehandelt hat“. Wie nahm nun gegen¬
über diesen Ausführungen der Erste Staatsanwalt Herr
Hübschmann Stellung ? Er führte aus, dass in dieser
Verhandlung wieder die „Ohnmacht des Rechtsschutzes
gegenüber der Wissenschaft“ gezeigt werden solle, und
er wendete sich an die Geschworenen besonders nach¬
drücklich mit folgenden Worten:
„Wenn Sie hinter die Frage die vier Buchstaben
nein schreiben, wird der Mann freigesprochen, und
w’enn Sie dann einmal wieder von einem Lustmord
hören, dann werden Sie die Verantwortung fühlen“.
Solche Aeusserungen verdienen vor allem auch
darum Beachtung, w f eil sie vielfach für den Geist, der
in der Staatsanwaltschaft herrscht, typisch sind.
Eine derartige Geringschätzung der Gutachten
medicinischer Sachverständiger lässt sich nur daraus
erklären, dass der Vertreter der Anklage über die
Zusammenhänge zwischen Verbrechen und geistiger
Erkrankung nicht genügend unterrichtet ist, und eine
Apostrophe so gewagter Art wird nur jener an die
Geschworenen richten, der für eine Verurtheilung
nicht nur das kühle, objective Räsonnement, sondern
selbst das Mittel moralischer Pression glaubt einsetzen
zu sollen.
Mit einem Mörder hat niemand Mitgefühl; aber
ein Vorgehen w'ie das des Staatsanwalts Hübschmann in
Greifswald birgt freilich die Gefahr, dass statt der Ver¬
brecher auch kranke Unglückliche dem Arm der Gerech¬
tigkeit verfallen. Dieses absprechende Selbstbewusstsein
der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gutachten medi¬
cinischer Sachverständiger kann zu Verurtheilungen
führen, die der Nachwelt als eben so grosse Miss-
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HARVARD UNIVERSITY
218 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18
griffe wie die Verurtheilung von Hexen erscheinen
werden.“
Referate.
— Die Stellung der Aerzte an den öffent¬
lichen Irrenanstalten, von Dr. Hugo Hoppe-
Königsberg. (158 S.) Verlag von Carl Marhold-
Halle a. S. Preis 4 M.
Hugo Hoppe hat sich — man kann es ruhig
sagen — den Dank aller Irrenärzte dadurch verdient,
dass er, der Aufforderung des rührigen Verlags von
C. Marhold folgend, sein ungemein wichtiges und
sorgfältig gesammeltes Material, das zum Th eil schon
in seinen früheren Aufsätzen über die Stellung der
Irrenärzte erschienen ist, nun in erweiterter Form und
mit der Fülle seiner Erfahrungen auf diesem Gebiete
bereichert in einem besonderen Buche herausgegeben
hat.
Es ist dieses warme Eintreten für unsre Interessen
um so anerkennens- und dankenswerther, als er selbst
von der Anstaltsthätigkeit sich zurückgezogen hat.
Als Motto wird dem Werke der Satz von
Fr. Paulsen vorausgestellt, den Jeder von uns sich
gründliche einprägen möge:
„Jeder Stand ist es sich selbst und seiner Aufgabe
schuldig, auf der ihm zukommenden Stellung und
Ehre unter den übrigen zu bestehen: seine Leistungs¬
fähigkeit wird durch das Ansehen, in dem er steht,
bedingt.“
Der Verf. bringt dann auf 57 Seiten zunächst seine
umfangreichen und bis auf die letzte Zeit ergänzten
statistischen Zusammenstellungen über die Gehalts¬
und Beförderungsverhältnisse der Directoren und
Aerzte der Irrenanstalten nicht nur der einzelnen
Staaten Deutschlands, sondern auch der meisten
Staaten ganz Europas und Nordamerikas in Tabellen¬
form zur übersichtlichen Darstellung.
Die daran sich anreihenden Vergleiche sind sehr
interessant, freilich auch durch die offenkundige Un¬
zulänglichkeit und Ungleichheit, man möchte beinahe
sagen, Willkürlichkeit sowohl im Anfangsgehalt, wie
in den Zulagen, im Höchstgehalt, in der Zeit des
Aufrückens und den sog. Emolumenten bei Directoren
und Aerzten mehr als betrübend. Besser konnte die
Nothwendigkeit einer durchgreifenden Reform nach
einheitlichen Gesichtspunkten gar nicht erwiesen werden.
Im Anschluss daran wird dann noch besonders
das Dienstalter der Aerzte, die Möglichkeit und Dauer
des Aufrückens vom Assistenzarzt zum staatlich an-
gestellten Arzt und zum Director (unter gleichzeitiger
Vergleichung der Gehaltsbezüge) abgehandelt und
auch hiernach höchst ungünstige Chancen für uns
festgestellt.
Als ein Missstand wird cs betrachtet, dass die
Bewerbung um erledigte Stellen gewöhnlich nicht zu
einer allgemeinen gemacht wird, sondern die Be¬
setzung meist zum voraus schon feststeht.
Die Assistenzärzte sind meist auf Kündigung an¬
gestellt und haben keine Pensionsberechtigung, was
übrigens auch nicht selten für Oberärzte zutreffe.
Bestimmte Einzelfällc zeigen das Entwürdigende
dieser Lage.
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Drastisch wirkt auch der Vergleich der Einkommens¬
verhältnisse von höheren Subalternbeamten gegenüber
denen der Irrenärzte; wir kommen dabei sehr schlecht
weg; die Lebensarbeit eines MilitäranWärters wird Im
allgemeinen höher bezahlt als die eines Irrenarztes.
Auch bei einem Vergleich mit Militärärzten und
Beamten des Richterstandes verlieren wir bedeutend,
ebenso gegenüber dem Lehrerstande, wenigstens in
dessen höheren Dienstjahren.
Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den
andern Kulturstaaten gestalten sich, von Ausnahmen
abgesehen, die BesoldungsVerhältnisse der Irrenärzte
äusserst unbefriedigend.
Des weiteren geht Hoppe auf das Thema der
Ueberbürdung der Irrenärzte im Dienste, auf das
Zahlenverhältniss der Aerzte zu den Kranken und zu
der Gesammtarbeit, die ihnen obliegt, ein. Ueberall
ist hier die Aerztezahl bedeutend zu gering, und zwar
um 11 bis 25 bis 37, bis 86 und sogar 2 OO°' 0 des
Bestandes. Für ganz Deutschland beträgt das Deficit
40 °/ 0 ; noch ungünstiger ist es in andern Ländern.
Im Anschluss daran werden die grossen Miss¬
stände, die sich daraus für den Arzt selbst, für den
Anstaltsdienst und für die Behandlung der Kranken
ergaben, ferner die Schwierigkeiten, die Schädigungen
und das Aufreibende unseres Berufs („Anstaltsneu¬
rasthenie“) in treffenden Ausführungen klargelegt.
Manchmal scheint uns der Verf. allerdings etwas zu
schwarz zu sehen; jedenfalls treffen seine Betrach¬
tungen z. B. über die fehlende geistige Anregung
und Ausbildung der jungen Aerzte u. s. w. nicht all¬
gemein auf alle Anstalten zu, wie übrigens auch der
Verf. selbst einräumt.
Die geringe wissenschaftliche Bethätigung der Aerzte
an den Anstalten, meist dem Zwang der Verhältnisse,
dem Mangel an Zeit und Müsse entspringend, wird
mit Recht bedauert, wie nicht minder das vielfache
Fehlen eines starken geistigen Bandes und regen Ver¬
kehrs unter dem Aerztekollegium und mit dem Director,
dessen ganze Kraft gewöhnlich von der Administration
der Anstalt absorbirt ist. Die grosse Wichtigkeit ge¬
rade der geistigen und wissenschaftlichen Thätigkeit
für den Beruf und das Interesse der ganzen Anstalt
wird klar beleuchtet.
Auf den immer fühlbarer werdenden Mangel an
Zugang von jungen Irrenärzten wird als eine der ernste¬
sten Gefahren für unser Anstaltswesen hingewiesen.
Zum Schlüsse kommt der Verf. auf die Wege der
Abhilfe, die dringend an der Zeit sei.
Eine bedeutende materielle und ideelle Besser¬
stellung der Aerzte von den jüngsten bis zu den
Directoren mit dem Recht auf lebenslängliche An¬
stellung und auf Pension, auf Wittwen und Waisen¬
versorgung wird in eingehenden Erörterungen und Be¬
gründungen als unentbehrlich und dringend gefordert,
während die Anstellung auf Kündigung nach einer
2 — 3 jährigen Probedienstzeit aufhören soll.
Für richtig halten wir Hoppes Anregung, dass
der Irrenarzt, bevor er seinem Beruf sich widmet, eine
1—2 jährige Assistenzarztthätigkcit an einem allge¬
meinen Krankenhause durchmachen soll.
Original fram
HARVARD UNIVERSÜY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 219
Die Aufstellung von Landespsychiatern, denen das
ganze Irren- und Anstaltswesen unterstellt wird, hält
Verf. für eine innere Nothwendigkeit, eine einheitliche
staatliche Leitung aller Anstalten für in erster Linie
erstrebenswerth.
Für jede grössere Anstalt befürwortet Hoppe
einen Prosector, welcher den pathologisch-anatomischen
Arbeiten vorstehen soll, während die übrigen Aerzte
mehr den wichtigeren, klinischen Arbeiten sich widmen
sollen.
Dem Director soll die wissenschaftliche und fach¬
liche Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses eine
erste und angelegentliche Aufgabe sein. Dazu muss
er selbst natürlich in hohem Masse in der Wissen¬
schaft tüchtig sein.
Damit der Director nicht durch die Geschäfte
der Administration der Anstalt erdrückt werde, hält
Hoppe eine Grösse der Anstalten höchstens bis zu
(>oo Plätzen für zulässig. Wir stimmen ihm auch
hierin, besonders angesichts des kürzlich erfolgten
Eintretens für Monstreanstalten von anderer Seite,
durchaus zu.
Ferner tritt er für Vermehrung der Aerztestellen,
für Gewährung regelmässiger Dienstfreiheit und reich¬
lichen Urlaubs ein. Alle 3—4 Jahre soll der An¬
staltsarzt einen practischen Fortbildungs-Kurs an einer
Universität mitmachen, um sich den Zusammenhang
mit den andern Zweigen der medizinischen Wissen¬
schaft zu bewahren. Reisestipendien zum Besuch
von Irrenanstalten und medizinischen Congressen
werden verlangt.
Im höheren Interesse seiner Berufstüchtigkeit liegt
aber auch die eigene ununterbrochene Weiterarbeit
des Irrenarztes an seiner allgemeinen Bildung: in den
schönen Wissenschaften, in Kunst, Litteratur, Philo¬
sophie und Psychologie; kein Gebiet geistigen Lebens
darf ihm fremd sein.
Mit vollem Recht tritt darum Hoppe dafür ein,
dass die Irrenanstalten nicht mehr in abgeschiedenei
Lage auf dem Lande, sondern nahe den Centren
geistiger Bildung und Anregung errichtet werden
sollen.
Ueber die Stellung des Directors zu seinen Aerzten
und dein Personal, und der Aerzte unter sich werden
beherzigungswerthe Worte gesprochen.
Mit dem Danke, den wir schon eingangs dem
Verf. gewidmet haben, müssen wir auch schliessen.
Er hat nicht nur ein werthvolles, umfassendes Material,
allgemein zugänglich gemacht, sondern auch wichtige
eigene Ansichten und Anregungen zum Ausdruck ge¬
bracht. Den meisten von uns hat er aus der Seele
gesprochen. Möge seine, in warmem Eifer für unsere
Sache unternommene Arbeit an den zuständigen
Stellen volle Beachtung finden und damit auch unserer
Lage und unserem Berufe die dringend notlnvendige
Besserstellung bringen! Ein solcher Erfolg würde
auch dem Verf. wohl die grösste Befriedigung sein.
Max Fischer.
Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und
Verwandtes.
2. Quartal 1902. Zusammengestellt von Med.-Rath
Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
Antonini e M. Falciola: Sopra 4 cranf di alienati
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v. K ad ich: Amerikanische Lynchjustiz. Die Woche,
1902, No. 13.
Klatt: Die Körpermessung der Verbrecher nach
Bertillon etc. Heine, Berlin 1902.
Fritsch: Ueber Exhibitionismus. Jahrbücher f. Psvch.
u. Neurol. 22. Bd. 1902, p. 492.
Gumplowicz: Die soziologische Staatsidee. 2. Aufl.,
Innsbruck 1902.
Ferrier: La vie en prison. Lyon, Storck. 1902. 70 S.
W e 11 e n b e rg h: De zorg voor gevaarlijke krankzinnige,
mede naar aanleiding van „Die Unterbringung
geisteskranker Verbrecher“ von Medicinalrath Dr.
P. Näcke zu Hubertusburg. Halle a. S. Marhold.
1902. Psychiatrische en Neurologische Bladen,
1902, Nr. 2.
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Ibidem.
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Medicinischc Woche, 1902, Nr. 19.
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Bocca, 1902. 335 Seiten.
Die wichtigste Litteratur über das Problem der
gleichgeschlechtlichen Liebe. Berlin, Brandt.
Herbert: Dede. Aus dem Französischen übersetzt.
(Urning-Roman). Berlin. Brand & Co.
„Der Eigene“. Ein Blatt für männliche Kultur, Kunst
u. Litteratur, herausgegeben von Ed. Brand, Berlin.
Elisarion v. Kuppfer: Die ethisch-politische Be¬
deutung der Lieblingsminne. Ibidem.
Elisarion v. Kuppfer: Lieblingsminne u. Freundes¬
liebe in der Weltliteratur. Ibidem.
Aurelius: Rubi. Eine Novelle. Ibidem. (Urning-
Novelle).
Lombroso: Enrico Baller, detto „il martellatore“.
Archivio di psich. etc. 1902, fase. II—III.
Belloni: II compasso indice. Ibidem.
Portigliotti: Un grande monomane: Fra Girolamo
Savonarola. Ibidem.
Lombroso e Andenino: Midriasi voluntaria ed
epilessia in uomo geniale. Ibidem.
Laschi: II „reato“ di sciopero. Ibidem.
de Blas io: Anomalie multiple in un cranio di pro-
stituta. Ibidem.
Neri: Tatuaggio osceno in fratelli criminali. Ibidem.
AIy-Beifadel: Delinquenza italiana a La Plata nel
1899 e nel 1900. Ibidem.
Neri: Un caso notivole di pervertimento scssuale,
Ibidem.
Andenino: Ragazza pazza morale. Ibidem.
Agostini: Su di un caso tipico di delinquente-nato
fratricida e sulla co-e.\sistenza della epilessia e della
pazzia morale nci casi di vera delinquenza con¬
genita. Ibidem.
Gina Lombroso: Pazzia morale da nefrite. Ibidem.
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HARVARD UNiVERSITY
2 20
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18.
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la sociabilite chez les primates et chez l’homme.
Revue de l’Ecole d’Anthropologie. 1902, Nr. 3.
Dantec: L’heredite. Revue Scientifique, 1902, Nr. 10.
Bourneville: Condamnation d’un degenere epilep¬
tique. Progres Medical, 1902, Nr. 17.
Garnier: La Criminalite juvenile. Revue Scientifique,
1902, Nr. 15.
N i c e f o r o : The transformation of crime and the
modern civilisation. Journal of ment. Pathology,
1902, Nr. 2.
Rollet: L’homme droit et l’homme gauche. Arch.
d’anthropol. crim. etc., 1902, p. 177.
Proal: Napoleon I etait-il epileptique? Ibid., p. 261.
Rouby: Le delire transitoire aleoolique. Le crime
de Corancez. Ibidem, p. 307.
Nina-Rodriguez: Atavisme psvehique et paranoia.
Ibidem, p. 325.
Tirelli: L’isotonia dei sanguc degli alienati, contiibuto
medico-legale alla diagnosi di siinulazionc di speciali
stati psicopatici. Annali di freniatria etc. 1902,
P- 35 *
Curry: Criminals and their treatment. American law
review, New-York 1902.
Florian: Dei reati e delle pene in generale. Milano,
Vallardi, 1902.
Kür den redactionellrn Tlu-il verantwortlich: Oberarzt Dr. J. liresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Puchdruckerei (Gebr. WolfT) in Halle a S.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19.
Eberswalde berichtet über einen Kranken, der
wegen hartnäckiger Neigung, mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, oft stundenlang festgehalten
werden musste. Das ist moderner als festbinden am
Bett, aber mechanischer Zwang ist es schliesslich
auch.
Andere Berichte enthalten über Zwangsmittel so
gut wie gar nichts. Nur Bayreuth schreibt, dass
3 Frauen die Zwangsjacke angelegt wurde, und stellt
für diese drei Indicationen auf: Transport, chirurgische
Fälle mit Erregung, und unmittelbare Gefahr für Leib
und Leben. Burghölzli theilt mit, dass dort noch
Bettgurt, Handschuhe und Deckelbäder in vereinzel¬
ten Fällen angewendet werden.
Widerspruch fordert es heraus, wenn Frankfurt,
wie es auch sonst schon geschehen ist, die Ernährung
mit der Schlundsonde zu den Zwangsmitteln
rechnet. Freilich scheint man sie dort nicht für sehr
verwerflich zu halten, denn sie ist in relativ zahl¬
reichen Fällen zur Anwendung gelangt. Aber schon
die blosse Hinzurechnung zu den Zwangsmitteln ist
geeignet, diese so wichtige und in manchen Fällen
direkt lebensrettend wirkende therapeutische Maass-
nahme zu discreditiren. Gewiss ist ohne weiteres zu¬
zugeben, dass man in weitaus den meisten Fällen
von Nahrungsverweigerung ohne Sonde auskommt,
und dass man früher in vielen Fällen die Sonde an-
w’andte, wo sie nach den heutigen Erfahrungen ent¬
behrlich ist. Wie aber in jenen Fällen akutester
Delirien, die sich ohne künstliche Ernährung in weni¬
gen Tagen zu Tode rasen, durch Sondenemährung
aber mit einiger Wahrscheinlichkeit gerettet werden
können? In solchen Fällen dem Princip zu Liebe
die Sondenfütterung unterlassen, wäre fahrlässige Tö¬
tung; sie ist da ebenso zwingend indicirt, wie bei
Larynxstenose die Tracheotomie. — Soweit die Be¬
richte überhaupt von Sondenfütterung reden, erwähnen
sie sie als etw’as selbstverständlich Nothw f endiges. Mit
den oben angedeuteten Einschränkungen wird man
das wohl billigen.
Ueber das Isoliren gehen die Meinungen
immer noch sehr auseinander. Anstalten, die über¬
haupt nicht mehr isoliren, scheinen noch ziemlich
selten zu sein. Unter den vorliegenden Berichten
wird dies nur von einigen rheinischen Anstalten (An¬
dern ach, Galkhausen) und von Weissenau
erwühnt. Die meisten erklären es für ihr Ziel, die
Isolirungen auf ein Minimum einzuschränken, glauben
sie aber doch nicht ganz entbehren zu können.
Göttingen, wo bei den Männern 1,17 n 0 , bei den
Frauen 2,42 0 ü Isolirungen vorgekommen sind, immer¬
hin noch ziemlich hohe Zahlen, bemerkt dazu: „es
ist das ein Beweis dafür, dass die Zahl der Isolir-
räume an den meisten Anstalten . . . noch erheblich
verringert w’erden kann.“ Zwiefalten hat dies in
die That umgesetzt, indem es die überflüssig gewor¬
denen Zellen zu Räumen für die Bettbehandlung um¬
baute. Iiti Asile de Cery hat man einen Wachsaal
für Unruhige eingerichtet und ist seit dessen Eröff¬
nung nicht mehr in der Lage gewesen, neuaufgenom-
mene Unruhige isoliren zu müssen.
In Saargemünd haben Bett- und Bäderbehand¬
lung „die längeren Einschliessungen in Zellen, w r ie sie
früher in schwierigen Fällen wohl nothwendig worden,
fast ganz entbehrlich gemacht“. Frankfurt hat
die Isolirungen bei Tage auf 0,5 ° 0 eingeschränkt,
und ist nur durch die starke Ueberfüllung an noch
weiterer Reduction verhindert worden. Weilmünster
klagt, dass es genöthigt sei, der Frankfurter Anstalt
die unsocialen Pfleglinge abzunehmen, wodurch sich
Elemente anhäufen, die solche Fortschritte unmöglich
machen.
Sora 11 bricht eine Lanze für das Isoliren, hält
es in vielen Fällen für nothw'endig und segensreich
und meint, dass im Interesse individualisirender Be¬
handlung die Anstalt über möglichst viele, verschie¬
denartig abgestufte Einzelräume verfügen müsse. Zur
Erläuterung werden einige Fälle beschrieben.
An die Stelle dieser alten Zwangsmaassregeln ist
jetzt in immer noch steigendem Umfange die Behand¬
lung mit Bettruhe und Bädern getreten. Die guten
Erfolge der Bäderbchandlung werden von allen
Seiten hervorgehoben. Aber auch da giebt es noch
Zweifler. Zschadrass schreibt: „Von den Dauer¬
bädern haben wir keine besonders hervorragenden
Erfolge gesehen“. „Nur in einem Falle schien eine
schwere Erregung wirklich günstig beeinflusst zu
werden. Dasselbe wäre aber auf anderm Wege viel¬
leicht auch erreicht worden“.
Derartige vermeintlich schlechte Erfahrungen be¬
ruhen wohl stets darauf, dass man mehr oder anderes
von den Bädern erwartet, als sie leisten können und
sollen. Setzen wir dagegen einen Passus aus dem
überhaupt sehr inhaltreichen Frankfurter Bericht:
„Es gelang durch die Dauerbäder eine ganze An¬
zahl der erregtesten, schwierigsten, melancholischen,
manischen, katatonischen und paralytischen Erregungs¬
zustände ohne Anwendung von narkotischen Mitteln
am Tage im Bad, und dann in der Nacht oft im
Bett oder in einem Einzelzimmer mit offener Thür
zu halten, bei welchen man ohne das Bad kaum
um eine Isolirung oder den Gebrauch schwerer Nar-
kotica herumgekommen wäre. Dabei nahmen die
Kranken im Bade meist erheblich an Gewacht zu
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HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 223
und zeigten viel weniger eine Neigung, jene dege-
nerativen Züge anzunehmen, welche man so oft
als Folgen längerer Isolirung beobachtet Zwangs¬
mittel zum Festhalten im Bad wurden nicht noth-
wendig. Hin und wieder gelang es, bei den
ersten Malen den Kranken nicht oder nur kurze
Zeit im Bad zu halten, schon nach wenigen Tagen
aber gewöhnten sich die allermeisten Patienten daran,
im Wasser zu bleiben und schienen sich darin, auch
bei längerer Dauer, wohl zu befinden. Sie sind im
Gegensatz zu den Isolirten unter ständiger Aufsicht,
namentlich auch während der Mahlzeiten“. — Das
ist es, was die Bäder leisten sollen und auch that-
sächlich leisten.
Auch die Bettbehandlung hat sich allgemei¬
nes Bürgerrecht erworben. Dass frisch Erkrankte
für’s erste in’s Bett gehören, ist heute allgemein an¬
erkannt; aber auch bei chronischen Fällen, sofern
Beschäftigung nicht gelingt, erfreut sich zur Bekämpf¬
ung von Erregungen und sonst störendem Verhalten
die Bettruhe steigender Beliebtheit.
Die in manchen Berichten beliebte procentuale
Berechnung der im Bette Liegenden scheint mir aber
wenig Werth zu haben. Was soll das beweisen?
Soll es etwa einen Maassstab für die fortgeschrittene
Behandlungsmethode einer Anstalt abgeben, wie viele
Kranke sie im Bette liegen hat ? — Die Bettläge¬
rigen setzen sich aus 4 Gruppen zusammen: 1. den
frisch Erkrankten, 2. solchen chronischen Fällen,
welche wegen ihres psychischen Verhaltens mit Bett¬
ruhe behandelt werden, 3. den Siechen und Ge¬
lähmten, 4. den körperlich Kranken. Nr. 1, 3 und 4
werden wohl überall zu Bette liegen, geben also kein
Unterscheidungsmerkmal ab; einen Rückschluss auf
die Behandlungsmethode in einer Anstalt gestattet also
nur Nr. 2, der im Bett behandelte Bruchtheil der
chronisch Kranken. Und auch da darf man wohl
nicht ohne weiteres eine hohe Zahl zu Gunsten der
betreffenden Anstalt deuten. Ein böswilliger Beur-
theiler könnte sogar aus einer hohen Zahl schliessen
wollen, dass die Anstalt recht viele verwahrloste
Fälle hat, auf deren Erziehung zur Beschäftigung
nicht die nöthige Mühe verwandt worden ist.
Zwiefalten schreibt: „Es wurde daran festge¬
halten, alle neuaufgenommenen Kranken, sowie vom
Bestand die chronisch aufgeregten, zur Unreinlich¬
keit und ungeordneten und unsauberen Gewohnheiten
und Manieren neigenden Kranken möglichst unter
permanenter Ueberwachung mit Bettruhe zu behan¬
deln. Mit eintretender Besserung sollte der richtige
Zeitpunkt wahrgenommen w-erden, in welchem an
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die Stelle der Bettbehandlung die Arbeit treten
sollte.“
Eine eigenartige Indication zur Bettbehandlung
hat Osnabrück aufgestellt. Dort wird ein zu be¬
ständigen Entweichungen neigender Verbrecher dau¬
ernd zu Bett gehalten, in der Hoffnung, „eine Ent¬
weichung dadurch möglichst zu erschweren, und eine
Verblödung möglichst zu beschleunigen“.
Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Bett- und
Bäder-Behandlung geht der Verbrauch an Narco-
ticis zurück. Frankfurt berichtet über die Ver¬
ordnung von Schlafmitteln und giebt Zahlen an, die
im Verhältniss zur Krankenzahl wohl nicht über¬
mässig hoch genannt werden können. Dazu wird
bemerkt: „Bei dem grossen Zugang und dem steten
Bestreben, dafür Sorge zu tragen, dass in den Wach¬
sälen ruhige Kranke nicht durch Unruhe anderer im
Schlafe gestört werden, hat sich die Anwendung der
Schlafmittel nicht weiter herabsetzen lassen.“ Aehn-
liches wird von Bayreuth berichtet, w r o besonders
in frischen Fällen darauf gesehen wurde, dass die
Narcotica „nicht durch zu häufige und zu intensive
Anwendung als Zwangsjacke ums Gehirn mehr Scha¬
den als Nutzen stiften“.
Letzteres Bedenken ist gewiss berechtigt. Narco¬
tica sollten bei frischen Fällen möglichst vermieden
werden. Ein frisch erkranktes Gehirn braucht Ruhe;
durch Darreichung von Narcoticis fügt man der schon
vorhandenen Schädigung des Gehirns noch eine neue
hinzu. Die momentane Unruhe kann dadurch be¬
seitigt werden; die Genesung wird sicher nicht da¬
durch gefördert. Wenigstens an sich nicht; natürlich
giebt es Fälle, wo die Unruhe, ein sofortiges Ein¬
schreiten erheischt, z. B. wo der Kräftezustand so
reducirt ist, dass die Unruhe Lebensgefahr in sich
schliesst. Bei Erregungen chronischer Kranker wird
man in der Darreichung der Narcotica weniger zu¬
rückhaltend sein dürfen.
Ein wesentlicher Bestandtheil der freien Behand¬
lung ist die Gewährung von freiem Ausgang
an alle Kranke, deren Zustand es irgend verträgt.
Man ist darin heutzutage recht freigebig.
Die Berichte enthalten hierüber wenig. Das hat
wohl seinen Grund darin, dass man hierin etwas
Selbstverständliches sieht, was einer besonderen Her¬
vorhebung nicht mehr bedarf. Rheinau theilt mit,
dass dort 107 M. und 79 F. freien Ausgang haben,
bei einem Bestand von 325 M. und 403 F. gewiss
eine recht hohe Ziffer. Sonnenstein giebt an,
dass Bewegungsfreiheit in möglichst grossem Umfange
gewährt wurde und dass ein Missbrauch dieser Frei¬
heit nur bei Alkoholikern vorkam. Frankfurt
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HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. ig.
theilt mit, dass die Zahl der sich frei bewegenden
Kranken von 12°' ft im Jahre 97 98 während der Be¬
richtsjahre auf 34°/ e der Anstaltsinsassen gestiegen ist.
Weiter berichtet Frankfurt über die Einfüh¬
rung des Offenthür-Systems, das ja wohl in
dasselbe Kapitel gehört, und das dort in den meisten
Abtheilungen eingefiihrt werden konnte. Auf der
männlichen Aufnahmestation stellte sich die Noth-
wendigkeit heraus, die Thür wieder zu schliessen,
weil die Alkoholiker und manche ethisch degenerirte
Imbecille die Freiheit missbrauchten. Sonst hat sich
das System überall bewährt.
Jeder wird solche Erfolge mit Befriedigung lesen.
Was hat es aber für einen Zweck, in den Wach¬
sälen die Thür offen zu lassen ? und die offene Thür
durch das Pflegepersonal überwachen zu lassen ? Man
erschwert dadurch dem Pfleger doch nur in zweck¬
loser Weise den ohnehin schon überaus verantwort¬
lichen Wachdienst. Dass ein im Wachsaal unterge¬
brachter Kranker den Saal nicht nach Belieben ver¬
lassen darf, ist doch wohl selbstverständlich. Also ge¬
hört die Thür geschlossen.
Auch in der Zulassung von Besuchen der
Angehörigen bei den Kranken ist man heute sehr
liberal geworden. Contraindicationen giebt es nur
noch wenige. Viele Anstalten geben ' die Zahl der
stattgehabten Besuche an, die an manchen recht
hoch ist. Auch die Sitte, die Besuche nicht mehr
in besonderen Besuchszimmern, sondern auf den Ab¬
theilungen selbst stattfinden zu lassen, verbreitet sich
immer mehr. Diese Gewährung ungehinderten Ein¬
blicks in die Art der Unterbringung der Kranken
zerstreut am wirksamsten etwa vorhandenes Miss¬
trauen, mit dem wir ja leider immer noch rechnen
müssen.
Zu den ältesten und bewährtesten Hilfsmitteln
unserer Therapie gehört die regelmässige Beschäf¬
tigung der Geisteskranken, und zugleich ist sie
einer der wenigen Punkte, über deren Werth Mei¬
nungsverschiedenheiten kaum existiren. So werden
wir es ganz natürlich finden, dass Mittheilungen
hierüber in manchen Berichten einen beträchtlichen
Raum einnehmen.
Leider nur in manchen, bei weitem nicht in
Allen. Viele erwähnen sie überhaupt nicht, andere
gehen mit wenigen Worten darüber hinweg. Wer
aus Erfahrung weiss, wie schwierig es oft ist, für einen
Kraüken die richtige Beschäftigung zu finden, wie
wünschenswerth es oft ist, möglichst viele verschiedene
Arten von Beschäftigung zur Auswahl zu haben, der
wird dies Schweigen bedauern; hier ist ein Gebiet,
in dem Jeder noch vom Andern lernen kann, in dem
Jeder, der seine Erfahrungen möglichst ausgiebig mit¬
theilt, auf den Dank Vieler rechnen kann.
Es ist wohl nicht nur Zufall, dass die ausführ¬
lichsten Mittheilungen über Beschäftigung sich in den
Berichten der Anstalten für Schwachsinnige und
Idioten finden. Dort steht eben die Beschäftigungs¬
therapie im Mittelpunkt der ganzen Behandlung,
während bei den Geisteskranken im engeren Sinne die
grössere Differenzirung der ärztlichen Maassnahmen
jene leicht zu sehr in den Hintergrund drängt, um¬
somehr, als sie gerade bei den frisch Erkrankten, die
doch das ärztliche Interesse in erster Linie in An¬
spruch nehmen, nur selten angezeigt ist.
Viele Berichte machen ihre Mittheilungen mehr
vom Verwaltungsstandpunkte aus und führen die ge¬
leisteten Arbeitsresultate oder die Zahl der Arbeits¬
tage auf. Solche Angaben haben für Andere natür¬
lich wenig Interesse. Andere geben die Zahl der
beschäftigten Kranken in Procenten des Bestandes
an. Das ist schon interessanter, gjebt aber auch ein
unsicheres Bild. Der Bericht von Rheinau weist
mit Recht auf die kaum vermeidbare Willkürlichkeit
solcher Zahlenangaben hin. Bei manchen Kranken,
die nicht den ganzen Tag arbeiten, sondern nur
einen grösseren oder kleineren Bruchtheil desselben,
ist es ziemlich willkürlich, wo man die Grenzen fest¬
setzen will, von der an man den Kranken als arbei¬
tend mitzählt. Die auffallend grossen Differenzen
in den Zahlenangaben der verschiedenen Anstalten
beruhen sicher zum grossen Theil auf solchen Ver¬
schiedenheiten des Zählungsmodus.
Von grösserem Interesse sind nur solche Mitthei¬
lungen, die auf die Arten der Beschäftigung näher
eingehen. Leider ist die Ausbeute gering.
Dass überall für die männlichen Kranken land-
wirthschaftliche Arbeiten im Vordergründe stehen,
ausserdem Einzelne in den gebräuchlichsten Hand¬
werken und mit Schreibarbeiten beschäftigt werden,
ist selbstverständlich. Ebenso die Beschäftigung der
Frauen in Koch- und Waschküche und mit Hand¬
arbeiten.
In So rau hat man auf der Frauenseite im Hause
der Unruhigen eine Nähstube eingerichtet. Leider
wird über die Erfahrungen hiermit nichts Näheres
mitgethcilt.
Versuche mit neuen oder doch ungewöhnlichen
Arten von Beschäftigung werden nur wenige be¬
richtet. Untergöltzsch hat Schnitz- und Papp-
arbeiten, Laubsägen und Brandmalerei eingeführt und
eine relativ beträchtliche Zahl von Kranken darin
beschäftigt. Eberswalde will für Kranke besserer
Stände Zeichnen, Modelliren und Cartonnagearbeiten
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HARVARD UNIVERSITY
1902.]
einführen. Im Winter, wenn es an landwirtschaft¬
lichen Arbeiten fehlt, werden dort Männer in grossem
Umfang mit Strohflechten beschäftigt.
Hier sei mitgetheilt, obgleich es im Bericht nicht
steht, dass einige rheinische Anstalten für männliche
Kranke Bambusarbeiten eingeführt haben und gute
Erfahrungen damit machen.
H aus Schönau mit seinem ganz anders gearte¬
ten Krankenmaterial kann natürlich hierin mehr
Auswahl bieten. Der Bericht giebt an, dass dort
auch feinere Eisenarbeiten gemacht werden, ferner
Buchbinderei, Kerbschnitzerei, Brandmalerei, Papier¬
arbeiten aller Art.
Für einen Theil unserer Kranken eine passende
Beschäftigung zu finden, ist immer noch ein unge¬
löstes Problem.
Noch einiger Worte bedarf die Alkoholfrage,
die ja in steigendem Maasse die Gennither erhitzt.
In den Berichten tritt ihre Aktualität freilich wenig
hervor, und wenige sprechen überhaupt davon.
In Frankfurt werden in der Abtheilung, die
vorzugsweise für die Behandlung der Trinker be¬
stimmt ist, keine alkoholischen Getränke gegeben;
auch die Epileptiker werden abstinent gehalten. „Von
einer Einführung der absoluten Abstinenz in der An¬
stalt haben wir deshalb Abstand genommen, weil wir
in einem mässigen Genuss von leichtem Bier und
Wein für viele Kranke eine Schädigung nicht
225
erblicken können. Wir müssen die Entziehung eines
volksthümlichen unschädlichen Genussmittels als eine
Form einer Zwangsmaassregel ansehen, zu deren An¬
wendung nur in medicinisch gebotenen Fällen ein
Grund vorliegt.“ Wenn man den Alkohol für einen
Theil der Kranken für unschädlich hält, so ist das
eine Ansicht, die von vielen getheilt ward. In der
Einführung der Abstinenz aber eine Zvvangsmaassregcl
zu erblicken, scheint mir etwas gesucht.
IIochweitzschen berichtet über die Aufstel¬
lung eines Kohlensäureapparates, mit welchem Limo¬
naden und dgl. als Ersatzmittel für Alcoholica herge¬
stellt werden, und bemerkt: „Um die alkoholischen
Getränke möglichst ganz aus der Epileptikeranstalt zu
verdrängen, sowohl aus ärztlichen, wie aus erzieheri¬
schen Gründen, bedarf es eines derartigen Ersatzes.“
Salzburg theilt mit, dass es im Berichtsjahr die
vollständige Alkoholabstinenz für die Kranken durch¬
geführt habe. „Die Abstinenz wurde nicht nur des¬
halb durchgeführt, weil der Alkohol für geistig Kranke
oder Belastete als schädlich anerkannt werden muss,
sondern auch, weil die Anstalt ihren Pflegebefohlenen
zeigen soll, wie leicht man dieses für nicht gefestigte
Charaktere gefährliche Reizmittel entbehren kann.“
Dieses letztere Argument ist gewiss beachtenswcrth,
wobei noch darauf hinzuweisen wäre, dass bei erziehe¬
rischen Einflüssen ein gewisser „Zwang“ in der Regel
nicht entbehrt werden kann. (Fortsetzung folgt).
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wachabtheilung
Von Director Dr. Wcichelt ,
|~^ie günstigen Erfahrungen, die in Göttingen mit
der Einrichtung einer Wachabtheilung für un¬
reinliche und sieche Kranke gemacht wurden (cf. Weber:
Ueber einige Neubauten an der Göttinger Anstalt, Heft
15,1902 dieser Wochenschrift) können durch eine gleiche
Einrichtung auf der Frauenseite der Pflegeanstalt St.
Thomas bestätigt werden. Seit etwa 1 1 2 Jahren ist
hier ein Neubau in Benutzung genommen wurden,
welcher die Belegzahl der Anstalt um 120 Plätze —
60 für jedes Geschlecht — erhöhte. Ursprünglich
war er bestimmt für nicht der Bettruhe bedürftige
Kranke. Die schönen, luftigen Räume veranlassten
mich aber, es bei der Vorgesetzten Behörde — der
Kgl. Regierung in Coblenz — zu erwirken, dass der
ganze Neubau zu Bettstationen eingerichtet wurde.
Es stand nicht zu erwarten, dass unter den 120
Kranken, welche aus anderen Anstalten hierher über¬
wiesen wurden, viele noch brauchbare Leute sich
finden Hessen; das Loos der Pllegeanstaltcn. Die
Voraussicht war richtig, die 120 Bettplätze waren
l)ald besetzt. Während sie aber auf der Männerscitc
vorwiegend eingenommen wurden durch Kranke, für
für Unreinliche.
St. Thomas bei Andernach.
die aus psychischen Gründen Bettbehandlung und
Ueberwachung nüthig erschien, und die Zahl der Un¬
reinlichen und Siet hen verhältnissmässig gering war,
stellte sich dies Verhältnis« bei den Frauen wesentlich
anders. Die Zahl der mit Bettruhe behandelten Frauen
beläuft sich jetzt auf 110 bei einer Gesammtzahl von
200. Von diesen 110 sind nicht weniger als 50 un¬
reinlich und siech.
Für 3b derartige kranke Frauen ist nun seit über
1 Jahr im Erdgeschoss des Frauenneubaues eine Wach¬
abtheilung eingerichtet, bestehend aus einem grossen
Saal von 15 Betten und 2 kleineren von 11 resp. 10
Betten. Zwischen ersterem und den beiden letzteren
befindet sich ein kleiner Tagesraum. Der Luftraum
pro Bett beträgt in den Sälen 30 cbm. An jeden
der beiden kleineren Säle schliesst sich ein Bade¬
zimmer an für 3 und 2 Wannen. Der grosse Saal
hat an 2 Seiten Fenster, die kleineren nur an einer
Seite, sie sind durch eine Thür mit einander ver¬
bunden.
Sümmtliche 3b Kranke stehen Tag und Nacht
unter Ueberwachung. <> Pflegerinnen sind während
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HARVARD UNIVERSUM
226 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19.
des Tages hier thätig, sie schlafen Nachts ausserhalb
dieser Station — der Dienst während des Tages ist
anstrengend genug — und werden Nachts durch 2
Pflegerinnen ersetzt. Diese genügen für die Nacht¬
wache, da während der Zeit Bäderbetrieb, Beaufsich¬
tigung während der Mahlzeiten und deren Verabreich¬
ung wegfallen.
Wie schon gesagt, sind die Erfahrungen mit dieser
Wachabtheilung recht gute. Es gelang seither bei
den meisten Kranken Unreinlichkeit und Nassliegen
zu vermeiden. Ganz zum Verschwinden wird die
Unreinlichkeit in einer derartigen Abtheilung nicht zu
bringen sein, da es Fälle giebt, bei denen alle Pünkt¬
lichkeit und Sorgsamkeit versagt, wie wir hier bei einigen
Kranken mit Altersblödsinn wiederholt erfahren mussten.
Für eine Unreinlichkeit in solchen Fällen kann natür¬
lich das Personal nicht verantwortlich gemacht werden.
Für diese Art von Kranken wurde hier auf Matratzen
und Gummiunterlage verzichtet, da bei dieser Lager¬
ung die meist zusammengekauert in der Mitte des
Bettes liegenden Kranken im Falle einer Verunreinig¬
ung einfach schwimmen. Sie liegen auf Sägemehl,
über welches ein Betttuch gebreitet ist. Dieses Ma¬
terial hat den Vorzug der Billigkeit und thut die¬
selben Dienste, wie Moos und Holzwolle. Für Er¬
neuerung des Sägemehls muss im Falle einer Verun¬
reinigung natürlich sofort gesorgt werden.
Seit Einrichtung dieser Wache wurden nur 2 Fälle
von Decubitus behandelt, und zwar mit Dauerbädern
am Tage, Nachts Lagerung auf Wasserkissen. Die
eine Frau, schon in hohem Alter stehend, lebte hier
überhaupt nur noch 3 Tage und brachte den Decu¬
bitus mit; bei der anderen konnte gleich im Anfangs¬
stadium mit der oben erwähnten Behandlung einge-
griflen werden, es trat Heilung ein, die Kranke lebt
heute noch. — Die Bäder in dieser Wachabtheilung
werden meist gebraucht zur Behandlung der bei Blöd¬
sinnigen nicht seltenen Erregungszustände, und ge¬
legentlich geben auch Eiterungen und Verletzungen,
wenn der Verband nicht liegen gelassen wird, Grund
für die Bäderbehandlung ab.
Leider muss ein Theil der hier verpflegten unrein¬
lichen Frauen des Nachts noch ohne Ueberwachung
schlafen. Natürlich sind es diejenigen, bei denen die
Unrein liehkeit nichts Regelmässiges ist Wünschens-
werth wäre ja auch die nächtliche Ueberwachung, sie
lässt sich aber zur Zeit noch nicht durchführen.
M i t t h e i
— München. Erbauung einer psychiatrischen
Klinik. Der Localbaucoinmission lagen die Pläne über
den Neubau einer psychiatrischen Klinik vor, die das
Kultusministerium der Localbaucommission mit der
Weisung zugeleitet hat, die Entscheidung darüber
mit Rücksicht darauf zu beschleunigen, dass die
Pläne noch der Reichsrathskammer vorzulegen sind.
Das Gebäude kommt auf das zum Areal des Kranken¬
hauses links der Isar gehörende Grundstück an der
Nussbaum- und Goethestrasse zu stehen; es soll ab¬
seits von den Baulinien errichtet werden und den
Haupteingang an der Nussbaumstrasse erhalten. Die
Hauptfront wird auch an diese Strasse zu stehen
kommen. Der Gebäudetrakt an der Nussbaumstrasse
wird drei Stockwerke, der Haupttrakt an der Goethe¬
strasse zwei Stockwerke über dem Erdgeschoss erhalten.
Zum Trakte an der Goethestrasse sind zwei parallele
Flügelbauten vorgesehen, von denen der mittlere die
Oekonomieiäume aufnehmen soll. Nur jener Trakt,
der diese Räumlichkeiten enthält, wird unterkellert,
die übrigen Gebäudetheile jedoch nicht. An die
Strassenseite sind die Gänge verlegt, während alle
Unterrichts- und Krankenräumc so liegen, dass sie
auf die Höfe münden. Im Mitteltrakt an der Nuss¬
baumstrasse sind jene Räume untergebracht, in welchen
der Hauptverkehr sich abwickcln wird. Die Architektur
des Gebäudes ist einfach, aber würdig. Die bau¬
polizeiliche Beurthcilung der Pläne durch die Local¬
baucoinmission hatte das Ergcbniss, dass gegen die
Pläne keine Erinnerung besteht, wenn Dispens ertheilt
wird wegen Nichteinhaltung der Baulinien und wegen
der zu geringen Grenzabstände, sowie wenn die Nach¬
barschaft die Zustimmung ertheilt. Dispens wird ge-
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1 u n g e n.
währt wegen der Längenausdehnung der Gebäude
und wegen der ungenügend grossen Pavillonabstände.
Zur Sache ist noch der Stadtmagistrat als Communal-
und Feuerpolizeibehördc zu hören.
— Göttingen, Juli 1902. Im Laufe des Sommer¬
semesters sind eine Anzahl praktischer Juristen und
Aerzte, sowie Angehörige der juristischen, philoso¬
phischen und mcdicinischen Fakultät unserer Hoch¬
schule zu einer „Göttinger psychologisch-foren¬
sisch e n V e r ei n i gu n g“ zusammengetreten, welche sich
die Erörterung der Grenzgebiete zwischen Philosophie,
Medicin und Jurisprudenz zur Aufgabe gestellt hat,
d. h. die Besprechung solcher wissenschaftlicher und
praktischer Fragen, welche für mindestens zwei der
bezeichneten Gebiete von Interesse sind.
Es sollen in jedem Semester ca. 2 Versammlungen
stattfinden, bei denen aus einem der erwähnten Ge¬
biete ein Vortrag gehalten wird, dem sich freie, zwang¬
lose Diskussionen anschliessen. —
Bei der am 1. Juli stattgehabten erstmaligen Ver¬
sammlung fanden sich eine grosse Anzahl wissen¬
schaftlicher und praktischer Vertreter der erwähnten
Berufe ein. Zum Vorsitzenden wurde Landgerichts¬
präsident Iieinroth, zu seinen Vertretern Prof. Dr.
E. Müller (Psychologie) und Prof. Dr. Cramer
(Psychiatrie) gewählt. Die Kassenführung besorgt
Prof. Dr. jur. v. Hippel, die Schriftführung Privat-
docent Dr. med. Weber.
Sodann hielt Prof. Cramer den angekündigten
Vortrag über: „Die sog. Degeneration im Zu¬
sammenhang mit dem Straf- und Civilrecht“
Vortr. versteht unter „Degeneration“ eine ange¬
borene, minderwerthige Veranlagung des Individuums
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HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
in körperlicher und dadurch auch in psychischer
Beziehung. Die durch die Beobachtung festzustellenden
Zeichen der Degeneration sind die als körperliche
„Stigmata“ bezeichneten bekannten Entwickelungs-
hemmungen einzelner Organe, wie Gesichts-, Schädel-,
Ohrbildung u. s. w Für sich allein haben die körper¬
lichen Degenerationszeichen keine besondere patho¬
logische Bedeutung, wie ihr Vorkommen bei vielen
völlig normalen und leistungsfälligen Menschen beweist.
Viel wichtiger sind die „psychischen Stigmata“, wo¬
runter Vortr. alle Formen von Neurasthenie, gewisse mit
Angst einhergehende Zwangszustände (auch conträr-
sexuelle Empfindungen), endlich Defekte auf einzelnen
Gebieten des geistigen Lebens zusammenfasst. Zu
den letzteren gehören namentlich ausgesprochene
ethische Defekte bei erhaltener oder sogar hochent¬
wickelter Intelligenz, besondere Begabung für einen
bestimmten Wissenszweig bei ausgesprochener Unfähig¬
keit auf anderen Gebieten des Allgemeinwissens, dann
eine gewisse Disharmonie in der ganzen Lebensführung,
eine stark hervortretende Impulsivität des Handelns.
Züge, welche namentlich die sog. Degen eres supe-
rieurs (Instables, Desequilibres) der Franzosen kenn¬
zeichnen. Das Vorhandensein eines oder des andern,
namentlich der körperlichen Degenerationszeichen,
rechtfertigt es noch nicht, ein Individuum als „Degene¬
rierten“ zu bezeichnen. Es bedarf dazu der Häufung
einer Anzahl von körperlichen und psychischen
Degenerationszeichen. Ein derartiger Degenerierter
ist aber noch nicht geisteskrank im medicinischcn
oder juristischen Sinne. Jedoch wird der Strafrichter
nicht selten dazu kommen, einem derartigen Menschen
mildernde Umstände zuzubilligen, wenn der Sachver¬
ständige eine Häufung solcher Degenerationszeichen,
namentlich auch psychischer, bei ihm nachweist.
Dagegen können auf dem Boden der Degeneration
leicht Geisteskrankheiten entstehen, welche in ihrem
Verlauf, ihren Symptomen mancherlei für ihre Ent¬
stehung characteristische Zeichen aufweisen. Diese
Kranken unterliegen natürlich in civil- und strafrecht¬
licher Hinsicht denselben Bestimmungen wie die
übrigen aus einer andern Ursache geisteskrank Ge¬
wordenen. Ferner haben die Degenerierten die Eigen¬
tümlichkeit, dass sie unter besonderen Verhältnissen,
namentlich unter der Einwirkung schädlicher Reize
den Anforderungen, welche an ihre geistige Leistungs¬
fähigkeit gestellt werden, eher versagen, als nicht
degenerirte Individuen. Solche besondere Reize sind:
hochgradige Affekte, Alkoholgenuss (bes. bei den
Intoleranten) und bei Frauen die Zeiten der Men¬
struation und Schwangerschaft.
In solchen Fällen wird der Sachverständige häufig
dazu kommen, bei einer Abwägung aller in Betracht
kommenden Uebelstände einen vorübergehenden Zu¬
stand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit im
Sinne des § 51 Str. Ges. anzunehmen, worauf die
Freisprechung erfolgen kann. An den einzelnen Formen
zeigt Vortr. sodann, wie es gerade bei der Würdigung
dieser Zustände auf ein möglichst individualisirendes
Vorgehen ankomme, wie aber auf dem .Boden der be¬
stehenden Gesetzgebung bei entsprechender Begutach-
tung es möglich ist, jedem einzelnen Fall gerecht zu werden.
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Dem Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion, an
der sich namentlich die Herren Präsident Hein rot h,
Prof. v. Hippel, Exc. v. Planck, Prof. Detmold
u. A. betheiligten. (Weber-Göttingen.)
— Ueber die Irrenfürsorge in Belgien schreibt
die Kölnische Ztg. vom 30. 7. 02: „Im Jahre 1893
äussertc sich der belgische Justizminister in seinem
Bericht über die belgischen Irrenanstalten folgender-
maassen: „Diese Einrichtung, die eine in so vielen
Punkten die wichtigsten Interessen der Gesellschaft
streifende Angelegenheit in die Hände von Privat¬
leuten legt, ist in ihrer ganzen Anlage verfehlt, weil
sie einerseits der Ausbeutung und dem Geschäft zu
sehr Vorschub leistet, anderseits den Umfang des
behördlichen Eingreifens unvermeidlich einschränkt“.
Trotz dieser entschiedenen Sprache der obersten Be¬
hörde ist bisher eine Aenderung auf dem Gebiete
der Irrenpflege in Belgien nicht erfolgt; die vor¬
handenen Mängel dauern fort: äusserste Ueberfüllung
der kasemenartigen Anstalten mit unordentlich unter-
gebiachten Kranken, ungenügende Beschäftigungsge¬
legenheiten, mangelhafte ärztliche Versorgung; prak¬
tische Aerzte besuchen ab und zu die Kranken, soweit
ihnen die Praxis dazu Zeit lässt und die Anstalts¬
leitung einen ärztlichen Besuch für nöthig erachtet.
Mechanische Zwangsmittel, die anderwärts nur noch
ausnahmsweise Anwendung finden, kommen in den
belgischen Anstalten immer mehr in Brauch. Jeder¬
mann kann in Belgien, wenn er nur einige gesetzliche
Formen erfüllt, eine Irrenanstalt errichten, leiten und
ein Gewerbe daraus machen. Es giebt dort nur drei
Staatsanstalten bei 12 000 Geisteskranken im Lande,
um die es zum Tlieil allerdings besser bestellt ist,
obgleich z. B. die theihveise Verwendung von
kirchlichem Ordenspersonal auch ein über¬
wundener Standpunkt sein sollte. Man sieht,
dass auch in Belgien eine gesetzliche Neuregelung
der Verhältnisse der Irren, wie sie bei uns im
Gange ist, sehr vonnöth en wäre. Die obige Aeusse-
rung des belgischen Justizministers über die Unter¬
bringung von Geisteskranken in Privatanstalten verdient
auch ausserhalb Belgiens besondere Beachtung.“
— Am 28. Juli traten zu München auf Anregung
der Directoren Vock e -München und Dees -Gabersee
eine Reihe bayerischerlrrenärzte, darunter fast sämmt-
liche Directoren der k. Kreisirrenanstalten, sowie Ange¬
hörige der medicinischen Facultäten, zusammen und
gründeten einen „Verein bayerischer Psychiater“.
Vocke-München wurde zum 1., Dr. Rehm-Neufrieden-
heim zum 2. Vorsitzenden gewählt. Es werden jährlich
Versammlungen abgehalten, deren erste Pfingsten 1903
in München stattfindet. Der Zweck des Vereins ist
die Pflege und Förderung der theoretischen und prac-
tischen Psychiatrie mit besonderer Berücksichtigung
der öffentlichen Fürsorge für psychisch Kranke.
— Die „Vossische Ztg.“ vom 19. Juli d. J. schreibt:
„Es ist hier darauf hingewiesen worden, mit welchen
Missständen der vielfach geübte Brauch der Communal-
verbände verknüpft ist, Geisteskranke, für welche diese
Verbände zu sorgen haben, in privaten Heilanstalten
unterzubringen. Im Sinne unserer Darlegungen ist
eine Zuschrift gehalten, die uns von einem Irrenarzt
Original fram
HARVARD UN1VERS1TY
228 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 19.
in leitender Stellung zugeht. Es heisst darin: Es sei
noch auf zweierlei Schaden die Aufmerksamkeit ge¬
lenkt, welche mit der Einweisung von Communal-
und Provinzial-Pfleglingen in private Anstalten
verknüpft sind. Da kommen zunächst die Verhältnisse
in den Anstalten religiöser Gemeinschaften in Betracht.
Hier haben Nichtmedicincr die bestimmende Macht,
während bei den weltlichen Privatanstalten Aerzte die
Oberleitung haben. Dazu kommt aber noch, dass
diese Nichtmediciner, die den kirchlichen Irrenheil¬
anstalten vorstchen, noch andere Interessen haben
als diejenigen, ihre Arbeit den Kranken zu widmen.
Die Thätigkeit in den Heilanstalten ist nur ein Teil
ihrer Berufsthütigkeit. Ihr Hauptstreben bleibt immer,
ihre Ordensgemeinschaft zu fördern. Sie unterstehen
an erster Stelle ihren Ordensoberen; erst an zweiter
Stelle sind sic den Aerzten untergeordnet. Ueber
das Pflegepersonal hat in Wirklichkeit nicht die ärzt¬
liche Anstaltsleitung, geschweige denn eine öffentliche
Behörde, wie bei öffentlichen Anstalten, sondern der
Ordensobere die Disziplinargewalt. Es liegt auf der
Hand, dass unter solchen Bedingungen die Kranken¬
pflege leiden muss. Es fehlt an der Wirkung des
unmittelbaren Einflusses, den der Arzt auf das Pflege¬
personal hat. Ein anderer Schaden, welcher der
Unterbringung von Communalkranken in Privatan¬
stalten anhaftet, entspringt aus der Art der Geistes¬
kranken, die aus den öffentlichen Anstalten in die
privaten Anstalten übergeführt werden. Die Ver¬
waltungen geben an die Privatanstalten vorwiegend oder
ausschliesslich ruhige Kranke ab. Unruhige Kranke,
deren Wartung schwer ist, verbleiben hingegen in den
öffentlichen Irrcnhcilanstalten. Das bringt den privaten
Anstalten wesentlichen Nutzen. Sic sind in der
Lage, dem einzelnen Kranken mehr Freiheit zu be¬
lassen ohne befürchten zu müssen, dass er sich oder
anderen Schaden zufügt. Das Leben in der Anstalt
kann insgesammt einen etw'as freieren Ton annehmen.
Kirchliche Anstalten haben aus diesem Sachverhalt
für sich Kapital zu schlagen versucht. Ihre Leiter
haben die freiere Verpflegungsform auf die Rechnung
ihrer vom religiösen Sinn getragenen Liebesthätigkeit
gesetzt. Aber mit Unrecht. Die grössere Freiheit
ist .<las natürliche Ergebniss der Bedingungen, welche
für die privaten Anstalten günstiger sind. Der Um¬
stand, dass die öffentlichen Anstalten mehr unruhige,
die privaten Anstalten mehr ruhige Kommunalkranke
haben, beeinflusst die Pflegearbeit in jeder der beiden
Gruppen von Anstalten. Das Pflegepersonal in den
öffentlichen Anstalten hat cs viel schwerer als das¬
jenige in den Privatanstalten. Hier würde alsbald
eine Besserung cintretcn können, sobald die Verbände,
die Provinzen und die Kommunen alle ihre Kranken
aus den Privatanstaltcn herausnehmen und in eigenen
Anstalten unterbringen würden. Es wäre dann näm¬
lich möglich, neben den schon bestehenden Anstalten
eine zweite Kategorie von Heilanstalten einzurichten,
nämlich Pflegeanstalten für ruhige Kranke. Sobald
es derlei giebt, die öffentlichen Character haben,
könnten Pfleger und Pflegerinnen, nachdem sie eine
Zeit lang den schweren Dienst in den Hauptanstalten
mit den vielen unruhigen Kranken versehen haben,
zeitweilig zu dem leichteren Dienst in den Pflegean¬
stalten abgeordnet werden. Man sieht, wie vielerlei
im Grossen und Kleinen für die Unterbringung aller
Kommunalkranken in eigenen Anstalten der Verbände
spricht.“
— Aus Württemberg, 28. Juli. Dem früheren
demokratischen Reichstagsabgeordneten Frhrn. Oskar
v. Münch, der inzwischen bekanntlich die preussische
Staatsangehörigkeit erworben hat, ist, wie der „Staats¬
anzeiger“ mittheilt, vom Ministerium des Innern der
Aufenthalt in Württemberg ohne die bisher angeord¬
nete besondere Schutzmaassregel der Begleitung durch
einen Irrenwärter versuchsweise unter bestimmten Be¬
dingungen gestattet worden, nachdem die Direktion
der Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal einen Versuch
in dieser Richtung nunmehr für zulässig erklärt hat.
Auch ist dem Frhrn. v. Münch, der vorerst in ein
ähnliches Verhältniss tritt, wie ein aus einer Irrenanstalt
beurlaubter Kranker, die Aufhebung der vorläufigen
polizeilichen EinweisungsVerfügung vom 2. Mai v. J.
nach Ablauf von 3 bis 4 Monaten in Aussicht ge¬
stellt worden, wofern nicht etwa in der Zwischenzeit
besondere, seine Gemeingefährlichkeit erneut dar-
thuende Vorkommnisse eintreten sollten, welche die
Aufrechterhaltung der Einweisung nothwendig erschei¬
nen lassen.
Referate.
- A. Meinong: Ueber Annahmen. Leipzig
1902. J. A. Barth. XV und 298 S. 8 M.
Da zweifellos von Seiten der Psychiater und Neu¬
rologen immer mehr Rücksicht auf die Fortschritte
der normalen Psychologie genommen wird, dürfte sich
auch wohl mancher Leser dieser Zeitschrift finden,
den ein Buch interessirt, das gew issermaassen auf der
Grenze von Psychologie und Logik steht. Es will
ein bisher brachliegendes Thatsachengebiet behandeln,
das w’ir zwischen Vorstellen und Urtheilen zu suchen
haben. Das Urtheil grenzt nicht direkt an das Be¬
reich des Vorstellens an, dazwischen liegt vielmehr
die Sphäre der Annahme. Als Beispiel einer „offe¬
nen Annahme“ führt M. z. B. an: Es sei gegeben
ein rechtwinkliges Dreieck, dessen eine Kathete halb
so lang ist wie die andere. Die Annahme spielt
eine wesentliche Rolle in der Kunst, im Spiel, in der
Lüge u. s. w. Hinsichtlich der Detailerörtemngen
über Annahmeschlüssc, über die Gegenständlichkeit
des Psychischen, über das Erfassen von Gegenständen
höherer Ordnung, über das „Objektiv“, worunter Ver¬
fasser das Gegenstandartige des Urtheils versteht,
muss auf das Buch selbst verwiesen werden. Es will
nichts Abgeschlossenes bieten, sondern vorzugsweise
anregen. W eygandt - Würzburg.
Personalnachricht.
— Nietleben. Dr. Demohn und Dr. Hoff¬
man n sind zu „ordentlichen“ Aerzten ernannt.
Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Krasehnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hcvnomann’scbe Buchdruckerei (Gebr. WoilT) in Halle a- S.
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PsycMatrisch'Neuroloflische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. 1 $. Eidinger,
Uchtspnnge (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M,
Prof. Dr. A. Guttata dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice i Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 20. 16 . August. 1902.
Die ,,Psychiatrisch-Neurologische W’ochenschrift erscheint jed^n Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Uberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters,
Andernach (Fortsetzung) (S. 229). — Die Ueberwachungsabtheilungen der Heilanstalt Dösen. Von Obermedicinalrath Dr.
Lehmann (S. 233). — Mittheilungen (S. 235). — Referate (S. 236).
Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets
im Jahre 1900/01.
Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Dsitrrs- Andernach.
(Fortsetzung.)
Die Berichte anderer Anstalten enthalten über
diese Frage nichts, wohl ein Zeichen, dass man ihr
an den meisten noch gar nicht näher getreten ist. —
Mir scheint, dass die Gründe, welche etwa gegen die
Einführung der Abstinenz angeführt werden können,
sehr überschätzt werden. Für die grosse Mehrzahl
der Kranken ist es gar keine so grosse Entbehrung,
auf die alkoholischen Getränke verzichten zu müssen;
sie gewöhnen sich daran in kürzester Zeit, und nur
sehr wenige sehen eine Härte in der Entziehung.
Hält man dagegen die grossen Vortheile, welche die
Entziehung für die Mehrzahl mit sich bringt, — denn
es sind keineswegs nur die Alkoholiker und Epilep¬
tiker, welche durch regelmässigen Alkoholgenuss ge¬
schädigt werden, sondern wohl noch ein recht grosser
Theil aller anderen, — so wird man die Unzufrieden¬
heit der wenigen wohl in den Kauf nehmen. Wenn
Frankfurt meint, dass für manche Formen von
Schlaflosigkeit Bier ein schätzbares Schlafmittel ist, so
steht ja, auch wenn die Abstinenz durchgeführt ist,
nichts im Wege, es auf ärztliche Indication hin im
einzelnen Falle zu geben. Hier ist nur vom Alko¬
hol als allgemeinem Genussmittel die Rede. Und
man braucht keineswegs im Leben ein principieller
Gegner jeglichen Alkoholgenusses zu sein, um die
Meinung zu vertreten, dass es zu erstreben ist, aus
der Irrenanstalt den Alkohol als Genussmittel zu ver¬
bannen.
Einige Anstalten geben die Zahl der Trinker
in Procenten der Aufnahmen an. Eberswalde
zählte unter den Männern 16,6%. Stephansfeld
konnte bei 14" 0 der Männer Trunksucht nachweisen;
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230 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20.
bei Hinzuziehung der Fälle, wo in der Ascendenz
Trunksucht vorlag, ergaben sich 23 °/ 0 , bei denen Trunk¬
sucht als Krankheitsursache genannt wird. Burg-
hülzli constatirte Alkoholpsychosen bei 23,6°/ 0 der
Männer und 5 °/ 0 der Frauen.
Dass die Trinkerbehandlung quoad Dauer des Er¬
folges keineswegs so aussichtslos ist, wie man im all¬
gemeinen geneigt ist zu glauben, ergeben die Mitthei¬
lungen der Trinkerheilstätte Ellikon, wo von den
während der Jahre 89 — 95 Entlassenen (261) im
Berichtsjahre — also nach 5 bis 11 Jahren — 106
= 40,6 °/ 0 abstinent geblieben sind, während noch
weitere 33 = 12,6% zwar nicht abstinent, aber doch
wesentlich gebessert blieben; also war immerhin bei
mehr als der Hälfte der Fälle die Behandlung er¬
folgreich, gewiss ein ermuthigendes Resultat.
b) Coloniale und familiale Verpflegung.
Von Colonien ist nur in wenigen Berichten
die Rede, obgleich, w r ie bekannt, solche bei vielen
Anstalten vorhanden sind. Sie werden eben im All¬
gemeinen nur dann erwähnt, wenn über irgend welche
Veränderungen zu berichten ist.
R y b n i k hat auf einem sein m früher angekauften
Gut, nachdem es gelungen ist, die Wasserfrage zu
lösen, zunächst 30 Kranke im alten Gutshause unter¬
gebracht und plant einen Neubau für 35 Kranke
daselbst. Eichbcrg. hat jetzt 75 männliche Kranke
in der Colonie Wachholderhof untergebracht, das
sind 26 °/ 0 aller männlichen Kranken. In Würt¬
temberg legt man anscheinend grossen Werth auf
die coloniale Verpflegung. Schussenried, Zwie¬
falten und Weissenau hatten ihre Colonien stets
voll besetzt; letzteres beabsichtigt Vergrösserung durch
Neubau eines Wohnhauses und rühmt den w*ohlthä-
tigen Einfluss der Beschäftigung im colonialen Betrieb
auf das Befinden der Kranken. Winnenthal,
das bisher keine Colonie hatte, beabsichtigt, eine
solche für vorläufig 20 Kranke zu gründen.
Principiell Neues über coloniale Verpflegung ent¬
halten die diesjährigen Berichte nicht.
Mehr ist über die F a m i 1 i en pflege zu sagen.
Sie erfreut sich einer steigenden Beliebtheit, und von
vielen Seiten wird über Neueinrichtung einer solchen
und über günstige Resultate berichtet. Nicht in
letzter Linie scheinen sich die Verwaltungsbehörden
für diese Art der Irrenfürsorge zu interessiren, w'as
bei ihren handgreiflichen ökonomischen Vortheilcn
nicht Wunder nehmen kann.
Der Württembergischc Bericht spricht es aus¬
drücklich aus, dass die Weiterentwicklung der Familien¬
pflege zum Zwecke der Entlastung der Anstalten
angestrebt wird. Nach der Mittheilung, dass nunmehr
im Ganzen 65 Kranke aus wairttembergischen An¬
stalten in Familienpflege untergebracht sind, consta-
tirt er, „dass diese Zahl eine nicht zu unterschätzende
Entlastung der öffentlichen Irrenfürsorge bedeutet“.
In Zwiefalten sind 38 Pfleglinge in 11 verschie¬
denen Ortschaften untergebracht und zwar meist bei
Leuten mit landwirtschaftlichen Betrieben. Weisse-
n a u hat am Schluss des Berichtsjahres 18 Kranke
— 3,7 °/ 0 des Gesammtbestandes in Familienpflege
untergebracht und ist mit dem Resultat zufrieden.
Allerdings war häufiger Wechsel nothw r endig.
In Brandenburg hat zur Neueinrichtung der
Familienpflege die Provinzialbehörde die Initiative er¬
griffen und Zinn-Eberswalde’ zum Referat auf¬
gefordert. Dieses Referat liegt mir leider nicht vor,
doch giebt Zinn in seinem Bericht eine ausführliche
Schilderung der Familienpflege in Eber sw* aide.
Es wurde der Anfang bei verheirateten Pflegern ge¬
macht, welche zunächst durch einen einleitenden Vor¬
trag über den Zweck der Sache belehrt wurden.
Dann wurden ihre Wohnungen besichtigt, und bei
dieser Gelegenheit auch ihre Frauen instruirt. Nun
wurden zunächst einige weibliche Kranke dort in
Pflege gegeben, denen bald andere folgten. Anmel¬
dungen von Pflegestellen kamen bald sehr zahlreich.
Die Kranken, die zum Theil schon viele Jahre in
der Anstalt w*aren, gingen zunächst ungern fort, lebten
sich aber bald ein und sind zufrieden. Zinn glaubt,
dass die Aussichten für die Familienpflege dort gün¬
stig sind, und dass es in verhältnissmässig kurzer Zeit
gelingen u*ird, sie weiter auszudehnen. Es w*urden
in Eberswalde pro Kopf und Tag 75 Pfg., im
Dorf Corinchen 67 Pfg. gezahlt; doch glaubt Zinn,
dass bei Kranken, die nicht mehr arbeiten, der Satz
auf 80 Pfg. erhöht werden muss. Die Kranken
werden jede Woche ärztlich besucht und kommen
einmal im Monat in die Anstalt zum Baden und zur
körperlichen Untersuchung. Mit den Behörden er¬
gaben sich keine Schwierigkeiten, da die Kranken
natürlich als zur Anstalt gehörig weiter geführt werden.
Auch Uecker münde berichtet über einen Er¬
folg versprechenden Versuch in dem 2 km von der
Anstalt entfernt gelegenen Dorf Liepgarten. Dort wurde
ebenfalls mit einer geringen Zahl weiblicher Kran¬
ker begonnen, die zur Berichtszeit zum Theil schon
über ein Jahr dort waren, und, obgleich in der An¬
stalt zum Theil Jahre lang unthätig, sich jetzt nütz¬
lich beschäftigten. Es wird ein monatliches Pflegegeld
von 20 M. gezahlt; die Anstalt liefert Bett, Kleidung
und Wäsche.
Sehr günstig scheinen die Verhältnisse in Göt-
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 231
t i n g e n zu liegen. Die Bevölkerung wird als ausser¬
ordentlich geeignet geschildert, und Cramer glaubt,
dass es mit der Zeit gelingen wird, 400—500 Kranke
in solcher Weise in der Umgebung der Anstalt unter¬
zubringen. Das wäre allerdings eine sehr ins Gewicht
fallende Entlastung der öffentlichen Irrenfürsorge!
Der Neubau einer ganzen Anstalt würde damit er¬
spart. Vorläufig sind 17 Kranke in 4 verschiedenen
Dörfern untergebracht. Der mit den Pflegern abge¬
schlossene Vertrag sowie genaue Anweisungen für diese
werden in der Anlage mitgetheilt. Einige Sätze aus
dem Bericht seien wörtlich citirt: „Die oft geäusserte
Befürchtung, dass die Anstalten durch Einrichtung
der Familienpflege sich ihrer zur Arbeit geeigneten
Kräfte beraubten, hat sich auch bei uns wieder als
unbegründet erwiesen. Es hat sich die bekannte
Thatsache wieder bewahrheitet, dass sich das Personal,
wenn ein paar tüchtige Arbeitskräfte ausfallen, viel
mehr Mühe giebt, andere Kranke, die sonst vielleicht
beschäftigungslos dahingedämmert hätten, zur Arbeit
heranzubilden. Es werden also auf diese Weise Kranke,
die sonst nur Kosten verursacht hätten, zu im Rahmen
der Anstalt wieder nützlichen Mitgliedern der mensch¬
lichen Gesellschaft.“
Einige Anstalten, in denen die Familicnpflege
schon längere Zeit besteht, berichten durchweg über
günstige Erfahrungen. Eichberg hat schon seit 12
Jahren Familienpflege eingerichtet und hat jetzt 48
Frauen bei benachbarten Wärterfamilien untergebracht.
Der Grund der ersten Einrichtung war Ueberfüllung;
nachdem durch die Colonie die Männerseite ent¬
lastet war, musste für die Frauenabtheilung ander¬
weitig Entlastung gesucht w’erden. Die Einrichtung
hat anfangs Schwierigkeiten gemacht, bewährt sich
aber jetzt durchaus. Sie hat den Neubau eines
Hauses für 50 Kranke mit all seinen Einrichtungs-
und Unterhaltungskosten überflüssig gemacht.
Bunzlau, das ebenfalls schon seit einer Reihe
von Jahren Familien pflege hat, sieht einen Nachtheil
darin, dass die Pfleger alle Landwirtschaft treiben.
Da im Sommer alle Familienmitglieder im Felde
arbeiten, können nur solche Kranke hinausgegeben
werden, welche bei der Feldarbeit helfen können,
weil sie sonst den ganzen Tag ohne Aufsicht im
Hause wären. — Dieses Bedenken war mir neu.
Sonst liest man überall, dass Landwirthschaft treibende
Bevölkerung für die Familienpflege die geeignetste sei.
Bekannt ist, dass auch die Berliner Anstalten
Familienpflege haben; doch enthält der diesjährige
Bericht keine Mitteilungen darüber.
Eine eingehende Erörterung widmet Rybnik der
Frage einer Einführung der Familicnpflege, die aber
zu negativem Resultat kommt. Es wird ausgeführt,
dass die dortige Bevölkerung in Folge des unaufhalt¬
samen Fortschreitens der Industrie sich nicht eigne.
Der Boden werde nur noch von Greisen und Invaliden
bebaut. „Nur bei ganz zuverlässigen Pflegefamilien,
in denen alle Mitglieder der Familie mit in der
Landwirthschaft tätig sind, lässt sich überhaupt die
Gefahr der missbräuchlichen Ausnutzung der Arbeits¬
kraft der Kranken vermeiden, bei solchen werden
die Kranken nicht wie Gesinde, sondern wie Glieder
der Familie gehalten werden, solche Familien giebt
es aber hier nicht in der Nähe“.
Ich muss gestehen, dass mir dies alles nicht ganz
einleuchtend scheint. Auch im Industriebezirk arbeiten
doch nicht gerade alle Menschen in der Fabrik.
Wenn Familienpflege selbst in der unmittelbaren Um¬
gebung von Berlin möglich ist, sollte man meinen,
dass sie im Industriebezirk auch durchführbar wäre. Ich
habe die vorgefasste Meinung, dass bei hinreichendem
Muth und gutem Willen die Familienpflege bei den
meisten Anstalten möglich ist.
Ernster scheint mir schon das zweite von
Rybnik geäusserte Bedenken, dass die Bevölkerung
zu sehr dem Alkoholgenuss ergeben und unter dem
Einfluss des Schnapses händelsüchtig ist. Aber sollten
nicht auch solide Familien zu finden sein ? Schliess¬
lich bliebe noch die Möglichkeit der Gründung eines
Wärterdorfes a la Uchtspringe.
c) Fürsorge für Entlassene.
Mit der Entlassung des Kranken aus der Anstalt
ist die Behandlung in vielen Fällen noch keineswegs
abgeschlossen. Meist bleibt dann noch vieles zu
thun; und doch geschieht in der Regel nichts. Aus
äusseren Gründen; Wohlhabende können sich ja noch
weiter den Luxus sachverständiger Behandlung leisten;
für die grosse Masse fällt das fort. Der Genesene
kehrt einfach in die oft recht ungünstigen häuslichen
Verhältnisse zurück, muss der Arbeit nachgehen,
muss Noth und Sorgen mit den Seinigen theilen,
und niemand kümmert sich darum, niemand hilft
dazu, dass ihm Schädlichkeiten ferngehaltcn werden,
die seine eben wiedergewonnene Gesundheit von
neuem in Frage stellen können.
Hier sollen die Irren hülfs vereine helfend ein-
greifen, die jetzt allenthalben theils sc hon vorhanden
sind, theils entstehen. Die Vertrauensmänner der
Vereine, welche in der Lage sind, die Entlassenen
im Auge zu behalten, vermitteln dem Verein die
Kenntniss der häuslichen Verhältnisse, so dass über¬
all, wo Hülfe Noth thut, solche auch gewährt wird.
Natürlich sind dazu grosse Geldmittel erforderlich.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
Brandenburg theilt mit, dass die Provinz dem
dortigen Verein bisher aus dem Dispositionsfond
jährlich grössere Zuwendungen bewilligt hat, dass
aber nun ein Jahresbeitrag von 1000 M. in den Etat
eingesetzt werden soll. Der So rau er Bericht, in
dessen Bezirk es Vertrauensmänner noch nicht giebt,
betont energisch die Wichtigkeit dieser Einrichtung.
Salzburg empfindet das Fehlen einer Fürsorge
für Entlassene als grossen Nachtheil. W e i 1 m ü n s t er
berichtet, dass der Hülfsverein, dank einem jährlichen
Zuschuss des Landtages, in der Lage war, fast jedem
bedürftigen Entlassenen eine Unterstützung zu ge¬
währen. Stephansfeld hat an Unterstützungen
856 M. vertheilt und hat zur Vermehrung der Ein¬
künfte der Unterstützungskasse den Verkauf von An¬
sichtspostkarten eingeführt. — Aehnliche Mittheilungen
finden sich noch in manchen Berichten.
Der erst kürzlich entstandene Hülfsverein für
Geisteskranke in der Rheinprovinz hat einen eigenen
Bericht herausgegeben. An dessen Spitze steht ein
Aufruf, in dem die Zwecke des Vereins mitgetheilt
werden und auf das segensreiche Wirken solcher Vereine
an andern Orten, — in der Schweiz, in Oesterreich,
in Hessen, Baden, Bayern, Württemberg, Lothringen,
in Brandenburg und Westphalen — hingewiesen wird.
Im Rheinlande bestand bisher ein solcher Verein nur
im Regierungsbezirk Düsseldorf, welcher sich dem auf
Brosius’ Anregung in der Sitzung des psychiatrischen
Vereins der Rheinprovinz im Juni 1900 gegründeten
Hülfsverein für die gesammte Provinz eingegliedert
hat.
Daran schliesst sich der Bericht des Vorsitzenden
P e r e 11 i über die Entstehung und Entwickelung des
Vereins, für welchen Brosius sogleich 1000 M., der
psychiatrische Verein 200 M. gestiftet hatten, und
welchem alsbald der Provinzialausschuss einen ein¬
maligen Beitrag von 3000 M. und einen Jahresbei¬
trag von 300 M. bewilligte. Bis zum Ende des Jahres
1901 zählte der Verein bereits 3345 Mitglieder, die
sich auf 246 Städte und Ortschaften vertheilen. In
weiteren 74 Ortschaften waren Vertrauensmänner ge¬
wonnen. Bis Juni 1901 waren die Vorarbeiten so¬
weit gediehen, dass mit der Vertheilung von Unter¬
stützungen begonnen werden konnte, und im ersten
halben Jahr gelangten bereits 4281 M. zur Verthei¬
lung. Die Höhe der einzelnen Unterstützungen be¬
lief sich auf 20 — 30 M., in mehreren Fällen auch
bedeutend höher. „Die für den Anfang nicht unbe¬
trächtliche Höhe der Summe spricht einerseits für
die Nothwendigkeit des Vereins, andererseits lässt
sie den Schluss zu, dass die Zahl und Grösse der
Unterstützungen bald erheblich wachsen werden,
wenn der Verein in noch weiteren Kreisen bekannt
wird. Die Ansprüche an die Kasse werden sich
von Jahr zu Jahr steigern, und da bedarf es der
thätigen Mithülfe aller Vertrauenspersonen und Mit¬
glieder, da bedarf es der Anwerbung neuer Freunde
der guten Sache, vor allem Solcher, die als Vermittler
zwischen dem Verein und der Bevölkerung wirken,
und das sind die Vertrauenspersonen.“
Weiter wird das Protocoll der ersten Hauptver¬
sammlung abgedruckt, in welcher Pelman einen
Vortrag über Zweck und Ziele der Irrenhülfsvereine
hielt.
Personal,
a) Aerzte.
Viele Berichte enthalten überhaupt keine Angaben
über die an der Anstalt beschäftigten Aerzte; andere
begnügen sich damit, die Zahl der etatmässigen
Stellen anzugeben. In den Berichten, welche nähere
Angaben über die Besetzung dieser Stellen enthalten,
findet man fast regelmässig einen auffallend häufigen
Wechsel oder gar längeres Unbesetztbleiben der
niederen ärztlichen Stellen.
Nur wenige Anstalten sind in der glücklichen
Lage, wie Weilmünster, schreiben zu können,
„der im vorigen Jahre angeführte Personalbestand der
Aerzte hat sich nicht verändert“. Viele registriren
einfach den starken Wechsel, der mitunter so stark
ist, dass dieselbe Stelle in einem Jahre mehrmals den
Inhaber wechselt, während andere ausdrücklich auf
die Schwierigkeiten hinweisen, die der Wiederbe¬
setzung der Stellen entgegenstehen. Eberswalde
fand „erst nach längeren Bemühungen“ einen II.
Assistenzarzt; in Saargemünd konnte „die Stelle
des II. Hülfsarztes bisher trotz aller dahin zielenden
Bemühungen noch nicht wieder besetzt werden“; in
K o r t a u ist „die Stelle des Volontärarztes unbesetzt,
da trotz wiederholter Ausschreibungen und ander¬
weitiger Bemühungen geeignete Bewerbungen bisher
nicht einliefen“. In Osnabrück „gelang es im Be¬
richtsjahre nicht, die Stelle (des II. Ass.-Arztes) wieder
zu besetzen. Als nun auch die I. Assistenzarztstelle
. . . erledigt wurde und unbesetzt blieb, machte sich
der Mangel an Aerzten in empfindlichster Weise be¬
merkbar“. Es kam in Osnabrück so weit, dass
ein Arzt von einer andern Anstalt der Provinz zeit¬
weise zur Aushilfe dorthin überwiesen werden musste.
Einige Berichte sprechen sich ausführlicher über
die Ursachen dieser Erscheinung und die Mittel zu
ihrer Abhülfe aus. Stephansfeld sagt kategorisch :
„Um dem häufigen Wechsel der Assistenzärzte vor¬
zubeugen, sind Gehaltsaufbesserungen dringend noth-
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1902.]
wendig.“ Ob damit allein das punctum saliens ge¬
troffen ist, darf man wohl bezweifeln. Der Tannen¬
hof hat sich entschlossen, „noch 2 verheirathete
Aerzte anzustellen“, und hofft, dadurch grössere Be¬
ständigkeit zu erreichen. Osnabrück weist darauf
hin, dass „die Aussichten auf Weiterkommen so un¬
sicher“ sind „wie wohl in keiner andern Carriere und
lediglich als Vorbereitung für den Beruf des prac-
tischen Arztes kann man bei aller Hochachtung vor der
Psychiatrie einen mehrjährigen Aufenthalt an einer
Irrenanstalt wohl kaum empfehlen“. Osnabrück
hält deshalb eine weitere Aufbesserung der Assistenz¬
arztgehälter nicht für ausreichend, sondern erwartet
Erfolg von der Verbesserung der Aussichten auf
Fortkommen durch Schaffung neuer, beamteter (III.)
Arztstellen, wie sie ja in der That auch schon an
mehreren Stellen (Rheinprovinz, Hannover) einge¬
richtet sind.
Am eingehendsten befasst sich der Verwaltungs-
Bericht des brandenburgischen Provinzialaus¬
schusses mit dieser Frage, in welchem ein der Directoren-
conferenz erstattetes Referat vom Director Gock ab¬
gedruckt ist. Gock constatirt zunächst, dass im Gegen¬
satz zu früheren Jahren, wo auf eine Ausschreibung
meist 20 und mehr Meldungen eingingen, jetzt nur
2 — 3, an den Berliner Anstalten wohl bis zu 8 Be¬
werbungen eingehen, dass aber ein grosser Theil
dieser Bewerber von vornherein ungeeignet erscheint,
und daher eine Auswahl kaum noch stattfinden kann.
233
Durch Umfrage hat Gock festgestellt, dass der Noth-
stand in allen Provinzen der gleiche ist. Er zählt
dann eine Reihe von Ursachen auf: Die Universi¬
täten bieten jetzt dem Studenten hinreichend Gelegen¬
heit, sich Kenntnisse in der Psychiatrie zu erwerben,
ein Zweck, der früher manchen zu 1 — 2 jährigem
Dienst in der Anstalt veranlasste; die im Publikum
beliebte Verhetzung und gehässigen Angriffe gegen
die Irrenärzte haben zur Folge, dass wenig junge
Aerzte Lust haben, sich einem Beruf zu widmen,
der sie neben den Entsagungen und Gefahren, die
er ohnehin mit sich bringt, auch noch der Missach¬
tung und dem Misstrauen ihrer Mitmenschen aus¬
setzt; das Militär zieht durch günstige Besoldungs¬
und Beförderungsverhältnisse viele Aerzte an sich;
ebenso werden durch die immer zahlreicher werdenden
Sanatorien und Heilstätten viele Aerzte in Anspruch
genommen; die staatsärztliche Laufbahn ist jetzt gün¬
stiger als früher; ferner führt auch Gock wieder die
im Vergleich zu andern ärztlichen Berufszweigen dürf¬
tige Besoldung und schlechte Aussicht auf Weiter-
koramen an; endlich weist er auf die einsame, ab¬
gelegene Lage der meisten Anstalten hin, welche die
Aerzte nöthigt, auf geistige Anregung und sonstige
Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten. Als
Abhülfsmittel erwähnt Gock nur die in vielen Pro¬
vinzen eingeführte Gehaltserhöhung der Assistenzärzte
und verlangt eine solche auch für Brandenburg.
(Schluss folgt).
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Die Ueberwachungsabtheilungen der Heilanstalt Dösen.
r\ie Heilanstalt der Stadt Leipzig zu Dösen ist zur
Behandlung und Pflege
a) von Geisteskranken,
b) von körperlich Siechen,
c) von Reconvalescenten und
d) von schwachsinnigen Kindern
bestimmt und vermag rund 1000 Pfleglinge aufzunehmen.
Für Geisteskranke waren ursprünglich 438 Plätze
vorgesehen; es mussten aber sehr bald nach der am
1. October vorigen Jahres erfolgten Eröffnung der
Anstalt die für die Reconvalescenten bestimmten
Gebäude wegen Ueberfüllung der Irrenabtheilung mit
Geisteskranken belegt werden, so dass jetzt 600
Geisteskranke in der Anstalt unterzubringen sind.
In Wirklichkeit befindet sich freilich unter den kör¬
perlich Siechen, besonders unter den Nervenkranken,
eine nicht unerhebliche Zahl von Patienten, die auch
psychisch nicht normal sind.
Für die 600 Kranken bestehen sowohl für die
Männer als für die Frauen je zwei Ucberwachungs-
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abtheilungen: die eine für Ruhige, die andere für
Unruhige, jede mit 20 Betten ausgestattet, so dass
80 Kranke d. i. 13,33% des Bestandes in diesen
Wachabtheilungen sich aufhalten. — Neben diesen
Wachabtheilungen im engeren Sinne sind natürlich
noch Säle für solche Kranke vorhanden, die mit Bett¬
ruhe behandelt, aber nicht dauernd überwacht werden.
Die Ueberwachungsabtheilung für ruhige Kranke
(Skizze I) nimmt mit ihren Nebenräumen und den
Wohnungen für einen Assistenzarzt und einen Ober¬
pfleger (bezw. eine Oberpflegerin) das Erdgeschoss
des Gebäudes für Halbruhige ein. Den Sälen A und
B werden die neu eintretenden und die besonders
strenger Ueberwachung bedürftigen Kranken über¬
geben. Beide Säle sind durch eine mit Glasfüllung
versehene Thür verbunden, Saal A steht durch gleiche
Thüren auch mit dem Einzelzimmer und dem Closet
in Verbindung. Die Fenster dieser beiden Säle haben
hölzerne Rahmen und eiserne Sprossen, besitzen
Scheiben von dünnem Glas und etwas geringerer Grösse,
Original ffom
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
als sic in Privatwohnungen üblich sind, werden mit¬
tels Dorn geschlossen und sind in ihrem oberen
Theile als Kippfenster construirt. Die Fenster im
Einzelzimmer und Closet haben Scheiben von dickem
deren zweiter als Tageraum benutzt wird. Diese
beiden Säle haben Thüren und Fenster von gewöhn¬
licher Beschaffenheit. Aus D führt ein Ausgang auf
die Veranda und in den Garten. — In dem von)
ioss.
Glas, im Uebrigen von derselben Construetion. Der
Hebel der Kippfenster ist in einen Canal des Rah¬
mens eingelassen, der mittels Dornschliisscl geöffnet
wird. Gitter sind nicht vorhanden. Rechtwinklig an
die Säle A und B schliessen sich die Säle C und D
an, deren ersterer wie A und B als Bettsaal einge¬
richtet ist, aber Kranke aufnimmt, die einer minder
strengen Ueberwachung unterworfen werden, und
Corridor sowie den Sälen A und C zugänglichen
Baderaumc sind 2 Wannen aufgestellt und 3 Wasch¬
becken angebracht.
Die im gleichen Geschosse eingefügten Wohnungen
eines Assistenzarztes und eines Oberpflegers garan-
tiren sorgsame Beaufsichtigung des Pflegepersonals
sowie rasche ärztliche Hilfe. -—
Die Ucberwachungsabtheilung für Unruhige (Skizze
Original from
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 235
II) ist im Erdgeschoss des Gebäudes für Unrulüge banden, der mit 5 Wannen ausgestattet ist und ein
untergebracht und von den Tageräumen der im Ober- eigenes Closet und einen Reinigungsraum besitzt,
geschoss schlafenden Kranken durch das Treppen- Diese Badeabtheilung, die wesentlich für Dauerbäder
Haus für Unruhige.
Obergeschoss.
haus und mehrere Nebenräume getrennt. Sie besteht verwendet wird, macht durch ihre freundliche Aus-
aus zwei durch eine Glasthür mit einander in Ver- stattung einen recht behaglichen Eindruck. — Die
bindung stehenden Sälen und einem angrenzenden Construction der Fenster der Ueberwachungsablheilung
Einzelzimmer. Vom zweiten Saale führt eine Thür für Unruhige ist dieselbe wie in den Sälen A und B
mit Glasfüllung unmittelbar in das Closet Als zu der Wachabtheilung für Ruhige,
der Wachabtheilung gehörig ist ein Baderaum vor- Obermedicinalrath Dr. Lehmann.
M i t t h e i
— Programm des Antwerpener Congresses.
31. Aug. Sonntag Abends: Empfang der Mitglieder
des Congresses durch die wissenschaftlichen medi-
cinischen Gesellschaften im Cercle Artistique, Litte-
rairc et Scientifiquc.
1. Sept. Montag, 10 Uhr: Eröffnung des Congresses.
Vormittagsitzung: Punkt 1. Gegenwärtige Lage und
Bedeutung der Familienpflege. — Nachmittagsitzung:
Fortsetzung der Discussion. — Mittheilungen.
2. Sept. Dienstag: Besuch der Colonie in Gheel.
3. Sept. Mittwoch: Vonnittagsitzung: Punkt 2.
Welche Kranke eignen sich am besten für Familien¬
pflege ? — Nachmittagsitzung: Fortsetzung der Dis¬
cussion. — Mittheilungen. — Abends: Empfang der
Congressmitglieder im Stadthause.
4. Sept. Donnerstag: Ausflug nach der Colonie
Lierneux. (Mitgliedern, welche nicht nach Liemeux
mitgehen können, ist der Besuch der Irrenanstalten
der Umgebung von Antwerpen ermöglicht.)
5. Sept. Freitag: Vormittagsitzung: Punkt 3.
Organisation der Colonieen. Nachmittagsitzung: Fort¬
setzung der Discussion. — Mittheilungen.
6. Sept. Sonnabend: Vormittagsitzung: Punkt 4.
Gründung neuer Colonieen. — Nachmittagsitzung:
Fortsetzung der Discussion. — Mittheilungen. —
Abends: Banket.
Die Ausflüge nach Gheel und Lierneux finden
zwischen den Sitzungen des Congresses statt, damit
die Streitfragen mit grösserer Objectivität erledigt
1 u n g e n.
werden können. Eine Vergnügungstour vereinigt die
Mitglieder, welche Sonntag, den 7. September, noch
in Antwerpen verbleiben.
Detailliertere Angaben enthält das Piogrammbuch,
welches den Congresstheilnehmern zugestellt wird. In
diesem Buch sind auch ein Stadtplan, die Liste der
Museen, die Abfahrtszeiten der Züge, die empfehlens-
werthesten Hotels u. s. w. enthalten.
Vorträge und Mittheilungen.
1. Welches ist die augenblickliche Lage und
Bedeutung der familiären Irrenpflege vom
wissenschaftlichen und financiellen Stand¬
punkte aus? a) (Verpflegung in fremder Familie).
Dr. Keraval. Expose comparatif de l’Assistance
familiale en Europe. Dr. Alt. Der heutige Zustand
der familiären Irrenpflege in Deutschland. Dr. A. Marie.
Notice historique sur la colonisation familiale de la
Seine. Dr. Medici. L’assistance familiale des alienes
en France et les categoiies de malades qui en relevent.
M. Fedor Gerenyi. Le patronage familial dans la
Basse-Autriche. Dr. Bajenoff. L’assistance familiale
en Russie. Dr. J. W. L. Spence. The present
Position of the insane poor under private tarc in
Scotland. Dr. Van Dale. Ontwikkeling, tegen-
woordige stand en toekomst der gezinsverpleging van
krankzinnigen in Nederland. Dr. Vogt. L’assistance
familiale en Norvegc. Prof. Tamburini. II patronato
familiäre in Italia. Dr. Hesse. Der heutige Zustand
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236 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20.
der familiären Irrenpflege zu Ilten. Dr. Engel ken.
Der heutige Zustand der familiären Irrenpflege zu
Ellen, bei Bremen, b) (Verpflegung in der eigenen
Familie). Prof. Pick. Ucber Anzeigepflicht be¬
treffend die nicht in Irrenanstalten untergebrachten
Geisteskranken. Dr. L’Hoest, La Sequestration ä
domicile. c) (Verpflegung in der Irrenanstalt). Dr.
Mongeri. L’assistance des alienes en Turquie.
Dr. Claus. La journee d’entretien dans les asiles.
Dr. Marie. Les asiles prives.
2. Welche Kranke eignen sich am besten
für die Familienpflege? Dr. Swolfs. L’assistance
des alienäs. Le regime qu’il faut choisir pour le
traitement et l’entretien des alienes. a) Dr. Marie.
L’assistance familiale des alienes convalescents. b) Prof.
De Boeck. L’assistance familiale des alienes delin-
quants. c) Dr. P. Masoin (Gheel). L’assistance
familiale des epileptiques. Dr. Claus. L’assistance
des epileptiques. d) Dr. Manheimer-Gomes.
L’assistance familiale des enfants arrieres. Dr. Ley.
Le traitement ä la colonie des enfants idiots et im-
beciles. Dr. Decroly. L’assistance de Penfance
anormale, e) Dr. Ol äh. Welche Mittel sind ge¬
eignet die Psychosen im Frühstadium uns zuzuführen.
Dr. Sano. Cominent organiser le classement des
alienes pour envoyer ä la colonie ceux qui relevent
du traitement familial.
3. Wie sind Irrencolonien am besten nach
administrativen und wissenschaftlichen Maxi¬
men zu organisiren, u. s. w.? Dr. Deperon.
De l’organisation des colonies d’alienes. a) Dr. van
Deventer. Over werkverschaffing aan krankzinnigen
in gezinsverpleging. b) Dr. Picque. L’assistance
chirurgicale des alienes. Prof. Crocq. Des moyens
d’ameliorer Porganisation medicale des etablissements
d’alienes. Dr. Duchateau. Des reformes ä appor-
ter au Service medical des asiles d’alienes. Dr. van
Deventer. De positie van den geneesheer in het
krankzinnigengesticht. c) Dr. Meeus. L’instruction
professionnelle des nourriciers. Dr. van Deventer.
De opleiding van het verplegend personeel. d) Dr.
H a v e t. De Pimportance des laboratoires scienti-
fiques au point de vue de Passistance des alienes.
4. Welche Umstände verlangen die Grün¬
dung neuer Colonien und von welchen Ge¬
sichtspunkten muss man sich bei Gründung
derselben leiten lassen? Dr. A. Marie. L’en-
combrement dans les asiles et Passistance familiale.
Dr. Peeters. La tuberculose dans les asiles d’alienes.
Dr. Vos. Over de keuze van de plaats voor ge¬
zinsverpleging.
5. Verschiedenes. Dr. 01 ä h. Welches passende
Wort lässt sich für das ominöse Wort „Irre“ einführen.
Dr. De Gueldre. De Pinsuffisance des garanties
legales concemant la collocation des alienes. Dr. Claus
et Dr. van Bever. L’examen psychique des crimi-
nels dans les prisons.
Deutsches Comitc:
Dr. Alt, Director der Landes-Heil- und Pflege-
Anstalt, Uchtspringe (Altmark). Dr. Stamm, Hildes¬
heim, Schriftführer. Dr. Engelken, Director des
Asyls Rockwinkel bei Bremen. Dr.Wahrendorff,
Direckt« >r des Asyls Ilten bei Hannover.
Referate.
— Die Statistik der Geisteskranken in
Ungarn. Von Ministerialrath Dr. C. C h y z e r.
Vortragender hebt die Wichtigkeit hervor, welche die
Statistik der Geisteskranken in Bezug auf die öffent¬
liche Verwaltung besitzt, denn nur auf dieser Basis
lässt sich die fortwährende Zunahme der Geistes¬
kranken deutlich nachweisen, und dies bildet
das bedeutsamste Argument zur Errichtung neuer
Staats - Heilanstalten für Geisteskranke. Es hat sich
gezeigt, dass die bei der allgemeinen Volks¬
zählung constatirte Zahl der Geisteskranken den that-
sächlichen Verhältnissen nicht entsprach, da die be¬
treffenden Organe der Volkszählung nur auf die
Aussagen der Familienangehörigen angewiesen waren,
diese aber theils aus falscher Scham, ihre Angehörigen
als geisteskrank zu declariren, theils aber aus wirklicher
Verkennung der Umstände, in zahlreichen Fällen es
vermieden das Familienmitglied als geisteskrank zu
bezeichnen. Aus diesem Grunde hat der ungarische
Minister des Innern schon im Jahre 1895 eine
namentliche Zählung der Geisteskranken veranlasst,
und dieselbe im Jahre 1901 wiederholt derart, dass
die Ortsbehörde im Verein mit dem behördlichen
Arzte die Zählung vornehme und dass der betreffende
Arzt gewisse Gelegenheiten, wie die zeitweiligen ärzt¬
lichen Untersuchungen der Schulkinder, die Impfung
etc. benützen möge um sich so weit als möglich von
der Richtigkeit der Daten zu überzeugen. Diese
letzte Zählung hat nun folgende interessante Daten
zu Tage gebracht: Im Königreiche Ungarn wurden
im Jahre 1901 gefunden 34 852 Geisteskranke (20396 M.,
14456 Fr.), darunter 19755 Idioten und Cretins.
Von diesen waren in Heilanstaten untergebracht 5273
(29O1 M., 2312 Fr.), also 15,13% ^ er Gesammt-
summe. Diese Zahl bessert sich bedeutend, wenn
wir von den Idioten absehen und blos die Verhält¬
nisse der übrigen Geisteskranken in Betracht ziehen;
es zeigt sich dann, dass von 15097 Geisteskranken
4834, also 32,08% in Heilanstalten untergebracht
waren. Zu interessanten Resultaten gelangen wir
auch, wenn wir diese letzte Zählung mit der vom
Jahre 1895 vergleichen. Es zeigt sich nämlich, dass
die Zahl sämmlicher Geisteskranken in diesen 6 Jahren
von 25071 auf 34852, also um 39% gestiegen ist.
Noch auffälliger werden diese Zahlen, wenn wir die
Zunahme der Geisteskranken im engeren Sinne (ohne
Idioten und Cretins) vor Augen halten. Dieselben
sind nämlich von 104 21 auf 15097, also um 45 %
gestiegen. Zum Schlüsse sei noch erwähnt, dass die
geisteskranken Alkoholisten besonders nachgewiesen
wurden und ein besonders günstiges Resultat zeigten,
indem im Ganzen blos 2529 geisteskranke Alkoho¬
listen gefunden wurden. Stein.
Herr Dr. Deiters, Andernach a. Rh., dessen übersicht¬
liche und objective Verarbeitung der Jahresberichte auf
allen Seiten Anerkennung gefunden hat, beabsichtigt demnächst
an das Referat über die vorjährigen Berichte heranzutreten. Im
Interesse einer möglichst vollständigen Berichterstattung werden
die Anstalten, auch die Nervenheilstätten, gebeten, ein Exemplar
ihres Berichts ihm recht bald zugehen zu lassen.
Für den redactionellcn Theil verantwortlich ; Oberarzt l.)r. J. iiresler Kraschnitz, (Sch.esien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a, S.
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ieden Sonnabend — Sc
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland).
Dr. med. ct phil. W. Weygandt,
Privatdoceiff, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 21 . 23 . August. _ 1902.
Die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten.
Inhalt. Originale: Der Stand des Irrenwesens innerhalb des Deutschen Sprachgebiets im Jahre 1900/01. Von Dr. Deiters,
Andernach (Schluss) (S. 237). — Ueber Wandschmuck in Irrenanstalten (S. 244). — Mittheilungen (S. 246). —
Referate (S. 247).
Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprachgebiets
im Jahre 1900/01.
Nach den Anstalts-Jahresberichten kritisch dargestellt von Dr. Deiters-Andernach.
(Schluss.)
Diese jetzt fast allenthalben eingeführte Gehalts¬
aufbesserung der Assistenzärzte ist gewiss freudig zu
begrüssen. Ob aber damit der Nothstand dauernd
beseitigt wird, bleibt recht zweifelhaft. Die Verbesse¬
rung des Avancements durch Neuschaffung beamteter
Arztstellen dürfte schon wirksamer sein; aber eine
gründliche Aenderung wird man auch davon kaum
erwarten dürfen. Da dürften doch noch mancherlei
Imponderabilien mitsprechen.
Haben denn die beamteten Aerzte der Anstalten
im Allgemeinen eine Stellung, die dem jungen An¬
fänger erstrebenswerth erscheinen kann ? d. h. eine
Stellung, wie sie ihrem Alter und den auf ihre Aus¬
bildung verwendeten Mühen und Mitteln entspricht?
Wenn man allen jungen Bewerbern um Assistenzarzt-
steilen mittheilte, dass sie Aussicht haben, in 8-— io
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Jahren zu fester Anstellung zu gelangen, um dann
in den Stellen des III. und II. Arztes viele Jahre
lang, vielleicht zeitlebens, zu bleiben, — ob dann
wohl viele ihre Bewerbung aufrecht erhalten würden?
Nun ist ja gewiss zuzugeben, dass an vielen Anstalten
die älteren Aerzte ein hinreichendes Maass von Selbst¬
ständigkeit haben, dessen sie bedürfen, um in ihrer
Thätigkeit Befriedigung zu finden. Aber sie haben
doch nicht von Amtswegen ein Recht darauf; sie
haben stets nur so viel Selbständigkeit, wie der Direc-
tor ihnen geben will. Und nach vieljähriger Dienst¬
zeit immer noch in abhängiger Stellung sich zu wissen,
das ist für den selbstbewussten jungen Mediciner
keine verlockende Aussicht. Im Lauf der Jahre lernt
man es ja freilich, viele Illusionen aufzugeben; man
begnügt sich schliesslich mit dem, was man hat, und
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238 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21.
wartet geduldig ab, was der liebe Gott weiter be-
scheert. Aber die Anwärter auf Assistenzarztstellen
sind doch Jünglinge, die mit tausend Masten in den
Ocean schiffen; von denen kann man solche Ent¬
sagungsfähigkeit noch nicht erwarten. — Und wenn
ihnen dann noch gar Dinge bekannt werden, wie das
eigenthümliche, im Bericht mitgetheilte Schicksal der
Allenberger Oberärzte, so wird die Neigung zum
Anstaltsdienst auf den Gefrierpunkt sinken.
Eine weitere, vielleicht noch bedeutsamere Ursache
für das geringe Angebot möchte ich in der, fast
völligen Abwesenheit von wissenschaftlichem Streben
in den meisten Anstalten erblicken. Der junge Arzt,
der eben das Staatsexamen hinter sich hat, hat vor¬
läufig noch wissenschaftliche Interessen, und will da¬
her zunächst noch etwas für seine Ausbildung thun,
und dafür findet er in der Irrenanstalt wenig Gelegen¬
heit. Das hat verschiedene Gründe. Einmal nimmt
die moderne Art der Irrenbehandlung die Kraft der
Aerzte so vollständig in Anspruch, dass ihre ge-
sammte Zeit durch den Abtheilungsdienst besetzt ist
und sie vielfach genöthigt sind, ganz in subalternem
Kleinkram aufzugehen. Missvergnügte Collegen haben
das in mancher Hinsicht leider nicht ganz unbegrün¬
dete geflügelte Wort erfunden, dass der moderne
Irrenarzt nur ein akademisch gebildeter Oberpfleger
sei. Da bleibt für wissenschaftliche Arbeit keine
Zeit, es müsste denn die Zahl der Aerzte an einer
Anstalt eine grössere sein. Und selbst wenn die Zeit
vorhanden wäre, so fehlt immerhin noch die Gelegen¬
heit. Die Laboratorien der meisten Anstalten sind
höchst dürftig; die für die Bibliothek zur Verfügung
stehenden Mittel sind meist zu gering, um auf dem
Laufenden zu bleiben; und schliesslich, der junge
Anfänger sucht nicht nur Arbeitsgelegenheit, sondern
auch wissenschaftliche Anregung und Anleitung; und
dar^n fehlt es doch vielfach.
Vielleicht waren es derartige Erwägungen, welche
den brandenburgischen Provinzialausschuss veranlasst
haben, eine Summe von 2000 M. zur wissenschaft¬
lichen Fortbildung der Irrenärzte vorzusehen. Aehn-
liches ist ja auch anderwärts schon vorgekommen
und verdient jedenfalls Nachahmung.
b) Pflegepersonal.
Nicht allein an die Aerzte, sondern wohl noch
mehr an das Pflegepersonal stellt die moderne Art
der Irrenbehandlung in jeder Hinsicht weit höhere
Anforderungen als die frühere. Es ist daher ein¬
leuchtend, dass die Heranbildung guten Personals zu
den wichtigsten Aufgaben jeder Anstalt gehört. Leider
steht diesem Postulat die Thatsache gegenüber, dass
die Gewinnung geeigneter Kräfte in unserer Zeit
immer schwieriger wird.‘ Die Lektüre unserer Berichte
lässt darüber keinen Zweifel; überall lesen war von
starkem Wechsel, von der Schwierigkeit, guten Ersatz
zu finden.
Freilich giebt es Ausnahmen. So ist z. B. in den
o s tp re u s s i s ch e n Anstalten der Wechsel auffallend ge¬
ring, während dagegen die w r estpieussischen über
recht erheblichen Wechsel zu klagen haben: in Neu¬
stadt sind bei einem Bestand von 33 M. und 31 F.
im Laufe des Berichtsjahres 22 und 20 ausgeschieden.
Ferner berichtet, um nur einzelne aus verschiedenen
Landestheilen herauszugreifen, Dziekanka über
einen Wechsel von 50% bei den Männern und 72%
bei den Frauen ; auf dem Eich b erg schieden 65%
M. und 32,6 u / 0 F. aus. In Bayreuth wechselten
28 M. und 24 F. bei einem Normalbestand von
45 resp. 39. In Frankfurt waren 45 0 0 des gesumm¬
ten Personals kürzer als ein Jahr im Dienst.
Die Zahlenbeispiele noch zu vermehren ist wohl
unnöthig; man sieht, die Noth ist allgemein, und die
wenigen Ausnahmen können am Gesammtbild nicht
viel ändern.
Die Bestrebungen nach Abhülfe laufen im w esent¬
lichen auf die Verbesserung der wirthschaftlichen
Lage des Personals hinaus, bisher leider noch nicht
immer mit dem gewünschten Erfolg. Der Bericht
über die rheinischen Anstalten weist darauf hin,
dass in Folge der günstigen Lohnverhältnisse in der
Industrie der Wechsel recht bedeutend war, obgleich
schon seit 3 Jahren die Lohnverhältnisse des Perso¬
nals wesentlich verbessert worden sind; erst mit
Beginn einer ungünstigeren Lage der Industrie kamen
mehr Angebote. *)
Der Brandenburger Bericht beschäftigt sich
eingehend mit dem männlichen Personal. Nachdem
zunächst hervorgehoben worden ist, dass der ganzeErfolg
der ärztlichen Thätigkeit von der Zuverlässigkeit und
Umsicht der Pfleger abhängt, und dann ferner die
Gefahren und Unannehmlichkeiten des Pflegerdienstes
eine kurze Würdigung erfahren haben, wird ge¬
schlossen, „dass tüchtige, zuverlässige Kräfte sich nur
dann in einem solchen Amt halten lassen, wenn ihnen
*) Im westfälischen Bericht klagt Münster über einen
abnorm starken Wechsel, welcher dadurch bedingt war, dass
mehrere ältere und bewährte Pfleger an die Irrenabtheilung der
Strafanstalt übergetreten sind. Dieser Uebertritl ist durch die
damit verbundenen Vortheile sehr begreiflich. Die Pfleger sind
an der Strafanstalt nicht allein pecuniär weit besser gestellt,
sondern sie haben auch eine viel freiere Stellung; sic haben
regelmässigen achttägigen Wechsel zwischen Tag- und Nacht¬
dienst, und während des ersteren eine 10 ständige, während des
Nachtdienstes nur eine 7 ständige Dienstzeit.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 239
darin die Möglichkeit zur Begründung eines von
Nahrungssorgen freien Hausstandes und einer ange¬
messenen Theilnahme am Familienleben eröffnet ist“.
Es wird demgemäss für verheirathete Pfleger eine
„Familienzulage“ eingeführt, die nach einjähriger
Dienstzeit gewährt wird und anfangs 120 M. beträgt,
später auf 150 und 180 M. steigt, und zugleich wird
der Anstaltsdirector ermächtigt, bis zu y 3 der Wärter
den Heirathsconsens zu ertheilen. Weiter werden für
die verantwortungsreicheren Wärterstellen Funktionszu¬
lagen eingeführt, und endlich für das ganze Personal
ein „Gesammtgehalt“ berechnet, innerhalb dessen „der
Anstaltsdirector in der Festsetzung des Gehaltes für
jeden Wärter bis zum Betrage des Höchstsatzes nicht
beschränkt“ ist. Daneben wird die Erwerbung oder
Erbauung von Wohnhäusern für die Wärterfamilien
ins Auge gefasst, welche zugleich auf Einrichtung der
Familienpflege berechnet sind.
Auch anderwärts wird der Wohnungsfrage der
verheiratheten Pfleger Aufmerksamkeit geschenkt.
Kor tau hat drei Wärterhäuser für je 4 Familien
gebaut. Eichberg giebt verheiratheten Wärtern
einen Wohnungsgeldzuschuss.
Uecker in ün de berichtet über eine abermalige
Lohnerhöhung, Funktionszulagen und Vermehrung
des Personals auf 1 : 8 statt früher 1 : 10 und kann
konstatiren, dass für die Pflegerstellen alsbald mehr
Meldungen eingingen, während bei den Pflegerinnen
noch kein durchschlagender Erfolg erkennbar war.
Bei letzteren war besonders auffällig, dass die Zahl
der körperlich und geistig Minderwertigen unter den
Bewerberinnen immer grösser wurde, was der Bericht¬
erstatter darauf zurückführt, dass ein grosser Theil
der jungen Leute vom Lande in die Städte strömt,
und eben die tüchtigen und brauchbaren dort ge¬
deihen, während die minderwerthigen zurückkehren.
Es w'aren unter 102 in der 5jährigen Berichtszeit
ausgeschiedenen Pflegerinnen 21, die w'egen körper¬
licher oder geistiger Nichteignung austreten mussten,
häufig schon nach wenigen Wochen. — Zur Abhülfe
hält es der Bericht für wäinschensw-erth, die weibliche
Pflege Genossenschaften zu übertragen, und scheint
es fast zu bedauern, dass es, wie er meint, keine
Genossenschaften giebt, die die Pflege in Irrenanstal¬
ten übernehmen. Sollten wir uns nicht lieber freuen,
wenn dieser Kelch an uns vorübergeht? Schliesslich
empfiehlt er, dass die Provinzen selbst für ihren Be¬
darf solche Genossenschaften gründen, wie es für die
körperliche Krankenpflege die Krankenhäuser von
Berlin und Hamburg durchgeführt hätten. Sind deren
Erfahrungen wirklich so verlockend ?
Die meisten Anstalten legen doch übrigens immer
noch Werth darauf, ihr Personal selbst auszubilden,
und nicht wenige gehen sogar so w’eit, dass sie prin-
cipiell keine Pfleger anstellen, die schon in einer
anderen Anstalt waren. So lese ich z. B. im Bericht
von Eberswalde, dass dort Personal aus anderen
Anstalten nur ausnahmsweise angenommen wird.
Es ist denn auch ein charakteristischer Zug der
Zeit, dass allenthalben auf eine gründliche Ausbildung
des Personals erhöhter Werth gelegt wird; und wäh¬
rend es noch vor 10 Jahren zu den Seltenheiten ge¬
hörte, dass in einer Anstalt dem Pflegepersonal syste¬
matischer Unterricht ertheilt wurde, ist dies heute
wohl zur allgemeinen Regel geworden.
Sehr viele Berichte erwähnen die Einführung des
Pflegerunterrichts und die Anschaffung des Scholz’-
schen Leitfadens. Nur einzelne gehen näher darauf
ein.
An der Sorauer Einrichtung ist bemerkenswert!!,
dass ein Theil des Unterrichts — nämlich über all¬
gemeine Hausordnung, Umgang mit Kranken, Pflege
bettlägeriger und unreinlicher Kranker, Zubereitung
von Bädern, — durch das Oberwartpersonal ertheilt
wird. Mir scheint das etwas bedenklich, man müsste
denn aussergew'öhnlich intelligentes und zuverlässiges
Oberwartpersonal haben. Die Aerzte unterrichten
über allgemein anatomische und physiologische Ver¬
hältnisse und erläutern am Beispiel der vorhandenen
Kranken die einzelnen Krankheitserscheinungen. Nach
3 monatlicher Probezeit wird vor dem Director eine
Prüfung abgelegt, und dann erst erfolgt die endgül¬
tige Anstellung. Die Einrichtung hat sich bewährt;
besonders wird hervorgehoben, dass man über die
Befähigung der einzelnen ein Urtheil gewinnt und
dass die Probezeit es ermöglicht, ungeeignete Elemente
vor der endgültigen Anstellung auszuscheiden.
In Ebersw r aide wird seit 98 regelmässiger
Unterricht an der Hand des Scholz’schen Leitfadens
durch den Director ertheilt, an dem alle unter 2
Jahren im Hause befindlichen Pfleger theilnehmen,
so dass jeder, der lange genug im Hause bleibt,
mindestens 2 Kurse mitmacht. Doch wird ausdrück¬
lich betont, dass die fortlaufende ärztliche Unterwei¬
sung bei Gelegenheit der Visiten für die Ausbildung
des Personals von ausschlaggebender Bedeutung ist
und der systematische Unterricht diese nicht über¬
flüssig machen, sondern nur unterstützen kann. Man
wird diesen Ausführungen nur zustimmen können.
Zweckmässig scheint mir auch die in Ebers¬
walde geübte Verwendung neu eintretenden Perso¬
nals zu sein. Es ward jeder nach vorangegangener
Unterweisung in Hausordnung und Dienstinstruction
zunächst einer Wachabtheilung zugetheilt, wo er bleibt,
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Original frum
HARVARD UNIVERSITY
240
bis er in den Dienst eingelebt ist; dann muss er nach
der Reihe alle Abtheilungen durchmachen, um all¬
mählich alle Kategorien von Kranken kennen zu
lernen. Ich zweifle aber, ob sich dies immer wird
praktisch durchführen lassen. Bei uns wenigstens
kommt es nicht so selten vor, dass am i. des Mo¬
nats eine grössere Anzahl neuen Personals zugleich
eintritt. Die kann man dann unmöglich alle auf
Wachabtheilungen setzen, vielmehr müssen sie, wenn
auch unausgebildet, fürs Erste vorhandene Lücken
füllen. Und will man die Pfleger alle Abtheilungen
durchmachen lassen, so macht man, besonders bei
den weiblichen, immer wieder die Erfahrung, dass
einzelne sich für eine Art von Kranken sehr gut, für
andere gar nicht eignen, und man wird dann doch
wohl gut thun, sie da zu lassen, wo sie sich bewähren.
Aber ich gebe zu, dass das Ausnahmen sind, und
dass bei der Mehrzahl allseitige Verwendung mög¬
lich ist.
Bei dem aufreibenden und verantwortungsvollen
Dienst des Pflegepersonals nimmt es uns nicht
wunder, in verschiedenen Berichten über das Vor¬
kommen von^lerhandneurasthenischen Beschwer¬
den, besonders beim weiblichen Personal, zu lesen. In
Hochweitzschen war bei Pflegerinnen, die bereits
mehrere Jahre im Dienste stehen, „eine schnelle Ab¬
nutzung in psychischer und somatischer Hinsicht be¬
merkbar. Sie findet ihren Ausdruck in jenen zahl¬
reichen Indispositionen der Pflegerinnen von halben
bis zu ganzen Tagen, so in zahlreichen nervösen
Störungen, wie Kopfschmerzen, allgemeiner Mattigkeit,
Schlaflosigkeit, grosser Reizbarkeit, Unverträglichkeit,
herrischem Wesen, ferner in Appetitlosigkeit, Menstru¬
ationsstörungen, Abnahme des Körpergewichts etc.“
Das einzige zuverlässige Heilmittel für solche Zustände,
eine längere Beurlaubung, scheitert oft daran, dass
die Pflegerinnen nicht wissen, wo sie den Urlaub zu¬
bringen sollen. Der Bericht plädirt deshalb für die
Einrichtung einer Erholungsstätte in ruhiger, wald¬
reicher Gegend.
Frankfurt berichtet über eine ganze Anzahl
Fälle von nervöser Erschöpfung bei Pflegerinnen, die
einander klinisch sehr ähnlich waren und zweifellos
auf die Ueberanstrengung im Dienst zurückzuführen
sind. „Die Pflegerinnen fallen meist durch ihr
schlechtes Aussehen und gedrücktes Wesen auf. Sie
klagen über Schlaflosigkeit und völligen Appetitmangel,
Gefühl grosser Müdigkeit und Leistungsunfähigkeit.
Gewöhnlich treten auch Angstzustände auf mit dem
Gefühl, dass etwas passire, dass jemand hinter ihnen
stehe, hin und wieder auch, dass ihnen der Hals zu¬
gedrückt würde. Manchmal herrscht auch eine etwas
[Nr. 21.
melancholische Färbung vor, die Kranken glauben
nicht genug gethan zu haben, nichts mehr leisten zu
können, wollen sich nicht gern in eine Kur ausser¬
halb der Anstalt begeben, weil sie dadurch sich ihrer
Pflicht entzögen. Meist bessert sich der Zustand so*-
fort mit dem Wechsel der Umgebung, und auch der
Appetit und Schlaf kehren bald wieder. Gerade die
diensteifrigsten und fleissigsten Pflegerinnen scheinen
am leichtesten befallen zu werden.“ Auch Frank¬
furt hat die Errichtung einer Erholungsstation ins
Auge gefasst.
Durch reichlich zu bemessen de Erholungsstunden
kann man wohl in vielen Fällen dem Ausbruch so
schwerer Störungen wirksam Vorbeugen. Zu berück¬
sichtigen ist dabei, dass die blosse Gewährung von
Freistunden dafür nicht genügt, sondern es muss
auch darauf gedrungen werden, dass die Pflegerinnen
während dieser Stunden wirklich die Abtheilung ver¬
lassen. Dazu ist es nothwendig, dass ihnen in der
Anstalt ein Raum zur Verfügung steht, wo sie diese
Stunden zubringen können. Denn natürlich kann
man sie nicht zwingen, bei jedem Wetter hinauszu¬
gehen; und wenn sie in der Abtheilung bleiben, dann
ist von Erholung keine Rede. In den meisten An¬
stalten sind jetzt solche Räume wohl auch vorhanden,
und einige Berichte — ich nenne z. B. nur Frei¬
burg-Schlesien — erwähnen die Einrichtung aus¬
drücklich.
Natürlich wird durch die Einführung häufiger Er¬
holungsstunden eine möglichst liberale Gewährung
längeren Urlaubs nicht überflüssig gemacht, und
gerade die besten und tüchtigsten Pflegerinnen müssen
dazu angehalten werden, Urlaub zu nehmen, weil sie
es von selbst nicht thun. Jedenfalls sollte dies stets
bei den ersten Zeichen von nervöser Erschöpfung
geschehen.
Erwähnenswerth ist es noch, dass F rankfurt
einen Versuch gemacht hat, das Pflegepersonal gegen
Unfall zu versichern, der aber an der Höhe der von
den Versicherungsgesellschaften geforderten Beiträge
vorläufig scheiterte. Weilmünster berichtet über
die Einrichtung einer Altersversorgung in der Art,
dass „nach mindestens io jähriger Dienstzeit im Falle
eintretender Gebrechlichkeit eine Rente aus der Unter¬
stützungskasse für die ständigen Bediensteten des Bc-
zirksverbandes bewilligt werden kann“.
Der Bericht vom Tannen hof berichtet in seinem
ersten, übrigens vom geistlichen Leiter verfassten Tlieil
über eine Conferenz, in welcher der Referent neben
der Wärternoth noch die Parität als die beiden „Haupt¬
übel“ bezcichnete, an denen „sämmtliche Irrenanstalten
litten“. In ärztlichen Kreisen ist man wohl allgemein
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
igo2.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
241
entgegengesetzter Meinung. Es kann nicht energisch
genug dagegen protestirt werden, dass der Geist con-
fessioneller Intoleranz noch mehr, als es leider schon hier
und da der Fall ist, in die Irrenpflege hineingetragen wird.
Das Zusammensein von Kranken verschiedener Con-
fession in derselben Anstalt hat noch nirgends zu
Missständen geführt Für die religiösen Bedürfnisse
der Kranken wird überall gesorgt. Keine Anstalts-
direction legt den Geistlichen Schwierigkeiten in den
Weg. Von einem „Nothstand“ zu reden, zu dessen
„Abhülfe“ wir „evangelische Anstalten und vor allem
evangelisches Pflegepersonal“ brauchen, ist also eine
Entstellung, ich möchte fast sagen, eine Verleumdung.
„Das ist im Grund der Herren eigner Geist.“
Klinisches; wissenschaftliche Beiträge.
An wissenschaftlichem Material einer der reichsten
Berichte ist der von U eck er münde. Die trockenen
statistischen Mittheilungen werden dort durch reich¬
lich eingestreute, zum Theil recht interessante casui-
stische Mittheilungen auch den ferner Stehenden ge-
niessbar gemacht; ausserdem bringt er 3 wissenschaft¬
liche Originalabhandlungen. — Da beides in dieser
Wochenschrift (1901, Nr. 5) bereits besprochen ist,
braucht hier nicht näher darauf eingegangen zu werden.
Bunfclau berichtet über einen typischen Fall
von polyneuritischer Psychose, der geheilt entlassen
wurde; es war bei der Entlassung noch eine leichte
geistige Einbusse und Fehlen der Sehnenreflexe zu
konstatiren. Weiter über einen zweiten Fall, bei
dem Hysterie anfangs einen Korsakoff vorgetäuscht
hatte.
Der Alsterdorfer Bericht bringt eine Unter¬
suchung über postepileptische Psychosen von Kellner.
Die Unterscheidung der Epileptiker in 4 Stufen, näm¬
lich geistig normale und 3 Grade von geistig defecten,
scheint mir etwas willkürlich. Bei den nach den An¬
fällen beobachteten Störungen handelt es sich um
Dämmerzustände, um Verwirrtheit mit Erinnerungs-
defecten, um ängstliche Delirien, um Stuporzustände
bis zum Coma, um motorische und amnestische Sprach¬
störung. Bemerkenswerth ist es, dass höhere Grade von
Angst und Unruhe bei den geistig noch relativ hoch¬
stehenden Epileptikern ziemlich selten beobachtet und
um so häufiger wurden, je tiefer die geistige Ent¬
wicklung zurückgeblieben war, dass speciell Tobsucht
bis zur Gemeingefährlichkeit nur bei den tiefer Stehen¬
den vorkam. Unter den mitgeteilten Fällen ist einer
bemerkenswerth durch die Art der Amnesie: Die
Kranke hatte in monatlichen Zwischenräumen gehäufte
Anfälle, nach denen sie in tiefen Schlaf fiel. Nach
dem Erwachen war sie körperlich wohl, nicht ver-
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wirrt, hatte aber die Erlebnisse der letzten 10—15
Jahre vergessen. Jedesmal war es ein 15 Jahre zu¬
rückliegendes, freudiges Ereigniss, an das sie anknüpfte,
das ihr als eben erlebt vorschwebte, mit dem sie
allerhand freudige Hoffnungen verband, die von ihrer
zu anderen Zeiten stets ruhigen und mehr trüben
Stimmung sehr abwichen. Nach einigen Tagen tauchte
nach und nach die Erinnerung an die späteren Er¬
lebnisse wieder auf.
Die Idiotenanstalt zu Niedermarsberg theilt
ausführlich die Krankengeschichte eines myxödematösen
Idioten mit, der mit Thyreoidtabletten geheilt wurde;
auch das psychische Verhalten besserte sich ganz er-»
heblich.
In der Irrenstation des Zuchthauses zu Wald¬
heim ist beobachtet worden, dass die mit Sinnes¬
täuschungen einhergehenden Formen geistiger Störung
bei den Aufgenommenen überwiegen, was darauf zu*
rückgeführt wird, dass die meisten aus der Strafhaft
bezw. Isolirhaft kommen. „Die Isolirhaft begünstigt
das Auftreten von Sinnestäuschungen und lässt Leute,
welche zu geistiger Erkrankung neigen, leichter er¬
kranken, namentlich Leute in jugendlichem Alter und
Leute, welche weicheres Gemüth haben, noch fähig
sind, die Strafhaft sich zu Herzen zu nehmen.“ Unter
den 37 aufgenommenen Geisteskranken war bei 19
die Störung während der Isolirhaft aufgetreten.
Viel casuistisches Material enthält der Bericht der
Friedmatt. Ein Mann, der mit der Diagnose Me¬
lancholie mit Phthisis pulmonum in die Anstalt ge¬
bracht wurde und nach 8 Tagen unter zunehmendem
Marasmus, Fieber, Husten, Erbrechen, und blutigen
Diarrhoeen starb, erwies sich bei der Sektion als Typhus
abdominalis.
Im Asile de Cery ist ein Fall von Delirium
tremens behandelt worden, das mit allen klassischen
Symptomen mehrere Monate dauerte, dann in Hei¬
lung überging; und ein anderer, dessen Hallucinationen
und Desorientirtheit mehrere Wochen dauerten, aber
nur bei Nacht.
Verschiedene Anstalten berichten über Versuche
mit neuen Arzneimitteln. Die meisten derartigen
Mittheilungen beziehen sich auf die Epileptikerbe¬
handlung.
Mit Bromipin hat Weissenau günstige Er¬
fahrungen gemacht Weil sein Geschmack nicht an
Brom erinnert, wird es besonders für solche Kranke
empfohlen, die eine Abneigung gegen Bromsalze
haben. Die Wirkung sei intensiver als die der Brom¬
alkalien , die lästigen Hautaffectionen bleiben aus.
Dosen von 4 — 8 g werden als kleine bezeichnet
und hatten keinen nachhaltigen Erfolg, während 10
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HARVARD UNIVERSITY
242
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 21.
bis 15 g pro die, in einem Fall sogar 25 g pro die
Nachlassen der Anfälle erzielten. Auch Besserung
des geistigen Zustandes wurde mehrfach beobachtet.
Schädliche Nebenwirkungen traten nicht auf. Von
Hochweitzschen werden weniger günstige Er¬
fahrungen mit dem Bromipin berichtet; die Wirkung
ist weniger stark, als die der einfachen Bromide, der
ölige Geschmack ist den meisten Patienten unan¬
genehm.
Mit Bromeigon, einer Eiweissverbindung mit
ii°/ 0 Bromgehalt, hat Weissenau noch zu spär¬
liche Versuche gemacht, um urtheilen zu können;
doch scheint die Wirkung nicht wesentlich verschieden
von der der anderen Brompräparate zu sein; der
hohe Preis des Mittels steht jedenfalls vorläufig der
Verbreitung noch im Wege.
In Wuhlgarten hat man Versuche mit Bro-
m o c o 11 gemacht, das sich als gut wirkendes Brom-
mittel erwies, das Auftreten von Acne aber keines¬
wegs immer verhinderte.
Endlich berichtet So rau über Versuche mit
coniinum hy dro bromatum. „Anfangs schien
es, als ob bei einigen Kranken ein Erfolg eintrete, all¬
mählich aber stellten sich die Anfälle wieder in der
alten Zahl ein, auch wurde das Mittel zum Theil
mit Widerwillen genommen, und schliesslich stellten
sich auch Verdauungsbeschwerden ein, so dass mit
der Darreichung endgültig gebrochen wurde.“
Hochweitzschen theilt endlich noch Versuche
mit derRichet-Toulouse’schen „metatrophischen“
Behandlungsmethode der Epilepsie mit, welche, wie
bekannt, auf der Hypothese beruht, dass das Brom
im Organismus an Stelle des Chlors treten könne,
wenn man durch möglichst salzarme Nahrung dem
Körper Salz entziehe. Die noch nicht abgeschlossenen
Versuche ergaben bisher, dass die Bromwirkung in
der That eine sehr starke, mehr als 4 mal stärkere
ist, als bei gewöhnlicher Salzkost, dass aber nach
Aussetzen des Broms in mehreren Fällen gleich wieder
Gruppen von Anfällen auftraten. Ob durch längere
Fortsetzung der Kur dauernder Erfolg zu erzielen
ist, bleibt abzuwarten. Wichtig ist, dass diese Behand¬
lungsart sich nur für die Anstaltsbehandlung eignet,
da sie unter Umständen nicht unbedenklich ist, ziem¬
lich plötzlich Vergiftungserscheinungen herbeiführen
kann und daher beständiger ärztlicher Ueberwachung
bedarf.
Bei der Häufigkeit der Tuberculose in den
Anstalten ist es begreiflich, dass auch die zahlreichen
neuen Tuberculose-Heilmittel gern versucht
werden. Doch finde ich nur wenige Mittheilungen
darüber. Plagwitz hat einen Fall von Lungen-
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phthise mit Sirolin behandelt, lässt es aber dahin¬
gestellt, ob der günstige Ausgang auf Rechnung des
Sirolins oder der anderen therapeuthischen Maass¬
nahmen zu setzen ist. So rau hat bei Darreichung
von T h i o c o 11 ausgezeichnete Erfolge gesehen, sicht¬
baren Stillstand der Tuberculose und erhebliche Zu¬
nahme des Körpergewichts. Die Dosis betrug an¬
fangs 2, später 3 g pro die. N ieder-Mars berg
endlich erwähnt den frappirenden Erfolg des Ichtho-
forms bei Darmtuberculose; bei einem schweren
Falle, bei dem schon alle andern Mittel vergeblich
angewendet worden waren, brachte es in Dosen von
1,0 drei mal täglich in kurzer Zeit völligen Stillstand
der Diarrhoeen.
Forensisches.
Die Sachverständigenthätigkeit in Entmündi¬
gungssachen wird von den meisten Berichten gar
nicht erwähnt, wohl, weil sie etwas selbstverständ¬
liches und alltägliches ist Nur einige Anstalten
geben die Zahl der Termine und Gutachten an, und
bei einigen, z. B. den sächsischen ist diese auffallend
hoch. Das hängt zweifellos mit der Einführung des B.
G. B. zusammen; die nächsten Jahre werden schon
wieder einen Rückgang bringen.
Auch Ehestreitigkeiten sind seit* dem In¬
krafttreten des B. G. B. wiederholt zur Begutachtung
gelangt. Vorster-Stephansfeld hat jaseineFälle in
dieser Wochenschrift (Bd. 3 No. 51) veröffentlicht. Die
Berichte geben nur Zahlen an; genaueres wird nicht
mitgetheilt. Die Fälle scheinen fürs Erste noch
recht selten zu sein.
Ausführlich wird in den meisten Berichten über
die strafrechtlichen Fälle referirt. Sie werden
meist einzeln aufgeführt; doch ist die Beschreibung
der einzelnen Fälle in der Regel recht summarisch.
Und auch unter den genauer beschriebenen sind nur
wenige, die aus dem einen oder andern Grunde
grösseres Interesse beanspruchen.
Aus Sch wetz wird über einen Fall berichtet,
wo der Thäter wegen Geisteskrankheit freigesprochen
wurde, und nun auch sein Sohn, der wegen Beihülfe
angeschuldigt war, freigesprochen werden musste, ob¬
gleich seine Schuld erwiesen war; denn da bei Gei¬
steskrankheit des Thäters nach § 51 „eine strafbare
Handlung nicht vorhanden“ ist, so ist auch keine
Beihülfe möglich. An der juristischen Richtigkeit
dieser Auffassung wird wohl kein Zweifel sein, wenn
sie auch dem Laien etwas gekünstelt erscheint. Auf
ihre bedenklichen practischen Consequenzen ist ja vor
kurzem in dieser Zeitschrift (Bd. IV No. 3) hingewiesen
worden.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
243
Leubus berichtet über einen pathologischen
Rauschzustand, in dem ein Mord begangen worden
war. Den Zeugen war der Mann nur in geringem
Grade angetrunken, nicht sinnlos betrunken erschie¬
nen. Das Gutachten führt aus, dass auf der Basis
einer minderwerthigen Constitution unter dem Ein¬
fluss der Alkoholwirkung ein veränderter Bewusstseins¬
zustand entstanden war, der die Bedingungen des
§51 erfüllt — Ferner wird von Leubus ein Schwach¬
sinniger beschrieben, der nach § 176, 3 in Anklage
stand, „dessen Zurechnungsfähigkeit als eine dauernd
geminderte bezeichnet werden müsste, wenn ein sol¬
cher Begriff im deutschen Strafrecht Geltung hätte“.
Hoffentlich befasst sich Hoche’s statistisches Bureau
auch mit dieser Frage.
Schleswig beschreibt einen Pseudoquärulanten.
Ein Kaufmann gerieth in Zahlungsschwierigkeiten, es
kam zur Zwangsveräusserung seines Besitzes; sein
grösster Feind wurde zum Zwangsverwalter ernannt
und erwarb sein Grundstück zu einem billigen Preise.
Eine Beschwerde ans Amtsgericht wurde abgewiesen, alle
Eingaben, bis zum Justizminister hinauf, blieben ohne
Erfolg. Er schrieb eine Brochure, welche für den
Amtsrichter beleidigend war; dieser erhob Klage.
Es entstanden Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit,
weil er in früheren Jahren einmal eine traumatische
Psychose durchgemacht hatte. Er wurde nicht für
geisteskrank gehalten.
Ein weiterer Fall aus Schleswig ist bemerkens-
werth, wo ein Gefangenenaufseher wegen unzüchtiger
Handlungen mit weiblichen Gefangenen zu Gefängniss
verurtheilt worden war und hier nach kurzer Zeit
einen Tobsuchtsanfall bekam. Die Beobachtung er¬
gab eine vorgeschrittene Dementia paralytica.
Der Münchener Bericht beschreibt einen Fall,
in dem der Angeklagte, entgegen dem ärztlichen Gut¬
achten, verurtheilt wurde. Ein 2 2jähriger Knecht
hatte aus ganz kindischen Motiven ein Anwesen in
Brand gesteckt. Der Gerichtsarzt erkannte ihn als
„zweifellos geistesschwach“ und beantragte Beobach¬
tung in der Anstalt. Das Anstaltsgutachten bezeich-
nete ihn als Idioten und unzurechnungsfähig. Der
Staatsanwalt beantragte angesichts des Gutachtens
und der zu erwartenden Freisprechung Aufhebung
des Haftbefehls, um der Justizkasse Kosten zu er¬
sparen, und überwies ihn der Polizeidirection, welche
ihn wieder in der Anstalt unterbrachte. Dennoch
wurde er vom Schwurgericht in 2 Instanzen für schul¬
dig erklärt und verurtheilt!
Wenn München hieran die Bemerkung an-
schliesst, dass die Kreisirrenanstalten gar kein Inter¬
esse daran hätten, Beobachtungsgefangene aufzuneh-
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men, und die Begutachtung solcher bereitwilligst einer
staatlichen Beobachtungsstation unter Oberaufsicht der
Justizbehörden überlassen würden, so wird dem wohl
nicht von allen Seiten zugestimmt werden. Die
meisten Anstalten haben Beobachtungsfälle ganz gern,
weil sie doch immer etwas Abwechslung in die ein¬
förmige Thätigkeit bringen und häufig zur Anschnei¬
dung interessanter Fragen Veranlassung geben. Durch
den gewiss berechtigten Aerger über einen einzelnen
Misserfolg wird man sich doch nicht gleich zu so
weit gehenden Consequenzen hinreissen lassen.
In der Fried matt ist eine Frau begutachtet
worden, die etwa seit ihrem 25. Jahre ein Leben ge¬
führt hatte, das „eine ununterbrochene Kette von
Lüge, Gaukelei, Betrug, Fälschung und Schwindel in
staunenswerther, nur durch eine ungewöhnliche Phan¬
tasiestärke erklärbarer Abwechslung“ bildete. Sie war
schon früher in einer Anstalt beobachtet und für
zurechnungsfähig erklärt worden. Jetzt hatte sie sich
unter falschem Namen in ein Dienstbotenasyl auf¬
nehmen lassen, hatte durch gefälschte Eintragung in
ein Sparkassenbuch 1000 Fr. erschwindelt, war unter
Mitnahme eines fremden Heimathsscheines verschwun¬
den, mit dem sie dann anderswo in Dienst trat; das
führte zu ihrer Verhaftung. Man vermuthete in ihr
eine berüchtigte Gaunerin andern Namens; sie gab
zu, diese zu sein und spielte eine Zeit lang deren
Rolle mit grossem Geschick; noch einmal wechselte
sie ihren Namen und gab schliesslich schriftlich den
richtigen an unter Hinzufügung einer phantastisch
erlogenen Lebensgeschichte. In der Anstalt bot sie
nicht viel: ihre Intelligenz erwies sich als recht mässig;
die Neigung zum Lügen trat beständig in recht auf¬
fälliger Weise hervor, sie log bei ganz gleichgültigen
Dingen in sinnlosester Weise; die Stimmung war un¬
regelmässig wechselnd, bald war sie ganz heiter, bald
unzugänglich, mitunter auch äusserst reizbar; ihr Gefühls¬
leben erwies sich als äusserst primitiv. — Ueber ihre
Handlungsweise äusserte sie: „Ich weiss selber nicht,
was mich dazu antreibt, und wenn ich in dieser Mi¬
nute nichts davon weiss, in der nächsten Minute führe
ich’s aus.“ Ein andermal hatte sie angegeben, dass sie
seit der Lectüre eines spiritistischen Romans „von
ihrer Phantasie dahin beherrscht werde, dass sie sich
in andere Personen hineindenken und deren erdachte
Handlungen und Schicksale selbst durchleben müsse“.
Ob es richtig war, diese Kranke für zurechnungsfähig
zu erklären, darf man wohl bezweifeln.
Erwähnenswerth scheint mir zu sein, dass unter
den zur Beobachtung Aufgenommenen bei weitem
die meisten wirklich geisteskrank waren und auch
der grossen Mehrzahl nach der Beurtheilung keine
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
244 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21.
Schwierigkeiten boten. Wenn in H i l d e s h e i m unter
9 Beobachteten 5 nicht geisteskrank waren, so ist
das eine sehr vereinzelte Ausnahme.
Hinsichtlich der Form der Störung überwiegen
unter den Beobachteten bei weitem die Epilepsie,
die Imbecillität und der Alkoholismus; andere Formen
sind nur in einzelnen Exemplaren vertreten. Als be¬
sonders verhängnisvoll erscheint dabei die Verbindung
des Alkoholismus mit einer der beiden erst genann¬
ten Formen, und vor allem findet wieder die alte
Erfahrung ihre Bestätigung, dass die Epileptiker unter
dem Einfluss des Alkoholgenusses zu gemeingefähr¬
lichen Handlungen disponirt sind.
Dass die Anstalten auch ausser den zur Beobach¬
tung Eingelieferten noch geisteskranke Verbrecher
in grosser Zahl beherbergen müssen, ist eine alte Noth,
die den Berichten zu vielfachen Klagen Anlass giebt.
Die meisten geben unter ihren statistischen Mitthei¬
lungen auch die Zahl der mit dem Strafgesetz in
Conflikt gekommenen in Procenten der Aufnahme-
ziflfer an. Da die Zahlen der einzelnen Berichte
auffallend verschieden sind, und irgend welche gesetz-
mä8sigen Ursachen für diese Verschiedenheit nicht
ersichtlich sind, so möchte ich auf die Anführung von
Zahlenbeispielen lieber verzichten. Es liegt ja auch
hierin wieder soviel subjectives; der eine zählt nur
die wirklichen Verbrechen, während der andere jedes
kleine Vergehen mitzählt.
Die Unzuträglichkeiten, welche das Zusammensein
der Verbrecher mit den andern Kranken im Gefolge
hat, finden in den Berichten mannigfachen Ausdruck.
Nur wenige Stimmen möchte ich noch hier citiren.
Herzberge sieht sich zur Vergrösserung seines
Ueberwachungshauses genüthigt, weil nach dessen
Ueberfüllung die Verbrecher im Aufnahmehause
untergebracht werden mussten, wo sich dann zur
Aufrechterhaltung der Ordnung eine Vermehrung des
Personals als noth wendig erwies. Frankfurt schil¬
dert eingehend die Schwierigkeit ihrer Unterbringung:
wollte man sie immer isoliren, so hätten sie es schlim¬
mer als im Gefängniss; hält man sie alle auf der
unruhigen Abtheilung, so komplottiren sie und beein¬
flussen andere erregte Elemente ungünstig; es bleibt
nichts übrig, als sie zu trennen, sie auf verschiedenen
Abtheilungen unterzubringen und sie nach Möglich¬
keit auch zu beschäftigen; aber dann wissen sie immer
wieder Gelegenheit zum Entweichen zu finden.
In Salzburg machte ein solcher Kranker einen
Mordplan gegen den Director und den Abtheihingsarzt,
und überfiel hinterrücks den Oberpfleger; der Bericht be¬
tont besonders die demoralisirende Wirkung auf das
Pflegepersonal, welchem es schwer fällt, in solchen Leuten
Kranke zu sehen, und das ausserdem durch die Ge¬
fahren, welchen es durch deren tückische Angriffe
ausgesetzt ist, sich leicht zu Rohheiten hinreissen
lässt. Rybnik klagte besonders über die Verbrecher,
welche aus der Irrenstation der Strafanstalt nach
Aussetzen des Strafvollzugs in die Anstalt kommen.
Sie wurden dort, um sie bei guter Laune zu erhalten,
sehr verwöhnt und stellen nun in der Anstalt die un¬
verschämtesten Ansprüche; und solche Leute wieder
los zu werden, machte die grössten Schwierigkeiten.
Allein wegen dieser Elemente hält Rybnik die Ver¬
mehrung des Personals für noth wendig.
Die Frage der Unterbringung der irren Verbrecher
ist ja im Rollen, aber von ihrer Lösung sind wir noch
recht w'eit entfernt.
Ueber Wandschmuck in Irrenanstalten.
T^ie Zeiten sind vorüber, in denen man es für aus¬
reichend hielt, unsere Kranken in kahlen, schmuck¬
losen Räumen unterzubringen. Längst strebt man
danach, durch wohnliche Ausstattung der Räume
ihnen den Aufenthalt angenehmer zu machen; und
durch bequeme Möblirung, Ausstattung mit Gardinen
und Teppichen u. dgl. m. kann man ja ohne grosse
Kosten vieles erreichen.
Recht kümmerlich ist es dagegen noch mit dem
Bilderschmuck der Wände unserer Abtheilungen bestellt.
Kein Wunder auch; denn gute Bilder kosten viel
Geld, was wir nicht haben; und was man für billiges
Geld gemeinhin bekommen kann, taugt nichts. Dem¬
entsprechend sind denn auch die Bilder, die man
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meist in den Anstalten findet: minderwerthige Licht¬
drucke, Oeldrucke schlimmster Art, das relativ beste
sind noch lithographische Reproductionen berühmter
Gemälde oder hier und da einmal ein einsamer Kupfer¬
stich.
Sicher haben diesen Missstand auch schon andere
empfunden, und manchen Collegen wird es daher
interessiren, zu erfahren, dass es einige neuere Unter¬
nehmungen giebt, welche es sich zum Ziel gesetzt
haben, künstlerisch gute Bilder in guter Ausführung
zu möglichst billigem Preise im Volke zu verbreiten,
und dass die zu diesem Zwecke geschaffenen Blätter
auch für unsere Räume recht geeignet sind.
Schon seit einer Reihe von Jahren erscheinen bei
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1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 245
Breitkopf & Härtel in Leipzig Serien von „Zeit¬
genössischen Kunstblättern“, zumeist Facsi-
mile-Reproductionen nach Lithographien und Ra¬
dierungen moderner Meister. Die Grösse der Blätter
(50 :40 cm) ist der Grösse vieler unserer Räume
gerade angemessen, der Preis (2 Mk. pro Blatt) er¬
schwinglich. Die Auswahl ist vortrefflich, gerade für
unseren Zweck. Die überwiegende Mehrzahl der
Blätter ist Hans Thoma gewidmet, also rechte deutsche
Volkskunst. Wer freilich durch die immer noch weit
verbreitete Bewunderung der italienischen Renaissance
seinen Geschmack exclusiv auf diese eingestellt hat,
wird Mühe haben, Plans Thoma zu geniessen; vor
allem mit Theorien, mit ästhetischen Postulaten darf
man ihm nicht gegenübertreten; Thoma’sche Kunst
kann nur empfunden werden, es gehört ein unver¬
fälscht deutsches Gemüth dazu, ihn in seiner ganzen
Tiefe zu würdigen; wer sich ein solches bewahrt hat,
wird an Blättern wie der „Märchenerzählerin“, dem
„Bauern“, dem „Geiger“, um nur einige wenige zu
nennen, immer wieder seine Freude haben; und gerade
das einfache Volk, dem nicht durch Aesthetik und
Gemäldegallerien ein einseitiger Geschmack anerzogen
ist, pflegt solche Kunst am freudigsten aufzunehmen.
— Die Blätter von Max Klinger, Sascha Schneider,
Hans v. Marces, werden, so schön sie sind, unser
Publikum doch weniger ansprechen, dagegen dürfte
Volkmann wieder geeigneter sein, und vor allem Stein¬
hausen, dessen „Gastmahl“ allerdings grösser und
theurer ist, wie die andern Blätter, dafür aber auch
in ganz grossen Räumen zur Geltung kommen kann.
Ferner möchte ich auf die Publikationen des
„Kunstwart“ (Georg D. W. Callwey in München)
hinweisen, welcher unter der Bezeichnung „Meister¬
bilder“ recht gute Reproduktionen von Kunstwerken
aller Zeiten und Völker bringt, zu dem fabelhaften Preise
von 25 Pfg. pro Blatt. Da es sich dabei durchweg um
Bilder von allgemein anerkannten Künstlern handelt, be¬
darf es keines näheren Eingehens; die Auswahl ist so
reichhaltig und wird so schnell vermehrt, (neuerdings
ist z. B. eine ganze Schwind-Mappc erschienen) dass
jeder sich das ihm zusagende auswählen kann. Ein
Nachtheil dieser „Meisterbilder“ ist ihr kleines Format,
welches sie als Wandschmuck nur in ganz kleinen
Räumen verwenden lässt. Doch werden die besten
unter der Bezeichnung „Vorzugsdrucke“ neuerdings
in bedeutend grösserem Format herausgegeben, zu
dem immer noch recht geringen Preise von 1 Mk.
Ein ganz vortrefflicher Wandschmuck, besonders
auch für ganz grosse Räume, sind die farbigen
Künstler-Lithographien, die seit kurzer Zeit
im Verlage der Firmen B. G. Tcubner und R. Vuigt-
laender in Leipzig erscheinen. Die erste Anregung
zu diesem Unternehmen gab wohl der Dresdener
Kunsterziehungstag (1901), welcher für die Schule
einen wirklich künstlerischen' Wandschmuck verlangte.
Aber nicht allein für die Schule sind diese Blätter
bestimmt, sondern vor allem bezwecken sie, auch dem
weniger Bemittelten die Möglichkeit zu schaffen, sein
Heim mit wirklich guten Kunstwerken zu schmücken.
Denn dadurch unterscheidet sich eben dieses Unter¬
nehmen von allen ähnlichen, dass es sich nicht um
Reproductionen irgend welcher, in anderer Technik
geschaffenen Originalien handelt, sondern dass diese
Blätter selbst Originale sind; es sind eigenhändige
Steinzeichnungen lebender Künstler, als selbständige
Werke ursprünglich in dieser Technik gedacht, nicht
aus einer andern übersetzt. Durchweg stehen die
Blätter, soweit ich sie wenigstens kenne, auf einem
recht hohen künstlerischen Niveau, wofür ja auch
Namen wie Kaltmorgen, Kampmann, Volkmann,
Fikentscher u. A. bürgen. Die Gegenstände der
meisten Blätter sind landschaftliche Darstellungen,
und zwar trotz (oder vielleicht gerade wegen) der un¬
gesuchten Einfachheit der Schilderung durchweg von
so intimem Reiz und tiefem Stimmungsgehalt, dass
sich wohl kein empfängliches Gemüth ihrer Wirkung
entziehen kann. Die Grösse der Blätter (theils 100: 70
cm, theils 75 : 55 cm) lässt sie auch in ganz grossen
Räumen zur Geltung kommen, sehliesst aber anderer¬
seits ihre Verwendung in kleineren Räumen keineswegs
aus. — Unter solchen Umständen ist der Preis von
3—6 Mk. pro Blatt gewiss gering. Zudem haben die
Unternehmer eine „Vereinigung für Künstlerstein¬
zeichnungen“ gegründet, für deren Mitglieder sich der
Preis auf s / 4 des genannten ermässigt; der Beitritt
verpflichtet nur auf 2 Jahre, sodass also auch für
Anstalten, welche nur eine geringe Anzahl von Blättern
erwerben wollen, der Beitritt vortheilhaft ist.
Aus einer Zeitungsnotiz sehe ich, dass auch die
Firma Fischer &: Franke in Berlin neuerdings Künstler-
Lithographien herausgiebt, und zwar zu noch weit
billigerem Preise. Gesehen habe ich keins ihrer Blätter,
weiss also nicht, ob sie sich für unsern Zweck eignen.
Ob es noch andere ähnliche Unternehmungen
giebt, weiss ich nicht. Von den Genannten habe
ich zufällig Kenntniss bekommen, und glaube getrost
versichern zu können, dass jede Anstaltsdirection, die
es mit ihnen versucht, zufrieden sein wird.
Ein Wort noch über das Ein rahmen. Breit¬
kopf & Plärtel lassen für die Thomablätter Rahmen
in Brandmalerei hcrstcllen. Für Anstalten sind diese
nicht zu empfehlen, weil sic zu theuer sind. Glatte
Ilülzrahrnen, die jede Anstalt in ihrer Schreinerei
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2 4 6
selbst anfertigen kann (bei uns geschieht dies seit
Jahren mit bestem Erfolg) thun denselben Dienst. —
Die vom Kunstwart angebotenen Rahmen zu den
„Meisterbildern“ sind dagegen recht billig und krmnen
also zur Anschaffung wohl in Betracht kommen. —
Endlich bei den Künstler-Steinzeichnungen wird man
[Nr. 21 .
die Anschaffung der Originalrahmenlcisten, welche
ebenfalls recht billig sind, deshalb anrathen müssen,
weil es sich um farbige Bilder handelt, und demnach
der Farbenton des Rahmens passend gewählt sein
muss, was nach unseren Erfahrungen der Verlag mit
gutem Geschmack besorgt.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Vermehrung der Berliner Irrenanstalten.
Im Aufträge der Deputation für die städtische Irren¬
pflege hat der Direktor der Irrenanstalt Herzberge
bei Lichtenberg, Geh. M ed icin al rat h Prof. Dr.
M o e 1 i, einen interessanten Bericht erstattet, in wel¬
chem auf Grund der amtlichen Statistik nachgewiesen
wird, dass die Zahl der von der Stadtgemeinde zu
verpflegenden Geisteskranken in erschreckendem
Maasse zunimmt und dass schon nach wenigen Jahren
die neue dritte Anstalt in Buch sich als ungenügend
herausstcllen wird. Dabei ist auf das Wachsthum
der Stadt, Eingemeindungen etc. keine Rücksicht ge¬
nommen. Die Anstalt Buch bietet 1500 Plätze;
nach ihrer Belegung schon würden noch ca. 7—800
Kranke zu versorgen bleiben. Da etwa 5 — 6 Jahre
zur Fertigstellung einer Irrenanstalt erforderlich sind,
plädirt Geheimrath Dr. M o e 1 i dafür, den Bau einer
vierten Anstalt so schnell wie möglich einzuleiten ; denn
schreite die Zunahme der Geisteskranken nur gleich-
mässig, wie bisher, fort, dann könnten im Jahre 1009,
mit Eröffnung der vierten Anstalt, wahrscheinlich
auch noch nicht alle Patienten in eigenen
Anstalten untergebracht werden. Eine
solche Versorgung wäre aber zweifellos in
jeder Hinsicht dem jetzigen Zustande vorzu¬
ziehen und müsse als Aufgabe der Stadt ins
Auge gefasst werden. Zu erwägen bliebe dabei
noch, ob man mit einer Erweiterung der Anstalt für
Epileptische, „Wuhlgarten“, über die nächsten Jahre
hinaus auskomnien werde. Wäre dies nicht der Fall,
so müsste eine zweite Anstalt für Epileptiker allein
oder eine gemischte Anstalt für Epileptiker und Gei¬
steskranke hergestellt werden. Die Lösung dieser
Vorfragen könne indess nicht bis zum Jahre 1909
verschoben werden: um eine regelmässige und zweck¬
dienliche Entwicklung der Fürsorge für Geisteskranke
zu gewährleisten, müsse man die Besprechung und
Klärung dieser für den Bau der fünften Anstalt wich¬
tigen Verhältnisse eben so schnell zu erledigen suchen,
wie man den Beginn des Neubaues der vierten Anstalt
einzuleitcn gezwungen sei. Voraussichtlich werde man
vor Fertigstellung der vierten Anstalt den Bau der
fünften zu beginnen haben. Nur so könne es ge¬
lingen, die Folgen des Uebelstandcs, dass erst nach
zwölf Jahren (1893 bis 1905) in Folge ungünstiger,
äusserer Verhältnisse die Stadt eine wesentliche Er¬
weiterung in ihrer Fürsorge für Geisteskranke hat er¬
fahren können, auszugleichen. Sein Urtheil fasst Ge¬
heimrath Dr. Moeli dahin zusammen: „Zur Siche-
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rung einer Fortentwicklung der zweckmässigen Für¬
sorge für Geisteskranke ist der Bau einer Herten
Anstalt möglichst bald in Angriff zu nehmen. Bis
zum Jahre 1904 ist eine endgültige Entscheidung
darüber herbeizuführen, ob eine neue, grosse Idioten-
Anstalt erbaut wird und wie sich die Fürsorge für
Epileptische weiter entwickeln soll. Auf Grund dieser
Entscheidung ist alsdann eine Entschliessung bezüg¬
lich des Baues der fünften Anstalt für Geisteskranke
zu treffen.“
— Wien. Behandlung geisteskranker
Häftlinge. Eine an säinmtliche Gerichte und
Staatsanwaltschaften gerichtete Verordnung des Justiz¬
ministeriums stellt zur Beseitigung der zu Tage ge¬
tretenen Unzukömmlichkeiten bei der Behandlung
geisteskranker Häftlinge eine Reihe von Grundsätzen
für das bezügliche Verfahren auf, denen wir Nach¬
stehendes entnehmen: Zunächst hat das Gericht, bei
dem sich der Beschuldigte in Haft befindet, zu erwägen,
ob es die Feststellung des Geisteszustandes vornehmen
kann. Ist dies nicht der Fall, so wird die Ueber-
stellung des einer Geisteskrankheit Verdächtigen an
jenem Gerichtshof zu erfolgen haben, bei welchem
die erforderlichen Bedingungen zur Untersuchung des
Geisteszustandes gegeben sind. Im Verfahren wegen
Verbrechen oder Vergehen wird es nur ausnahmsweise
Vorkommen, dass ein Verhafteter, bei welchem der
Verdacht einer Geisteskrankheit besteht, bei dem Be¬
zirksgerichte, dem er eingeliefert wurde, belassen wird,
denn die Delegirung des Bezirksgerichtes seitens der
Rathskammer wird nur dann erfolgen, wenn Zweck¬
mässigkeitsgründe dafür sprechen. Solche liegen aber
gewiss nicht vor, wenn die Voraussetzungen einer
sachgemässen Geisteszustandserhebung nicht vorhanden
sind. Andererseits giebt die Strafprozessordnung die
Möglichkeit, wenn der dem zuständigen Gerichtshöfe
selbst die Erhebung des Geisteszustandes auf Schwierig¬
keiten stösst, um deren Vornahme einen anderen Ge¬
richtshof zu ersuchen. Zu diesem Behufe wird es
sich empfehlen, die für solche Erhebungen geeigneten
Gerichtshöfe von vornherein zu bezeichnen. Im
Uebertretungsverfahren ermöglichen die einfacheren
Formen dieses Verfahrens, dass in der Regel die
Feststellung des Geisteszustandes bei dem zuständigen
Bezirksgerichte selbst vorgenommen wird. Die Ab¬
gabe an eine Irrenanstalt zum Zwecke der Erhebung
des Geisteszustandes eines Untersuchungsgefangenen
ist nicht vorgesehen. Die bestehenden Irrenanstalten
eignen sich auch nach ihrer ganzen Organisation nicht
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
zur Aufnahme von Gefangenen. Diese Maassregel
wird daher nur dann zulässig erscheinen, wenn gerade¬
zu zwingende Erwägungen, insbesondere die Art der
Geisteskrankheit und die Unmöglichkeit einer zweck¬
entsprechenden Verwahrung und Behandlung im Ge-
fängniss einen anderen Weg verschliesscn. Die Ober-
landesgcrichtspräsidien werden demnach angewiesen,
den Bedürfnissen und Verhältnissen ihres Sprengels
entsprechende Verfügungen im Sinne der entwickelten
Grundsätze zu treffen, insbesondere auch in der
Richtung, dass nach Maassgabe des Bedürfnisses bei
bestimmten Gerichtshöfen auch die sachgemässe Ver¬
wahrung besonders zu behandelnder, wegen Gefährlich¬
keit zu isolirender Geisteskranker möglich wird.
Andererseits wird es Aufgabe der Staatsanwaltschaften
sein, schon bei der Antragstellung auf diese Regelung
Rücksicht zu nehmen. Was den Vorgang an langt,
welcher nach Einstellung des Verfahrens oder Frei¬
sprechung in Folge erwiesener Geisteskrankheit zu
beobachten ist, so obliegt die Anordnung der Abgabe
in eine Irrenanstalt in Folge Gemeingefährlichkeit oder
aus anderen Gründen nicht den Strafgerichten, Sündern
den Verwaltungsbehörden. Es ist daher in solchen
Fällen mit der zuständigen Verwaltungsbehörde (Ge¬
meinde, Magistrat u. s. w.) unter Anschluss einer Ab¬
schrift des Gutachtens das Einvernehmen zu pflegen
und die Ueberstellung der Geisteskranken an diese
Behörde zu veranlassen. Gleichzeitig ist jedoch auch
die zuständige Kuratelsbehörde unter Anschluss der
Acten oder, im Falle diese nicht entbehrt werden
können, einer Abschrift des Gutachtens zu verständigen.
Referate.
— Fr. Scholz. Die verschiedenen Methoden in
der Behandlung Geisteskranker. Eine kritisch-histo¬
rische Skizze. München 1901. Seitz & Schauer.
32 s.
Ein kurzer, anschaulicher, durch die.Mittheilung
eigener Erlebnisse und Erfahrungen belebter Bericht
über die Entwicklung der Irrenheilkunde, in deren
Geschichte Vcrf. 4 Perioden unterscheidet; jede hat
ihren besonderen von der vorhergehenden verschiede¬
nen Charakter, wobei gewisse Bestandtheile als sicherer
Besitzstand durch alle Zeiten bis heute sich erhalten
haben. Diese 4 Perioden sind 1. die Periode des
psychischen Zwangs, die vor allem der dualistischen
Weltanschauung ihr Dasein verdankte; 2. die Periode
des mechanischen Zwangs, bei deren Schilderung
auch die freieren Behandlungsformen (Colonie, Fami-
licnpflege) kurz besprochen werden; 3. die Periode
des chemischen Zwangs, die man auch die Periode
der Isolirungen nennen könnte; und schliesslich 4.
die am ausführlichsten behandelte jetzige Methode
der physikalisch-diätetischen Behandlung.
Ernst Schultze.
— Wehmer, R. Die neuen Medicinalgesetze
Preussens. Unter Berücksic htigung der neuen Reichs¬
gesetze, der neuen von Verwaltungsbehörden erlasse¬
nen Bestimmungen und der gerichtlichen sowie ver¬
waltungsgerichtlichen Judikatur. Berlin 1902. Aug.
Hirschwald. 557 S.
Wer Wcrnich’s „Zusammenstellung der gültigen
Medicinalgesetze Preussens, mit besonderer Rück¬
sicht auf die Reichsgesetzgebung“ oder den „kleinen
Wernich“, wie er vielfach kurz genannt wurde, kennt,
der weiss auc h seine Brauchbarkeit zu schätzen und
wird gewiss ebenso wie Referent bedauert haben,
dass nach der 3. Ausgabe keine neue Auflage mehr
erschienen ist. Dieses Bedürfniss machte sich um so
fühlbarer, als wir über eine geringe Thätigkeit hin¬
sichtlich der Medicinalgesetzgebung in der Zwischen¬
zeit wahrlich nicht zn klagen haben.
Es besteht hier also zweifellos eine Lücke. Diese
füllt V. mit dem zu besprechenden Buche aufs beste
aus. Bei der grossen Verbreitung des Wernich sah
V. von einer vollständig neuen Auflage ab, zumal
man den Einfluss der Medicinalreform im Voraus
nicht zu übersehen vermag. Somit ist V.’s Buch eine
Fortführung von Wernich und setzt diesen in seinem
Gebrauche vielfach voraus. Ob dieser Standpunkt
des V. allgemein gebilligt werden wird, möchte Ref.
einstweilen sehr bezweifeln.
Die Zusammenstellung ist in erster Linie für
den Medicinal - Beamten bestimmt, doch wird sic
auch dem Irrenarzt schätzenswcrthe Dienste leisten,
nicht nur hinsichtlich der rein psychiatrischen Ange¬
legenheiten, sondern auch in anderen Fragen, deren
Erledigung er sich nicht entziehen kann (Verfahren
bei gemeingefährlichen Krankheiten, Atteste, Steuer¬
verhältnisse, Gebühren etc.). Ref. hat wenigstens den
Wernich früher oft, viel und stets mit Erfolg zu Rathe
gezogen; und da die gleiche Eintheilung hier beibehalten
ist, so wird das von Wernich Gesagte auch bei Weh¬
mer zutreffen dürfen. Dafür sprechen auch die bis¬
herigen Erfahrungen des Ref. mit dem zu be¬
sprechenden Buche.
Die Fassung der Anmerkung zu § 649 Z. P. 0 .
würde, um dieses hier zu erwähnen, besser auf den
Wortlaut des B. G. B. Bezug nehmen. Auf Seite 5Ö
hat sich ein sinnentstellender Druckfehler einge¬
schlichen in der Anmerkung des Herausgebers zu
§ 0 B. G. B.; denn es soll doch offenbar heissen, der
Geistesschwache sei nicht in der* Erwerbsfähigkeit,
sondern in der Geschäftsfähigkeit beschränkt. §§ 1333,
1334, 1906 u. A. verdienten wegen ihrer Bedeutung
für den ärztlichen Sachverständigen auch abgedruckt
zu werden, wie denn überhaupt die sicherlich schwer
zu treffende Auswahl etwas zu knapp sein dürfte.
Doch das sind kleine, unwesentliche Ausstellungen,
deren Beseitigung Berücksichtigung verdient. Um so
weniger wird es an Gelegenheit dazu fehlen, als die
Nachfrage nach einem derartiger. Buche wie dem
vorliegenden gross ist und als eine fast bedenklich
zu nennende Schaffensfreudigkeit in der Gesetzgebung
herrscht. Umfasst doch Wehmer mit seinen 557
Seiten nur die Zeit von 1893 bis No\ ember 1901!
enthält doc h die recht brauchbare Zeittafel des gleichen
Zeitraums über 450 Gesetze, Erlasse, Verordnungen
und Erkenntnisse! Da ist es denn auch nicht sonder¬
bar, wenn sc hon zum vorliegenden Buche ein 8 Blätter
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248 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 21.
grosser Nachtrag erscheint, welcher die während der
Drucklegung erlassenen Verordnungen enthält.
Ernst Schultze.
— Panse. Schwindel. Sonderabdruck aus der
Zeitsohr. f. Ohrenheilk. Bd. XL. I. Wiesbaden 1902.
Bergmann. 6b Seiten.
Lcscnswerthe Schrift für jeden, der sich genauer
über das so häufig vorkommende Symptom des
Schwindels orientiren will. Ausgehend von der That-
sachc, dass unser Urthcil über unsere Beziehungen
zum Raum durch 3 verschiedene Sinnesbahnen ge¬
bildet wird (die Augen, das Gleichgewichtsorgan im
Labyrinth des Ohrs, die kinästhetischen Gefühle),
werden ausfiirlich die Anatomie der 3 Bahnen ge¬
schildert , zahlreiche experimentelle Untersuchungen
et wähnt, die Wichtigkeit des Cerebellum betont, die
verschiedenen Arten und die Entstehung des Schwin¬
dels erwähnt, die beiden einzigen, objektiven Zeichen
des Schwindels hervorgehoben, Taumeln und Nystag¬
mus, die c\entucll künstlich hervorgerufen werden
können.
Zum Schluss giebt Vcrf. diagnostische Anhalts¬
punkte in Betreff des Sitzes des Schwindels und
kommt zu dein Ergebnis«, dass ein Reiz eine ge¬
wisse Stärke haben muss, wenn er von einer der 3
Sinnesbahnen aus. zu Schwindel führen soll, dass
schwächere Reize an 2 verschiedenen Sinnesbahnen
sich zu demselben Enderfolge verbinden können und
ferner, dass bei Ausfall zweier Sinnesbahnen schon
die gewohnten Haltungen und Lageveränderungen
hinreichen, um Schwindel auftreten zu lassen.
Arne m a n n, Gross-Schweidnitz.
— Thudichum: Die chemische Konsti¬
tution des Gehirns des Menschen und der
Thiere. Tübingen, F. Pietzcker, 1901. XII und
339 S. 10 Mk.
In dem starken Band steht eine riesige Fülle von
Detailarbeit. Am wichtigsten vielleicht ist in der ein¬
leitenden historisch-kritischen Übersicht der Nachweis,
dass die bisherigen chemischen Untersuchungen der
Hirnmatcrie mit vielen Mängeln behaftet sind. Nach
einer Darstellung der Isolirungsmethode werden die
Phosphatide, dann die N-haltigen und P-freien Edukte,
weiterhin Alkohole, Karbohydrate und Säuren, darauf
die eiweissartigen Stoffe und schliesslich die anor¬
ganischen Bestandteile abgehandelt. Wie weit die
chemische Einzelarbeit zuverlässig ist, entzieht sich
der Beurtheilung des Nichtchemikers; die Fachge¬
nossen des Autors stehen ihm skeptisch gegenüber.
Jedenfalls kann auch nur von den Anfängen eines
Brückenschlagcns zu den psychischen Vorgängen nicht
die Rede sein. Die psychopathol« »gischen Ansc hauungen
des Verfassers sind auch gar nicht dazu angethan; er
spricht z. B. von der Häufigkeit, mit der chronische
Lcberleidcn in Geistesstörungen übergehen, ferner
davon, dass sich Paralyse mit dem „sogenannten
Grössenwahnsinn“ manifestire u. dgl. m. Dringend zu
warnen ist vor der verhängnissvollen Sucht, bei der
Wahl der chemischen Nomenklatur so zu thun, als
ob über die Beziehungen eines der Stoffe zu psychischen
Vorgängen auch nur das Geringste ausgesagt werden
könnte. Geradezu abenteuerlich klingt es, wenn der
Verfasser zu dem früher schon aufgestellten Phrenosin
nun noc h ein Psychosin und Acsthesin hinzu erfindet.
Weygandt - Würzburg.
— Nonne: Syphilis und Nervensystem.
Berlin, 1902. S. Karger. XIV und 458 S.
Trotzdem an monographischen Behandlungen dieses
oder nah verwandter Themata kein Mangel ist, bietet
das Buch doch einen so selbstständigen, werthvollen
Inhalt, dass es von jedem, den eine Detailarbcit auf
jenes Gebiet führt, eingehend zur Hand genommen
werden muss. Zugleich aber ist die Anordnung in
17 Vorlesungen «o glücklich gewählt und die Dar¬
stellung so lebendig, dass auch zur Einführung in jene
wichtigen Fragen kein besserer Wegweiser gefunden
werden kann.
Nac h einer pathologisch-anatomischen Schilderung
werden die Bilder der artcriitischcn Form, der Kon¬
vexitätsmeningitis und der syphilitischen Himbasiser-
krankungen entworfen. Die Erörterungen über Psy¬
chosen und X T eurosen bei Syphilitikern führen zu dem
Schluss, dass es eine spezifisch syphilitische Psychose,
die aus dem klinisch-psychiatrischen Bild allein zu
diagnostiziren wäre, nicht giebt. Vielleicht hätten
die Beziehungen der Paralyse zur Lues zweckmässiger
ihre Besprechung im Anschluss an die Tabes-Syphi-
lislehre gefunden, die in der 13. Vorlesung, nach Ab¬
handlung der Rückenmarkssyphilis, eingehend darge¬
stellt wird. N. bekennt sich zur Lehre von Fournier
und Erb, sieht in der Syphilis das wichtigste ätiolo¬
gische Moment der Tabes, giebt aber zu, dass wir
über Art und Weise des Zusammenhangs nichts
sicheres wissen. Strümpells Theorie eines postsyphi¬
litischen Toxins ist ihm am wahrscheinlichsten, wäh¬
rend er nicht so weit wie Möbius gehen möchte, der
Lues für die Conditio sine qua non der Tabes hält.
Die nächsten Kapitel widmen sich den cerebrospinalen
Formen der Syphilis, der der peripheren Nerven und
der hereditären Syphilis. Die Therapie findet in der
Schlussvorlesung ihre Besprechung. Das ganze Buch
steht unter dem Eindruck reichster Erfahrung des
Verfassers, wofür besonders die trefflichen Kranken¬
geschichtsbeispiele sprechen. Zugleich aber ist die
einschlägige Litteratur mit einer erstaunlichen Voll¬
zähligkeit und Genauigkeit herangezogen. 42 schöne
histologische Abbildungen erläutern den Text. Aus
dieser kurzen Besprechung ergiebt sich die selbstver¬
ständliche Folgerung, dass das Buch bestens empfohlen
werden muss. Weygandt- Würzburg.
Den anliegenden Prospect der Thüringi¬
schen Verlags-Anstalt Eisenach und Leipzig,
über die „ Politisch - An thropol og ische Revue“
halten wir zur Beachtung empfohlen.
Kür den reductioncllen Tlieil verantwortlich: Oberarzt l)r. J . liresler Kraschnitz, (Schlesien).
Kracheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Halle a. S
Hcvnemann’sche Kuchdrucke.ro» (Gebr. WoifT) in Halle a S.
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Gck gle
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Congress-Nummer,
Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice »Seine). Privatdocent, Andernach. Peith (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien|.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : M a r h o I d V e r 1 ag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
~ Nr.~ 227 30. August. 1902.
Die Psy c h i a t ri sch - N cur olo g i sc he Wochenschrift erscheint jed-n Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt F.rmüssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Uberarzt Dr. Job. Bresler, Kraschnitz Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zum Anlwerpener Congress (S. 249). — Die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil-und Pllegeanstalt in Mauer-
Oehling (S. 25t). — Mittheilungen (S. 260). — Referate (S. 264). — Bibliographie (S. 264). — Personalnachrichten (S. 264).
Zum Antwerpener Congress.
nser Gruss gilt heute der
nach Hunderten zählen¬
den Vereinigung von Menschen¬
freunden, welche ein hilfreicher
Sinn und ein edles Ziel zu ge¬
meinsamem Weik in Antwer¬
pen zusammen führt, unsere
Wünsche eben diesem Werke,
das zu den erhabensten, aber
zugleich schwierigsten gehört,
der Arbeit an der kranken
Seele.
Ein erhabenes Werk: Frei¬
lich sehen die meisten Menschen
in der kranken Seele noch immer
nur die Carricatur, und die Ar¬
beit an ihr erscheint ihnen ge-
ringwerthig. Aber es beginnt
schon der Morgen des Tages
zu grauen, an dem die Psychi¬
atrie, die Seelenheilkunde und
die ärztliche Seelsorge, die Krone
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der ärztlichen Wissenschaften
sein und der Seelenarzt da
arbeiten wird, wo heule Mangel
an Verständnis oder metaphy-
sisch-theosophische Trugbilder
den Leidenden von dem rich¬
tigen Weg zur Heilung abhalten,
— der Tag, an dem die Sorge
für das kranke Gehirn, als das
Organ der Seele, eine der ersten
Aufgaben des Staates sein wird.
Ein sch wieriges Werk : Frei¬
lich nicht für diejenigen, welche
sich in der Wissenschaft, gegen¬
über den Irrthümem mit einem
senilen „Ignorabimus“ zu trösten,
in der Praxis, gegenüber Mängeln*
mit einem bequemen Schweigen
Anderen sich bequem zu machen
vorziehen.
Es liegt in der Natur der
seelischen Störungen, dass der
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
250 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Schwerpunkt der praktischen Thätigkeit des Seelen¬
arztes, abgesehen von der Heilung, da zu suchen ist,
wo es sich um die Freiheit des kranken Individuums
handelt, und es ist ein besonderes Verdienst des
Congresses, zur gemeinsamen Durchberathung der
Familienpflege, d. i. einer scheinbar ganz speziellen,
aber dennoch für das ganze Irrenwesen bedeutungs¬
vollen Detailfrage, die berufensten Vertreter der letz¬
teren veranlasst zu haben, und ein besonders glück¬
licher -.Gedanke, dieselben nach einem Lande zu
führen , das uns diesen Zweig der Irrenpflege
am glänzendsten ent¬
wickelt zeigt. Ange¬
sichts der Leistungen
der belgischen Fami¬
lienpflege in Gheel
und Lierneux müssen
die Ausflüchte, durch
die man hier und da,
trotz der Gunst ört¬
licher und socialer
Verhältnisse, der Ein¬
führung diesesSvstems
ausweicht, als recht
thörichte gelten.
Es möge hier dar¬
auf besonders hinge¬
wiesen werden, dass
die Begünstigung
dieses Systems, innerhalb zulässiger Grenzen, dem
eigensten Interesse des irrenärztlichen Standes ent¬
spricht. Je mehr wir die Unterbringung und Ver¬
pflegung der seelisch Kranken nach der freiheitlichen
Seite ausbauen, desto mehr entziehen wir dem immer
wieder auftauchenden Vorurtheil von der Einsperrung
Gesunder ins Irrenhaus den Boden, desto mehr tragen
wir zur Verminderung der „Furcht vor dem Irrenhause“,
d. h. der Furcht vor unserer Arbeitsstätte, bei. Ohne
dass wir es merken, wirkt diese „Furcht“ auf unser
Gemütli wie eine alpartige Depression zurück, unter
der wir schon ganz zu empfinden verlernt haben, welche
Weihe die Arbeit an der kranken Seele
unserem Beruf verleiht,
welch’ heil’ger Schauer
durch die Räume weht,
wo Hunderte und
Tausende des Augen¬
blickes harren, wenn
der Freude schöner
Götterfunke noch ein¬
mal erwärmend und er¬
leuchtend sich in ihrer
Seele niederlasse —
leider so oft vergeblich.
Möchten doch die An¬
stalten bald aufhören,
zur vorzugsweisen Be¬
wahrung trostloser
Seelentrümmer ver¬
dammt zu sein, möchten sie wirkliche Zufluchtsorte
werden nicht nur für die, welche vom Irrsinn befallen,
sondern noch mehr für die, welche von ihm be¬
droht sind, — Asyle, in denen die gesundheitlich
Gheel. Central-Anstalt.
Gefährdeten gegen die genommenen oder erlittenen
Schäden ihrer Seele, d. h. ihres Gehirns und ihrer
Nerven, vertrauensvoll Rath und Schutz des Arztes
suchen. —
Als ein erfreuliches Zeichen betrachten wir die
Theilnahme einer so grossen Reihe bewährter und be-
Gheel. Badehaus in einem kleinen Dorfe.
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1902.]
rühmter Juristen an dem Congress; wir dürfen darin
einen Beweis erblicken, dass unsere Anregungen und
unsere Thätigkeit gerade von denen aufs Beste ge¬
würdigt werden, mit welchen wir unsere Arbeit an
den kranken Seelen so oft gemeinsam verrichten und
auf deren Urtheil wir so grossen Werth legen. —
So wollen wir hoffen, dass der Antwerpener Con¬
gress — der erste seiner Art — für den Fortschritt
der Irrenpflege recht reiche Früchte tragen, dass die
Besucher der Versammlung insbesondere zur Einfüh¬
rung der Familienpflege in ihrem heimathlichenWirkungs¬
kreis lebhaften Antrieb mitnehmen möchten. Aber
für die belgischen Gastgeber wird sicherlich aus den
Diskussionen gleichfalls manches Erspriessliche er¬
wachsen. Es ist bekannt, dass gerade in Belgien
trotz der Höhe seiner Cultur das Anstaltswesen,
der Kern der Irrenfürsorge, — im Gegensatz zu der
wohl organisierten Familien pflege — noch sehr viel
zu wünschen übrig lässt, dass der grösste Theil der
öffentlichen Fürsorge für die Seelenkranken, für
die Epileptischen und Idioten privaten Unterneh¬
mungen überlassen ist und dass es an staatlichen
251
Normalanstalten für Gehimkranke noch sehr
inangelt, d. h. an Anstalten, die unter der verant¬
wortlichen örtlichen Verwaltung und Leitung eines
sachverständigen beamteten Arztes als Directors stehen,
die mit ausreichendem Aerzte- und Pflegepersonal
versehen und in der Lage sind, den Kranken die
Segnungen der Hygiene für Körper und Geist in
ungekürztem Masse zu theil werden zu lassen. Der
Congress wird Gelegenheit bieten, auch nach dieser
Richtung aufklärend und fördernd zu wirken.
Wenn die deutsche, österreichische, schweizerische
und ungarische Irrenpflege, dank der verständnis¬
vollen Directive der Regierungen und Verwaltungen,
sich fast ausnahmslos solcher Normalanstalten,
darunter musterhafter, rühmen darf, so wird man,
falls der nächste Congress in einem dieser Länder
tagt, in der glücklichen Lage sein, das jetzt in Gheel
und Liemeux Gesehene und Gelernte zu vergelten
durch gastfreundschaftliche Mittheilung dessen, was
jene Anstalten Nachahmenswerthes und Vollkomme¬
nes bieten.
Dr. Br es ler.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling.
(Aus der vom n.-ö. Landesausschusse herausgegebenen Festschrift.)
^er beiliegende Lageplan zeigt, liegt die
* * Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil- und Pflege¬
anstalt in Mauer-Oehling an der die Dörfer Oehling
und Mauer mit Ulmerfeld verbindenden Bezirks¬
strasse in der Katastralgemeinde Mauer.
Gerade am Knie dieser Strasse befindet sich der
Haupteingang zur Anstalt; derselbe führt zu dem
D irectionsgebäude
(Object 21), welches rechts und links von dem mit
einer allegorischen Darstellung der Charitas ge¬
schmückten Thorflur die Kanzleien der Direction
und der Verwaltung, das ärztliche Untersuchungs¬
zimmer für ambulatorische Behandlung Auswärtiger,
die Apotheke, das Laboratorium und die Telephon¬
centrale enthält.
Der erste und zw'eitc Stock bergen Wohnungen
für Aerzte und Beamte, während sich im Dachge-
geschosse die weitläufigen Magazine und zu den Woh¬
nungen gehörige Dachbodenräume befinden.
Das Directionsgebäude zeigt, wie alle anderen
Baulichkeiten der Anstalt, modernen Stil und trägt
ein flaches Holzcementdach; dessen Fa<;ade ist theil-
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w'eise in Verputz, theilweise in Rohziegelbau gehalten.
Rechts und links von demselben stehen die
Wohnhäuser für Aerzte
(Objecte 22 und 23), welche die Wohnungen des
Directors und Verwalters, verschiedener Aerzte und
Beamten und die Commissionszimmer enthalten.
Vom Directionsgebäude aus erstreckt sich die
weitere Anlage der Krankenpavillons und Administra¬
tionsgebäude von Westen gegen Osten. Zwischen
den einzelnen, durch breite Kieswege miteinander
verbundenen Baulichkeiten erheben sich hochstämmige
Fichten und Föhrengruppen. Im mächtigen Vierecke
schliessen sich zunächst an das Directionsgebäude
vier langgestreckte
Kranken pavillons
(Objecte 1, 2, 3, 4) für je 100 Kranke, und zw'ar die
nördlichen für Männer, die südlichen für Frauen (wie
bei allen folgenden Krankenhäusern).
Diese dienen — und hier beginnt die Individuali-
sirung — zur Unterbringung von streng zu über¬
wachenden Geisteskranken. Sie verfügen über voll¬
kommen ausbruchsichere Localitäten mit eingelassenen
Eisenrahmenfenstern und über Einzelzimmer mit
Original frnm
HARVARD UNIVERSfTY
252 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Fenstern aus fast unzerbrechlichem Glase, da sie den gestellten Waschmulden für die Patienten befinden,
ersten Aufenthaltsort der eintreffenden Kranken bilden vier Einzelzimmer und die Aborte. Für je zwei Ab-
und demgemäss eine scharfe Ueberwachung und theilungen sind zwischen denselben zum gemeinschaft¬
sichere Verwahrung verbürgen müssen. Jeder dieser liehen Gebrauche eingebaut: ein Badezimmer, Spül-
Pavillons gliedert sich in vier Abtheilungen (zwei im ktiche, Putzraum und Pflegerzimmer.
Erdgeschoss und zwei im ersten Stock), deren jede An den beiden Seitenfronten dieser Pavillons
Unterkunftsräume für 25 Kranke enthält, und zwar führt je eine der Benützung der Pfleglinge streng ent¬
einen Tagraum, zwei Schlafzimmer, einen Wachsaal, zogene Thüre ins Freie; diese Thüren haben den
einen Schallgang, in dem sich die aus Terrazzo her- Zweck, den Eintritt neuer Pfleglinge und das Abtragen
Wirtschaftshof
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rOäranlafl» l X
Slfc*
§> 10m
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k Hofv.'p'
Pfleyerdorf
LAGEPLAN
der Kaiser Franz Joseph
Landes-Heil-u. Pflegeanstalt
in Mauep-Öhling.
v 1:7500.
Erklärung: 1 bis 16 Krankenhäuser (mit ungeraden Nummern für Männer, mit geraden Nummern für Frauen), und zwar:
I» 2, 3, 4 für je 100 streng zu überwachende Geisteskranke; 5 und 6 für je 50 theilweise zu überwachende Geisteskranke;
7 und 8 für je 50 theilweise zu überwachende Geisteskranke besserer Stände; 9 bis 16 für je 50 beschäftigungsfähige Geistes¬
kranke (Colonie). — 17 Wirthschaftshof: am Urlweg das Wohnhaus, davon nördlich das Gebäude für Rinder- und Pferde¬
stallungen, Remisen, Schlächterei, Wursterei und Molkerei; davon südlich das Gebäude für die Schweinestallungen und östlich
Brückenwage, Hühnerstall und Wagenschuppen. — 18 Infectionskrankenhaus mit zugehöriger Desinfectionssenkgrube 18 a. —
19 Lazareth. — 20 Leichenhaus und Anstaltsfriedhof. — 21 Dircctionsgebäude: im Erdgeschoss Amtsräume, in den anderen
Geschossen Wohnungen und Magazine. — 22, 23 Wohnhäuser für Aerzte und Beamte. — 24 Kapelle und Gesellschaftshaus.
— 25 Wohnhaus der Ordensschwestern. — 26 Küche, Wäscherei, Bäckerei etc. — 27 Eishaus und Fleischausgabe. — 28 Kessel¬
haus, Desinfectionsanlage und Bäder. — 29 Werkstättenhaus. — 30 Kläranlage zur Reinigung der Fäcal- und Abwässer. —
31 Kohlenhof. — 32 Frachtenmagazin. — 33 Wohnhaus des Gärtners. — 34 Gewächshaus. — 35 k. k. Post- und Telegraphen¬
amt. — 36 Waschhaus für die Anstaltsfunctionäre. — 37, 38, 39, 40 Pflegerhäuser.
□ igitized fr.
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
253
der Verstorbenen ohne Kenntniss der Patienten zu
ermöglichen.
Ausser diesen Ubicationen enthält das erste Stock¬
werk dieser Pavillons ein Aerztezimmer und eine
Telephonkammer; in den Mansarden sind Wohn-
räume für die Tractpfleger-Ehepaare, Erholungsräume
(zugleich Schulzimmer) für das Pflegepersonal und
Depots untergebracht.
Um selbst diesen zu überwachenden Geisteskranken
den Aufenthalt im Freien zu gestatten, führen Thüren
aus den Erdgeschossen über Veranden in Gärten,
welche durch unübersteigbare, kaum das Anstalts¬
terrain überragende, in einem sanft geböschten Graben
stehende Mauern abgeschlossen sind. Die Mauern
sind derart angelegt, dass dieselben den Ausblick der
Kranken nicht im Geringsten beirren und vom gröss¬
ten Theil derselben kaum als Entweichungshinder¬
nisse zu erkennen sind. Aber auch in den ersten
Stockwerken dieser Pavillons sind die Tagräume der
Abtheilungen mit Veranden verbunden, deren feines,
jedoch starkes Gittergeflecht den Patienten selbst in
Stockhöhe ein sicheres Verweilen gestattet.
Sämmtliche Räume dieser, wie aller anderen Pa¬
villons erhielten an den Wänden einen ungefähr
1,5 m hohen, hellgrünen Emailanstrich, welcher gegen
den Plafond hin mit breiten, lichte Blumenmalerei
zeigenden Bändern abschliesst; die Übrigen Theile
der Wände sind, so wie die Plafonds, hell gefärbt.
In den Pavillons 1 und 2 ist je eine Abtheilung
für Pensionäre bestimmt und mit Brettelböden belegt,
während die übrigen Abtheilungen, ebenso wie alle
anderen Ubicationen der Anstalt mit Ausnahme der
Pensionärpavillons leicht zu reinigende, weil waschbare
Terrazzoböden zeigen.
Die Pavillons 3 und 4 sind hauptsächlich für
Epileptiker eingerichtet und weichen im Interesse der
Kranken von der Alltäglichkeit dadurch ab, dass von
ihren Erdgeschossen in die ersten Stockwerke nicht
Stiegen, sondern mit Linoleumteppichen belegte und
zu beiden Seiten mit glatten Geländern versehene
Steigebenen führen, eine Einrichtung, durch welche
die Folgen eines Sturzes der Kranken bei plötzlich
auftretenden Krampfanfällen erheblich vermindert
werden. Die Einrichtung dieses Pavillons ist gleich¬
falls im modernen Stile ausgeführt, der Anstrich ist
in den Pavillons 1 und 2 grün Eiche, Pavillon 3 und
4 matt Nuss.
Die Einrichtung ist durchaus keine rohe oder purita-
risch einfache; sie nimmt hauptsächlich darauf Bedacht,
den eigentlichen Zweck dieser Räume für deren Bewoh¬
ner vergessen zu machen und auf letztere einen freund¬
lichen und beruhigenden Eindruck hervorzubringen.
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Es finden sich in den Pavillons demnach nicht nur die
nothwendigen Gebrauchsmöbel, wie Bänke, Speisetische,
Kastentische und Medikamentenkästen (in den Wach¬
sälen) und nächst den Vollbetten auch niedere, nach
englischen Vorbildern hergestellte Epileptikerbetten (auf
Pavillon 3 und 4), sondern auch Zier- und Blumentische,
Decorationsdivans, Zierkästen, Spiel- und Schreibtische,
Fauteuils, Credenzen, Ottomanen, Trumeaux, Bücher¬
kästen und Blumenständer vertheilt vor, während die
Wände mit Spiegeln und Bildern geschmückt sind.
Ausserdem gehören zum Inventar der Pavillons auch
Billards, Claviere, Domino-, Schach-, Damen- und
sonstige Gesellschaftsspiele.
Teppiche aus Cocosfaser oder Linoleum laufen
über die Terrazzo- oder Brettelböden und Vorhänge,
in deren Stoffe Blumenmuster gewebt sind, verhüllen
zum Theile die hohen Fenster, um das allzu grelle
Licht abzuhalten.
Im Keller eines jeden dieser vier Hauptpavillons
befinden sich die Kessel und Heizkammem der Dampf¬
niederdruck-Centralheizung, von welcher aus jeder Raum
des Pavillons nach Bedarf zu erwärmen ist. Da die
Bedienung zweier Kesselanlagen aus Ersparungsrück¬
sichten ein Heizer zu besorgen hat, sind je zwei dieser
Pavillons durch einen unterirdischen Gang verbunden,
in dessen Mitte eine Kohleneinwurfsöffnung angebracht ist.
Endlich enthält ein jeder Keller nächst Kohlen- und
anderen Depots auch einen Raum zur Aufbewahrung
der gebrauchten Wäsche, welche durch Schläuche von
den Abtheilungen direct in denselben befördert wird.
An diese vier Krankenhäuser für je 100 Kranke
reihen sich gegen Osten vier sogenannte
Zwischenpavillons
(die Objecte 5, 6, 7, 8) mit einem Belegraume für je
50 Betten, u. zw. wieder die zwei nördlich gelegenen
für Männer, die zwei südlich gelegenen für Frauen.
Hat sich nämlich nach angemessener Beobachtung
in einem der Hauptpavillons erwiesen, dass ein Kranker
der ganz strengen Verwahrung nicht bedarf, so ge¬
langt er sozusagen aus dem Behandlungsstadium der
Aufsicht in jenes der Vorsicht, d. h. er wird aus einem
Haupt- in einen Zwischenpavillon übersetzt. Diese
letzteren, in Stil und abwechslungsreicher Einrichtung
den Hauptpavillons gleich, zeigen bereits offene nur
mit Drahtgeflecht und Hecken umzäunte Gärten, aber
noch vergitterte Veranden im ersten Stockwerke. Die
Thüren, Fenster, Verschalungen und Möbel der Pa¬
villons 5 und 6 sind erbsengrün mit rosa Zierstrich, die
der Pavillons 7 und 8 eichengrün gestrichen; ausser¬
dem die zwei letzteren als Pensionärpavillon einge¬
richtet und demgemäss reicher ausgestattet. Die Dampf-
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254 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
niederdruck-Centralheizung ist liier ebenso angelegt
wie bei den Pavillons 1 bis 4.
Die innere bauliche Anlage dieser Zwischenpavillons
ist, von der der Hauptkrankenhäuser abweichend, eine
unter sich völlig congruente. Links vom Eingänge be¬
findet sich in jedem derselben der Baderaum; ein breiter
Gang, in dem die Terrazzo-Waschmulden für die Pfleg¬
linge angebracht sind, durchquert das ganze Erdgeschoss.
In diesen Gang münden der Putzraum, die Spülküche,
und ein kleiner Tagraum, welcher in einen grösseren
führt. An diesen reihen sich zwei kleinere und ein
grösseres Schlafzimmer, der Wachsaal, ein Pflegerzimmer,
ein Raum für Schmutz Wäsche und zwei Separations¬
zimmer, deren Vorhandensein auch in diesen Pavillons
noch in Betracht gezogen werden muss. Von den
Tagräumen gelangt der Kranke direct in den Garten.
Das erste Stockwerk ist in dieselben Räume ge¬
gliedert wie das Erdgeschoss. Der zweite Stock der
Mittelbauten enthält je eine Tractpflegerwohnung und
Depots.
Wird der Geisteskranke in diesen Zwischenpavillons
auch noch ernst überwacht, so ist seiner Freiheit doch
bereits ein grösserer Spielraum gewährt, der sich nament¬
lich in der Zuweisung verschiedener Beschäftigungen
innerhalb der Pavillons und in Spaziergängen im Freien
unter Aufsicht des Pflegepersonales, äussert Der Kranke,
welcher sich auch bei dieser Behandlungsart bewährt
hat, wird nun in die
C o 1 o n i e
übersetzt. Diese, welche aus zwei je im Geviert sowohl
auf der Nord- wie auf der Südseite an die Zwischen¬
pavillons gereihten Gruppen (nämlich den Objecten 9,11,
13, 15 für Männer und 10, 12, 14, 16 für Frauen)
besteht, zeigt einfache Landhäuser, in welchen das aus
Engländ gekommene „open door“-System, d. h. das
System der offenen Thüren, seine volle Anwendung
findet. Fenster und Thüren entbehren jeder Ver¬
sicherung, sie stehen offen, so dass dem Kranken hier
die Freiheit in fast vollem Ausmasse gewährt wird.
Was zunächst die (auch für diese acht Häuser
unter sich vollständig gleiche) bauliche Anlage dieser
Coloniepavillons anbelangt, so weicht dieselbe von
allen früheren dadurch ab, dass in dem Erdgeschosse
eines solchen Pavillons (ausser dem Vorraum, der
Spülküche, dem Putzraum, zwei Zimmern, dem Depot
und den Aborten) nur die drei Tagräume, im ersten
Stockwerke (ausser dem Vorraum, Depot, Bad und
Aborten) nur die vier Schlafsäle untergebracht,
also Wach- und Schlafräume vollständig getrennt sind.
Nächst den aufgezählten Gebrauchsräumen sind an
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den beiden Längsseiten eines jeden Pavillons Veranden
angebracht.
Der Anstrich der Thüren, Fensterverschalungen
und Möbel ist für die Pavillons 9 und 15 licht Fichte
(amerikanisch Nuss), für 10 und 13, welche als
Pensionärpavillons eingerichtet sind, grün Eiche, für
14 und 15, deren Einrichtungsstücke im Gegensätze
zu jenen aller anderen Bauernstil aufweisen, roth
Nuss und für 11 und 12 erbsengrün mit rosa Zier¬
strich ; das Meublement gleicht in seiner Abwechslung
dem der früher erwähnten Pavillons, nur werden in
der Colonie Stabbetten an Stelle der Vollbetten ver¬
wendet. Wie erwähnt, veiräth nichts in der Colonie
deren Bestimmung als Krankenasyl; im Gegentheile
wird der Colonist als der Arbeiter der Anstalt be¬
trachtet und behandelt.
Da die Arbeit eines der wichtigsten Heilmittel des
kranken Seelenlebens bildet, kommt die Anstalt einer
Hauptpflicht nach, wenn sie für abwechslungsreiche,
zerstreuende und ununterbrochene Beschäftigung der
in der Colonie untergebrachten Pfleglinge sorgt, um¬
somehr, als die letztere das Uebeigangsstadium zur
Familienpflege bildet, durch welche der Kranke der
eigentlichen Anstaltspflege entwachsen soll. Uebrigens
ist jeder Zwang zur Arbeit ausgeschlossen; wohl aber
verlangt der weitaus grösste Theil der hier unterge¬
brachten Kranken, angeregt durch das Beispiel anderer,
durch liebevolles Zureden und durch jenen Schaffens¬
drang, der selbst die kranke Seele nicht ganz ver¬
lässt, freiwillig nach Arbeit. Und diese findet er in
der Colonie in Hülle und Fülle. Je nach dem Grade
seiner Fähigkeit und der Bestimmung des Directors
hilft der Pflegling beim Ordnen und Abräumen der
Betten, beim Wechseln der Bettwäsche, bei der Ab¬
gabe der gebrauchten Wäsche in die Dampf Wäscherei,
bei Uebemahme der gereinigten und der Wäsche¬
reinigung selbst. Er nimmt theil an dem Ueberführen
der Speisen von der Küche auf die Abtheilungen, an
der Reinigung der Geschirre, Bestecke, der Kleidung,
der Zimmer, der Gänge und Wege und lässt sich zu
den verschiedensten Handarbeiten in der Küche (Ge¬
müseputzen, Trankverführen, Auskehren, Aufräumen,
Abw'aschen u. s. w.) verwenden; er greift thätig ein bei
der Anlage von Strassen und bei der Instandhaltung
des Waldes, sammelt Bruchholz, karrt dasselbe zu den
Lagerplätzen, zerfällt und schlichtet es mit grosser Ge¬
wissenhaftigkeit. Er arbeitet bei der Blumenzucht,
den Humusgruben, im Treibhause, beim Gemüsebau
und bei der Feldwirtschaft, in der Bäckerei, Wursterei,
Fleischerei und Meierei der Anstalt; er füttert Pferde,
Ochsen, Kühe, Schw ? eine und Hühner und hält deren
Ställe in Ordnung. Er ist endlich in den verschiedenen
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 255
Werkstätten thätig, in den Nähstuben, der Schneiderei,
Schusterei, Druckerei, Korbflechterei und Buchbinderei,
Spenglerei, Tischlerei, Schlosserei, bei den Maurern,
Zimmerleuten, Schmieden, Anstreichern, den Laubsäge¬
arbeiten, ja selbst bei den Maschinen — kurz er ist
wieder ein schaffendes Mitglied der menschlichen Ge¬
sellschaft, ein, wenn auch winziges Rädchen in der
ungeheuren Maschine des Staatsgetriebes geworden,
und dieses Gefühl schafft ihm Freude und Lust an
Arbeit und Dasein und glimmt in ihm den erloschen
gewesenen Funken des Begriffes der Menschenwürde
und des Menschenrechtes — also klaren Selbstbewusst¬
seins von neuem an.
Geeignete Pfleglinge erhalten übrigens nach der
Bestimmung des Directors auch Unterricht in den
verschiedenen Fächern, durch dessen Erfolg ihnen
später eine selbständige Stellung gesichert werden soll.
Wie sich von selbst versteht, ist der Geisteskranke
bei seiner Beschäftigung keine Secunde ohne Aufsicht.
Genau individualisirend weist ihm der Director die
Art der Arbeit zu, und ununterbrochen wacht das
sorgsame Auge des diensthabenden Arztes und die
durch strenge Vorschriften geschärfte Aufmerksamkeit
des Pflegepersonales allüberall über seine und seiner
Umgebung Sicherheit.
Eine specielle tarifmässige Entlohnung der Arbeits¬
leistung findet nicht statt, da die Beschäftigung eben
nur als Mittel zum Zwecke der Heilung gilt; doch
bewerthet und bezahlt die Anstalt jede Ar¬
beitsleistung eines Pfleglings, und werden die er¬
mittelten Beträge über Anweisung des Directors in
eine besondere Kranken-Verdienstkasse hinterlegt,
welche zur Anschaffung eigener Kleider für den Pfleg¬
ling, zur Bestreitung von Ausflügen und anderen be¬
sonderen Zerstreuungen desselben, zur Unterstützung
seiner hilfsbedürftigen Verwandten und last not least
zur Verabfolgung an ihn selbst als Viaticum bei seiner
Entlassung nach erfolgter Heilung vom Director in
Anspruch genommen werden kann. Als Belohnung
für geleistete Arbeit wird auch Tabak verschrieben.
Im Interesse der Gesundheit der Pfleglinge findet die
Morgenvisite statt, bevor dieselben an ihre Beschäf¬
tigung gehen.
Wie bei den Pfleglingen in den anderen Kranken¬
häusern, verlangt die Hausordnung namentlich in der
Colonie strenge Reinlichkeit und Körperpflege. Zu
diesem Zwecke sind Waschtuch, Kamm, Zahn- und
Kopfbürsten, Seife und Seifengeist jedem einzelnen
Pflegling von der Anstalt beigestellt. Der arbeitende
Kranke ist verhalten, vor der Nachtruhe ein Fuss-
oder Vollbad zu nehmen, seine Arbeitskleider an den
in den Bädern angebrachten Kleiderrechen zu ver-
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wahren und dort seine Nachtwäsche anzulegen; erst
dann darf er sich in die Schlafräume begeben und
sein Bett aufsuchen. Alle Patienten verlassen im
Sommer um 5, im Winter um 6 Uhr früh das Ruhe¬
lager, wenn der Arzt nicht eine andere Verfügung
trifft. Sommer- und Winterkleider, bei deren Stoff
und Schnitt jede Spitalmässigkeit vermieden erscheint,
wechseln die Colonisten ebenso wie alle übrigen Pfleg¬
linge nach der Forderung der Witterung über An¬
ordnung des Directors. Die Kleidung der arbeitenden
Kranken nimmt zuvörderst auf den Schutz der Ge¬
sundheit derselben Rücksicht und ist auch der Art
der Arbeit genau angepasst. Der Wechsel der Leib¬
wäsche der Patienten findet der Reinlichkeit ent¬
sprechend möglichst häufig statt und steht unter be¬
ständiger Controlle.
Der Gang, welchen der Geisteskranke bisher ge¬
nommen, entspricht der Bestimmung der Anstalt als
Heilanstalt. Vorerst die Sicherung des Patienten und
seiner Umgebung durch strenge Verwahrung in den
Pavillons 1 bis 4, dann die Beobachtung desselben
im Vorsichtsstadium der Zwischenpavillons 5 bis 8,
hernach dessen nahezu freie Behandlung in der Co¬
lonie; die freie Verpflegsform der letzteren erfährt
übrigens noch eine Steigerung in der Unterkunft des
Kranken im Pflegerdorfe und endlich in dem Auf¬
enthalte desselben bei Privatparteien, welche Verpflegs-
arten später besprochen werden, da sie ausserhalb
der Anstalt erfolgen.
Auf dem die nördlichen und südlichen Pavillon¬
reihen trennenden Mittelweg der Anstalt liegt un¬
gefähr in der Mitte zwischen Directions- und Küchen¬
gebäude
die Kapelle und das Gesellschafts haus
(Object 24). Ueber dem mit gemaltem Glase ver¬
kleideten Portale dieses im modernen Stil gehaltenen
Gebäudes ist ein Phantasiekopf mit Flügeln und
Blumen als allegorische Darstellung der menschlichen
Sinne gemeisselt, welcher von den Initialen F J I, an
deren Seiten sich die Jahreszahlen 1848—1898 reihen,
und der Kaiserkrone überragt wird.
Im Vorflur blickt dem Eintretenden die Büste
unseres Kaisers entgegen. Zu beiden Seiten des
Vorflurs sind Garderoben für Männer und Frauen
angebracht. Derselbe führt in den 240 m 2 grossen
Gesellschaftssaal, dessen Decke reiche Gypsstuckarbeit
aufweist. Dieser Gesellschaftssaal ist mit den ent¬
sprechenden Einrichtungen für eine Bühne, deren
Bestandtheile in einer Versenkung untergebracht sind,
ausgestattet; rechts und links liegen Nebenräume, die
Restaurationszwecken dienen.
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HARVARD UNIVERSITY .
256 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Der Saal ist durch eine Rollbalkenwand von der
anstossenden Kapelle getrennt. Bei grossem Gottes¬
dienst wird diese Wand entfernt, so dass Saal und
Kapelle bei solchen Anlässen einen Raum bilden.
Die Kapelle, von einem schlanken Thürmchen
überragt, enthält ein Altargemälde von Hans Tichy,
darstellend die Heiligen Franciscus Xav. und Josephus
zu beiden Seiten der Mutter Gottes, welcher die
heilige Elisabeth Rosen streut und der heilige Leopold
mit der Kirche huldigt. Die Anstaltskapelle steht
jedem Pfleglinge, welcher den Drang in sich fühlt,
religiöse Bedürfnisse zu befriedigen, zu jeder Zeit
offen. Der Gesellschaftssaal aber vereinigt in Anbe¬
tracht der Thatsache, dass Zerstreuung und Ablenkung
den Process der Heilung der Kranken in günstigster
Weise beeinflussen, letztere möglichst häufig zu Con-
certen, Tanzunterhaltungen, Theatervorstellungen, Pro-
ductionen von Taschenspielern etc.; bei solchen Ge¬
legenheiten wird die gewöhnliche Schlafstunde (9 Uhr)
auf 11 Uhr, nachts verschoben.
Aber auch sonst stehen dem Pfleglinge, dessen
Thätigkeitsdrang noch nicht erwacht ist oder dessen
Zustand ihm momentan die Lust zur Arbeit ver¬
leidet, Zerstreuungen in reicher Auswahl zu Gebote.
Es bleibt ihm, vorausgesetzt, dass der Grad seiner
Erkrankung dies gestattet, unbenommen, sich auf den
speciell hiezu angelegten Kegelbahnen, Lawn-tennis-
oder Turnplätzen zu vergnügen, in den mit reichen
Blumenanlagen geschmückten, um die PaviHons ge¬
legenen Gärten oder in dem 50 ha grossen Anstalts¬
walde zu ergehen, aus der reichhaltigen Anstalts¬
bibliothek, im Billard-, Schach-, Damen-, Domino-
und sonstigen Gesellschaftsspielen oder in der Be¬
nützung der verschiedenartigsten ihm zur Verfügung
stehenden Musikinstrumente, die er beherrscht, Zer¬
streuung zu suchen oder die Besuche seiner Ver¬
wandten und Freunde zu empfangen, denen kein
Hinderniss in den Weg gelegt wird, wenn sie nicht
auf den Besuchten selbst nachtheilig wirken.
Dem Zwecke der Anstalt entsprechend wurde
besondere Sorgfalt dem Baue und der Ausstattung
der
Küche und Wäscherei
(Object 26) zugewendet Diese beiden Wirthschafts-
ubicationen sind in einem Gebäude vereinigt, »welches
am östlichen Ende des Mittelweges der Anstalt ge¬
legen ist.
Die Küche, in welcher die Kost für ca. 1250
Personen gekocht wird, ist durchgreifend ventilirt, für
Dampf- und elektrischen Betrieb eingerichtet und
durch seitliche Hochfenster beleuchtet Der eigent¬
liche Kochraum enthält sechs grosse Wasserbad-
Di gitized by Google
Kochkessel ä 300 1 , drei kleinere ä 150 1 , zwei
grosse Maschinen-Küchenherde, einen kleineren und
einen Kaffeekocher, einen Kartoffeldämpfer und zwei
Wärmeschränke. Alle Kochgefässe bestehen aus rei¬
nem Nickelmetall.
In dem anstossenden, für die Mehlspeiseherstellung
bestimmten Raume sind verschiedene Kochhilfsma¬
schinen aufgestellt, welche gleichfalls elektrisch be¬
trieben werden.
Als Neben räume der Küche schliessen sich letz¬
terer im Erdgeschosse an: ein Handmagazin, ein
Raum für Fleischabgabe mit Fleischaufzug, der mit
der Eisgrube verbunden ist, ein Gemüseputzraum,
welcher grosse Betonbottiche enthält, je ein Vorraum
links und rechts zur Speisenabgabe an Männer und
Frauen und ein Raum zur Abgabe von Sodawasser,
die drei letzteren mit nach aussen führenden Schal¬
tern; ferner ein Speise- und ein Schlafzimmer für
weibliche, ein Speisezimmer für männliche Dienst¬
boten, eine Kanzlei für den Regiebeamten, zwei Re-
fectorien für die Functionäre der Anstalt und Lage¬
rungsräume. Im Kellergeschosse des Küchengebäudes
ist eine vollständig maschinell eingerichtete Bäckerei,
deren Backofen auch zwei grössere von der Koch¬
küche benützbare Bratröhre enthält, eine Teigwaaren-
bereitungs- und eine Sodawasser-Erzeugungsanlage ein¬
gestellt.
Die Miichwirthschaft, Bäckerei, Fleischerei, Wurste¬
rei, der Feldbau und der Gartenbetrieb der Anstalt
versorgen die Küche mit unverdorbenen, unver¬
fälschten und stets frischen Rohproducten und Victu-
alien.
Wenn die Speisestunde schlägt (je nach Sommer
oder Winter zum Frühstück um ] / 2 7 oder 7 Uhr,
zum zweiten Frühstück um 1 / a 10 Uhr, zum Mittag¬
mahl um 12 Uhr, zur Jause um 4 oder y 2 5 Uhr,
zum Nachtmahl um 1 j 2 7 oder 7 Uhr abends), werden
die Speisen, nachdem sie vorher der Beköstigungs¬
prüfung durch den Joiynalarzt und Joumalbeamten-
unterzogen wurden, in der Küche von den Tract-
pflegern der Abtheilungen in den voigeschriebenen,
wärmehaltenden Geschirren auf die Speisewagen ver¬
laden, auf den Rollgeleisen durch die Anstalt geführt
und an den einzelnen Pavillons dem bereits warten¬
den Pflegepersonale übergeben. In den Speisezimmern
sind die Tische gedeckt. Der Tractpfleger nimmt die
Vertheilung vor, und das Pflegepersonal verkleinert,
wenn nöthig, die Speisen den Pfleglingen namentlich
dort, wo Messer und Gabel nicht zulässig sind, und
reicht auch jenen Patienten die Mahlzeit, welche
nicht ohne Hülfe zu essen vermögen. Zur Vermin¬
derung der Gefahr für unvorsichtige oder unbeholfene
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HARVARD UNiVERSITY
Die Kaiser Franz Joseph=Landes=Heil» und Pflegeanst
11 ,n flauer« Oehling.
gl&n g überwachungsbedürftige Kranke.
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igo2.j PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Pfleglinge werden neue Typen von Essbestecken,
und zwar Messer mit abgerundeter, nur am äusser-
sten Ende geschliffener Schneide und Gabeln mit
sehr kurzen, stumpfen Zinken verwendet.
Der Genuss geistiger Getränk e ist für
jeden Pflegling ausnahmslos streng ver¬
pönt, wenn dieselben nicht als Arznei verschrieben
w r erden.
Den rechten Flügel des Küchengebäudes nimmt
die Wäscherei ein. Die von den Tractpflegem
abgegebenen, gebrauchten Wäschestücke gelangen zu¬
nächst in den vollständig terrazzirten Sonderungsraum,
von diesem in die mit mächtigen Betonbehältern ver¬
sehenen Einweicheräume, hernach in den eigentlichen
mit den modernsten maschinellen Einrichtungen, elek¬
trischem und Dampfbetrieb ausgestatteten Waschraum
und werden hier mit Hilfe der Wasch trommeln,
Schwemmbottiche und Wäscheschleudern der vorge¬
schriebenen Behandlung unterzogen. Die gereinigte
Wäsche wird mittels Aufzuges in die das erste Stock¬
werk des Mittelbaues umfassenden Trockenräume be¬
fördert, in denen die Trocknung mittels Dampfheizung
erfolgt, während zwei mächtige Propeller für eine
lebhafte Luftabsaugung sorgen. Die trockene Wäsche
wird hernach in die Roll- und Plättekammem, auf
die Maschinrolle, bezw. Dampfmange und sodann zur
Sortirung in die Nähstube gebracht Dort werden
die nothwendigen Ausbesserungen vorgenommen, wo¬
rauf nun die wieder gebrauchsfähigen Wäschestücke
in den hiezu bestimmten Wagen am Rollgeleise der
Anstalt in die Pavillons überführt werden. Die meisten
Arbeiten in Küche und Wäscherei werden durch
Pfleglinge besorgt.
In Verbindung mit der Anstaltsküche steht das
Eishaus
(Object 27), welches, aus Beton in den Erdboden ein¬
gebaut und mit Korkplatten isoliert, einen Fassungs¬
raum von 400 m 8 , zwei Kühlräume und einen eben¬
erdig über dasselbe aufgeführten Fleischausgaberaum
enthält. In demselben sind 80 Waggon Eis eingelagert
Die Aufsicht über alle Küchen- und alle Wasch¬
arbeiten wird durch Schwestern vom „heiligen Kreuze“
besorgt, welche im
Wohnhaus e der Ordenssch Western
(Object 25) ihre Unterkunft finden. Ein Relief über
der Eingangsthür, darstellend die heilige Elisabeth als
Schutzpatronin der Mildthätigkeit, zeigt die Gesichts¬
züge weiland Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth
von Oesterreich.
Das Haus selbst umfasst im Souterrain Wasch¬
küche und Bad, im Erdgeschoss die Küche, das Re-
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fectorium, ein Bet-, ein Fremden-, ein Krankenzimmer
und die Aborte und im ersten Stockwerke fünf Schlaf¬
räume für die Ordensschwestern, einen Depotraum
und eine Veranda. Die Malerei der einzelnen Räume
ist im modernen Stil gehalten.
Unmittelbar hinter dem Küchengebäude und schon
vom Anstaltswalde umgeben, erhebt sich das
Dampf k esse 1h aus
(Object 28). In diesem befinden sich im Erdgeschosse
drei Flammenrohrkessel mit je 40 m 2 Heizfläche,
welche die nothwendigen Mengen von Warmwasser
und Dampf für Wäscherei, Anstaltsküche, Trocken¬
räume und Bad zu erzeugen haben; ferner das Central¬
bad mit einem Schwimmbade und Cabinenbädem
(zur Benützung für die Aerzte, Beamten, Diener, das
Pflegepersonal und die in Familienpflege untergebrach¬
ten Patienten); die in den Pavillons verpflegten
Kranken nehmen ihre Körperreinigung in den Bade¬
anlagen der Pavillons selbst vor.
Zwei Professionistenwohnungen im ersten Stock¬
werke und die zur Speisung der Bäder nothwendigen
Wasserbehälter im Dachgeschosse ergänzen die Bau¬
anlage dieses für den Anstaltsbetrieb sehr wichtigen
Objectes. In einen Nebenraum des * Kesselhauses
mündet ein 20 m tiefer Brunnen V09 5 m Durchmesser
zur Beschaffung des Nutzwassers.
Anstossend an das Kesselhaus ist östlich die
Desinfectionsanlage
angeordnet, welche aus der Eingabe für die zu des-
inficierenden Gegenstände, aus der Ausgabe für die
desinfizierten Gegenstände und aus einem Badezimmer
für den hier beschäftigten Diener besteht.
Die Anlage der Trink Wasserleitung für die Anstalt
wurde in der Darstellung der Bauführung des näheren
erörtert
Nördlich vom Maschinenhaus, am sogenannten
Uri weg, liegt das
Werk Stätten haus
(Object 29), ein langgestrecktes Gebäude, das von
einem in der Mitte durch eine kleine Rotunde unter¬
brochenen Kreuzgang durchquert ist, in welchen die
Thüren von 8 grossen Arbeitssälen münden. In
diesen sind hauptsächlich zum Zwecke der Beschäfti¬
gung der Geisteskranken, sei es, dass dieselben einen
erlernten Beruf weiter üben, sei es, dass sie einen
neuen erlernen wollen, verschiedene Werkstätten ein¬
gerichtet, und zwar: eine Laubsägerei, Buchbinderei,
Matten- und Korbflechterei, Schneiderei, Schusterei,
Druckerei, Anstreicherei und Tischlerei. Im Stock¬
werke dieses Gebäude befinden sich die Wohnungen
für die Werkführer.
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
25» PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Der in nördlicher Richtung vom Werkstättenhaus
gelegene
Wirth scha f tsh of
(Object 17 — 17 e) besteht aus:
1. einem Wohnhaus; dieses enthält in seinem
Erdgeschosse ein Badezimmer, ein Speisezimmer für
die hier untergebrachten nur zum landwirtschaftlichen
Betriebe geeigneten Pfleglinge, das als Bauernstube
eingerichtet ist, zwei Schlafräume für diese Pfleglinge
und eine Spülküche; im ersten Stockwerke befinden
sich zwei Wohnungen für Bedienstete und Schlaf¬
räume für Pfleglinge und Dienstboten und in den
Kellerräumen Gemüse- und Parteienkeller;
2. einem Schweinestall-Gebäude, dessen als Futter¬
küche eingerichteter Vorflur nach beiden Seiten hin
in zwei langgestreckte Ställe mit paarweise angeordneten
Koben führt, die Raum zur Unterbringung von 250
Schweinen bieten; jede Kobe hat ihren Auslauf in
ein vollständig betonirtes und ummauertes Gehege
mit Tummelplatz und Bad. Die Dachbodenräurae
dienen zur Aufbewahrung der Futtervorräthe;
3. einem den Schweineställen gegenüberliegenden
Wirtschaftsgebäude, welches eine Wagenremise, eine
Löschzeugstätte, einen Schlachtraum mit (elektrisch
betriebener) Wursterei und Räucherkammer, eine
Molkerei-Anlage, einen Pferdestall mit vier Ständen,
Stallungen für 20 Kühe, sechs Ochsen, Jungvieh und
zwei Esel umfasst; im Dachgeschosse desselben sind
Futter-Vorrathskammem und im Souterrain Gemüse¬
keller angelegt, in letzteren Kraut- und Rübenmaschinen
aufgestellt;
4. einem Hühnerstall;
5. einer offenen Wagenremise und endlich
6. einer Brückenwage.
Mit Rücksicht auf die der Gesundheit am meisten
Rechnung tragende Arbeit im landwirtschaftlichen
Betriebe, wird die weitaus grösste Zahl der Pfleglinge
zu diesem beim Anbaue und der Emte auf dem 60
Joch umfassenden Ackerareale der Anstalt, bei der
Betreuung der eingestellten Nutzthiere und den viel¬
fachen Beschäftigungsarten der Gärtnerei verwendet.
Zu dem im Wirthschaftshofc eingestellten Feuer¬
wehr-Requisitendepot sei erwähnt, dass die Anstalts¬
feuerwehr und der mit dieser verbundene Rettungszug
aus Pflegern gebildet sind und unter der Führung des
technischen Beamten und der Leitung des Directors
und Verwalters stehen.
Zur Aufnahme somatisch erkrankter Pfleglinge ist
das
Lazareth
(Object 19) bestimmt, welches Raum für 14 männliche
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und 14 weibliche Kranke bietet. Die Krankenzimmer
liegen in den Gebäudeflügeln, welche sich an den
Mitteltract anschliessen. Im letzteren sind eingebaut:
ein Operationssaal mit Aerztezimmer, zwei Pfleger¬
zimmer, zwei Abortanlagen, Tagräume mit offenen
Terrassen, welche dazu dienen, bettlägerige Kranke
in ihren Betten an die frische Luft zu bringen, ein
Wasch-, ein Baderaum und eine Spülküche. Gegen¬
über dem Lazarethe liegt mitten im Walde das
Infectionsk ranken ha us
(Object 18), ein ebenerdiges Gebäude mit Mitteltract,
welcher zwei Pflegerzimmer, Bad- und Spülküche um¬
fasst; zu beiden Seiten des Mitteltractes erstrecken
sich die Abtheilungen für Männer und für Frauen,
deren jede fünf Einzelzimmer enthält, von denen je
eines direct ins Freie führt.
Für das Infectionskrankenhaus ist zur Aufnahme
der Dejecte eine eigene Senkgrube angelegt, welche
mit der Canalisation der Anstalt nicht verbunden ist.
Ist es auch einerseits wünschenswerth, dass dieses
Krankenhaus nie zur Verwendung gelange, so sichert
es anderseits dadurch, dass es die Möglichkeit strengster
Isolirung bietet, die Insassen der Anstalt vor der Aus¬
breitung infectiöser Krankheiten. In erster Linie soll
dieses Object zur Unterbringung der tuberculosen
Geisteskranken dienen, welcher Bestimmung es durch
seine Lage in würziger staubfreier Waldluft vollauf
Rechnung zu tragen vermag.
An der nordöstlichen Ecke des Anstaltsgebietes,
der Uri zunächst gelegen, ist eine
Reinigungsanlage
für Fäcalien und Schmutzwässer
(Object 30) eingerichtet, welch’ letztere von sämmt-
lichen Objecten der Anstalt durch entsprechende Ca-
nalisirung hierher geführt werden. In dieser Anlage
werden durch Harfen die festen Stoffe ausgeschieden
und als Dünger oder zur Düngerbereitung verwendet;
die Abwässer hingegen durch Leitung über mit Coaks
belegte Betonreservoirs filtrirt, von einer elektrisch be¬
triebenen Pumpe in ein erhöhtes Reservoir gehoben
und aus diesem durch eine Rieselanlage zur Be¬
wässerung auf die Felder getrieben.
Die Anlage bietet auch die Möglichkeit bei all¬
fälligen Infectionskrankheiten in der Anstalt die gründlich
desinficirten Abwässer abzuleiten, ohne dass dieselben
die Felder berühren.
An der dieser Anlage entgegengesetzten, also süd¬
westlichen Spitze des Anstaltsterrains befindet sich der
Anstaltsfriedhof mit Leichenhaus
(Object 20). Das Leichenhaus enthält im Untergeschoss
zwei Leichenkammcrn (hiervon eine für Leichen an
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
i qo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
2 59
Infectionskrankheiten Verstorbener) und ein Särge-
debot; das Erdgeschoss umfasst einen Aufbahrungs¬
raum, einen Obductionssaal, ein ärztliches Arbeitszimmer,
einen Aufzug zum Transport der Leichen aus dem
Untergeschoss und völlig gesondert die Wohnung des
Leichendieners.
Beleuchtung.
Alle zur Anstalt gehörigen Baulichkeiten sind in
sämmtlichen Räumen, einschliesslich der Keller- und
Dachbodengeschosse, mit der nothwendigen Einrichtung
für elektrische Beleuchtung versehen. Der zu letzterer
erforderliche Strom wird aus den Elektricitätswerken
der Stadtgemeinde Amstetten als Starkstrom bis zur
Anstalt geführt und hier durch vier Transformatoren
auf 150 Volt Spannung umgeformt und zu den ein¬
zelnen Gebäuden weitergeleitet.
Dieser elektrische Strom beleuchtet nicht nur die
AnstalIsubicationen mit ca. 2000 Lampen (darunter
das Gesellschaftshaus mit vier, die Küche und Wäscherei
mit je zwei Bogenlampen), sondern setzt auch mit
20 Motoren alle maschinellen Einrichtungen der
Wäscherei, Küche, Bäckerei, Sodawasser-Erzeugung,
Teigwaren-Erzeugung, Wursterei, Kläranlage u. s. w. in
Betrieb.
Pflegerhäuser
(Pflegerdorf, Objecte 37, 38, 39, 40).
Vor der Anstalt, u. zw. ausserhalb der Einfriedung
derselben liegt das gegenwärtig aus vier Häusern be¬
stehende Pflegerdorf, dessen Umfang nach Bedarf ver-
grössert werden wird. Jedes dieser Häuser enthält
je zwei Wohnungen, bestehend aus: einer Küche,
(gleichzeitig Speiseraum) mit Emailanstrich und Terrazzo¬
boden, einem Schlafzimmer für drei Pfleglinge, einem
Zimmer sammt Cabinet für das Pflegerpaar, einer
Geräthekammer, der Abortanlage und einem Keller.
Je eine solche Wohnung wird einem Pfleger-Ehe¬
paare aus dem Stande der Anstaltsbediensteten zu¬
gewiesen, welches dieselbe mit Pfleglingen (in der
Höchstzahl von drei desselben Geschlechtes) zu theilen
hat.
Es sind dies Pfleglinge, die sich bei längerem Auf¬
enthalte in der Colonie als der Vorschule zur Privat¬
pflege verlässlich erwiesen haben und der eigentlichen
Anstaltspflege nicht mehr bedürfen, ohne jedoch im
gew-öhnlichen Sinne entlassungsfähig zu sein, sei es,
dass äussere Umstände der Entlassung im Wege stehen,
sei es, dass der Zustand der Kranken ärztliche Be¬
obachtung und Berücksichtigung psychiatrischer Grund¬
sätze noch weiterhin wünschenswerth erscheinen lässt.
Die Schlafräume der Pfleglinge werden im Pflegerdorfe
auf Kosten der Anstalt eingerichtet, und die Kianken
aus den'Anstaltsvorräthen mit Bett- und Leibeswäsche
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versehen. Die Pfleger erhalten für die Verköstigung
eines jeden Pfleglings pro Tag So h und haben letztere
zu überwachen, angemessen zu beschäftigen und zu
den vorgeschriebenen Terminen in die Anstalt zur
Untersuchung, zum Bade und zum Wägen zu bringen.
Ausser diesen Pflegestellen im Pflegerdorfe sind
aber auch solche bei Privatparteien in Aussicht ge¬
nommen, welche nicht allzuweit von der Anstalt ent¬
fernt, nach bezüglicher Verlautbarung im Wege frei¬
willigen Anbotes besetzt werden sollen. Jedes gesunde,
geistig normale, sittlich nicht zu beanständende Ehe¬
paar ist geeignet, einen, zwei oder drei vom Director
ausgewählte Kranke desselben Geschlechtes in Pflege
zu nehmen. Verlangt wird nur, dass die Kranken
in einem eigenen, hygienisch entsprechenden, einen
Luftraum von wenigstens 15 m 3 pro Kopf aufwei¬
senden Schlafzimmer untergebracht, als zur Familie
gehörig, wohlwollend und geduldig behandelt, vom
Genüsse geistiger Getränke femgehalten, nie zur Arbeit
gezwungen, w'ohl aber durch freundlichen Zuspruch
zu derselben aufgemuntert und entsprechend beobachtet
werden.
Der Familienpflege sollen nur Pfleglinge theilhaftig
werden, die durch ihr Verhalten im Pflegerdorfe den
Beweis voller Vertrauenswürdigkeit geliefert haben.
Die Schlafräume der Pfleglinge können auch bei
Privatparteien durch Vermittlung der Anstalt, doch
gegen ratenweise Abzahlung seitens der Pflegefamilien,
eingerichtet werden; Kleidung, Bett- und Leibeswäsche,
Reinigungsartikel, Bücher aus der Anstaltsbibliothek etc.
werden den Pfleglingen beigestellt. Letztere arbeiten
im Interesse des Pflegers und erhalten von demselben
die landesübliche Kost, wofür der Pflegepartei für jeden
Patienten ein Kostgeld von 80 h pro Tag, eventuell
nach Ermessen des Directors aber auch mehr oder
weniger vergütet wird. Selbstredend stehen die Kranken
durch häufige Inspectionen von Aerzten, Beamten und
Vertrauensmännern unter beständiger Controlle der
Anstalt; ausserdem müssen sie alle 14 Tage in die
Anstalt gebracht, um dort gebadet, untersucht und
gewogen zu werden. Bei einer etwaigen, ihre Ver¬
wendung beeinträchtigenden Veränderung ihres Zu¬
standes werden sie sofort in die Anstalt zurückgezogen.
Die Vortheile, w r elche diese Einrichtung einer organi-
sirten Familienpflege aufw r eist, sind mannigfache. Zu¬
vörderst sichert dieselbe der Anstalt einen ständigen
Abfluss der beruhigten Kranken; ferner verwerthet
sie die sonst vollständig brachliegende Arbeitskraft
einer grossen Anzahl von Geisteskranken, verhindert
gleichzeitig die unrationelle Behandlung der letzteren
in der Gemeindeversorgung und ermöglicht es dem
Patienten, bei fortschreitender Besserung, bezw. Heilung
Original from
HARVARD UNIVERSJTY
2ÖO PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22 .
die verlorene Berechtigung zur selbständigen Existenz
von neuem zu erringen; weiters führt sie weniger
bemittelten Landwirthen bei dem jetzigen Mangel
doppelt willkommene Arbeitsgehilfen zu und bringt
denselben insofern materiellen Gewinn, als selbst bei
gewissenhafter Verköstigung das pro Kopf und Tag
gewährte Kostgeld hinter den factischen Auslagen
Zurückbleiben dürfte; endlich wird sie die fortwährende
Zunahme der Anstaltsbauten mindestens verringern,
aber auch schon dadurch eine bedeutende Entlastung
der öffentlichen Verwaltung bedeuten.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bevölkerung
bei Beobachtung des Verhaltens der Pfleglinge im
Pflegerdorfe und nach Erkenntniss der Verwendbar¬
keit derselben, jenes Vorurtheil aufgeben wird, wel¬
ches heute noch gegen Geisteskranke allgemein im
Volke herrscht; den ersten schüchternen Versuchen zur
Uebemahme von Patienten in die Familienpflege
werden nach den vorliegenden Beispielen aus Eng¬
land, Belgien, Deutschland u. s. w. weitere folgen, und
bald wird die Familienpflege Geisteskranker in der
Umgebung der Anstalt als eingebürgert zu betrachten
sein.
Drei wichtige Factoren sind es, die dann aus
dieser neuen Einführung der familiären Irrenpflege
einen gleich bedeutenden Nutzen ziehen:
Der Kranke, welcher den Segen des Aufenthaltes
in der Familie geniesst, der Landwirth, dem jeder¬
zeit eine verwendbare billige Arbeitskraft zur Ver¬
fügung steht, und das Land Niederösterreich, dessen
Ausgabebudget durch diese schon seit Jahrzehnten
nothwendigen Reform des Irrenwesens eine zweifel¬
los sehr willkommene Entlastung erfährt.
Sind diese Erfolge einmal zur That geworden,
dann hat auch die Kaiser Franz Joseph-Landes-Heil-
und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling ihr vornehmstes
Ziel erreicht
Zum Zwecke der Ausscheidung aller nicht in das
Gebiet einer rationellen Irrenpflege gehörigen, weil
letztere hindernden Elemente, ist der Heilanstalt
Mauer-Oehling die Pflegeanstalt Ybbs angegliedert,
w’elche unter der Leitung der ersteren steht und un¬
heilbare Alkoholiker, geistesgestörte Verbrecher und
alle jene Kranken aufzunehmen bestimmt ist, bei
denen sich während des Aufenthaltes in Mauer-Oehling
jede Aussicht auf Heilung oder Erlangung einer Be¬
schäftigungsfähigkeit als ausgeschlossen erwiesen hat
M i t t h e i
— Am 2. Juli fand in Anwesenheit des Kaisers
von Oesterreich die Schlusssteinlegung und Ein¬
weihung der „Kaiser Franz Josephs-Landes-
Heil- und Pflege-Anstalt“ in Mauer-Oehling
statt. Etwa 2000 Festgäste waren zu dieser Feier
erschienen. Der Kaiser besichtigte eingehend die An¬
stalt und äusserte wiederholt sein Lob über die
Schönheit und Zweckmässigkeit der Bauten und Ein¬
richtungen. Speciell dem Landes-Ausschuss Steiner,
Administrations-Inspector Gerenyi, Landes - Baurath
Boog dem Directorder Anstalt Dr. Krayatsch, auch
den Primarärzten Dr. Bayer und Gw'ürstinger
drückte der Kaiser seine Anerkennung aus. Nach
der Abfahrt des Kaisers fand an einem Büffet unter
einem Zeltbau eine Bewirthung der Festgäste statt.
Die Wiener Gastwirthsgenossenschaft hatte die Aus¬
führung der Bewirthung übernommen; die schmucken
Wiener Gastwirthstöchter in weissen Piquetkleidem
servierten. Bürgermeister Dr. Lueger, Minister¬
präsident v. Körb er, Landesausschuss Steiner,
Statthalter Graf Kielmannsegg hielten auf die neue
Anstalt und die bei ihrer Errichtung betheiligt ge¬
wesenen Herren glänzende Ansprachen. —
Die Anstalt in Mauer-Oehling ist von der Landes-
veitretung des Kronlandes Niederösterreich zur Er¬
innerung an die Feier der 50jährigen Regierung des
Kaisers Franz Joseph von Oesterreich errichtet
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1 u n g e n.
worden. Sie Übertrifft an Geschmack und Zw'eck-
mässigkeit in Anlage und Ausstattung alle neueren
Anstalten und wir möchten wünschen, dass sie beim
Neubau von Anstalten zum Vorbilde gewählt werden
möchte. Direct an der Strecke Salzburg-Wien ge¬
legen, dem Reisenden im Eisenbahnzuge als schmucke
Villencolonie im freundlichen Waldesgrün sich präsen¬
tierend, ist sie von der Station Mauer-Oehling in
kaum 5 Minuten zu Fuss zu erreichen. Br.
— Erlass, betreffend das Krankenpersonal.
Die Verhältnisse des Pflegepersonals der Krankenan¬
stalten sind in den letzten Jahren in der Presse und
in parlamentarischen Verhandlungen wiederholt zum
Gegenstand lebhafter Klagen gemacht worden. Neben
mangelnder Befähigung und unzureichender Vor- und
Ausbildung bei einem grossen Theile der Wärter und
Wärterinnen werden insbesondere die Ueberanstreng-
ungen im Pflegedienste, der Mangel einer angemessenen
Erholung, einer geeigneten Fortbildung, einer zu¬
reichenden Besoldung und Verpflegung sow r ie eine
unzulängliche Versorgung im Falle der durch Alter,
Krankheit oder Invalidität eingetretenen Dienstunfähig¬
keit als die hauptsächlichsten Missstände auf dem Ge¬
biete der Krankenhauspflege bezeichnet.
Wenngleich nach dem Ergebniss der von mir an-
geordneten Erhebungen diese Klagen zum Theil als
unrichtig, zum Theil auch als übertrieben sich heraus-
Originalfrcm
HARVARD UNIVERSITY
iQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 261
gestellt haben, so nehme ich doch Veranlassung, die
Verhältnisse der Krankenanstalten des dortigen Bezirks
(§ 100 der Dienstanweisung für die Kreisärzte) Ihrer
besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge mit dem
Ersuchen ergebenst anzuempfehlen, falls sich Missstände
nach der angedeuteten Richtung in den Anstalten
etwa vorfinden sollten, auf deren baldige Beseitigung
ernstlich Bedacht zu nehmen. Auch ersuche ich, die
Kreisärzte anzuweisen, bei den in Gemässheit des
§ 100 der Dienstanweisung für die Kreisärzte vorzu¬
nehmenden jährlichen Besichtigungen der Kranken¬
anstalten auf Mängel der bezeichneten Art besonders
zu achten, indem ich zugleich bestimme, dass in die
Besichtigungsverhandlung zugleich Angaben über die
Besoldung und die Zahl der täglichen Dienststunden
des Pflegepersonals aufzunehmen sind.
Handelt es sich um Missstände, welche auf eine
unzureichende Betheiligung des ärztlichen Elements
bei der Regelung der Krankenhausangelegenheiten
zurückzuführen sind, so wollen Ew. Hochwohlgeboren
es sich angelegen sein lassen, auf eine Stärkung des
ärztlichen Einflusses in geeigneter Weise bei den Be¬
theiligten hinzuwirken.
Berlin, den n. Juli 1902.
Der Minister der geistl. Unterrichts- und
Med icinal-Angelegenheiten.
Studt.
An die Herren Regierungs-Präsidenten
und den Herrn Polizeipräsidenten in Berlin.
— Ein wenig bekanntes Blatt aus der Ge¬
schichte der Familienpflege Geisteskranker.
Anlässlich der Einweihung der „Kaiser Franz
Joseph-Landes-Heil- und Pflege-Anstalt in
Mauer-Oehling schreibt in der „Wiener Zeitung“ vom
1. Juli d. Js. Dr. August Seuffert:
„Mit dem Inslebentreten der Familienpflege
Geisteskranker in Mauer-Oehling findet eine Idee
ihre Verwirklichung, welche schon vor Jahrzehnten
in Oesterreich leider vergeblich von einem Manne
angeregt und wiederholt verfochten wurde, der ins¬
besondere in Wien für alle Zeiten unvergessen bleiben
wird. Der leider zu früh unter traurigen Umständen
heimgegangeneMenschenfreund Dr.J. v.Mundy, dessen
Gedächtniss als Gründer der Wiener Rettungsgesell¬
schaft in der Kaiserstadt an der Donau für immer
fortleben wird, verdient es wohl, dass an dieser Stelle
seiner ehrend gedacht werde. Als er im Jahre 1854
in Würzburg zum Medicinä-Doctor promovirt wurde,
wählte er sich für seine Inaugural-Festschrift ein
damals neues Thema: „Ueber die familiale Be¬
handlung der Irren“. Seine Festschrift schloss
mit dem Satze: „Möge es mir vergönnt sein, dass
ein Jugendtraum von mir in Erfüllung gehe und dass
ich, wenn auch nur ein Scherflein, zur Lösung dieser
grossen Frage beizutragen in den Stand gesetzt werde.“
Leider war es ihm nicht gegönnt, seine Bestrebungen
in dieser Richtung, so weit es sein Vaterland Oester¬
reich betrifft, mit Erfolg gekrönt zu sehen, da seine
Vorschläge, die Irrenpflege umzugestalten, als undurch¬
führbar bezeichnet wurden, obgleich er sich in G h e e 1,
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wo er durch 6 Monate dem Studium der familialen
Verpflegsform oblag, von der Durchführbarkeit der
Behandlung Geisteskranker in fremder Familienpflege
überzeugt hatte. Dr.J. Mundy brachte der von ihm
als Ideal angestrebten Irrenreform grosse materielle
Opfer. Ein Apostel dieser humanitären Idee, durchzog
er als Wanderlehrer England, Frankreich und Deutsch¬
land und erfreute sich in allen diesen Culturländem
der grössten Hochachtung in den maassgebenden und
wissenschaftlichen Kreisen. Bei diesen Reisen machte
er die Bekanntschaft der hervorragendsten Psychiater,
Conolly, Griesinger u. s. w. und erwarb sich ihre
Freundschaft fürs Leben. Die grossen Kriege in den
Jahren 1866, 1870, 1878 und 1880 führten ihn auf
das Gebiet der Kriegshygiene, und der Ringtheater-
Brand in Wien machte ihn zum Begründer des organi-
sirten Rettungswesens. Obgleich somit Dr. Mundy
Jahre hindurch seine vielseitige segensreiche Thätig-
keit anderen Zweigen der Humanität zugewendet hatte,
wurde er doch wiederholt als Berather bei der
Errichtung von Irrenanstalten in Böhmen, Mähren
und Nieder-Oesterreich herangezogen, konnte jedoch
mit dem von ihm in Vorschlag gebrachten Reformen
nicht durchdringen, weil die Fachärzte, wenige ausge¬
nommen, die glänzenden Erfolge der Familienpflege
in Gheel entweder nicht kannten oder zumindest die¬
selben als an locale Bedingungen geknüpft auffassten.
Trotz aller Misserfolge hat Dr. J. Mundy unentwegt
für sein Jugend-Ideal, die Reform des Irrenwesens,
in Wort und Schrift gewirkt Im Jahre 1864 ver¬
öffentlichte er in englischer Sprache einen „Kleinen
Katechismus über die Nothwendigkeit und Möglich¬
keit einer radicalen Reform des Irrenwesens“.*) Im
Jahre 1876 verfasste er infolge einer Aufforderung des
damaligen Landtags-Abgeordneten für Böhmen Grafen
Rudolph Khevenhüller-Metsch bei Gelegenheit der zu
fassenden Landtagsbeschlüsse hinsichtlich der Errichtung
einer neuen Irrenanstalt in Böhmen einen Entwurf,
welcher aber keine Berücksichtigung fand, da sich
bekanntlich der böhmische Landtag gegen das in
demselben vertretene Princip der Behandlung der
Irren auf Landgütern**) entschied und 1 750000 fl.
für den Bau einer grossen geschlossenen Irrenanstalt
bei Pilsen (Dobran) bewilligte. Die vom mährischen
Landes-Ausschüsse im März 1879 abgehaltene Enquete
wegen der endgiltigen Regelung der Irrenfrage in
der Markgrafschaft Mähren veranlasste Dr. Mundy,
in der Eigenschaft eines zu den Verhandlungen be¬
rufenen Experten diesen Entwurf zum Zwecke eines
eingehenden Meinungsaustausches den Enquete-Mit¬
gliedern vorzutragen, wobei die in demselben nieder¬
gelegten und mündlich weitläufiger begründeten An¬
schauungen die vollste Billigung fanden. 'Am 5.
Dezember 1884 hielt Dr. Mundy, als Schriftführer
der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, im aka¬
demischen Gymnasium zu Wien einen gemeinver¬
ständlichen Vortrag über die von ihm stets verfochtene
*) In wortgetreuer Uebersetzung im Verlage der Wiener
freiwilligen Rettungsgesellschaft erschienen, Wien 1884.
**) „Die freie Behandlung der Irren auf Landgütern“, er¬
schienen im Verlage der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft,
Wien 1884.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
262 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Reform der Irrenpflege,*) welcher ihm den Beifall
der zahlreichen Zuhörerschaft brachte. Nun, nachdem
schon längst seine Leiche im Schosse der Erde ver¬
modert, soll die Idee dieses unerschütterlichen Ver¬
fechters der Familienpflege Geisteskranker in Nieder -
Oesterreich zur That werden. Die Kaiser-Jubi-
läums-Stiftung in Mauer-Oehling war auch für
diesen humanitären Gedanken in Nieder-Oestcrreich
als Bahnbrecherin auserkoren“.
— Erweiterung der Familienpflege in
Berlin nach belgischem Muster. Für die
neuen Irrenanstalten der Stadt Berlin
unterbreitete Geheimrath Dr. M ö 1 i dem Magistrat
in seiner Denkschrift sehr beachtenswerthe Vor¬
schläge, namentlich in Bezug auf die Art und
Grösse der vierten und fünften Anstalt. Zum
besseren Verständnis sei vorausgeschickt, dass die
beiden Anstalten Dalldorf und Herzberge für je tausend
Patienten eingerichtet waren, oft aber weit über diese
Zahl hinaus belegt werden mussten (Dalldorf bis
1350), und dass die dritte Irrenanstalt Buch von
vornherein auf 1500 Kranke berechnet worden ist.
Diese Zahl hält Geheimrath Dr. Möli auch für die
vierte Anstalt für ausreichend; er schlägt auch vor,
diese Anstalt, ebenso wie Buch, weniger nahe bei der
Stadt zu etabliren, wie die beiden ersten Anstalten,
und sie zu einer möglichst einfachen Behausung der
Mehrzahl ihrer Kranken zu gestalten. Gegenüber den
älteren Anstalten empfiehlt der Gelehrte verschiedene
Aenderungen in Bezug auf den Lageplan sowohl, wie
im Verhältnis der einzelnen Krankengruppen vorzu¬
sehen ; ebenso wünscht er vollkommenere Einrichtungen
für die Unterbringung der gewohnheitsmässig zu Ge¬
setzesverletzungen gelangten Kranken, soweit diese
eine besondere Trennung von den übrigen Gruppen
erheischen. Ueber die Versuche, die Familienpflege
ausgedehnter zu verwenden, schreibt Dr. Möli: Es
sollen „Landasyle“ kleineren Umfanges hergestellt werden
bei Ortschaften, die eine Unterbringung, zahlreicher
Kranker in Familien nach dem Muster der belgischen,
neuerdings auch französischen Colonien in Aussicht
nehmen lassen. Man könnte daher an etwas Aehn-
liches auch für die Berliner städtische Fürsorge denken,
wenigstens an den Versuch, wenn auch nicht einen
grossen Bruchtheil von Kranken derart unterzubringen,
so doch mit der vierten und fünften Anstalt solche
Einrichtungen in Verbindung zu setzen. Das würde
jedenfalls auf die Wahl des Ortes von Einfluss sein
müssen, weniger auf die Grösse der Anstalt. Eine
durchgreifende Herabsetzung des Bedürfnisses an An¬
staltsplätzen wird allerdings auf diesem Wege nicht
erwartet werden können; bei einer so grossen Auf¬
gabe, wie die vorliegende, ist jedoch jedes Hilfsmittel
willkommen, und deshalb ist eine solche Maassregel,
wenn sie auch nicht zu entscheidender Entlastung der
Anstalts-Fürsorge dienen kann, wenigstens im Auge
zu behalten.
— Zum Kapitel Irrenrecht. Aus irrenärztlichen
Kreisen ist vor Kurzem darauf hingewiesen worden,
*) „Beiträge zur Reform der Irrenpflege“, von Dr. J. Mundy,
nach stenographischen Aufzeichnungen erschienen im Verlage
der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, Wien 1884.
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dass nach Lage der gegenwärtigen Gesetzgebung und
Rechtsprechung es in den Privatanstalten für Geistes¬
kranke, Epileptische und Idioten nicht immer möglich
ist, an den geistesschwachen Insassen seitens der
Angestellten verübte Delikte, falls dies nur sogen.
Antragsdelikte sind, der gerichtlichen Bestrafung zu¬
zuführen; denn nach der Reichsgerichtsentscheidung
vom 18. Januar 1901 ist in solchen Fällen nur die
geistesschwache Person sebst antragsberechtigt. „Die
meisten der „Geistesschwachen“ und der vorläufig Bevor¬
mundeten — ich schätze ihre Gesammtzahl im deutschen
Reiche auf ca. 30000 — befinden sich in geschlossenen
Anstalten, öffentlichen wie privaten. Der „Geistes¬
schwache“, der dort einen Strafantrag stellen will, sei
es wegen Misshandlung oder Beleidigung, steht nicht
nur bezüglich seiner brieflichen Correspondenz unter
Controlle (in Preussen Erlass des Cultusministeriums
vom 23. December 1895) — die Briefe gehen durch
die Hände des Pflegepersonals —, auch in mancher
anderen Beziehung ist zu befürchten und wird viel¬
leicht auch der „Geistesschwache“ befürchten, dass er
durch seinen selbständigen Antrag sich seine zu¬
künftige Lage nur noch verschlimmert. In welcher
Weise er z. B. vom Personal beeinflusst werden kann,
einen Antrag zurückzuhalten, lässt sich gar nicht con-
troliren. Da der Vormund nicht antragsberechtigt ist,
dürfte dasselbe auch dem Anstaltsleiter nicht zu¬
kommen ; sollte nicht auch mancher Anstaltsleiter
bezw. -Besitzer ein grösseres Interesse daran haben,
dass unliebsame Vorgänge seiner Anstalt der Erörterung
im Gerichtssaal entzogen werden ? Wenn er nun, bei
gutem Willen dazu, gar nicht einmal antragsberechtigt
ist, was soll dann aus der Gerechtigkeit in den An¬
stalten werden? (Deutsche Juristen-Zeitung, 1902,
s. 173)
Eine geradezu unglaubliche Lücke enthält aber in
verwandter Beziehung der § 174 3 des deutschen
Strafgesetzbuchs, welcher lautet: „Mit Zuchthaus bis
zu fünf Jahren werden bestraft Beamte, Aerzte oder
andere Medicinalpersonen, welche in Gefängnissen
oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen
oder anderen Hilflosen bestimmten Anstalten be¬
schäftigt oder angestellt sind, wenn sie mit den in
das Gefängniss oder in die Anstalt aufgenommenen
Personen, unzüchtige Handlungen treiben.“ Eine in
Anstalten für hülflose Personen, insbesondere Geistes¬
schwache, an letzteren verübte unzüchtige Handlung
kann, ja darf also nicht bestraft werden, wenn sie in
einer Privatanstalt begangen wird! Handelt es sich
um solche Privatanstalten, welche Idioten , also doch
auch geistesschwache Personen, zum Zwecke der
„Erziehung und Ausbildung“, nicht zum Zwecke der
„Pflege“ beherbergen, so kann in obigem Falle ebenfalls
keine Bestrafung erfolgen!
Man ersieht aus Vorstehendem, dass das zu er¬
wartende Reichsirrengesetz (das „Reichsgesetz für Ge¬
hirnkranke“), soll es sich als eine wirkliche Reform
erweisen, etwas mehr wird sein müssen als ein Ex-
tract bundesstaatlicher Ministerialerlasse über Auf¬
nahme und Entlassung von Geisteskranken u. s. w in
und aus Anstalten. Es ergiebt sich ferner die Un¬
zulässigkeit der von den Verwaltungen noch immer
Original frnm
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 263
gehandhabten Methode, der öffentlichen Fürsorge an¬
heimgefallene, geistesschwache Personen, anstatt in
eigenen, in privaten Anstalten (weltlichen und kirch¬
lichen) unterzubringen. (Hier kommt allerdings in
Betracht, dass die öffentlichen Anstalten zur Aufnahme
aller in Betracht kommenden Personen nicht aus¬
reichen werden. Red.)
Jedenfalls muss in dem neuen Gesetz die Ver¬
pflichtung des Anstaltsleiters zur gerichtlichen Anzeige
aller an seinen Schutzbefohlenen begangenen
strafbaren Handlungen, die zu seiner Kennt-
niss gelangen, ausgesprochen und die Nicht¬
beachtung dieser Vorschrift unter Strafe ge¬
stellt werden. Ferner ist bei strafbaren Hand¬
lungen, welche an unfreien Personen obiger
Kategorien verübt werden, dem Staatsanwalt
das Antragsrecht, das zugleich Pflicht ist,
einzuräumen. (Frankf. Ztg. 5. VIII.)
— Zur Aenderung des § 51 des Strafgesetz¬
buches. Der im September zu Berlin tagende
deutsche Juristentag wird sich mit der Frage be¬
schäftigen, nach welchen Grundsätzen die Revision
unseres jetzigen Strafgesetzbuches in Aussicht zu
nehmen ist. Ueber diese Frage hat der bekannte
Strafrechtslehrer Geheimrath Prof. v. Liszt in Berlin
ein Gutachten *) erstattet, dem wir Folgendes ent¬
nehmen.
Die Forderung nach einer Neuregelung unserer
Strafgesetzgebung ist ganz besonders dringend in
Folge des Bedürfnisses nach einem ausgiebigeren
Schutze der Rechtsordnung gegenüber der heutigen
Gestaltung des gewerbsmässigen wie des nichtgewerbs¬
mässigen Verbrechens. Insbesondere hat das nicht-
gewerbsmässige Verbrechen in den letzten Jahrzehnten
eine wesentliche Umgestaltung aufzuweisen. Mehr
und mehr zeigt es, zum Theil unter dem Einfluss
des Alkoholmissbrauchs, insbesondere aber
in Folge des verschärften, die Nerven kraft erschöpfen¬
den Kampfes um’s Dasein, neuropathische Züge.
Es sind die „Minderwertigen“, die Neurastheniker,
die „Desequilibrirtcn“, die „vermindert Zurechnungs¬
fähigen“, die dein nichtgewerbsmässigen Verbrechen
unserer Tage den eigenartigen Stempel aufdrücken.
Die zornige Erregung des Alkoholikers, wie die
Dämmerungszustände des Epileptikers, die perversen
Neigungen des Homosexualen, die Ladendiebstähle
hysterischer Frauen der guten Gesellschaft, die Blut-
thaten der Messerstecher und Lustmörder, die hero-
stratische Eitelkeit der anarchistischen „Propaganda
der That“ — alle diese bekannten Erscheinungen
der Kriminalität unserer Tage, die in dieser Massen-
haftigkeit wenigstens, früheren Zeitabschnitten fremd
gewesen sind: sie stellen den Strafgesetzgeber vor
eine neue, überaus wichtige Aufgabe; das System
unseres jetzigen St.-G.-B. erweist sich ihnen gegen¬
über als machtlos. Der § 51 mit seiner schroffen
Scheidung des Zurechnungsfähigen und Nichtzurcch-
nungsfähigen lässt uns nur die Wahl zwischen Frei¬
sprechung oder schwerer Bestrafung. Das Gesetz
*) I. Band der Verhandlungen des 26. deutschen Juristen-
tages. Verlag von J. Guttentag, Berlin 1902.
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kennt aber weder die Sicherung der Gesellschaft
gegen den zweifellos geisteskranken, gemeingefähr¬
lichen Verbrecher, noch kennt es die verminderte
Zurechnungsfähigkeit und die mit ihr meist Hand in
Hand gehende erhöhte Gemeingefährlichkeit. Nach
beiden Richtungen bedarf das Gesetz der Umgestal¬
tung. Liszt schlägt vor:
a) Zunächst muss dem erkennenden Strafgericht
die Befugniss eingeräumt werden, den wegen mangeln¬
der Zurechnungsfähigkeit Freigesprochenen,
falls die öffentliche Sicherheit es erfordert,
in eine Heil- oder Pflegeanstalt zu ver¬
weisen. Das verlangt nicht nur die Rücksicht auf
die öffentliche Sicherheit, die auf das Schwerste ge¬
fährdet würde, wenn die Einleitung des Entmündi¬
gungsverfahrens abgewartet werden sollte, sondern
das verlangtauch die Rücksicht auf das Rechts¬
bewusstsein des Volkes. Der Kampf um die
Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, der sich so oft
zwischen dem sachverständigen Arzte und dem Staats¬
anwalt oder gar dem Richter abspielt: er hat ja
doch zumeist seinen Grund darin, dass der Richter
sich scheut, das gemeingefährliche Individuum
mit dem freisprechenden Urtheil auf die Gesellschaft
los zu lassen. Je deutlicher aus der That und aus dem
Verhalten des Thäters nach der That, insbesondere
aus seinem Benehmen im Gerichtssaale, die „Bestie“
im Menschen erkennbar wird, desto mehr scheuen
wir vor dem Gedanken zurück, als sei mit dem frei¬
sprechenden Urtheil das letzte Wort in dieser Sache
von der Rechtsordnung gesprochen. Ganz anders
liegt die Sache, wenn mit der Freisprechung sofort
die Ueberweisung in eine Irrenanstalt verbunden
wird. Daher schlägt Liszt vor, dem § 51 des St.-G.-
B. einen 2. Absatz in etwa folgender Fassung anzu-
fügen: „Erscheint der Beschuldigte als gemeingefähr¬
lich, so ist in dem Einstellungsbeschluss oder dem
frcisprcchendcn Urthcile zugleich seine Ueberweisung
an eine Heil- oder Pflegeanstalt zu verfügen.“
b) Der §51 bedarf auch einer weiteren Ergän¬
zung durch Aufnahme von Bestimmungen über die
verminderte Zurechnungsfähigkeit. Diese
Fälle sind ungleich wichtiger als die eben besproche¬
nen. Nicht nur wegen ihrer stets wachsenden Zahl,
sondern wegen der häufig gegebenen besonderen Ge¬
meingefährlichkeit der hierher gehörigen Personen.
Die Milderung der Strafe in diesen Fä 11 en
dürfte den heute überwiegend herrschenden Rechts¬
anschauungen entsprechen und mag daher von dem
Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen werden. Doch
legt darauf v. Liszt in Folge der Spannweite des
Strafrahmen weniger Gewicht. Ungleich wichtiger er¬
scheint ihm, dass auch hier dem Strafrichter die Be¬
fugniss gegeben wird, die Einweisung in eine
Heil- oder Pflegeanstalt zu verfügen, wenn
dies im Interesse der öffentlichen Sicherheit als noth-
wendig erscheint. Daher schlägt v. Liszt einen neuen
§ 51a etwa dahin vor: „Ist die Zurechnungsfähigkeit
des Beschuldigten nicht aufgehoben, sondern nur ge¬
mindert, so kann der Richter die angedrohte Strafe
bis unter das angedrohte Mindestmaass mildern. Er¬
scheint der vermindert Zurechnungsfähige als gemein¬
em rigmalfrom
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
264
[Nr. 22
gefährlich, so ist in dem Urtheile die Ueberweisung
an eine Heil- oder Pflegeanstalt nach verbüsster Strafe
zu verfügen.“
Auf die nähere Ausgestaltung der Fürsorge durch
die Anstalten geht v. Liszt nur andeutungsweise ein.
Die Entlassung aus der Anstalt würde er nur auf
Grund eines Gerichtsbeschlusses für ange¬
bracht halten. Fr. G.
Referate.
— Die Träume. Medicinisch-psychologische
Untersuchungen von Dr. Sante de Sanctis, Prof,
d. Psychiatrie in Rom. Uebersetzt von Dr. O. S c h m i d t,
nebst Einführung von Dr. P. J. Möbius. Halle a. S.
Carl Marhold, 1901.
Ein Buch, dem Möbius das Geleite giebt, kann
nicht uninteressant sein; und in dieser Annahme sieht
man sich auch nicht getäuscht, wenn man das de
S.’sche Buch gelesen hat. Eine fleissige Arbeit, der
man die Liebe zum Gegenstände anmerkt. De Sanctis
beschäftigt sich seit Jahren mit dem Studium der
Träume und sind als Ergebniss desselben bereits mehrere
Arbeiten von ihm erschienen; die uns vorliegende
Arbeit fasst das Resultat aller seiner bisherigen be¬
züglichen Untersuchungen zusammen, giebt aber auch
auf Grund der überaus umfangreichen einschlägigen
Litteratur eine sehr gute Uebersicht über die hierher
gehörigen Leistungen Anderer und streift kritisch
manche der vielen Theorien, die auf diesem dem
Mystischen so nahe liegenden Gebiete aufgestellt
wurden. Vf. selbst ist bestrebt, sich von der Auf¬
stellung von Theorien und Hypothesen möglichst
fern zu halten und will nur eine „Sammlung von
Thatsachen“ geben. Bei dem Dunkel, das den be¬
handelten Gegenstand umgiebt, ist es aber nicht zu
verwundern, wenn Vf. trotzdem von dem sichern
Boden der Thatsachen oft abgleitet und auf das lockere
Terrain der Hypothesen geräth. Der Eifer, mit dem
er seinen Studien oblag, führt ihn auch oft zu etwas
weitgehenden Folgerungen; insbesondere misst er
den Träumen in diagnostischer Beziehung zu viel
Bedeutung bei; auch die Bewerthung derselben als
ätiologischen Factors bei Geisteskrankheiten dürfte bei
den Irrenärzten vielfachem Widerspruche begegnen;
Ref. wenigstens sah unter der ziemlich grossen Zahl
von Füllen, die er beobachtete, bisher keinen einzigen,
in dem die Psychose durch einen Traum veranlasst
worden wäre. Ebenso dürfte das über die „Traum-
äquivalente“ Gesagte nicht ungetheilte Zustimmung
finden; der Begriff ist zum Theil unklar gefasst, zum
Theil deckt er sich vollkommen mit dem der gut
bekannten epileptischen Aequivalente. —
Mit diesen Bemerkungen soll jedoch der Werth der
Arbeit keineswegs geschmälert werden. Erscheint uns
auch manche Annahme irrthümlich, können wir uns
auch mit Auffassungen, wie die (p. 149) „dass dem
Traumbild des Gemeingefühls ein gewisses Vorher¬
schauen von Ereignissen, die sich in unserm Körper
in einer mehr oder weniger fernen Zeit vollziehen
werden, und eine gewisse manchmal überraschende
Erinnerung an solche innere Ereignisse zukommt,
welche unserem Wachbewusstsein völlig unbekannt
geblieben sind“ nicht sehr befreunden, so sind doch
die Ausführungen durchwegs interessant und zum
Nachdenken und zum Nacharbeiten anregend. Die
Erforschung des Traumlebens ist vom psychologischen,
w r ie psychopathologischen Gesichtspunkte höchst wichtig
und in der Fülle sorgfältig durchgeführter Untersuch¬
ungen und Beobachtungen, die in dem 256 Seiten
starken Buche mitgetheilt werden, wird der Psycholog,
wie der Psychiater viele werthvolle Angaben finden.
Die Träume des Säuglings, wie des Erwachsenen,
des normalen, wie des degenerierten Menschen, des
Geistesgesunden, wie des Geisteskranken sind in gleicher
Weise Gegenstand ausführlicher Erörterungen. Auf
Einzelheiten hier einzugehen, ist unmöglich und muss
darum das Buch zur Lectüre nur um so wärmer em¬
pfohlen werden. Epstein.
Bibliographie.
Journal of Mental Science. Juli, 1902.
Report of the Tuberculosis Committee of the Medico-
Psychological Association of Great Britain and
Ireland.
Original Articles:
T. S. Clouston, Toxaemia in the Etiology of Mental
Disease: a Discussion opened.
T. Claye Shaw, The Surgical Treatment of De-
lusional Insanity based upon its Physiological Study.
Henry Rayner, Sleep in Relation to Narcotics
in the Treatment of Mental Disease.
Robert Jones, Notes on some Cases of Morphino-
mania.
Lionel Weatherly, The Evolution of Delusions
in some Cases of Melancholia.
T. P. Co wen, Pupillary Symptoms in the Insanc,
and their Import.
N. H. Macmillan, The Prophylaxis and Treatment
of Asylum Dysentery.
Prof. Knud Pontoppidon, The Psychiatric Wards
in the Copenhagen Hospital.
Clinical Notes and Cases:
Francis O. Simpson, Calcification of the Pcricardium.
Stephen G. Longworth, Ha^matoma of the Cerebral
Dura Mater (Pachimeningitis Interna Hsemorrhagica)
assoeiated with Haemorrhagc from the Colon.
Personalnachricht.
— Kopenhagen. Dr. D. E. Jacobsohn,
Specialarzt für Nervenkrankheiten, wurde zum Professor
ernannt.
— Moskau. Dr. A. Bernstein habilitirte sich als
Privatdozent für Neurologie und Psychiatrie.
Für den redactioncllon Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Breslcr Kraschnitz, (Schesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Buchdruckerci (Gcbr. Woiff) in Hallo a S.
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Psychiatriseh ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt ifir Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M,
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
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Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr7 237 6 . September. _ 1902.
Die Psych i at r i sch - N e ur ol o k i s c he Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz 'Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Die beiden ersten Jahre in Galkhausen. Von Dr. mcd. M. Lückerath (S. 265). — Mittheilungen (S. 272).
Erklärung.
Herr Dr. W. N. Clemm in Darmstadt hat in der „Med. Woche“ (Nr. 27 u. 28) einen Aufsatz über
„Alkohol als Genuss-, als Nahrungs- und als Heilmittel“ veröffentlicht. Auf dem Umschlag des S.-A. *)
ist gedruckt: „Herrn P. J. Möbius zugecignet.“ Da der Aufsatz auf eine Verherrlichung des Alkohols hin¬
ausläuft und überhaupt auf falschen Anschauungen beruht, so muss ich erklären, dass ich nichts damit zu
schaffen habe, und ich bedauere, dass mein Name darauf steht.
*) Auch über dem Original in der „Med. Woche“. (Red.) P. J. Möbius.
Die beiden ersten Jahre in Galkhausen.*)
Von Dr. med. M. Lückerath , Assistenzarzt der Anstalt.
y^m 1. März sind es 2 Jahre geworden, seit die An¬
stalt Galkhausen als neuste rhein. Prov.-Heil- und
Pflegeanstalt dein Betrieb übergeben worden ist, und da
sie in mancher Hinsicht einen von den anderen rhein.
Anstalten abweichenden Typus darstellt, rechtfertigt
es sich wohl, einen kurzen Ueberblick über ihre bis¬
herige Thätigkeit zu geben. Da Sie sich nachher durch
einen Rundgang, dem Herr Direktor Herting einige
*) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 69. General-Ver¬
sammlung des Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz.
erläuternde Bemerkungen vorausschicken wird, über
die baulichen Einrichtungen orientieren werden, kann
ich es mir versagen, Ihre Aufmerksamkeit darüber
länger in Anspruch zu nehmen und verweise sie auch des
weitem auf die eingehende Schilderung der Anstalt, die
Hen Direktor Herting vor kurzem veröffentlicht hat.*)
Ich will nur soviel bemerken: da man erkannt hat, dass
man den Geisteskranken viel mehr Freiheit gewähren
*) Centralhlatl für allgemeine Gesundheitspflege 21. Jahr¬
gang 1 und 2.
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Original frnm
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266
kann als man früher zu thun geneigt war, so hat als
oberstes Gesetz, als Richtschnur bei dem Bau von
Galkhausen das Bestreben gedient, alles möglichst zu
vermeiden, was an Zwang irgend wie erinnern könnte,
so dass sich die Anstalt in Bau und Einrichtungen
nicht von anderen Krankenhäusern unterscheidet und
die einzelnen Häuser Privathäusern so ähnlich sehen
wie nur eben möglich.
Dass hier die Forderungen der modernen Hygiene
bis ins kleinste erfüllt sind, brauche ich eigentlich
nicht besonders zu erwähnen.
Die Einrichtung ist in allen Häusern dieselbe;
gleichgültig, ob sie zur Aufnahme für ruhige oder
unruhige Kranke bestimmt sind. An keinem Hause
sind Gitter angebracht, die Fenster sind von dünnem
Glas, auch in den Wachsälen; zum Speisen dienen
Tassen, Teller, Schüsseln und Gläser wie in jedem
Privathaus, die Speisen stehen Mittags und Abends
auf dem Tisch, so dass jeder selbst zugreifen kann,
auch im unruhigen Hause; zum Waschen dienen Porzel¬
lanschüsseln, jeder Kranke hat sein eigenes Hand¬
tuch, wer wünscht und Verständnis dafür besitzt, er¬
hält eine Zahnbürste; überall sind Gardinen angebracht,
und in allen Häusern ist das leichte handliche Mobilar,
wie man es auch in einem Privathause in Gebrauch
hat.
Der Betrieb wurde am i. März 1900 mit der
Ueberweisung von 25 Männer und 09 Frauen aus
der Kölner Anstalt Lindenburg eröffnet. Mitte März
folgten dann 80 Kranke aus Mariaberg und damit
war der Ausgangspunkt für die weitere Ausgestaltung
des Anstaltsbetriebes gegeben. Wer die Anstalt zu
jener Zeit gesehen hat, als sie noch recht unfertig war
und es an allen Ecken und Enden haperte, als kaum ein
Gebäude fertig war und die meisten Gärten noch fehlten,
und als die Wege und Anlagen sich noch in recht
unvollkommenem Zutande befanden, der konnte die
Schönheit des Ganzen, wie es sich Ihnen heute
präsentiert, wo es wie ein grosser Schmuckkasten vor
Ihnen liegt, nur ahnen, wie man die Schönheit eines
Monumentes auch nur vermuthen kann, wenn man einen
roh zugehauenen Marmorblock sicht und weiss, dass
er von eines Künstlers Hand behauen werden soll.
Naturgemäss war die weitere Entwicklung vorerst
eine langsame, und da die Zahl der fertigen Gebäude
eine kleine war, wurde uns zunächst nur die Hälfte
der Aufnahmen der Stadt Köln zugewiesen, deren
andere Hälfte bei der Anstalt Bonn blieb. Am 1. Jan.
1901 konnten uns die Aufnahmebezirke Barmen,
Lennep, Remscheid und Solingen Stadt und Land
zugewiesen werden, zu denen sich dann einige Zeit
später, am i.Novbr. 1901, noch die Stadt Elberfeld ge¬
[Nr. 23
seilte. Ausserdem wurde uns aus den rhein. Anstalten
Andernach, Bonn, Düren und Grafenberg zu ihrer
Entlastung eine grössere Anzahl von Kranken zuge¬
schickt. Immerhin betrug die Aufnahmeziffer im
ersten Etatsjahre 290 Kranke und zwar 160 Männer
und 130 Frauen, davon 102 aus andern Anstalten, näm¬
lich 56 Männer und 46 Frauen; im zweiten Etats¬
jahre haben wir 486 Kranke aufgenommen, 254 Männer
und 232 Frauen, davon 194 aus andern Anstalten
und zwar 88 Männer und 106 Frauen.
Das Aufnahme-Material remitiert sich also aus
den Grossstädten Köln, Elberfeld-Barmen und den
industriereichen Bezirken des bergischen Landes
Lennep, Remscheid und Solingen. Vornehmlich sind
also durch uns die beiden grossen Anstalten Bonn
und Grafenberg entlastet w r orden. Den Aufnahmen
steht im ersten Etatsjahr ein Abgang von 113 Kranken
gegenüber, davon 29 Todesfälle, im zweiten Jahre
von 252 Kranken, davon 71 Todesfälle. Der Bestand
am 31. März 1902 betrug 586 Kranke, 300 Männer
und 286 Frauen.
Die aufgenommenen Kranken werden in der
Regel zunächst in der Central anstatt untergebracht,
d. h. in den geschlossenen Häusern, wozu das
Aufnahme- und Ueber wachungshaus, das Haus
für die unruhigen Kranken und das halboffene
Haus gehört. Die Unterbringung erfolgt natürlich
nach den allenthalben üblichen Grundsätzen. Im
Aufnahme-Haus befinden sich 2, im unruhigen Haus
und ausserdem im Lazareth belindet sich je ein Wach¬
saal für die entsprechenden Kranken. In die offenen
Häuser kommen die Aufnahmen nur ausnahmsweise;
es konnten z. B. von den uns aus den andern An¬
stalten überwiesenen Kranken manche ohne weiteres
dort untergebracht werden, weil sie uns bekannt waren.
In der Regel erfolgt die Versetzung in die freien
Häuser erst nach einer mehr weniger langen Be¬
obachtungsfrist. Eine Art Uebergangsstation dahin
stellt das sog. halboffene Haus dar, in welchem den
Kranken innerhalb der einzelnen Räume und im Garten
freie Bewegung gewährt ist, wo ihnen beim Essen
Messer und Gabel zur Verfügung steht, und wo sie
die Fenster selbst öffnen können. In den freien
Häusern ist auch der letzte Zwang vermieden, die
Thüren .stehen offen, die Leute können ein und aus¬
gehen, haben freie Bewegung und sind nur an die
Hausordnung gebunden.
Was das Verhalten der Kranken im Allgemeinen
angeht, so muss ich gestehen, dass ich im Anfang
darüber oft überrascht war. Das gilt namentlich von
den Kranken, die aus andern Anstalten hierhin ver¬
setzt worden sind, die mir zum grossen Teil bekannt
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1 9 ° 3 -]
waren, und über die uns die Krankengeschichten ge¬
naue Auskunft gaben. Ich habe nicht ohne Be¬
sorgnis im Anfang die einfache und freundliche Aus¬
stattung bes. im unruhigen Hause und Wachsaal be¬
trachtet und war sehr gespannt zu sehen, wie die
Kranken darauf reagiren würden; ich war recht er¬
staunt, dass die dünnen Möbel und Fensterscheiben
etc. so selten als Zielscheibe bei den Explosionen der
Kranken benutzt wurden. Die Kranken fühlten sich
ersichtlich wohl hier, und wie gut sie sich schickten,
dafür spricht die Thatsache, dass im unruhigen Wach¬
saal bisher nur einmal eine Gardine herabgerissen
worden ist. Auffallend gut haben sich auch die
Kranken aus Mariaberg hier eingelebt, ohne uns durch
unangenehme Eigenschaften viel zu schaffen zu machen,
und gerade ihnen ging nicht der beste Ruf voraus.
267
etc. haben wir von Anfang an verzichtet und sie auch
nie entbehrt; es herrscht im Ganzen eine wohlthuende
Ordnung auf allen Abtheilungen.
Eine wesentliche Errungenschaft der Verhältnisse
möchte ich darin erblicken, dass die Erregungszu¬
stände der Kranken im Ganzen einen milden Cha¬
rakter beibehalten haben. So heftige Erregungen,
wie ich sic früher gesehen, habe ich hier kaum zu
beobachten Gelegenheit gehabt. Das kann nicht am
Material liegen, denn das ist das gleiche wie in den
anderen Anstalten, es kann auch nicht daran liegen,
dass die Kranken, soweit hier die in Betracht kom¬
men, die wir aus anderen Anstalten bekommen haben,
im Laufe der Zeit mehr verblödet wären, auch sind
die Behandlungsgrundsätzc ja dieselben wie in den
anderen Anstalten, sondern es ist wohl als die Folge
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Und viele von den Patienten, die sich in den andern
Anstalten nach den Krankenjournalen meist auf den
unruhigen oder halbruhigen Abtheilungen befunden
haben, konnten hier sehr bald in freie Häuser ver¬
legtwerden. Gar mancher urtheilsfähige Patient hat sich
darüber ausgesprochen, dass ihn früher die Gitter und
das ganze Milieu permanent gereizt hätten, und dass
er sich hier viel wohler fühle, weil ihm der Anstalts¬
zwang nicht so zum Bewusstsein komme, wie früher.
Nun ist es ja bekannt, dass Versetzungen oft einen
günstigen Einfluss auf das Befinden der Kranken
ausüben, und das natürlich um so mehr, wenn sie
in äusserlich freundlichere Verhältnisse erfolgt. Uebt
doch das Milieu, in dem der Mensch lebt, auch bei
gesunden nicht selten einen bestimmenden Einfluss
auf seinen Charakter aus. Ich halte das Milieu für
einen ausserordentlich wichtigen Heilfaktor bei der
Behandlung der Psychosen. Durchweg halten sich
die Kranken recht gut, ordentlich in der Kleidung;
selten, dass einer versucht auf der Erde herumzu¬
liegen; in den Gärten halten sie sich meist an die
Wege und demoliren namentlich die Sträuchcr und
Anpflanzungen nicht; auf feste Kittel, Schlossschuhe
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und der Erfolg des ganzen Milieus, der freien Ver¬
hältnisse aufzufassen. Speciell die Erregungszustände
der Epileptiker, deren wir ja eine grosse Zahl hier
beherbergen, sind im ganzen recht milde geblieben.
Das alte Personal, das aus Mariaberg mitgekommen
ist und die alten Pfleglinge von dort genügend kannte,
konnte sich nicht genug über die so ganz andere
ruhigere und bessere Haltung der Kranken und das
Ausbleiben der von ihm angekündigten und gefürch¬
teten Erregungszustände wundem. Die einzigen, die
uns wirklich Mühen und Scheerereien machen, das sind
hier, wie überall die Degenerirten gewesen, diese crux
aller Anstaltsärzte. Wenn irgend einmal ordentlicher
Lärm herrschte oder in ausgiebiger Weise etwas entzwei
geschlagen wurde oder eine Fensterscheibe klirrte, dann
war mit ziemlicher Sicherheit darauf zu rechnen, dass von
dieser Kategorie jemand die Hand im Spiele hatte.
Wir sind natürlich am besten mit ihnen gefahren,
indem wir ihnen möglichst viel Freiheit gewährten,
d. h. sie thunlichst in den freien Häusern unter¬
brachten.
Dagegen haben die Alkoholisten und die Ver¬
brecher, von denen wir in den 2 Jahren eine grosse
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HARVARD UN1VERSITY
268 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
Zahl aufgenommen haben, sich im Ganzen gut ge¬
halten.
In den freien Häusern befindet sich ein ziemlich
grosser Procentsatz der Kranken. Vornehmlich und
als Krystallisationspunkt Pfleglinge, dann aber auch
viele Reconvalescenten, und bei der Versetzung da¬
hin sind wir nie engherzig gewesen und haben das
auch nicht zu bereuen brauchen. So mancher Kranke,
der nur auf Flucht sann und durch seine unangeneh¬
men Eigenschaften lästig wurde, war wie umgewandelt,
wenn er in ein offenes Haus versetzt wurde. Von
Schwängerungen sind wir glücklicherweise verschont
geblieben, dagegen waren wir doch gelegentlich ge-
nöthigt, dem einen und andern die Freiheit zu ent¬
ziehen, weil er sich in verdächtiger Weise Kindern
genähert hatte, oder weil er sich den Bewohnern der
Umgebung durch sein Benehmen auffällig gemacht
hatte. Entfernt haben sich natürlich eine ganze An¬
zahl von Kranken, sowohl aus den offenen Häusern
wie aus der Centrale. Die meisten haben wir zu
Hause gebissen, die andern wurden in wenigen
Stunden oder in den nächsten Tagen zurückgebracht.
Die Behandlung richtete sich nach den allgemein
üblichen und erprobten Grundsätzen. In erster Linie
ist natürlich von der Bettbehandlung ausgedehnter
Gebrauch gemacht werden, vornehmlich bei acuten
Psychosen, dann aber auch bei den im Verlaufe chro¬
nischer Krankheiten sich einstcllenden Erregungszu¬
stände und selbstverständlich auch bei siechen Kran¬
ken. Schätzenswerth ist sie w'ohl besonders als An¬
staltsregime, und man kann sagen, dass durch sie die
Abtheilungen zu einem ruhigeren und wohnlicheren
Aufenthalt geworden sind.
Aus diesem Grunde haben wir auch manche
chronische Kranke im Bett gehalten, wenn uns die
Erfahrung zeigte, dass die Bethätigung ihrer üblen
Angewohnheiten dadurch verhindert wurde. Ausser¬
ordentlich angenehm sind für uns die an jedem Haus
angebrachten Veranden, die es uns ermöglichen, die
Betten mit den Kranken bei gutem Wetter ins Freie
zu schieben. Wir lassen übrigens eine ganze Anzahl
von Patienten, die der Bettbchandlung unterworfen
sind, Nachmittags für einige Stunden sich in den
Gärten ergehen. Es muss freilich grosses Gewacht
auf die Vertheilung der Kranken bei der Bettbehand¬
lung gelegt werden, damit Elemente, die nicht zu
einander passen, möglichst getrennt worden und da¬
mit sie sich nicht gegenseitig aufregen.
Bäder sind in reichlichem Maasse gegeben worden,
auch Dauerbäder, soweit die Einrichtungen dies ge¬
statteten, obwohl ich gestehen muss, dass auch sie
uns bei manchen Erregungen im Stiche lassen. Die
Einrichtung von Dauerbädern, die auch Nachts woiter
gegeben werden, wie dies in Heidelberg und Frank¬
furt geschieht, will mir a priori nicht sehr sympathisch
erscheinen. Ich habe zw r ar keine persönliche Erfah¬
rung darüber, indess erscheint mir doch aus manchen
Gründen sehr fraglich, ob sie das Bürgerrecht in der
Psychiatrie erwerben werden.
Einen reichlichen Gebrauch haben wir auch von
den feuchten Einpackungen von 2 — 3 stündlicher
Dauer gemacht, einmal, weil zuweilen die Badege¬
legenheit gar nicht ausreichte und dann, weil die
feuchte Einpackung in manchen Fällen die Wirkung
eines Kurbades weit übertrifft Wir haben sie in der
Art angewandt, wie sie auch anderorts, z. B. in Grafen¬
burg, üblich ist, ohne die dazu benutzten Tücher zu¬
letzt durch Binden zu befestigen, so dass es für den
Patienten ein leichtes ist, sich aus der Einpackung
zu befreien, wenn sie ihm nicht behagt. Der Ein¬
wand, dass sie ein beschränkendes Zwangsmittel ist,
lässt sich bei dieser Art der Anwendung nicht er¬
heben. Es wird übrigens Abstand von ihr genom¬
men, wenn der Kranke sie sich nicht gefallen lässt.
In einen oder andern Fall verursacht sie bei längerer
Anwendung die Entstehung von Acnepusteln und
kleinen Furunkeln und ist dann natürlich auszusetzen.
Was die Narcotica angeht, so haben wir zeitweise
einen ausgedehnten Gebrauch von ihnen machen
müssen. Auf der Männerseite war der Consum ge¬
ring, doch muss ich ehrlich gestehen, dass wir auf
der Frauenseite ohne sic wohl nicht gut ausgekom¬
men wären. Ich kann den Standpunkt der Psv-
chyater nicht theilen, die sie grundsätzlich verwerfen,
und kann nur mit Bleuler*) übereinstimmen, der in
ihrer Versagung unter Umständen eine Grausamkeit
erblickt. Für den Kräfteverbrauch so manches er¬
regten Patienten ist eine, wenn auch nur vorüber¬
gehende, Zeit der Ruhe, des Schlafes, doch gewiss
nicht zu unterschätzen und manchmal auch nur durch
Schlafmittel zu erreichen. Und ausserdem haben wir
nicht nur auf einen, sondern auf alle Kranke Rück¬
sicht zu nehmen. Es ist durchaus nicht allen Pa¬
tienten gleichgültig, ob in ihrer Umgebung Ruhe oder
Lärm herrscht. Und zudem steckt der eine den
andern mit seiner Unruhe nur zu oft an, das ist
eine alte Erfahrungstatsache. Man muss sich nur
einmal selbst lange auf einer unruhigen Abtheilung
befunden haben und die nervenerregende Wirkung
eines stundenlangen Schreiens oder Schimpfens an
sich selbst empfunden haben, dann wird man die
Klage vieler Patienten über die Unruhe verstehen
*) Psychiatr. Wochenschrift, III, Nr. 49.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 269
und ihr abzuhelfen suchen. Sind die einen ausser¬
ordentlich stumpf in dieser Beziehung, so sind die
andern um so empfindlicher. Wir haben auf dem
unruhigen Frauen wachsaal eine Kranke, die gelegent¬
lich Abends anfängt mit lauter Stimme zu singen —
lediglich weil ihr das Spass macht, wie sie sagt —
und es ist keine Patti, die da ihre Stimme ertönen
lässt, das kann ich Ihnen versichern. Nun, in’s
Bad setzen können wir die Frau Abends nicht mehr,
es nützt bei ihr auch nichts, aber wenn nicht bald
eingeschritten wird, so stimmen eine Anzahl von
Kranken bald ein und es giebt ein Concert, das
Stein erweichen, Menschen rasend machen kann,
und über das die andern sich mit Recht beklagen.
Da wäre es doch Unvernunft, wenn wir die Kranke
nicht durch ein Schlafmittel beruhigen wollten.
Zur Anwendung kommen Trional, Sulfonal, Chloral,
Paraldehyd, Amylenhydrat, Opium, Morphium, Brom;
von neueren Mitteln hat sich als wirklich schätzens-
werth in Gaben von 1 — 3 g Dormiol bewiesen,
das namentlich bei älteren Leuten mit schwachem
Gefässsystem gute Dienste leistet und längere Zeit
hindurch ohne Schaden gegeben werden kann. Auch
Scopolamin wird angewandt. Ich freue mich, dass
K reuser-Schussenried *) es jüngst wieder empfohlen
hat. Ich halte es nach all den Jahren, in denen ich
es habe anwenden sehen und selbst angewandt habe,
gelegentlich für das beste von den Mitteln, die uns
zur Verfügung stehen, und halte es auch für ein un¬
gefährliches Mittel. Zum ersten lässt es fast nie im
Stich, zum zweiten habe ich in 6 Jahren noch keinen
wirklichen Nachtheil davon gesehen, obwohl ich es
auch stellenweise in hohen Dosen bis zu 2 mg sub-
cutan angewandt habe. Die kleinen üblen Neben¬
wirkungen als Gefühl der Trockenheit, gelegentlich
Gefühl der Trunkenheit, gehen schnell vorüber, und
unangenehm wird nur von dem einen oder andern
die den folgenden Tag bestehende Accomodations-
lähmung empfunden. Man darf es nur nicht längere
Zeit hindurch regelmässig geben, da sich dann eine
Art Cachexie einstellt. Nun, eine längere regelmässige
Anwendung verbietet sich ja bei den meisten Narco-
ticis. Die beste Anwendung ist subcutan, und ge¬
wöhnlich kommt man mit x / 2 — 1 mg aus.
Bei vielen periodischen Erregungszuständen, bei
denen sich durch Curven eine grosse Regelmässigkeit
nach weisen liess, haben wir nach dem Beispiel von
Hitzig eine Atropinkur eingeleitet. Wir haben leider
nie besonders viel Erfolge damit erzielt. Einen wirk¬
lich eklatanten Erfolg habe ich nur einmal seinerzeit
in Bonn gesehen; in all den übrigen Fällen — und
*) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 59. Bd., Heft 1.
Digitized by Google
ich habe es sehr oft versucht und wende es immer
noch an — war der beste Erfolg gelegentlich die
Thatsache, dass die Erregung etwas später einsetzte
oder vielleicht nicht ganz so stürmisch verlief. Ich
habe dabei oft die Beobachtung gemacht, dass die
Pupillen trotz häufiger Atropininjection eng bez-
mittelweit blieben, mit dem Tage jedoch, mit dem
die Erregung einsetzte, sich ad maximum erweiterten.
Das moderne Schlagwort von der zellenlosen Be¬
handlung hat natürlich auch in unserer Anstalt seinen
Widerhall gefunden, und wie man meines Wissens
schon vor Jahren in Andernach die Isolirungen ab¬
geschafft hat, so haben auch wir versucht, ohne sie
auszukommen. Im ersten Jahre ist an zwei aufein¬
anderfolgenden Tagen eine Patientin isolirt worden,
eigentlich nur des völlig unerfahrenen Personals wegen,
seitdem ist in unserer Anstalt von der Zelle kein
Gebrauch gemacht worden.
Es ist ohne Isolirung gegangen. Ich möchte aber
für meine Person aus der zellenlosen Behandlung kein
Princip machen. Bleuler hat vor kurzem in der
Psychiatr. Wochenschrift*) seine Ansicht darüber
niedergelegt, und seine Ausführungen sind mir, wie
alles was ich von ihm über Behandlung gelesen habe,
sehr sympathisch und als sehr practisch erschienen.
Er spricht sich entschieden gegen das Princip der
zellen losen Behandlung aus. Es ist eben beim Iso-
liren eine strenge Auswahl zu treffen. Ein Theil von
Kranken, z. B. solche, die zum Schmieren neigen,
gehört nicht in die Zelle, für einen andern ist ge¬
legentlich die vorübergehende Isolirung eine Wohl-
that, oder sie ist für die Umgebung eine Wohlthat,
während sie für den Betreffenden wenigstens unschäd¬
lich ist. Auf die Isolirung ebenso wie auf die Nar-
colica völlig Verzicht leisten, das heisst doch wohl
allzu sehr alles über einen Kamm scheeren und von
vornherein auf jegliches Individualismen verzichten.
Neuerdings mehren sich auch die Stimmen, die die
Bewegung der zellenlosen Behandlung einzudämmen
suchen, so der eben genannte Kreuser**), der auf
der 32. südwestdeutschen Psychiater-Versammlung am
2. und 3. November 1901 mit seinen diesbezüglichen
Ausführungen keinen Widerspruch gefunden hat, so
Sander ebendaselbst, der die Isolirung in vereinzelten
Fällen für den mildesten Eingriff hält, so J o 11 y ** + ),
der die Bemerkung macht, dass das extreme Ziel
der Fanatiker in dieser Frage ebensowenig verwirk¬
licht zu werden braucht wie in der Frage der Alko-
*) III. Jahrgang, Nr. 49.
**) 1. c.
***) citirt nach d. Psych.-neurol. Wochenschrift VI, Heft 9
S. 10.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
270 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
holabstinenz; ich möchte hinzufügen, wie auch in der
Frage der Abstinenz von Narcotica. Es darf doch wohl
überhaupt bei einer Wissenschaft, die in Fluss be¬
griffen ist, keine starre für alle Fälle festgeltenden Prin-
cipien geben.
Uebrigens bin ich der Ansicht, dass auch hier im
einen oder andern Falle eine Isolirung nicht unzweck-
mässig gewesen wäre, wir haben aber darauf ver¬
zichtet, um die zellenlo.se Behandlung in praxi kennen
zu lernen.
Die Versetzung aus der Centralanstalt in die offe¬
nen Häuser ist als Behandlungsmethode oft von uns
in Anwendung gebracht worden und zwar meist mit
gutem Erfolg. Unthätige Kranke wurden zu fteissigen
Arbeitern, unzufriedene Nörgler zu friedlichen Staats¬
bürgern, zanksüchtige Elemente zu friedfertigen um¬
gänglichen Menschen umgewandelt.
Leider zwang uns die Ueberfüliung einzelner Ab¬
theilungen bes. der Lazarethe manchmal zur Versetzung
von Kranken in die freien Villen, die wir lieber nicht
dorthin gebracht hätten. Aber es ist geradezu un¬
glaublich, wie viel senil demente hinfällige Personen
zeitweise zur Aufnahme gelangten, so dass die Laza¬
rethe doppelt so gross für sie alle sein müssten.
Namentlich hat Köln uns zeitweise mit solchen Kran¬
ken aus seinen Versorgungshäusem bedacht, so be¬
kamen wir z. B. einmal in einer Woche aus Köln
5 Kranke, die zusammen das respectable Alter von
387 Jahren besassen, also durchschnittlich 77 Jahre
pro Kopf. Infolge dieses Materials haben wir be¬
sondere Sorgfalt auf die Verhütung der Unreinlich¬
keit gelegt, und da haben uns Einläufe, die sehr
viel gemacht werden, gute Dienste geleistet. Dann
ist auch in den Lazarethen eine Nachtwache einge¬
richtet, die genaue Vorschrift bekommt, welche Kran¬
ken und wie oft sie aufzuheben sind, und seitdem
gehört Unreinlichkeit dort wirklich zu den Selten¬
heiten. Die Kranken lassen sich das Aufheben Nachts
mit Unterbrechung ihres Schlafes merkwürdig gut ge¬
fallen, und ich habe trotz Umfrage bei dem Personal
und den Kranken nie Klagen darüber gehört Für
hinfällige Personen steht natürlich ein Steckbecken
zur Verfügung.
Bezüglich der Arbeit hat sich auch hier wieder
gezeigt, dass auch die Bevölkerung der Gross- und
Industriestädte für die Landwirthschaft wohl zu
brauchen ist. Der Procentsatz der Arbeiter bewegt
sich so ziemlich in denselben Zahlen wie bei den
anderen Anstalten.
Mit der Entlassung von Kranken sind wir stets
liberal gewesen, und wir haben auch hier die Er¬
fahrung gemacht, dass viele Patienten sich draussen
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halten, die im medic. Sinne als ungeheilt entlassen
werden mussten.
Nur nebenbei will ich bemerken, dass wir von
Epidemien, einige Influenzafälle im ersten Jahre aus¬
genommen, verschont geblieben sind; wir können
besonders von Glück sagen, dass wir im ersten
Jahre von Darmerkrankungen so gut wie frei ge¬
blieben sind, obwohl wir damals unter misslichen
Trinkwasser-Verhältnissen zu leiden hatten.
Die Zahl der Sterbefälle war eine ziemlich hohe,
was bei der grossen Zahl von Paralytikern und senilen
Psychosen, die zur Aufnahme gelangte, nicht ver¬
wunderlich erscheint. Ausserordentlich gross war die
Zahl der Fälle, bei denen wir post mortem Zeichen
von langsam verlaufender Lungentuberculose fanden;
es waren das fast ausnahmslos Kranke, die schon
seit Jahren sich in Anstalten befanden, und bei denen
die Tuberculose eigentlich nie bes. in Erscheinung
getreten war.
Das Personal unserer Anstalt hat sehr viel ge¬
wechselt, was sich natürlich oft unangenehm bemerk¬
bar gemacht hat. Namentlich erscheint dadurch der
Nutzen des ihm erthcilten Unterrichtes ziemlich illu¬
sorisch.
Besonders grobe Vergehen sind nicht vorgekom¬
men und es ist nicht schlechter und besser als sonst
auch ; voraussichtlich weiden ja diese Zustände in ab¬
sehbarer Zeit auch nicht anders werden. Wie in
manchen andern Anstalten, so nimmt auch hier das
Personal das Essen gemeinsam in 2 Gruppen in einem
bestimmten Speisezimmer ein, so dass es während
der Mahlzeiten von jeder Sorge um die Kranken
völlig befreit ist. Diese Einrichtung hat sich ent¬
schieden bewährt. Für einige verheirathete Pfleger
sind schon Wohnungen ausserhalb der Anstalt ge¬
schaffen, für andere wird noch gesorgt; vielleicht lässt
sich hier später der Grund zu einer Familien pflege legen.
Ich habe Ihnen, meine Herren, bei der mir zu
Gebote stehenden Zeit, natürlich nur einen Ueber-
blick über den Betrieb der Anstalt Galkhausen geben
wollen; viele Punkte habe ich gar nicht berühren
können und auf Details einzugehen habe ich mir
versagen müssen. Ich hoffe aber, in Ihnen die Ueber-
zeugung erweckt zu haben, dass wir nicht schlechter
abschneiden wie die anderen Anstalten und die Ueber-
zeugung, dass die Psychiatrie mit der Errichtung
solcher Anstalten wie die hiesige, bei der die Er¬
rungenschaften unserer Disciplin, namentlich der
letzten 25 Jahre, in ausgedehnterem Maasse verwirk¬
licht werden konnten als dies natürlich bei älteren An¬
stalten der Fall sein kann, dem Ideale der psychiatri¬
schen Behandlung um ein wesentliches näher gerückt ist.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 271
Der rhein. Pro v inzial-Verwaltung gebührt der Dank
Von diesem Bestand litten an:
dafür, dass sie in der richtigen
Beurtheilung der
Sache den Bau dieser Anstalt seiner Zeit unternom-
M.
F.
S.
men und zu einem so schönen Ende durchgeführt hat.
M
Y
s
einfacher Seelenstörung ....
46
50
96
paralytischer Seelenstörung . . .
10
6
16
Eröffnung 1. III. 1900 mit
25
69
94
Seelenstörung bei Epilepsie . .
26
6
32
Zugang im März 1900 ....
80
1
81
Imbecill. und Idiotie.
22
7
3 i
Abgang im März 1900 (durch Tod)
1
1
2
Summe
104
69
173
Bestand am 31. III. 1900 . . .
104
69
173
I. Etatsjahr
II. Etatsjahr
1. IV. 1900 bis 31. III. 1901.
i.IV. 1901 bis 31. III. 1902.
M.
F.
S.
M.
F.
S.
Bestand 1. IV. 1900.
104
69
173
Bestand 1. IV. 1901.
197
155
352
Zugang vom 1. IV. 1900 bis 31. III.
Zugang bis 31. III. 1902 . . .
254
232
486
1901.
160
130
290
Abgang bis 31. III. 1902 . . .
153
99
252
Abgang i.IV. 1900 bis 31. III. 01
67
44
111
Bestand am 31. III. 1902 . . .
298
288
586
Bestand am 31. III. 1901 . . .
197
155
352
Von den Aufnahmen litten an:
Von dem Zugang litten an
M.
F.
S.
M.
F.
S.
einfacher Seelenstörung ....
116
104
220
einfacher Seelenstörung ....
176
183
359
paralytischer Seclenstörung . . .
19
12
31
paralytischer Seelenstörung . . .
36
26
62
Seelenstörung bei Epilepsie . .
14
6
20
Seelenstörung bei Epilepsie . .
27
11
38
Imbecillität, Idiotie.
6
6
12
Imbecillität, Idiotie . . . . *. .
14
11
25
Delirium potat.
3
1
4
Delirium potat.
—
—
—
nicht Kranke.
2
1
3
nicht Kranke.
1
1
2
Summe
160
130
290
Summe
254
232
486
Von den Aufnahmen:
M.
F.
S.
M.
F.
S.
erblich belastet.
00
45
132
erblich belastet.
75
90
i ^5
Der Alkohol spielte in der Vorgeschichte eine wesentliche Rolle bei:
M.
F.
S.
M.
F.
S.
45
5
5 °
88
29
11 7
Mit dem Strafgesetz in Conflict gekommen :
M.
F.
S.
M.
F.
S.
25
10
[ 35
69
r 1
80
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
Abgang:
M.
F.
S.
geheilt.
17
16
33
gebessert.
27
15
42
ungeheilt.
6
1
7
nicht krank.
2
—
2
gestorben ..
15
12
27
Summe
67
44
111
Todesursache der Gestorbenen:
M.
F.
'S.
Paralyse.
Krankheiten des Gehirns und s.
8
5
13
Häute.
3
7
IO
Lungenkrankheiten.
2
—
2
Herzleiden.
2
—
2
Summe
15
12
27
M i
t t
h e
— Stuttgart. Die Irrenabtheilung des hiesigen
Bürgerhospitals steht gegenwärtig im Begriff, durch
Anbauten eine wesentliche Vergrösserung zu erfahren,
die einestheils durch die Fortschritte in der Behand¬
lung Geisteskranker, anderntheils durch die stetig zu¬
nehmende Inanspruchnahme dieser Spitalabtheilung
nöthig geworden ist. Wenn auch einerseits nicht im
Ernste daran gedacht werden kann, die Irrenabtheilung
des Stuttgarter Bürgerhospitals zu einer eigentlichen
„Irrenanstalt“, wenn auch kleineren Umfangs, auszu¬
gestalten — hiefür besteht weder die Möglichkeit noch
das Bedürfnis — und wir daher hier in Stuttgart von
allen denjenigen Einrichtungen abstehen müssen, die
auf einen langdauemden Aufenthalt der Kranken be¬
rechnet sind (wie besondere Anlagen zur Beschäftigung),
so hat sich doch andererseits die städtische Verwaltung
der Erkenntnis nicht verschlossen, dass auf diejenigen
Einrichtungen, die der Behandlung der Geisteskranken
in den ersten Zeiten der Erregung dienen, auch in
einer zur vorübergehenden Aufnahme bestimmten
Irrenstation nicht verzichtet werden darf, da ja eine
solche Station ihre Kranken fast durchweg in früheren
Stadien aufnimmt und deswegen einen relativ viel
höheren Procentsatz an stark erregten und jener Ein¬
richtungen bedürftigen Kranken beherbergt als die
eigentlichen Irrenanstalten. Diesem Zweck dient in
erster Linie die Erstellung eines Badesaals für Dauer¬
bäder auf der männlichen und weiblichen Abtheilung
mit je 4 Badewannen (unter Beibehaltung und zweck¬
mässiger Aenderung der vorhandenen Badeeinrich -
tungen). Durch ähnliche Bedürfnisse und ausserdem
durch die zunehmende Frequenz der Irrenabtheilung
nothwendig geworden ist die Erstellung eines weiteren
Wachsaals, so dass dann jede Wachabtheilung über
Abgang:
M.
F.
S.
geheilt.
48
32
80
gebessert.
43
26
69
ungeheilt.
22
6
28
nicht krank.
1
—
1
gestorben.
36
35
7 i
3*)
—
3
Summe
1 53
99
252
*) Aus der Beobachtung entlassen.
Todesursache der Gestorbenen:
M.
F.
S.
Paralyse.
12
15
27
Krankheiten d. Gehirns u. s. Häute
4
4
8
Lungenkrankheiten.
IO
2
12
davon Tbc.
( 7 )
(1)
( 8 )
Herzleiden.
4
4
8
andere Krankheiten.
6
IO
16
Summe
36
35
7 1
1 u n g e n.
einen — an die Daucrbadeeinrichtung sich unmittelbar
anschliessenden — Wachsaal für Unruhige und einen
solchen für Ruhige verfügt. Es ist vielleicht auch für
weitere Kreise nicht uninteressant, hier zu erfahren,
dass die Zahl der jährlichen Neuaufnahmen auf der
Irrenabtheilung seit einer Reihe von Jahren, namentlich
seit die Einrichtungen und der Betrieb berechtigten
Anforderungen entsprechen, in stetiger Zunahme be¬
griffen ist. Von 121 jährlichen Neuaufnahmen im
Jahre 1893 — dem letzten Jahre, da die Irrenab¬
theilung noch im alten Bürgerhospital untergebracht
war — ist die Zahl der Neuaufnahmen im abgelaufenen
Jahre auf 220, also annähernd das Doppelte, gestiegen.
Durch die Erstellung jener weiteren Räume, zu denen
sich noch, um eine grössere Abstufung nach Krank¬
heitsformen und socialen Verhältnissen zu ermöglichen,
die Erstellung einer Anzahl Einzelzimmer gesellt, wird
auch weitgehenden Bedürfnissen und Ansprüchen für
absehbare Zeit Genüge geleistet werden. Gleichzeitig
mit diesen baulichen Aenderungen werden die Garten¬
anlagen für die Irrenabtheilung durch Erstellung von
Wandelgängen, die den Gartenaufenthalt von den Ein¬
flüssen der Witterung unabhängiger gestalten sollen,
in zweckmässiger Weise verbessert werden. Die ge¬
nannten Bauten und Neueinrichtungen sind vor wenigen
Monaten begonnen worden und werden — Dank der
Fürsorge der städtischen Verwaltung und dem Eifer
der Bauleitung — so gefördert werden, dass sie noch
im Herbste dieses Jahres in Benützung genommen
werden können.
(Staatsanzeiger für Württemberg No. 115, 21. Mai 1902.)
Berichtigung. Die redactionelle Bemerkung auf S. 263,
1 . Spalte, Z. 4—7, entstammt der Red. der betr. Tageszeitung.
Für den redactionellen Th eil verantwortlich: Oberarzt Dr. J, Iiresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
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Psychiatrisch-Neurologische
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Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
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herausgegeben von
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redigirt von
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Kraachnitz (Schlesien).
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Nr. 24, 13. September. ' _ 1902,
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz «Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Der Wiener Irrenthunn. Von Dr. Wilhelm Lorenz (S. 273). — Mittheilungen (S. 277). — Referate (S. 280).
— Personalnachricht (S. 280).
Der Wiener Irrenthurm.
Ein Beitrag zur Geschichte des niederösterreichischen Irrenwesens.
Von Dr. Wilhelm Lorenz , n.-ö. Landes-Sanitäts-Concipist.
T~\ie vielfach vertretene Ansicht, welcher auch
Wittelshöfer in seiner verdienstvollen Ge¬
schichte der Heil- und Humanitätsanstalten Wiens
beipflichtet, nach welcher die Mehrzahl der Geistes¬
kranken bis zur Zeit der Reform des gesammten
Humanitätswesens Wiens durch Kaiser Joseph II
in Gefängnissen gemeinschaftlich mit Verbrechern,
(nach W i 11 e 1 s h ö f e r ’s Angabe in einem Gefäng¬
nisse am „Salzgries“) eingesperrt gewesen wären,
„woselbst sie nur nothdürftig bekleidet in Ketten lagen
und gleich Thieren gefüttert wurden“, scheint nicht
vollkommen zutreffend zu sein, da in den allerdings
nur sehr spärlichen Urkunden, die ein schwaches
Licht in das Dunkel zu bringen vermögen, in welches
die Fürsorge für die Geisteskranken Wiens in den
früheren Jahrhunderten gehüllt ist, kein sicherer An¬
haltspunkt dafür auffindbar ist, dass die Geisteskran¬
ken den Verbrechern gleichgehalten wurden. Eine
der ältesten uns erhalten gebliebene Urkunde, die
Fürsorge für Geisteskranke betreffend — wenn nicht
die älteste überhaupt — liefert mit aller Deutlichkeit
den Beweis, dass die Irrsinnigen in Wien schon zu
Beginn des XVII. Jahrhunderts in Spitälern Aufnahme
fanden und daselbst verpflegt wurden. Enthalten ist
diese für die Beurtheilung der damaligen Verhältnisse
höchstwichtige Mittheilung in einem Erlasse des Ge¬
heimen- und Deputationsrathes vom 11. Juni 1611,
nach welchem „Denen von Wien“ der Auftrag er-
theilt wird, dass . . . (sie) . . . die mit dem Hin¬
fahlenden, Vnsucnigkhait vnnd anndem abscheulichen
Leibschäden behaffte, in dass Burgerspittal einnemben
oder im Fahl sich bay ainem oder dem anndem ain
Betrug hierinnen befindet diesselben von der Statt
wegschaffen“. *)
*) Original im Wiener städtischen Archiv. N. 5 ex 1611.
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HARVARD UNiVERSITY
274 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
Genauere Angaben über die Versorgung Geistes¬
kranker sind erst aus dem XVIII. Jahrhundert über¬
liefert.
Nach einem Ausweise des Wiener Diariums vom
Jahre 1766 waren damals in verschiedenen Spitälern
128 Irrsinnige, gegen 5 Percent der Gesammtzahl
der Verpflegten in Verpflegung gestanden. Von Spi¬
tälern, in welchen im XVIII. Jahrhundert Geistes¬
kranke untergebracht waren, werden ausdrücklich ge¬
nannt: das Bürgerhospital zu St. Clara*), in welcher
Anstalt Arme, Kranke, Gebärende, Findelkinder,
Waisen, Irrsinnige und Pilger verpflegt wurden; das
Spital zu St. Marx **), wo die Geisteskranken gleich¬
zeitig mit an contagiösen Krankheiten Leidenden,
sowie mit Schwangeren und Findelkindern unterge¬
bracht waren, und das Spanische Spital.
Dass die Pflege der Geisteskranken daselbst oft
viel zu wünschen überliess, dass die verschiedenen
Beschränkungsmittel in weitgehendstem Maasse An¬
wendung fanden, darf nicht wundernehmen zu einer
Zeit, in welcher die Geisteskranken für unheilbar ge¬
halten wurden und ihre Separirung vorwiegend im
Interesse der Gesellschaft erfolgte. Trotzdem muss
die Thatsache betont werden, dass in Niederösterreich,
insbesondere in Wien, für die Geisteskranken wenig¬
stens schon im XVII. und XVIII. Jahrhundert in
menschenwürdigerer Weise vorgesorgt war, als z. B.
in Frankreich und England, wo sie noch bis Ende
des XVIII. Jahrhunderts selbst in der Zelle mit
Hunden gehetzt (Frankreich), Schaulustigen für Geld
gezeigt oder gar während bestimmter Mondphasen
systematisch gepeitscht wurden (England), letzteres um
angeblich den Einfluss des Mondes zu paralysiren.***)
In neue, eine rationellere Pflege und Behandlung
der Geisteskranken ermöglichende Bahnen wurde die
Irrenfürsorge erst in den letzten Decennien des XVIII.
Jahrhunderts gleichzeitig mit der Reorganisation des
gesummten Humanitätswesens durch Kaiser Josef II.
gelenkt. In Würdigung der damals bestandenen un¬
haltbaren Zustände hinsichtlich der Armen- und Kran¬
kenversorgung Wien’s, erliess dieser für die Unglück¬
lichen so warm fühlende Herrscher, von der begrün¬
deten Ansicht ausgehend, dass eine erfolgreiche Be¬
hebung der vielfachen Uebelstände nur durch die
*) Dieses lag nächst dem Kärnthnerthore in der Kärnth-
nerstrasse; ursprünglich ein Kloster, wurde es, nachdem das
frühere Bürgerspilal während der Türkenbelagerung verbrannt und
1532 niedergerissen worden war, zu Spitaizweckcn adaptirt.
**) Bestand schon im Jahre 1394, und muss sohin als die
älteste Heil- und Versorgungsanstalt Wiens angesehen werden.
***) Conolly berichtet, dass aus diesem Grunde noch im
Jahre 1804 mondsüchtige Irre gebunden, gekettet und gepeitscht
wurden.
Trennung der verschiedenen Kategorien pflege- und
hilfebedürftiger Armer und Unterbringung derselben
in gesonderten Anstalten möglich sei, mit Hofdecret
vom 16. April 1781 an die „in den Milden Stiftungs-
Sachen delegirte Hof-Commission“ Directiv - Regeln,
nach welchen er die Umgestaltung der damals in
Wien bestandenen Humanitätsanstalten durchgeführt
wissen wollte. Die Gesichtspunkte, nach welchen in
Hinkunft hinsichtlich der Fürsorge für die Geistes¬
kranken vorgegangen werden sollte, sind im Punkte
3 dieser Directiv regeln behandelt; die bezügliche
Stelle lautet wörtlich:
„3 tio * Unter Jenen, die Schaden oder Eckel ver¬
ursachen, verstehe ich Wahnwitzige und mit Krebsen
oder solchen Schäden behaftete Personen, welche
aus der allgemeinen Gesellschaft, und aus den Augen
deren Menschen müssen entfernt werden, diese müssen
zusammen in ein entferntes Spital verlegt werden,
allwo weder andere Kranke, noch weniger Jugend
oder Kindsbetterinnen sich befinden. Verbesserung
derselben, damit noch eine, noch der andere
unter das Publikum komme, muss das erste Ziel
sein.“ *)
Mit Hofdecret vom 24. August 1782, welches
ausführlichere Bestimmungen über die Organisation
der Annen-, Kranken- und Versorgungshäuser in Wien
enthält, wurde des weiteren angeordnet, dass „die
Narren, auch sonst Eckel erregende Kranke“ in den
Contumazhof**) zu versetzen seien; welche Anordnung
jedoch nie zur Durchführung gelangte, da mittlerer¬
weile auf Antrag des Directors des Hauptspitales
Dr. von Quarin die Errichtung einer ausschliess¬
lich der Unterbringung Geisteskranker gewidmeten
Anstalt in Frage kam. In der Folge wurde denn
auch nordwestlich vom Hauptspitale auf dem vom
Contumazhofe, dem Grossarmenhause und dem Alser-
bache eingeschlossenen Terrain zur Unterbringung
der Geisteskranken ein thurmartiges Gebäude errich¬
tet, welches am 19. April 1784 seiner Bestimmung
übergeben wurde.
Ueber die Auswahl und Zahl der daselbst unter¬
gebrachten Kranken, sowie über die Vertheilung der¬
selben auf die einzelnen Räumlichkeiten und über
deren Behandlung und Veq)flegung im Allgemeinen
giebt ein erhalten gebliebenes Handschreiben Kaiser
J o s e f ’ s II. an Dr. von Q u a r i n ***) in ausführ-
*) Original im Archiv des Staatsministeriuins IV. O. 5.
**) Der Contumazhof lag an der Rückseite des jetzigen
k. k. allgemeinen Krankenhauses und wurde 1776 als Spital
eingerichtet.
***) vgl. das illustrirte Geschichtenbuch vom Kaiser Josef.
Seite 323.
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Original fram
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IQ02.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
275
licher Weise Kunde, welches Schreiben zugleich die
Sorgfalt erkennen lässt, welche dieser menschenfreund¬
liche Herrscher auch den Details seiner Schöpfungen
angedeihen liess. Im Nachstehenden sei diese inter¬
essante Ueberlieferung ausführlich wiedergegeben.
„ . . . . Da ich die Uebersetzung der Irren aus
dem Spanischen Spitale und St. Marx in das Irrenhaus
künftigen Montag über 8 Tage, endlich den 19. dieses
zugleich bei Anbruch des Tages veranlassen will, so
überschicke ich Ihnen hiemeben die Liste, die ich
mir von den in den beiden Orten bestehenden Irren habe
geben lassen. Die zwölf Geistlichen, so roth bezeich¬
net ausgestrichen sind, werden von den Barmherzigen
Brüdern übernommen und sind also in das Irrenhaus
nicht mitzunehmen, sowie die elf Arrestanten aus
St. Marx bei den Arrestanten verbleiben und wegen
den fünf Hinfallenden und sechzehn incurabeln Män¬
nern und Weibern ich den Grafen Boucquoi aufge-
Iragen habe, sie nach Ybbs oder Mauerbach sogleich
zu übersetzen. Es fallen also in allem von St. Marx
sechs und sechzig zu übernehmende Irren und vom
Spanischen Spitale dreiundvierzig aus, da die sieben
genesenen Männer und drei Weiber entweder zu ent¬
lassen oder allda annoch bis zu ihrer gänzlichen Ge¬
nesung zu verbleiben haben. Die hundertneun Irren
sind demnach folgendermassen einzutheilen :
1. In die achtundzwanzig Zimmer des obersten
Stockwerkes des Irrenhauses kommen aus dem Spa¬
nischen Spitale die drei Unreinen und die Zehn von
St. Marx zu zwei und zwei, also in sieben Kammern,
jeder angeschmiedet. In den übrigen der einund¬
zwanzig Kammern kommen von den achtundvierzig
Unruhigen einundzwanzig hinauf, jeder einzelweis.
2. In den darunter befindlichen niederen Stock
kommen dann die übrigen siebenundzwanzig eben¬
falls Unruhigen und müssen auch einzelweis ver¬
bleiben.
3. Der weiters tiefere Stock bleibt ganz leer.
4. In den folgenden, ersten Stock kommen die
neunundvierzig ganz ruhigen und theilweise uncu-
rablen Männer und Weiber, sowol von St. Marx als
vom Spanischen Spitale zu stehen und in jede Kammer
zu zwei und zwei zusammen. Es versteht sich jedoch
von selbst, dass diese zwei und zwei Männer und
Weiber immer vom nämlichen Geschlecht zusammen¬
gesperrt werden.
5. Die Kammern zu ebener Erde bleiben eben¬
falls noch leer und werden diese zwei leeren Stöcke
für die Militär-Irren*) oder Zuwachs reservirt, die
noch kommen. Auf diese Art ist die Eintheilung im
*) Die Uebersetzung der Militär-Inen (aus Pest) wurde
mit allerh. Resolution vom 20. April 1784 verfügt.
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Hause sogleich zu treffen, sowohl wegen der Kranken¬
wärter, als Kost und alles übrigen Nöthigen, damit
an dem bestimmten Tage in aller Frühe von beiden
Orten ins Haus eingezogen werde.
In den beiden oberen Stöcken bleiben die Irren
versperrt, können also nicht Zusammenkommen und
werden nicht herausgelassen. Von den unteren
Stöcken, wo zwei und zwei beisammen liegen, werden
wechselweise Männer und Weiber zu unterschiedlichen
Stunden in den Hof hinabgelassen. Die zween re-
servirten Stöcke bleiben einstweilen gänzlich versperrt.
Wien, den 10. April 1784. Josef.“
Mit der Errichtung des Irrenthurmes war jedoch
die Fürsorge für die Geisteskranken noch nicht ab¬
geschlossen. In den „Nachrichten an das Publikum“,
welche anlässlich der Eröffnung des Hauptspitals zur
Veröffentlichung gelangten, wird die Absicht zum Aus¬
druck gebracht, für die ganz ruhigen Wahnsinnigen
das sogenannte Lazarethgebäude zuzurichten. Wie¬
wohl die daselbst nothwendigen Adaptirungen schon
im Jahre 1788 durchgeführt waren, erfolgte doch die
Belegung desselben erst 1792, also erst nach dem
Tode Kaiser Josef II. und wurde es dazu be¬
stimmt, ruhige und reconvalescente Geisteskranke zu
beherbergen.
Die Irrenanstalt war der Direction des Haupt-
spitales untergestellt. Mit der Beaufsichtigung und
Behandlung der Geisteskranken waren jeweilig die
zwei jüngsten Primarärzte dieses Spitales betraut, von
denen dem einen die Männer, dem anderen die
Frauen zur Behandlung überwiesen waren. Die erste
selbständige Instruction erhielt das Personal der Irren¬
anstalt im Jahre 1789, nach welcher den Wärtern
namentlich jede üble Behandlung der Irren auf das
strengste untersagt war.
Im Nachstehenden soll eine Beschreibung des
vom Kaiser Josef II. errichteten Irrenthurmes, dieser
ersten Irrenanstalt Oesterreichs, gegeben werden.
Der Irrenthurm erhebt sich gegen Norden vom
k. k. allgemeinen Krankenhause isolirt und von jeder
Passage getrennt und ist nur durch das allgemeine
Krankenhaus und das angrenzende k. u. k. Militär¬
spital zugänglich. Es bildet ein kreisrundes, thurm¬
artiges, fünfstöckiges Gebäude, dessen innerer Rund-
hof durch einen querverlaufenden gleichhohen Mittel¬
bau in einen grösseren und einen kleineren Hof ge-
theilt wird. Der dem Militärspitale zugewendete
Eingang ist durch eine dicke hölzerne Thür und
durch ein eisernes Gitterthor verschlossen. Durch
dieses beständig geschlossen gewesene und nur vom
Portier den Einlassheischendcn geöffnete Thor gelangt
man durch einen niederen gewölbten Gang zu dem
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2 76
Mittelbau, in welchem eine einzige steingemauerte
Treppe in kurzen Absätzen zu den einzelnen Stock¬
werken führt. Der Zugang zu jedem Stockwerke
wird wieder durch eine feste eiserne Thürc abge¬
schlossen. Durch diese Thüre gelangt man in einen
den Querbau durchziehenden mässig breiten von
eisen vergitterten Fenstern spärlich erleuchteten Gang,
an dessen Ende abermals eine schwere Eisenthüre in
das Innere des Stockwerkes des eigentlichen Thurmes
führt. Jedes der fünf Stockwerke bildet eine Ab¬
theilung, deren innere Einrichtung — wenige Modi-
ficationen abgerechnet — in den verschiedenen Stock¬
werken eine gleiche ist.
Eine jede Abtheilung, mit Ausnahme der im fünf¬
ten Stockwerke, besteht aus einem schmalen mit
Ziegelsteinen gepflasterten, gewölbten, kreisrunden
Gang, welcher durch die mit Eisengittern versehenen,
in die Hofräume mündenden Fenster das Licht em¬
pfängt. An der äusseren Seite des Ganges führen
Thüren in die in gleichmässigen Abständen von ein¬
ander gebauten Zellen. Die Thüren sind aus dicken
Brettern verfertigt und haben in der oberen Hälfte
ein kleines Fenster mit einem leichten Gitter, welches
noch durch ein Thürchen von starkem Eisenblech
und eine darüber gelegte eiserne Klammer verschliess-
bar ist. Eine zweite eiserne Gitterthüre öffnet sich
in die Kammer hinein, der eigentlichen Wohn- und
Schlafstätte der Geisteskranken. Die Kammer bildet
ein längliches, gegen die Thüre zu sich verschmälem-
des Viereck mit seitlich leicht ausbiegenden Längs¬
wänden. Die Zellen der drei unteren Stockwerke
sind gewölbt, die der zwei oberen flach eingedeckt
und haben (mit Ausserachtlassung der Deckenwölbung)
eine durchschnittliche Innenlichtung von
[Nr. 24.
9 Fuss = 2,84 in Höhe,
11 .. = 3.47 » L^ge,
10 „ = 3,16 „ Breite.
Das 3 Fuss = 0,95 m hohe, 1 ! / 2 Fuss = 0,47 m
breite Fenster ist 5 1 / 2 Fuss = 1,73 m vom Boden
entfernt und mit starken eisernen Gittern und Glas¬
fenstern versehen, welch’ letztere im Winter ver¬
doppelt wurden. Der Boden der Zellen ist theils
gediehlt, theils mit Mergelsteinen gepflastert und
gegen die Thüre zu sanft geneigt, so dass Urin und
Wasser aus der Zelle abfliessen konnten. In einem
Winkel der Kammer ist eine Latrine angebracht,
deren Schlauch mit einem eisernen an einer Kette
hängenden Deckel zu verschliessen war. In den ge¬
pflasterten Zellen sind am Fussboden starke eiserne
Ringe eingelassen, welche die Bestimmung hatten,
die Tobsüchtigen festzuhalten; in einzelnen Zellen
sind ähnliche Ringe auch an der Mauer angebracht.
Die innere Einrichtung der Zellen bestand des
weiteren aus je einem oder zwei aus festen Brettern
verfertigten niedrigen Betten, welche derart zusaminen-
gefügt waren, dass sie von den erregten Kranken
nicht leicht zerbrochen werden konnten. In den
Bettstellen lagen die Kranken auf Stroh, über welches
ein Leintuch gebreitet war; zum Bedecken diente
eine Decke. In deu" Zellen der zwei obersten Stock¬
werke, welche ausschliesslich zur Unterbringung der
sehr unreinen und tobsüchtigen Geisteskranken dien¬
ten, war an Stelle eines Bettes ein am Steinboden
aufgeschichtetes Strohlager in Verwendung. Die Er¬
wärmung der Zellen geschah mittelst der Meissner-
schen Luftheizung.
Jede Abtheilung bestand aus 28 Zellen — nur
im ersten Stockwerke waren 27 —, im ganzen Irren¬
thurm waren sohin 139 Zellen vorhanden, in denen
durchschnittlich 200 — 250 Kranke verpflegt wurden.
Da die Anstalt über keinen eigenen Brunnen ver¬
fügte, musste das Wasser aus dem nahen Ilaupt-
spitale geholt werden, wozu die ruhigeren Geistes¬
kranken unter Aufsicht von Wartpersonen verwendet
wurden. Die Nahrung erhielten die Kranken portionen¬
weise abgetheilt in Blechschalen — das Fleisch be¬
reits in kleine Stücke zertheilt — in die Kammern.
Ein gemeinsames Mahl mehrerer Kranker fand nicht
statt. Das Trinkwasser wurde in Blechgefässen ge¬
reicht.
Während die in den zwei obersten Stockwerken
untergebrachten Irrsinnigen dauernd in der Zelle ge¬
halten wurden, ihnen sohin ein Verlassen derselben
in keinem Falle gestattet war, liess man den in den
unteren Abtheilungen Verpflegten eine etwas freiere
Behandlung angedeihen. Männer und Frauen w urden
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1902.]
abwechselnd zu den verschiedensten Tagesstunden in
den Hofraum geführt, wo sie sich ergehen konnten,
die Ruhigeren überdies unter der Aufsicht von Pflege¬
personen zu Arbeitsleistungen herangezogen.
Die im Vorstehenden in kurzen Umrissen darge¬
stellte Reform des Irrenwesens Niederösterreichs durch
Kaiser Josef II. bildet die Basis, auf welcher sich
die Irrenfürsorge Oesterreichs langsam aber stetig bis
zur gegenwärtigen Höhe entwickelte. Ein besonderes
Interesse gewinnt dieser Rückblick, namentlich die
Schilderung der baulichen Verhältnisse des gegenwärtig
seitens des k. k. allg. Krankenhauses zur Unterbringung
von Depots und Dienerwohnungen verwendeten Irren-
thurmes derzeit dadurch, dass er in Kürze in Folge
der Verlegung des k. k. allgemeinen Krankenhauses
in Wien der Demolirung anheimfallen wird.
277
Litt eratu r:
Jahrbuch der Wiener k. k. Krankenanstal¬
ten. I. 1892.
Knolz. Darstellung der Humanitäts- und Heilan¬
stalten im Erzherzogthume Oesterreich unter der
Enns. Wien 1840.
Nachrichten an das Publicum über die Ein¬
richtung des Hauptspitales in Wien. Wien 1784.
Dr. von Posanner. Geschichte des niederösterreichi¬
schen Irrenwesens. (Manuskript).
Weiss. Geschichte der Stadt Wien. Wien 1872.
Wittelshöfer. Wien’s Heil- und Humanitätsan¬
stalten, ihre Geschichte, Organisation und Statistik.
Wien 1856.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Der Antwerpener Congress. Unter dem
Vorsitz des Justizministers van den Heuvel fand
am 1. d. M. vormittags im „Hotel provincial“ zu
Antwerpen die feierliche Eröffnung des internationalen
Congresses für Irrenfürsorge und familiäre Irrenpflege
statt. Goossens, der Erzbischof, welcher ebenfalls
erscheinen sollte, war verhindert. Nach einer Be-
grüssungsansprache erklärte der Minister den Congress
für eröffnet und übertrug den Vorsitz an Direktor Dr.
Peeters (Glied), den Präsidenten des Organisations-
comites. Derselbe ertheilte das Wort Dr. Keraval,
ärztlichem Direktor der Irrenanstalt zu Armentieres,
Delegierten der Societe d’assistance familiale zu Paris,
zu dem Vortrag über die Geisteskranken ausserhalb
der Anstalten. Drei Fragen erfordern die Beant¬
wortung des Irrenarztes: 1. Können die Anstalten,
welchen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen Geistes¬
kranke zugeführt'werden, freiere Verpflegungsformen
einführen? 2. Giebt es Geistesstörungen, die, über¬
haupt oder nach einer Anstaltsbehandlung von ge¬
wisser Dauer, die Anwendung von besonderen, freieren
Verpflegungsmassnahmen rechtfertigen ? 3. Welches
ist der Grad dieser Freiheit, welches diese Mass¬
nahmen ? Der Congress werde diese Fragen zu be¬
antworten haben. — Direktor Dr. Alt (Uchtspringe)
berichtete in seinem Vortrage über die Familien pflege
in Deutschland, dass in Preussen allein seit zwei bis
drei Jahren an 19 Anstalten Familienpflege eingeführt
worden sei. — Prof. Dr. Tamburin i (Reggio) spricht
von der Ueberfüllung der italienischen Anstalten, die
5000 Insassen mehr beherbergen als hineingehören.
Die Verpflegung der Geisteskranken in der eigenen
Familie, wofür man dieser 5 bis 30 Lires monatlich
erstattete, gab keine befriedigenden Resultate, weil die
Controle fehlte. Die Unterstützung wird oft garnicht
für den Kranken verwendet. Nachdem er die Familien¬
pflege nach dem Muster von Gheel und Licmeux,
die er 1897 besuchte, in den der Anstalt bei Reggio
benachbarten Dörfern eingeführt, habe er glänzende
Erfolge und er halte dieses System (d. h. Familien¬
pflege in der Nähe und unter der Aufsicht der An¬
stalt) für das beste.
In der Nachmittagssitzung (Vors. Dr. Peeters)
trägt Direktor Dr. Olah (Budapest) über den Bericht
des k. ungar. Ministeriums des Innern betr. das
ungarische Irrenwesen im Jahre 1901 vor. — Prof.
Dr. Soutzo (Bukarest) spricht von der Irrenpflege in
Rumänien. Dort giebt es seit 1894 ein Irrengesetz,
das die individuelle Freiheit garantirt, den Geistes¬
kranken eine humane und wissenschaftliche Behand¬
lung und die Sicherheit ihrer Interessen während des
Anstaltsaufenthalts garantirt. Rumänien hat bei
5 l j 2 Millionen Eimvohnem ungefähr 1200 Geistes¬
kranke in 4 Asylen und einer besonderen Heilanstalt.
Es sind dies geschlossene Anstalten, coloniale und
familiäre Verpflegung fehlt. Volkscharakter und Sitten
machen Colonien ähnlich wie Gheel unmöglich. —
Fedor Gerenyi, Deputirter des Landesausschusses
von Niederösterreich: Daselbst kommt, vom Landtag
genehmigt, folgender Grundsatz zur Geltung: 1. Jede
niederösterreichische Anstalt muss in Zukunft zugleich
für die Behandlung der heilbaren Geisteskranken, für
die Pflege der unheilbaren und für die Colonisirung
der nicht gemeingefährlichen Kranken eingerichtet
sein. 2. Die Unheilbaren gehören, soweit sie arbeits¬
fähig sind, in die Colonie, soweit sie es nicht sind,
müssen sie in einer besonderen Abtheilung der Anstalt
verbleiben. — Für die Familienpflege in Mauer-Oehling
sind 8 Häuser vorgesehen. — Chefarzt Dr. Marie,
(Villejuif), Delegirter des Seinedepartements, kritisirt
die Centralisation in den Irrenanstalten und beschäftigt
sich mit dem Verhältniss der öffentlichen und der Privat¬
anstalten, welche letztere in der Mehrzahl von kirch¬
lichen Congregati onen besetzt sind. In diesen
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278 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 24.
letzteren hat die ärztliche Autorität nicht das Ueber-
gewicht, welches es im moralischen und materiellen
Interesse der verpflegten Kranken haben sollte. M.
verlangt, dass für die Privatanstalten ein bestimmtes
Reformprogramm durchgeführt werde, wobei die Aus¬
bildung der Aerzte an den öffentlichen Anstalten,
regelmässige Revisionen der Privatanstalten und Ent¬
lassung aller Kranken, die sich besser in Familien¬
pflege befinden, besonders zu betonende Momente
wären. — Dr. Claus, Chefarzt der Anstalt zu Mortsei,
vertheidigt die geschlossenen Anstalten gegen den
Angriff Marie’s, der von einer Ausbeutung der
Kranken durch eine sehr räuberische tote
Hand, sei es eine bürgerliche oder eine kirch¬
liche, gesprochen habe. Gleichwohl verlange er
(Claus) gleichfalls die Revision des Irrengesetzes, der
wissenschaftlichen Garantien und derjenigen der Un¬
abhängigkeit in der Anstellung der Anstaltsärzte.
Dr. Claus spricht ferner von dem Vorth eil der Arbeit
bei den Kranken; 50 # / 0 seiner Kranken arbeiten.
Er bemüht sich des langem nachzuweisen, dass die
Organisation der Anstalten eine befriedigende sei und
die Kritik, die sie erfahre, nicht verdiene. — Marie
hebt hervor, dass Claus zugiebt, dass das ärztliche
und Pflegepersonal der Privatanstalten nicht so ist,
wie es sein sollte; auch er müsse daher consequenter
Weise die Reform der Privatanstalten fordern. In
letzteren sei oft die auf den behandelnden Arzt ent¬
fallende Zahl der Kranken excessiv hoch. Claus er¬
widert, dass diese Zahl in der Familienpflege noch
viel grösser sei. „Vater“ Amadeus Stockmans,
„Superieur General“ der barmherzigen „Brüder“, pro-
testirt gegen den Vorwurf der Ueberfüllung in den
Privatanstalten. Es würden die von der Regierung
vorgeschriebenen bauhygienischen Bedingungen erfüllt.
Auch gegen die Behauptung der in den kirchlichen
Anstalten angeblich zunehmenden Anwendung der
Zwangsmittel protestirt er. Die Anstalten der barm¬
herzigen Brüder seien Musteranstalten (sic!)*) —
Dr. Meeus, Abtheilungsarzt in Gheel, bemerkt, dass
die Angaben, auf welche sich Dr. Marie in seiner
Kritik stützt, von ihm (Meeus) aus den o f f i c i el 1 e n
Berichten geschöpft, daher unbestreitbar feststehende
seien, wie sehr Dr. Claus und der „Vater“ sie ab¬
leugneten ! Der Congress stimmte nach längerer Dis-
cussion den Referenten bei. Darauf Schluss der
Sitzung. Die Congressmitglieder begaben sich in das
Stadthaus, wo sie vom Bürgermeister begrüsst und
ihnen der Ehrentrunk credenzt wurde.
Am Dienstag, den 2. September, fand der Besuch
der Irrenanstalten zu Mortsei und Bouchout statt;
einen besonders grossen Anziehungspunkt scheinen
dieselben nicht zu bilden, denn es hatten sich nur
ungefähr 50 Congressisten zusammengefunden, die
unter Leitung von Dr. Sano die Reise dorthin an¬
traten. „Vater“ Stockmans und Dr. Claus machten
die Honneurs in Mortsei, woselbst 600 Pensionäre
untergebracht sind, Dr. Compeeren in der Anstalt zu
Bouchout, woselbst 80 Pensionäre sich befinden.
*) Eine kirchliche Genossenschafts - Anstalt kann schon
wegen ihrer Organisation und ihres kirchlichen Grundzugs
überhaupt nie eine musterhafte werden. Ref.
Nachmittags reisten einige Congressisten nach Brüssel,
um die unter Leitung Dr. Boeck’s stehende Irrenab¬
theilung des St. Johann-Spitals, welche hauptsächlich
die Alkoholdeliranten aus Brüssel aufnimmt, zu be¬
sichtigen. (Fortsetzung folgt.)
— Während des Antwerpener Congresses hielt
Dr. Marie im „Cecile Artistique“ am Freitag, den
5. September, abends, einen populären Vortrag über
die familiäre Verpflegung Geisteskranker. Mit¬
telst eines Projectionsapparats veranschaulichte er dem
Publicum an einer langen Reihe von Bildern den
Unterschied zwischen colonialer bezw. familiärer Ver¬
pflegung einerseits und Hospitalisirung andererseits.
Auch die Apparate der mechanischen Behandlung
aus dem 17. und 18. Jahrhundert wurden veran¬
schaulicht : das Drehrad, die falsche Brücke, die unter
dem Gewicht des Kranken, auf den man einen hydro-
pathischen Schreck einwirken lassen wollte, plötzlich
einbrach, ferner die Zwangsstühle und -betten etc.
Zum Schluss führte er freundliche Bilder und Scenen
aus dem gegenwärtigen Leben der Geisteskranken,
besonders aus den ländlichen Colonien und der Familien¬
pflege vor. Seine Ausführungen und Darstellungen
wurden vom Publicum aufs lebhafteste applaudiert.
— Aus dem Protokoll der Versammlung
schweizerischer Psychiater, 19. und 20. V. 02 in
St. Pirminsberg.
I. Greppin (Rosegg) und Dr. Ulrich (Anstalt
für Epileptische, Zürich) wurden beauftragt, zu
Händen des eidg. Statist. Büreau eine Instruction aus¬
zuarbeiten, wie bei Schulkindern am leichtesten geistige
Schwächezustände constatirt werden.
II. Folgende von dem Verfasser etwas modificirte
Thesen von Frank- Münsterlingen wurden ange¬
nommen :
1. Wir müssen verlangen, dass bei der Ausbildung
der Juristen die Psychologie und Psychiatrie soweit
berücksichtigt werden, dass sie als Richter befähigt
sind, den Verbrecher wissenschaftlich zu verstehen und
fachmännische Gutachten zu würdigen. Es sollen
hierzu die Anstaltsdirectoren, besonders natürlich die
Universitätsprofessoren, besondere practische Curse
ertheilen, wie dies durch Kraepelin in Heidelberg
schon geschieht.
2. Der Staat hat die Pflicht, da er nur Verbrechen,
die in zurechnungsfähigem Zustande begangen werden,
ahndet, den Strafprocess nur mit den Garantien sich
vollziehen zu lassen, die mit Sicherheit einen Straf¬
vollzug an Unzurechnungsfähigen ausschliessen. Dies
ist nur dadurch möglich, dass den Untersuchungs¬
behörden die nöthige Zahl wirklicher und erfahrener
psychiatrischer Fachmänner beigegeben wird.
Wie es Pflicht des Staates ist, alle erlaubten Mittel
anzuwenden, um den Verbrecher in seine Gew r alt zu
bekommen, so muss es auch seine Pflicht sein, kein
Mittel ausser Acht zu lassen, um nur den Verbrecher
zu vemrtheilen, der in zurechnungsfähigem Zustande
gehandelt hat.
3. Die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit kann
nur Aufgabe des Psychiaters, niemals des Richters
sein.
4. Es ist nur ausnahmsweise in ganz klaren Fällen
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
279
zulässig, dass diese Aufgabe Aerzten zugewiesen wird,
die nicht eine genügende specielle Ausbildung genossen
haben.
5. Die Untersuchung auf den Geisteszustand eines
Angeklagten kann nur in fachmännisch geleiteten An¬
stalten oder in entsprechenden Abtheilungen eines
Untersuchungsgefängnisses vorgenommen werden.
6. Die Richter können ein Gutachten ablehnen
und eine Oberexpertise bestellen. Mit der Ober¬
expertise können nur Fachmänner betraut werden.
7. Die Frage der Unzurechnungsfähigkeit oder der
verminderten Zurechnungsfähigkeit kann nicht dem
Wahrspruch der Geschworenen überwiesen werden.
8. Jedem Anträge auf Untersuchung des Geistes¬
zustandes eines Angeklagten ist ohne weiteres statt
zu geben, wenn jede Absicht auf Verschleppung fehlt
III. Brauchli (Bellelay) soll Material, das auf
die strafrechtlichen psychiatrischen Fragen Bezug hat,
sammeln.
IV. v. Monakow (Zürich), der vor 25 Jahren
am Orte der Versammlung seine himanatomischen
Studien begonnen hat, berichtet in einem zum kurzen
Referat nicht geeigneten Vortrage über die seitherigen
wichtigsten Fortschritte.
V. Lada me (Gen/): Observation de soi-
disant Kleptomanie dans uncas de Psy¬
chose neurasthenique. 35 Jahre alte Frau;
Grossmutter väterlicherseits hysterisch. Patientin hatte
viele nervöse Leiden, namentlich während der 4
Schwangerschaften. Entfernung von Uterus und Ova¬
rien erfolglos. Seit Verlust des Vermögens schlaf*
los, Schwindel, Stirnkopfdruck und Ladendiebstähle.
Patientin wurde von einem Bruder ausreichend unter¬
stützt, stapelte die gestohlenen Gegenstände unbenutzt
bei sich auf. Vor der That jedesmal starke Angst,
nachher Reue. Ladame diagnosticirt eine neurasthe-
nische Psychose, die die Zurechnungsfähigkeit aus¬
schloss. Das Gericht schloss sich der Auffassung an.
VI. Hinrichsen (Wil): Beitrag zur Frage
der inneren Degenerationszeichen. Hin¬
richsen fand den Wurmfortsatz im Durchschnitt bei
119 Normalen 8 cm lang, bei 85 senil Dementen 8,2 ;
27 Idioten 10,3; 18 Paralytikern 9,7; 49 chronischen
Psychosen 8,4 cm.
VII. Wille (St. Pirminsberg): Ueber erbliche
Uebertragungvon Geisteskrankheiten. In
den Fällen von Geisteskrankheit bei Eltern und Kindern
in Pirminsberg war Uebereinstimmung von Krankheits¬
formen nach der Kraepelin’schen Systematik nur in
ca. der Hälfte der Fälle. Auch unter Geschwistern
treten verschiedene Krankheitsformen auf.
Bleuler-Burghölzli.
— Gerichtliche Entscheidungen. Frau
X wurde in der Nacht vom 26. Januar 1899 auf
Verlangen des Bahnhof Vorstandes von B., weil schwer
betrunken, arretirt. Sie konnte aber durch Zeugen
nachweisen, dass sie nicht trunksüchtig, sondern mit
Nervenzufällen behaftet sei, und ein solcher Anfall
befiel die Frau X vor dem Schalter aus Angst den
Zug zu verfehlen. Sie strengte eine Schadenersatz-
klage gegen die Gesellschaft der Westbahn an, und in
der That wurde ihr eine Entschädigung von 1000 fr.
(nicht 5000, wie sie verlangt hatte) und Vergütung
der Kosten zugesprochen.
Ann. Med.-Psych. 1901. Jan.-Febr.
G. Burckhardt.
— Ist ein Arzt civilrechtlich verant¬
wortlich, der zwar in guten Treuen aber
irrthümlich ein Zeugniss ausstellt, das
einen Geistesgesunden für geisteskrank
erklärt und auf Grund dessen derGeistes-
gesunde sequestirt wird? Ann. Med.-Psych.
1901. Mars-Avril. Dr. X wurde durch die Ehegatten
Y zu ihrer Tante, Frl. Z berufen, und trifft dieselbe
in voller Wuth, unter den Trümmern eines zerschlagenen
Stuhles und eines dito Nachtgeschirrs in ihrem
Zimmer, ihn selbst mit Canaille, Dieb, Mörder
titulirend. Gestützt auf diesen Befund seines aller¬
dings nur wenige Minuten dauernden Besuches und
auf die weitem Mittheilungen der Eheleute Y stellt
er ein Zeugniss aus, worin er das Frl. Z für tob¬
süchtig erklärt, worauf die Pat. nach der Irrenanstalt
überführt wird. Nach 8 Tagen wird sie aber als nicht
geisteskrank aus derselben entlassen, und belangte
nun den Arzt, der das Zeugniss ausgestellt, auf Schaden¬
ersatz. Das Civilgericht wies sie ab, da der Arzt sie
wirklich für geisteskrank gehalten habe und das Gericht
sich nicht in rein ärztliche Fragen mischen könne.
Das Appelationsgericht urtheilte aber anders. Es nahm
den Fall grober Nachlässigkeit und Kunstfehlers an.
Der Arzt habe zwar in guten Treuen gehandelt, aber
er hätte sich nicht mit dem einen, nur wenige Minuten
dauernden Besuch begnügen und im Uebrigen auf
die parteiischen Aussagen der Eheleute Y verlassen
sollen. Das Gericht verurtheilte ihn zu 2000 fr. Ent¬
schädigung.
(Ref: Dass der Arzt besser hätte Zusehen müssen,
ehe er sein Zeugniss ausstellte und den ganzen Ver¬
waltungsapparat in Bewegung setzte, ist zweifellos, um
so mehr, als Frl. Z erst andern Tages, und offenbar
schon wieder in ruhigem Zustande, in die Irrenanstalt
verbracht wurde. Ob es sich nicht doch um eine
transitorische Tobsucht gehandelt habe, das geht aus
den Akten nicht hervor. — Aber, nicht jeder Fall
von Psychose braucht polizeilich sequestrirt zu werden.)
G. Burckhardt.
— Eine in ihrer Familie gefangen ge¬
haltene Geisteskranke. Die Eheleute Boulais,
Landwirthe in Curves (Dep. Manche) hielten ihre
29 jährige geisteskranke Tochter Augustine in einem
Stalle mit einer Kette um den Leib an einem Pfosten
angekettet. Die Kette war so kurz, dass die halb
nackte Unglückliche nur sitzen oder knieen, aber nicht
liegen konnte. Drei Jahre lang hatte A. B. in diesem
jammervollen Zustande zugebracht, ehe sie von der
Polizei erlöst und in eine Irrenanstalt verbracht wurde.
Ano. Med.-Psych. Mai 1901.
— Während 45 Jahren wurde Jeanne-
Adelaide Bissiere in Gorrigon (Dep. Ga-
ronne) von ihrem Bruder und ihrer Schwester in
einem engen Kämmerchen von 2,50 Meter Höhe
eingesperrt gehalten, das Luft und Licht nur von oben
her erhielt, und in der Wand eine Schieberöffnung
hatte, durch w f elche die unglückliche Inwohnerin ihre
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28o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
Nahrung erhielt. Die arme Person lag, als die Polizei
endlich einschritt, nackt in ihrem. Schmutze, mit bis
zum Kinn zurückgebogenen steifen Knieen, und konnte
nicht mehr sprechen. Sie sei, sagten die Geschwister,
in Folge von Krankheiten vor 45 Jahren tobsüchtig
und von ihrem Vater in die besondere Kammer ein¬
gesperrt worden, um ein Unglück zu verhüten. Nach
dem Tode des Vaters hätten sie, die Geschwister, die
Sache im Status quo ante belassen.
Die Kranke wurde in eine Irrenanstalt überführt.
Die Familie B., begütert und angesehen, blieb in Freiheit.
Der ganze Scandal wurde aus Rache durch einen von
den Geschwistern B. des Diebstahls angeklagten Dienst¬
boten dem Gerichte angezeigt.
Ann. Med.-Psych. 1901 p. 520.
G. Burckhardt.
— Ein Necrophile. (Ann. Med.-Psych. 1901,
p. 517.) In der Gemeinde May im südlichen Frank¬
reich wurde durch den Verwesungsgeruch unter dem
Stroh einer Scheuer halb verborgen der Leichnam
eines 4 jährigen Mädchens gefunden. Der Kopf war
vom Leibe getrennt, und letzterer trug die Spuren
des Stuprum. Als Thäter wurde ohne Mühe der
29 jährige Tagelöhner Honore Ardisson entdeckt, der¬
selbe erzählte ohne Umschweife, dass er gerne junge
Mädchen von 4—14 Jahren, die eben eist beerdigt
worden, ausgrabe und seinen Geschlechtstrieb an ihnen
befriedige, da sie sich nicht wehren, wie die lebendigen.
Er berichtete von 5 solcher Leichenschändungen.
Drei Mädchen, die ihm besonders gut gefallen,
hatte er die Köpfe abgeschnitten und nath Hause
genommen, im obgenannten Falle den ganzen Cadaver,
in der Absicht, ihn bei nächster Gelegenheit gegen
einen frischen auszuwechseln! Da er evident schwach¬
sinnig war, wurde er psychiatrischer Untersuchung
unterworfen. G. Burckhardt.
Referate.
— Döllken. Die körperlichen Erscheinungen
des Delirium tremens. Leipzig 1901. Veit.
D.’s monographische Arbeit stützt sich auf die
Beobachtung an 120 männlichen Deliranten der
Leipziger Nervenklinik. Hiernach tritt das Del. trem.
hauptsächlich auf bei individueller Disposition, bei
geringerer oder grösserer, besonders bei angeborener
Invalidität des Gehirns; ein grosser Theil der Deli¬
ranten stammt von Säufern ab. Von Gelegenheits¬
ursachen kommen besonders Kopftraumen, Tuberkulose
Infektionskrankheiten, Verletzungen, Gemüthserreg-
ungen etc. in Frage; Abstinenz war in keinem Fall
massgebend, selten auch ein epileptischer Anfall. —
Ein Abortivdelirium, das schon nach Stunden
bezw. nach 1 Tag oder nach durchschlafener Nacht
zu Ende geht, findet sich selten; die körperlichen
Symptome dabei sind gering. Dem Ausbruch des
ächten Del. tr. gehen meist den Infektionskrank¬
heiten ähnliche Prodrome von Tage- bis Wochen¬
dauer vorauf. Während der Akme ist die Temperatur
stets erhöht, fällt mit Eintritt des Schlafes kritisch
ab, steigt aber wieder bei eventuellen Rezidiven. Das
D. tr. gehört also zu den fieberhaften Krankheiten.
Die Pulsfrequenz, im Allgemeinen abhängig von Herz¬
beschaffenheit und Muskelthätigkeit, steigt parallel der
Heftigkeit der Delirien, der Abfall ist kritisch. Bei
sehr heftigen Symptomen oder ängstlichen Delirien
kann der Puls klein und hart sein. Fast stets ist
akute Herzdilatation vorhanden, auch die Arterien¬
wand ist auf der Höhe der Symptome erkrankt, meist
verbunden mit Arteriosklerose. Auch der Blutdruck
u. z. sowohl Maximal- wie Minimaldruck, steigt wäh¬
rend der Delirien, doch nicht parallel zu Temperatur
und Puls, auch hier ist der Abfall kritisch zur Zeit
des Schlafes, bisweilen bis unter die Norm, welche
er nach einigen Tagen wieder erreicht. Bei starkem
Schweiss oder bei mussitirenden Delirien fällt der
Druck schon vor der Krise. — Bradykardie z. Z.
der Rekonvalescenz ist ein Zeichen von Herzschwäche,
die ihre Erklärung findet in primärer Erkrankung
des Herzmuskels oder in den überstandenen grösse¬
ren Anstrengungen während der Delirien. — Erkran¬
kungen der Lungen sind prognostisch wenig günstig;
öfters findet sich eine mehr oder weniger starke Blutüber¬
füllung oder eine akute Lungenblähung. Urinsekretion
ist verlangsamt, stets ist Eiweiss vorhanden.
Als Del. sine delirio beschreibt D. Fälle, in denen
sämmtliche körperlichen Symptome des Del. tr. vor¬
handen sind, die psychischen aber bis auf Schlaf¬
losigkeit und eine gewisse geistige Hemmung fehlen.
Die Akme dauert 4 — 5 Tage; der Abfall ist weniger
kritisch.
Als Aetiologie nimmt D. mit Flechsig eine Ueber-
~ladung des Gehirns mit pathologischen Stoffwechsel¬
produkten der Hirnzellen selbst an, verursacht durch
die chronische Zufuhr von Alkohol, die „sich in deut¬
lichen anatomischen Veränderungen zeigt“. Bei stär¬
kerer Koncentration dieser Produkte kommt es zur
Entladung, oder aber ein äusserer Anstoss — Ge-
müthserregung, Infektionskrankheit etc. — führt diese
herbei. Analogien zum ersten Fall bieten die Dämmer¬
zustände körperlich gesunder Epileptiker oder gewisse
Zustände im Verlauf der Paralyse.
Als Krankheitssitz für die körperlichen Symptome
nimmt D. die Med. oblong, und den Sympathicus an.
Das Fieber kann „nur neurogenen Ursprungs sein“.
Das Gefässcentrum in der Med. obl. ist stark be¬
theiligt; durch Reizung des N. splanchnicus kommt
Verengerung der Gefässe des Unterleibs zu Stande,
als deren weitere Folge die Albuminurie anzusehen
ist. Kellner- Hubertusburg.
Personalnachricht.
— Die Herren Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Gutt-
stadt und Dr. Grotjahn haben ihre Stellung als
Vorsitzender bezw. Schriftführer des Berliner Vereins
gegen den Missbrauch geistiger Getränke infolge Mei¬
nungsverschiedenheiten mit der Verwaltung einer mit
jenem Verein in Verbindung stehenden Berl. Trinkerheil¬
anstalt, welche nicht zur Zufriedenheit der beiden Herren
beigelegt wurden, niedergelegt. Herr Geh. Rath Gutt-
stadt wird aber nichtsdestoweniger auch weiterhin seine
Kräfte in den Dienst der Antiaikoholbewegung stellen.
Für den redactioncllen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler Kraschnitz, (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a, S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenftrzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L, Edinger,
Uchtspringe (Alunark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel
Geb. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mont (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bltti, Oberarzt Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Job. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Teiegr.-Adresse : Marho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 25 . ~ 20. September. “_ 1902 ,
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zu'chrifien für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Bemerkungen zu einigen tlie Unterbringung geisteskranker Verbrecher in Irrenanstalten und deren Ent¬
lassung betreffenden Fragen. Von Geh. S.-R. Dr. Fries, Nietleben (S. 282). — Mittheilungen (S. 285). — Personalnach-
richt (S. 288).
Erklärung.*)
Herrn Dr. P. J. Möbius’ „Erklärung“ in No. 23 dieser Wochenschrift vom 6. 9. 02 ist in zwiefacher
Weise richtig zu stellen:
1. wird jeder Unbefangene in meinem Aufsatze über den Alkohol weder „eine Verherrlichung des
Alkohols“ finden, noch die darin zusammengestellten wissenschaftlichen Thatsachcn als „falsche Anschauungen“
bezeichnen.
2. Herr Dr. P. J. Möbius in Leipzig „hat“ mit meinem Aufsatze insofern „zu schaffen“, als er selbst
die V eranlassung dazu war: Ich schrieb ihm nach Lektüre seiner Abhandlung „Ueber Massigkeit und Ent¬
haltsamkeit“, dass ich nicht zu den „stummen Hunden“ gegenüber den guttemplerischen Uebertreibungen
gehöre. In seiner Dankeskarte vom 18. 2. 01 schrieb mir dagegen Herr Dr. P. J. Möbius: „Leider giebt
es trotz Ihnen noch recht viele „stumme Hunde“.'* Wenigstens in der Oeffentlichkeit rührt
sich nichts“. Diese Aufforderung zu einer Publikation sah ich als generaliter gegeben an und
holte daher eine ausdrückliche Erlaubniss zu der Widmung bei Herrn Dr. P. J. Möbius nicht mehr ein. Da¬
gegen hat Herr Dr. P. J. Möbius seinen Protest, ohne mir denselben zuzusenden, in einem Blatte gebracht,
von dem er annehmen musste, dass es mich nicht zu seinem Leserkreise zählt.
Darmstadt, 9. September 1902. W. N. Clemm.
Ich kann nur das hinzufügen, dass ich aufrichtig bedauere, die Veranlassung zu dem Aufsatze des
Herrn Dr. Clemm gegeben zu haben. Wie er zu dem Glauben gekommen ist, er schreibe in meinem Sinne,
das weiss ich nicht, denn aus meinem Aufsätze geht doch deutlich hervor, dass ich ganz anders denke als er.
Leipzig, 11. September 1902. P. J. Möbius.
*) Siehe hierzu die Redactionsbemerkuug auf S. 288.
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282 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25.
Bemerkungen zu einigen die Unterbringung geisteskranker Verbrecher
in Irrenanstalten und deren Entlassung betreffenden Fragen.
Von Geh. S.-R. Dr. Fries (Nietleben).
U nter der Ueberschrift „Irrenrechtliches“ hat am
Schluss vön Nr. 17 des laufenden Jahrgangs
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift der
Redacteur darüber Klage geführt, dass hinsichtlich der
Geisteskranken auch „in rein formellen Rechtsbestim¬
mungen Unklarheiten fortgesetzt ihr Dasein fristen
und zur Benachtheiligung der betreffenden geistes¬
kranken Personen führen“ und dass ein solcher Fall
vorliege, „wenn, wie es thatsächlich zu geschehen pflegt,
einem während der Strafhaft in Geisteskrankheit ver¬
fallenen Gefangenen die in der Irrenanstalt verbrachte
Zeit nicht auf die Strafhaft angerechnet wird“, obgleich
§ 493 der deutschen Strafprozessordnung vorschreibe:
„Ist der Verurtheilte nach Beginn der Strafvoll¬
streckung wegen Krankheit in eine von der Strafan¬
stalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so
ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt
in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Vcr-
urtheilte mit der Absicht die Strafvollstreckung zu
unterbrechen, die Krankheit herbeigeführt hat“.
Es wird hiebei dem Bedauern darüber Ausdruck
gegeben, dass bei psychischer Erkrankung anders ver¬
fahren werde, wie bei anderweiten Leiden und als
unverständlich bezeichnet, mit welchem Recht sich
bei Staatsanwälten eine solche Praxis eingebürgert habe.
Wenn ich mir hiezu ein berichtigendes und er¬
gänzendes Wort erlaube, so entnehme ich die Be¬
rechtigung aus dem Umstand, dass mir leider eine
reiche Erfahrung bezüglich des Schicksals dieser —
in einer Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke bei
einer gewissen Verdünnung vielleicht nothdürftig zu
duldenden, in stärkerer Concentration aber unerträg¬
lichen und schädlichen — Gruppe, zu Gebot steht, an
einer Anstalt, welche durch Jahrzehnte dazu verur-
theilt war und es mit geringfügigen Ausnahmen auch
noch heute ist, sämmtliche aus Strafanstalten stam¬
menden, der Provinz Sachsen zur Last fallenden
Geisteskranken aufzunehmen, in welcher ich mich
ferner (1898/1899) genüthigt gesehen habe, für die
störendsten und gefährlichsten Elemente unter ihnen
bei gleichzeitiger Evacuirung von 80 anderweiten
Kranken, die Einrichtung von drei Sicherheitsab¬
theilungen (mit besonderen Werkstätten etc.) herbei¬
zuführen, und welche neuerdings noch von dem Un¬
glück betroffen ist, dass in ihrer Nähe eine auch für
Kranke aus anderen Provinzen bestimmte Irrenabthei¬
lung an einem Strafgefängniss eingerichtet wurde, so
dass ausser den der hiesigen Provinz zufallenden
irren Verbrechern vorläufig und oft für längere Zeit
noch solche aufgenommen werden müssen, zu deren
definitiven Uebernahme andere Provinzen und Ver¬
bände verpflichtet sind.
Gewiss wird jeder, der sich mit geisteskranken
Verbrechern zu befassen hat, es schon bedauert haben,
wenn die in der Irrenanstalt zugebrachte Zeit nicht
auf die Strafhaft in Anrechnung kommt, allein hier¬
über entscheiden keineswegs das Belieben und die
Praxis der Staatsanwälte, sondern ganz bestimmte
und klare Regeln.
Der angezogene § 493 der Strafprozessordnung
kommt nur dann zur Geltung, wenn der Verurtheilte
durch die betheiligten Justizbehörden einer von der
Strafanstalt getrennten Krankenanstalt (inclusive Irren¬
anstalt) ohne vorherige Entlassung aus der
Strafhaft überwiesen worden ist. In diesem Falle
— gleichgiltig, ob es sich um somatische oder psy¬
chische Krankheit, um ein gewöhnliches Kranken¬
haus oder um eine Anstalt für Geisteskranke handelt
— läuft die Strafe weiter und es hat folgerichtig, da
es sich um einen Gefangenen handelt, der Justizfiscus
die Unterhaltungskosten in der betreffenden Kranken-
(inclusive Irren)-Anstalt zu tragen.
Dieses Verfahren wird eingeschlagen, sofern zu¬
nächst Aussicht auf Wiederherstellung in absehbarer
Frist gegeben ist oder in der Absicht, in absehbarer
Zeit ein Gutachten über die ferneren Aussichten
als Unterlage für die weiteren Maassnahmen zu ge¬
winnen.
So befinden sich gegenwärtig in der hiesigen An¬
stalt zw'ei in der Strafhaft psychisch erkrankte weib¬
liche Gefangene, deren Strafe hier weiter läuft und
deren Unterhaltungskosten von der Gerichtskasse be¬
stritten werden. Eine wird in Kürze nach dem Ge-
fängniss zurückkehren. Es handelt sich hier um ver-
hältnissmässig frische Erkrankungen, bei welchen die
Irrenanstalt in Ermangelung einer mit einer Gefange¬
nenanstalt verknüpften Irrenabtheilung für weibliche
Gefangene (bei dem benachbarten Strafgefängniss in
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
283
1902.]
Halle a. S. ist die Einrichtung einer solchen be¬
schlossen, aber noch nicht ausgeführt) um die Behand¬
lung der Kranken angegangen worden ist.
Ganz anders gestaltet sich aber die Sache, sobald
vor oder mit der Unterbringung eines geisteskranken
bisherigen Strafgefangenen in die Irrenanstalt aus¬
drücklich die Haft aufgehoben wird und demgemäss
diese Unterbringung und die Bestreitung der Unter¬
haltungskosten seitens desjenigen Verbandes zu er¬
folgen hat, welchem die Fürsorge für ihn je nach
seinen DomicilVerhältnissen im Fall der Hilfsbedürf¬
tigkeit gesetzlich obliegt. Wo Irrenabtheilungen an
Gefangenenanstalten angegliedert sind, wie z. B. jetzt
an mehreren Orten (bisher nur für Männer) in
Preussen, werden die in Strafhaft (Strafanstalten oder
Strafgefängnissen) Erkrankten in der Regel (auf die
näheren Bedingungen braucht hier nicht eingegangen
zu werden) zunächst einer solchen zugewiesen. Ist
nach einem halben Jahr oder in geeigneten Fällen
nach verlängerter Frist Wiederherstellung nicht ein¬
getreten oder doch in absehbarer Zeit nicht zu er¬
warten, so wird bei den zuständigen Ministem (hier
des Innern und der Justiz) die Haftentlassung bean¬
tragt und, falls — wie meist — Entlassung in die
Familie oder sonst in freie Verhältnisse nicht an¬
gängig erscheint, der verpflichtete Verband zur Stel¬
lung des Antrags auf Aufnahme in eine Irrenanstalt
veranlasst Die ministerielle Genehmigung der Haft¬
entlassung erfolgt in diesen Fällen unter der Be¬
dingung, dass die Unterbringung in einer Irrenanstalt
gesichert erscheint.
Der frühere Zusatz „vorbehaltlich der Wiederein¬
ziehung im Falle der Genesung“ wird neuerdings
weggelassen, vermuthiich um auch den Schein einer
weiteren Verpflichtung zur Fürsorge für den Haftent¬
lassenen zu meiden.
Würde die Strafhaft in den bezeichneten Fällen
mit der Ueberführung in die Irrenanstalt (in der
Irrenabtheilung der Strafanstalt bezw. des Strafgefäng¬
nisses läuft sie selbstverständlich noch weiter) nicht
unterbrochen, so hätte der Staat auch die Verpflich¬
tung zur Tragung der Kosten, und diese nimmt er
nicht auf sich, da es sich vielfach um langwierige
Krankheiten, nicht selten um jahrelangen Aufenthalt
in der Irrenanstalt handelt.
Aus Gerichtsgefängnissen werden die Kranken
gleichfalls unter ausdrücklicher Haftentlassung häufig
zunächst der Polizeiverwaltung des Ortes überwiesen,
welcher die weitere Unterbringung überlassen bleibt.
In ungenügender Würdigung der geschilderten
Sachlage haben sich in meinem Beobachtungskreise
auch schon Staatsanwälte und Gerichte gelegentlich
durch den § 493 der Strafprozessordnung irreleiten
lassen und trotz Haftentlassung die in der Irrenan¬
stalt zugebrachte Zeit auf die Strafhaft — unrichtiger
Weise — angerechnet.
In einem Falle hatte ich einen wieder als straf¬
vollstreckungsfähig angesehenen Mann dem Gefäng-
niss zur Abbüssung des Strafrestes zuführen lassen,
und wenige Tage darauf kam er zu meiner nicht ge¬
ringen Ueberraschung mit der Nachricht zu mir, der
Staatsanwalt habe ihn mit der Begründung entlassen,
dass er den Rest seiner Strafe bereits in der Irren¬
anstalt verbüsst habe.
In einem andern Falle vertrat der Staatsanwalt
gleichfalls die Meinung, dass dem Kranken, den ich
nach weitgehender Besserung zu entlassen beabsich¬
tigte, dessen Entlassung er aber widerstrebte, die in
der hiesigen Anstalt verbrachte Zeit von der Straf¬
haft abzurechnen sei, er wurde aber im Lauf der
weiteren Verhandlungen von der Oberstaatsanwalt¬
schaft alsbald eines Anderen belehrt
Auch ein Landgericht (Strafkammer) beging den
gleichen Fehler, indem es unter ausdrücklichem Hin¬
weis auf § 493 St.-P.- 0 . dem Verurtheilten die Dauer
des Aufenthalts in den Irrenanstalten Dalldorf und
Nietleben von dem noch zu verbüssenden Rest in
Abzug brachte, obgleich er mit der Ueberführung
aus der Irrenabtheilung der Strafanstalt Moabit nach
Dalldorf aus der Haft entlassen war.
Dieser Mann, welchem hiebei eine nach Lage
der Dinge unberechtigte Wohlthat aus Irrthum zu
Theil geworden, hatte übrigens weiterhin die ganze
Härte und den starren Schematismus des Strafvoll¬
zuges durchzukosten. Nachdem das gegen ihn in-
scenirte Entmündigungsverfahren entsprechend dem von
mir abgegebenen eingehenden Gutachten nicht zur Ent¬
mündigung geführt (er wich zwar in der Richtung der
querulirenden Form der Paranoia von der Norm ab,
jedoch hielten sich die Erscheinungen damals in den
engsten Grenzen) und nachdem die Befürwortung
von Gesuchen um Erlass des Strafrestes im Gnaden¬
wege abgelehnt war, musste er — seiner Zeit wiegen
Anstiftung zum Meineide zu mehrjähriger Zuchthaus¬
strafe verurtheilt — einen Strafrest von 8 Monaten
in der Strafanstalt abbüssen. Seit seiner Entlassung
aus der hiesigen Anstalt hatte er sich bis dahin durch
nahezu drei Jahre, ohne erneute Conflicte mit dem
Strafgesetz, seinen Unterhalt verdient und mühsam
eine einigermaassen gesicherte Existenz errungen,
welche durch die Vollstreckung des Strafrestes mit
rauher Hand zertrümmert wurde. Nach Verbüssung
der Strafe bedurfte es mehrfacher Unterstützung, um
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ihm wieder aufzuhelfen und ihn dadurch zugleich vor
Abwegen zu bewahren.
Warum der Erlass im Gnadenwege keine Befür¬
wortung bei den betheiligten Justizbehörden fand, ist
mir unverständlich. Hat die Gesellschaft nicht ein
grösseres Interesse daran, dass der aus der Irrenan¬
stalt entlassene frühere Gefangene sich ihr wieder
als friedliches und nützliches, keinen ferneren Auf¬
wand aus öffentlichen Mitteln verursachendes Glied
einfügt, als daran, dass der — im vorliegenden Fall
noch dazu verhältnissmässig geringe Rest einer Strafe
bis zur letzten Minute vollstreckt wird, weil sie eben
einmal vom Gericht ausgesprochen ist, unbekümmert
darum, ob dadurch der Gesundheitszustand des Be¬
troffenen aufs Neue gefährdet, die mühsam errungene
Existenz wieder vernichtet und dadurch nicht nur
eine gesellschaftsfeindliche Verbitterung begünstigt,
sondern auch nach Verbüssung des Strafrestes erneute
Noth und in Folge dessen unter Umständen die
Grundlage für neue Vergehen gegen Gesetz und Ord¬
nung geschaffen wird, von der Inanspruchnahme
öffentlicher Mittel abgesehen?
Mindestens in denjenigen Fällen, in welchen die
bereits verbüsste Strafzeit mit dem unfreiwilligen
Aufenthalt in der Irrenanstalt, der nach Haftent¬
lassung nun einmal nicht auf die Strafe angerechnet
werden kann, zusammen die gesammte Strafdauer er¬
reicht, oder, wie es nicht selten ein tritt, überschreitet,
aber auch überall da, wo nach der Art der betreffen¬
den Individuen die Durchführung des Strafvollzugs
ohne erneute Ueberweisung nach der Irrenanstalt
unmöglich erscheint, würde es in der That billig sein,
wenn der Erlass des Strafrestes im Gnadenwege —
bei der derzeitigen Lage der einschlägigen Bestim¬
mungen die einzige Möglichkeit, das über dem Ent¬
lassenen schwebende Damokles-Schw r ert erneuter In-
haftirung zu beseitigen — herbeigeführt würde. Hier
stösst dies, soweit meine Erfahrung reicht, auf die
grössten Schwierigkeiten, während mir aus dem König¬
reich Sachsen bezügliche Fälle aus Gerichtsacten be¬
kannt geworden sind.
So wie die Dinge gegenwärtig liegen, geschieht
dem geisteskrank gewordenen Gefangenen mit seiner,
eine Unterbrechung der Strafe voraussetzenden Ueber-
führung in eine Irrenanstalt, falls er wieder entlass¬
ungsfähig wird, insofern ein schlechter Gefallen, als
er unter Umständen eine viel längere Freiheitsent¬
ziehung zu gewärtigen hat, wie bei ununterbrochener
Verbüssung seiner Strafe und als ihm nach der Ent¬
lassung aus der Irrenanstalt fortgesetzte polizeiliche
und gerichtliche Nachforschungen in Absicht der
[Nr. 25.
Vollstreckung des Strafrestes erwachsen, die geeignet
sind, sein psychisches Gleichgewicht wieder zu stören.
Principiell bin ich der Meinung, dass die Heil-
und Pflegeanstalten für Geisteskranke von der Straf¬
anstalts-Bevölkerung wieder befreit werden sollten
(eine Begründung dieses Standpunktes in der so viel
erörterten Frage würde hier zu w'eit führen), so lange
dies aber nicht erreichbar, sollten meines Erachtens
die Irrenabtheilungen an Gefangenenanstalten, deren
thunlichste Vermehrung anzustreben wäre, die Er¬
krankten möglichst lange behalten und öfter, als es
nach meiner Erfahrung zu geschehen pflegt, bei nur
mehr geringfügigen Krankheitserscheinungen (Andeu¬
tungen von Verfolguugsideen z. B., die manchmal über
das Maass dessen, was überhaupt unter den Gefange¬
nen über die Aufseher colportirt wird, kaum hinaus¬
gehen) den Versuch der Fortsetzung eines vorsichti¬
gen Strafvollzuges in der Hauptanstalt unternehmen,
bei dessen etwaigem Misslingen ja die Rückkehr nach
der Irrenabtheilung leicht zu bewerkstelligen bleibt;
jedenfalls sind solche Versuche innerhalb verschiede¬
ner Abtheilungen desselben Instituts viel leichter
durchzuführen, als etwa zwischen den verschiedenen
Behörden unterstellten Irrenanstalten und Gefangenen¬
anstalten.
In Preussen ist zu den ohnehin schon nicht ge¬
ringen Schwierigkeiten, welche die Unterbringung und
Behandlung der geisteskranken Verbrecher bieten,
durch die Ministerialerlasse vom 15. Juni 1901 und
vom 6. December 1901 (abgedruckt u. A. in dem
Aufsatz von Aschaffenburg: „Die Unterbringung gei¬
steskranker Verbrecher“ im Centralblatt für Nerven¬
heilkunde und Psychiatrie, 25. Jahrgang, Mai 1902)*)
noch ein ausserordentliches und meines Erachtens
sehr bedauerliches Erschwerniss für die Entlassung
hinzugetreten, welches auf die practischen Bedürf¬
nisse zu wenig Rücksicht nimmt und überdies den
beabsichtigten Zweck in keiner Weise erreicht.
Zur Begründung dieses aus der Erfahrung ge¬
wonnenen Urtheils möge kurz nur auf Folgendes
hingewiesen sein.
Hat man — was begreiflicherweise an sich
schon sehr schwierig und nur durch persönliche Ver¬
mittlung möglich — für einen Menschen solchen
Vorlebens jemand gefunden, der ihm, sei es auf
Grund von Beziehungen zur Anstalt, sei es (w^as viel
seltner) aus allgemeinen socialen Gesichtspunkten, eine
zum Unterhalt ausreichende Beschäftigung gewähren
wall (selbstverständlich hat man auch bereits vor den
beregten Erlassen derartige Menschen nicht beliebig
auf die Strasse gesetzt), so soll der künftige Arbeit-
*) s. Jahrg. III dies. Zeitschr. S. 200 u. Beilage zu Nr. 48. Red.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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geber auch noch eine Reihe von Wochen (bei Ein¬
spruch seitens einer der betheiligten Instanzen ent¬
sprechend länger) sich gedulden, bis er endlich die
fragwürdige Arbeitskraft erhält, eine Zumuthung, der
gegenüber die Wenigsten Stand halten. Wartet er
nicht, so beginnt das mühsame und langwierige Suchen
und — falls dann ein anderer Ort (andre Polizeibe¬
hörde) gewählt werden muss — auch die ganze Reihe
von Verhandlungen von Neuem. Und wenn nun
nach dem ganzen zeitraubenden und verdriesslichen
Verfahren und unendlicher Schreiberei die Entlassung
glücklich erfolgt ist, wer will den Entlassenen hindern,
alsbald, vielleicht schon am gleichen Tage, den Ort,
nach dem er dirigirt ist, zu verlassen? Wo bleibt
dann der Zweck der Erlasse?
Welcher Zwiespalt ausserdem in der Fürsorge für
den Schutz der Gesellschaft!
Der rückfällige Verbrecher schlimmster Sorte, von
welchem mit aller Sicherheit neue Angriffe auf Leben
und Eigenthum seiner Nebenmenschen zu erwarten
stehen, wird, so lange er nicht geisteskrank ist, nach
der gegenwärtigen Gesetzeslage mit der Minute des
jeweiligen Strafendes auf die Gesellschaft losgelassen,
die Entlassung eines gefangenen und in der Haft
geistig erkrankt gewesenen Menschen aber, welcher
nach dem reiflich erwogenen Urtheil des Leiters der
Irrenanstalt — und auf diesem ruht nach wie vor
das Hauptgewicht der Verantwortung — nicht mehr
als gefährlich anzusehen ist, sofern er nur einiger-
maassen geeignete Existenzbedingungen findet und
mit gerichtlichen Proceduren und Strafvollstreckung
nicht verfolgt wird, diese Entlassung wird mit mehr¬
285
fachen Dornenhecken umgeben, die oft schwer zu
übersteigen sind.
Am Schluss seiner schon oben citirten kürzlichen
Auseinandersetzung über „die Unterbringung geistes¬
kranker Verbrecher“, mahnt Aschaffenburg: „Statt
die Spannung zu erhöhen und durch unfruchtbare
Opposition gegen die Einmischung der Verwaltungs¬
behörden in das Recht über den Kranken zu be¬
stimmen, kann der Irrenarzt sehr viel zur Verständi¬
gung beitragen, wenn er in seinem Gutachten nicht
nur die Entlassungsfähigkeit begründet, sondern auch
auseinandersetzt, welche Maassnahmen er im Inter¬
esse des Kranken und der Strafrechtspflege für er¬
forderlich hält. Die Mitwirkung der Verwaltungen
und der Staatsanwaltschaft bei der Entlassung ist
durch die Ministerialverordnungen genau vorgeschrie¬
ben. Die Erfahrung wird nunmehr zeigen müssen,
wie sich diese Vorschriften bewähren und an wem
die Schuld liegt, wenn auch weiterhin Schwierigkeiten
entstehen. Sie dürften, wie ich nochmals wiederholen
will, meiner Ansicht nach zu vermeiden sein, wenn
beide betheiligten Behörden, die Vertreter der öffent¬
lichen Rechtssicherheit und die der Irrenheilkunde,
sich bemühen, den Standpunkt des andern zu be¬
greifen und zu berücksichtigen.“
Einen Theil solcher Schuld will ich mit den vor¬
stehenden Erörterungen gern auf mich nehmen, wenn
es ihnen gelingen sollte, dazu beizutragen, dass das
durch die zuletzt besprochenen Erlasse gebotene Ver¬
fahren, wenn nicht beseitigt, doch wenigstens auf ein
für die Handhabung erträgliches Maass zurückgeführt
wird.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Der Antwerpener Congress. (Schluss).
Mittwoch, den 3. September (3. Congresstag). Vor¬
sitzender Dr. van Andel, später F. Gerenyi, Shuttle¬
worth und Voisin. Die Diskussion bewegte sich um
das Thema: Geschlossene Anstalten oder Colonien
und Familien pflege? „Vater“ Amadeus Stockmans
und Dr. Claus traten wieder als warme Vertheidiger
der ersteren auf, ein Umstand, der schon an sich be¬
weist, dass dieselben ein besonderes Interesse an der
Integrität ihrer kirchlichen Anstalt in Mortsei haben
müssen; sie fanden wenig Partner, gleichwohl ver-
theidigten sie ihren Standpunkt so angelegentlich,
dass es zu heftigen und erregten Debatten kam, bis
am Nachmittag der Vorsitzende constatirte, dass der
Zweck des Congresses nicht der Widerstreit der ein¬
zelnen Verpflegungsarten, sondern die möglichste Ver¬
besserung des Looses der Geisteskranken sei. An
der Debatte betheiligten sich hauptsächlich: Voisin,
Keraval, Alt, Gerenyi, van Andel, van Dalen, Peeters.
Das Thema ist bei uns so eingehend erörtert, dass
wir den Inhalt der Ausführungen in der Diskussion
als bekannt voraussetzen dürfen.*) Bemerkenswerth
ist die Mittheilung, dass s. Zt., als die Anstalt St.
*) Dank dem energischen Auftreten Alt’s erfuhren die
immer wiederkehrenden Versuche des Vaters Stockmanns
und des Dr. Claus, die Bedeutung der Familienpflege herab¬
zusetzen, eine gründliche Zurückweisung und dies hat nicht
verfehlt, in der belgischen Tagespresse während der Zeit des
Congresses einen günstigen Widerhall hervorzurufen, sodass
das Ansehen der deutschen Irrenpflege durch Alt, der öster¬
reichischen durch Gerenyi, im Auslande erheblich vermehrt
worden ist. Wenn man weiss, dass die belgischen Anstalten
fast alle Unternehmungen sind, namentlich kirchliche, und dass
sie einen jährlichen Gewinn von ein bis zwei Millionen Franken
abwerfen, über deren Verwendung völliges Dunkel herrscht,
da Anstaltsverbesserungen nicht stattfinden — dass die Aerzte
vom Unternehmer angestellt und von ihm abhängig sind und
pro Kopf und Tag bezahlt werden (mit 0,05 bis 0,10 Centimes),
dass etwa l / A —*/& der Anstaltsinsassen colonisirbar sind, —
so wird man die erwähnte Abneigung gegen dieses System
verstehen!
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286
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25.
Anna geschlossen und 163 ihrer Pensionäre nach
Gheel überführt und dort colonisirt wurden, nur 3
davon in die Anstalt zurückversetzt werden mussten.
Am Donnerstag, den 4. September, begaben
sich die Congressisten in grosser Zahl um 10 28 nach
dem nahegelegenen Gheel, das von den Einwoh¬
nern zu Ehren der „vreemde doktoren“ festlich ge¬
schmückt war ; auch das Publikum selbst war „endi-
manche“. Der Ortspfarrer begrüsste die Besucher
aufs herzlichste in dem Raum einer Kapelle, an der
sie der Weg vorbeiführte und in die er sie einzu¬
treten lud. Ein Sängerchor trug einige Lieder vor.
Dr. Masoin bat darauf die Gäste zu einem Frühstück;
nachher Rundgang durch die Colonie, die Direc-
tor Dr. Alt im 1. Jahrgang dieser Zeitschrift bereits
sehr eingehend geschildert hat. Auch die Kirche
zur hl. Dymphne wurde besichtigt. Auf dem Markt¬
platz wurde den Gästen zu Ehren von 400 Sängern
eine Cantate vorgetragen. Zum Schluss fand ein
Banquet statt, bei dem Dr. Pecters den Toast aus¬
brachte.
Am Freitag, den 5. September (Vorsitzender
Tamburini), erhielt zunächst Dr. J. Crocq, Chef¬
arzt des Genesungshauses zu Uccle, das Wort zu sei¬
nem Vortrag über die Organisation der Irrenanstalten;
er schilderte zunächst diejenige der nichtbelgischen
Anstalten und machte dann Vorschläge für eine Neu¬
organisation der belgischen, und zwar 1. alsbald zu
verwirklichende Reformen: Einführung a) des obli¬
gatorischen Studiums der Psychiatrie für die Medicirv-
studirenden, b) einer Specialprüfung in Psychiatrie,
nur die docteurs en medicine psychiatrique sollten
zu Anstaltsärzten ernannt werden dürfen, dieselben
sollten fest angestellt und ausreichend bezahlt werden;
es sollte gesetzlich die Verhältnissziffer von Aerzten
und Kranken auf 1 : 100 festgelegt werden; wenig¬
stens ein Arzt sollte in der Anstalt wohnen; bei
grossen Anstalten sollte den Aerzten Privatpraxis
nicht gestattet sein. 2. In Zukunft zu verwirklichende
Reformen: a) A 11 e Anstalten für unbemittelte
Kranke sollten staatlich verwaltet werden,
b) jede Anstalt sollte einen ärztlichen
Director haben, in dessen Händen die ad¬
ministrative und medicinische Leitung
sich befindet und der staatlich angestellt wird.
Auch van Deventer spricht sich dahin aus,
dass die Verwaltung der Anstalten in den Händen
des Arztes sein müsse, so sei es in Holland; doch
braucht seine Kraft nicht von Verwaltungsarbeiten
absorbirt zu werden. Er empfiehlt die Anstellung
eines besonderen Arztes für pathologische Unter¬
suchungen.
Dr. Macpherson schildert die Art, wie die An¬
stalten in Schottland verwaltet werden. Die Inspectors
of lunacy besuchen, die einen mindestens einmal, die
anderen mindestens 4 mal im Jahre die Kranken. —
In den Colonien sind unangenehme Zwischenfälle
bei den Pfleglingen sehr selten. Dr. C u y 1 i t s vertheidigt
die Privatanstalten; in staatlichen würden die Aerzte
zu Beamten und verlören alle Initiative, wobei er
folgende Anekdote zum Besten giebt: Ein amerika¬
nischer Arzt nahm seinem Patienten das Gehirn heraus,
um es zu reinigen und ihm in einigen Tagen wieder
zu geben. Der aber kommt nicht wieder. Später
trifft ihn der Arzt: „Warum holen Sie sich Ihr Gehirn
nicht?“ Der Anencephale erwidert: „Ich brauche es
nicht mehr, ich bin Beamter geworden“. — Der Staat
habe kein Herz. — Marie bestreitet den Privatan¬
stalten das Monopol der Aufopferung. — Er empfiehlt
für die angehenden Anstaltsärzte eine Probezeit mit
Examen. — Claus hält letztere auch für nöthig. Er
ist gegen die Einmischung des Staates in die Privat¬
anstalten, wenigstens in Belgien. — Nachmittags sprach
Picquet über den chirurgischen Dienst in der Anstalt,
Dr. de Geldern von der Oberflächlichkeit der Auf¬
nahmeatteste, mittelst deren eine Peison intemirt
werden könne, von den ausserhalb Belgiens bestehenden
gesetzlichen Massnahmen zur Verhütung ungerecht¬
fertigter Einsperrung und von den in Belgien zu tref¬
fenden Einrichtungen (amtsärztliches Zeugniss, ausser
in dringlichen Fällen). — Meeus und-Sano, Marie,
Deventer, von dem Unterricht für das Pflegeper¬
sonal, Marie von der Beschäftigung der Kranken,
Masoin von der Unterbringung der Epileptiker in
der Familienpflege; 300 Epileptiker seien in Gheel
und Lierneux; die Zahl der Unfälle ist verschwendend
gering; in Gheel seit 1851 einer. — Auch diese Sitzung
dauerte von früh 9 l / 2 Uhr mit 2 */* Stunden Unter¬
brechung bis 5 Uhr.
Sonnabend, den ö.Septbr. (Vorsitzender: Buffet):
Zur Discussion steht das Stadtasyl, wobei besonders
Sano die Verhältnisse in Antwerpen schildert. —
Nach langen Verhandlungen wurden eine Reihe
von Beschlüssen gefasst, die folgenden Wortlaut haben :
Auf Vorschlag des Dr. Tamburini: „Der Congress
spricht den Wunsch aus, dass die Unterbringung in
Familien im weitesten Maasse angewandt w'erde.“ Auf
Vorschlag des Dr. Alt: „Für eine beträchtliche Anzahl
von Geisteskranken, die der Pflege bedürftig sind und
für welche diese Art der Behandlung zulässig erscheint,
stellt die Familienkolonie die natürlichste, freieste, beste
und am wenigsten kostspielige Art der Pflege dar und
ist ausserdem als ein wichtiger therapeutischer Factor
anzusehen. Die Familienpflege kann mit jeder von
einem Irrenarzt geleiteten und den Zeitbedürfnissen
entsprechend eingerichteten Anstalt vereinigt werden,
insbesondere, wenn die Pfleger und ihre Familien sich
günstiger Wohnungsbedingungen erfreuen, w f as für die
Heranziehung guter Pfleger unerlässlich ist. Aber bei
der Mehrzahl der grossen Anstalten wird die Familien-
pflege nur beschränkte Ausdehnung finden können.
Die Verallgemeinerung dieser Pflege wird nur erlangt
werden können durch Gründung von Centralanstalten
in passenden Gegenden, die im kleinen die bekannten
besondem Einrichtungen widcrspiegeln und als Aus¬
gangspunkt für die Gründung von Familienkolonien
dienen können. Diese letztem machen die bestehen¬
den Anstalten nicht überflüssig; sie stellen keineswegs
den passenden Aufenthalt für alle Arten von Geistes¬
kranken dar, aber sie können in practischer und wenig
kostspieliger Weise das stetige Anwachsen dieser An¬
stalten verhindern.“ Auf Vorschlag des Dr. Van De¬
venter: „Die Arbeit der Geisteskranken in diesen Co-
lonieen muss unter Leitung der Anstaltsärzte vor sich
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I 902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
287
gehen, welche die Art und die Dauer der Arbeit be¬
stimmen. Die Personen, die mit der Irrenpflege be¬
traut werden, müssen eine theoretische und practische
Berufsausbildung erhalten, die den Anstaltsärzten an¬
vertraut ist. Die Leitung einer Anstalt muss dem
Arzt auch hinsichtlich des Verwaltungsdienstes gehören.
Jede Irrenanstalt müsste für je 100 Kranke einen Arzt
besitzen, der im Interesse der ihm anvertrauten Kranken
in der Anstalt wohnen müsste und keine Privatpraxis
ausüben dürfte. Es wäre wünschenswerth, dass jede
Irrenanstalt die nothwendigen Laboratorien hätte, um
alles, was zur Beurtheilung der Krankheiten und zur
Förderung der Irrenheilkunde beitragen kann, studiren
zu können.“ Auf Vorschlag der Dr. Voisin, Marie,
Leroux, Alt und Francotte: „Da die leichte Zugäng¬
lichkeit einer Anstalt und die frühzeitige Aufnahme
in diese die sicherste Gewähr für die Heilung bilden,
spricht der Congress den Wunsch aus, dass alle Er¬
leichterungen gewährt werden mögen für eine schnelle
Zulassung zur Behandlung von Kranken bei den ersten
Anzeichen der Krankheit und ohne das immer ge¬
forderte obligatorische Zeugniss.“ Auf Vorschlag der
Dr. Alt, Marie, Van Deventer und Tamburini:
„Der Congress spricht aus, dass die Fortschritte
der jetzigen Irrenheilkunde den Gebrauch von
Zwangsmaassregeln verdammen.“ Auf Vorschlag der
Dr. Tamburini, Ferrarini, De Croly und Ley:
„Mit Rücksicht auf die grossen Vorzüge der medicinisch-
pädagogischen Einrichtungen für zurückgebliebene
Kinder ist eine weitere Entwicklung und Vervielfachung
dieser Einrichtungen wünschenswerth. Die Erziehung
in derartigen Anstalten muss abgesehen von ihrer
geistigen und sittlichen Art auch practisch und auf
Erlernung eines nützlichen Gewerbes gerichtet sein.
Es ist wünschenswerth, dass sich wohlthätige Gesell¬
schaften bilden, um die aus diesen Anstalten Ent¬
lassenen auf ihrem weitem Lebenswege zu fördern.
Die wissenschaftliche Leitung aller dieser erzieherischen
Anstalten und Sonderschulen soll eine ärztliche sein.“
Auf Vorschlag des Dr. Ferrari: „Da unter den Ur¬
sachen für die grosse Anzahl zurückgebliebener Kinder
die Wissenschaft heute die Leiden der Mutter während
der Schwangerschaft und der Entbindung und die
daraus folgenden Krankheiten während der ersten
Kindheit anerkennt und diese Ursachen leider mit
den Bedingungen unseres socialen Lebens verknüpft
sind, muss eine Abhülfe geschaffen werden. Der
Congress beschliesst, zwei Abordnungen zu ernennen:
eine technische, um die verhältnissmässige Wichtigkeit
der verschiedenen Ursachen der Phrenasthenie zu
studiren und eine andere, um die practischen Mittel
zu deren Bekämpfung zu untersuchen.“ Auf Vorschlag
der Dr. Ley und Ferrari: „Der Congress spricht den
Wunsch aus, dass in den Familiencolonieen Anstalts¬
schulen errichtet werden, wo zurückgebliebene Kinder
unter zuständiger ärztlicher Leitung vollständige ärztlich-
erzieherische Behandlung empfangen.“ Auf Vorschlag
des Dr. Schuyten: „Der Congress hält die Lösung
der Frage für wichtig, inwieweit die in Familiencolonieen
untergebrachten Geisteskranken die sie umgebenden
Kinder und Erwachsene beeinflussen, und beschliesst
die Bildung eines internationalen Ausschusses, dessen
Mitglieder in den verschiedenen Ländern nach einem
gemeinsamen Plan zu arbeiten hätten.“
* Schliesslich wurden noch 2 Vorschläge betr. Auf¬
besserung der Lage des Pflegepersonals in den An¬
stalten und Versicherung desselben gegen Unfall an¬
genommen. —
Nach den herzlichsten Dankesreden an das Congress-
comite, Director Dr. Peeters und Dr. Sano wurde der
Congress geschlossen.
Gegen 1 Uhr reisten die Congressisten nach Liemeux
zur Besichtigung der dortigen Familien pflege.
Der nächste Congress findet 1904 in Italien statt. —
Es würde den Raum eines ganzen Bandes erfordern,
wollte man hier ausführlich über die Vorträge und
Verhandlungen des Congresses, der als durchaus wohl¬
gelungen bezeichnet werden muss, referiren. Es wird
sich noch Gelegenheit finden auf den einen und
anderen der Vorträge zurückzukommen.
— Einladung zur dritten Conferenz der Trinker¬
heilanstalten des deutschen Sprachgebietes in
Stuttgart. Montag, 13. October 1902, nachmittags
3 Uhr: Berathende Versammlung im Mozart¬
saale der Liederhalle (Büchsenstrasse 59).
I. Constituirung der Versammlung; Begrüssungen.
II. Weshalb ist ein Trinkerfürsorgegesetz in Deutschland
nöthig, und welche Bestimmungen muss es enthalten ?
Dr. med. Waldschmidt (Charlottenburg). III. Die
Nachpflege der als geheilt Entlassenen, a) Die Hilfe
der Abstinenzvereine. Pastor Haacke(Rickling). b) Die
Arbeit der Anstalt selbst. Pastor Kruse (Lintorf).
c) Die Selbsthilfe der Geheilten. Hausvater Steffen
(Kirchlindach, Schweiz). IV. Unsere Beteiligung am
Internationalen Congress in Bremen. Pfarrer Neumann
(Mündt). V. Geschäftliches, a) Die Ueberleitung der
Conferenz in die Vereinsform. Dr. med. Colla (Finken¬
walde). b) Die nächste Jahresversammlung. Ober¬
regierungsrath Falch (Stuttgart), c) Wahlen. Die in
Stuttgart am Vormittag des 13. October eintreffenden
Cpnferenzbesucherwerden gebeten, sich etwa von 10 ] j 2
Uhr an im Hotel Victoria am Bahnhofe (Friedrich¬
strasse 28) zum freien Gedankenaustausch zusammen
zu finden.
Der Vorstand.
I. A.: Pastor Dr. Martius, Vorsitzender.
— Eine besondere Auffassung von der
Organisation einer Epileptiker- und Idioten-
Anstalt äussert der Pastor Bernhard in Kükenmühle
bei Stettin. In seinem Bericht über die Anstalt sagt
er, nachdem er ausgeführt, dass der Leiter der Anstalt
mit den verschiedenen Zweigen der Beschäftigung
vertraut sein müsse und der Arbeitsbetrieb eine ein¬
heitliche Leitung erfordere (was nichts Neues ist):
„Ein Hindcmiss, sich ein Verständniss in diesen Dingen
anzueignen, sind weder pädagogische, noch theologische,
noch medicinische Kenntnisse.“ Dem muss entgegen¬
gestellt werden: Epileptiker und Idioten sind
Gehirnkranke und die Leitung der solche
beherbergenden Anstalt muss naturgemäss
derjenige führen, der das weitgehendste Ver¬
ständniss für solche Gehirnkrankheiten
besitzt, d. i. der Facharzt. Die aus dieser Kenntniss
sich ergebenden Gesichtspunkte und Grundsätze sind
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288 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 25.
auch für die Erziehung und Beschäftigung der Epi¬
leptiker und Idioten raaassgebend, daher muss auch
das pädagogische Personal einer solchen Anstalt detn
Arzte unterstellt sein. Der Arzt ist überdies eher in
der Lage sich Kenntniss von den Lehren der einfachen
Elementarschulpädagogik und von den einzelnen Be¬
schäftigungsarten zu verschaffen, als der Pädagoge um¬
gekehrt von den Gehimkrankheiten und den krank¬
haften Abweichungen der kindlichen Seelenthätigkeit.
Mit der Theologie aber hat eine solche Anstalt nicht
mehr und nicht weniger zu schaffen als der Religions¬
unterricht, zu dessen Erteilung die Ausbildung der
Elementarschullehrer völlig genügt, und Seelsorge und
Gottesdienst es erfordern; für letztere genügen ein
bezw. wo Pfleglinge beider Confessionen untergebracht
sind, zwei Geistliche, die event. nebenamtlich anzu¬
stellen sind. Die richtige Organisation einer solchen
Anstalt wäre also: ein Facharzt, zugleich als örtlicher
Verwaltungsdirector, an der Spitze, ihm unterstellt einer¬
seits die übrigen Aerzte, andrerseits die Lehrkräfte. —
An den Kükenmühler Anstalten mit ihren ca. 926
Pfleglingen waren am 31. März 1902 laut obigem
Bericht angestellt: 6 Theologen (nämlich 2 Pastoren,
davon einer Leiter der Anstalt, 2 Hilfsprediger und
2 Vikare, also 1 Geistlicher auf 154 Pfleglinge). Dagegen
nur 3 Aerzte (1 Arzt auf 308 Pfleglinge) und 5 geprüfte
Lehrkräfte. E in Seelsorger würde, wenn nur evangelische
Pfleglinge in der Anstalt sind, vollständig genügen,
wenn auch katholische, natürlich noch ein katholischer
nöthig sein, doch scheint dies nicht der Fall, da von
der Mitwirkung katholischer Seelsorge nirgends im
Bericht die Rede ist. —
Auch aus einer anderen Stelle des Berichts spricht
eine besondere Auffassung: „Auch der Arzt ist zu
bitten, seine Visiten so zu legen, dass er die Ordnung
nicht stört“ (d. h. bei der Beschäftigung). Nach in
ärztlich geleiteten Anstalten geltender, daher maass¬
gebender Auffassung sind die Aerzte verpflichtet, die
Pfleglinge gerade auch bei der Arbeit zu be¬
suchen, damit hierbei Alles in zweckdienlicher Weise
vor sich gehe.
Dem Bericht der genannten Anstalt zufolge war
es möglich, zum Bau eines Diakonissen - Erholungs¬
hauses eine Summe von 10000 M. anzulegen. Das
ist sehr lobenswerth; aber man fragt sich: warum
wird in den staatlichen und städtischen Anstalten
nicht die gleiche Fürsorglichkeit dem nicht-kirchlichen
Pflegepersonal zu Theil, das bei den Geisteskranken
einen zehnmal mehr aufreibenden Dienst hat?
— Die 33. Versammlung des Vereins der
südwestdeutschen Irrenärzte wird am 1. und 2.
November in Stuttgart stattflnden. Vorträge sind
spätestens bis Anfang Oktober anzumelden.
Die Versammlung wird am ersten Tag in dem
Vortragsaal des Landgewerbemuseums, am zweiten
Tag in dem Bürgerspital abgehalten werden. Wer
beabsichtigt, Kranke vorzustellen, hat Gelegenheit,
diese auf der Irrenabtheilung des Bürgerspitals unter¬
zubringen.
Das nähere Programm wird sofort nach dessen
Feststellung veröffentlicht.
Die Geschäftsführer:
Sanitätsrath Dr. Fauser, Urbanstr. 70II.,
Sanitätsrath Dr. Wildermuth, Königstr. 20 1 .
— Gerichtliche Entscheidungen. Eine
principiell wichtige Entscheidung fällte das Gericht
von Blois am 22. März 1900. —
Es wies nämlich die gegen den Arzt gerichtete
Entschädigungsklage eines gefährlichen Alkoholikers
ab, der behauptete ungerechtfertigter Weise sequestrirt
worden zu sein. Der Gerichtshof erklärte sich für
incompetent, die Amtshandlungen des Präfecten zu
beurtheilen. Der Kläger sei auf Befehl des Präfecten
in die Irrenanstalt gebracht worden, und nicht auf
den des Arztes. — Uebrigens halte es das vom Arzte
ausgestellte Zeugniss für wohl begründet und sachlich
gerechtfertigt, es liege kein Kunstfehler vor.
Ann. Med.-Psych. 1901. Septb.-Octb.
— Bemerkung zu den „Erklärungen“ auf
Seite 281. Zur Orientirung für den Leser sei be¬
merkt, dass Möbius, selbst seit über 20 Jahren ab¬
stinent, in seinem Aufsatz: „Massigkeit und Enthalt¬
samkeit“ („Stachyologie“ S. 219) im Wesentlichen
die Taktik der Abstinenzler, nicht die Abstinenz
selbst kritisirt Wenn Möbius dort (S. 201) sagt:
„Der Alkohol nährt nicht, wärmt nicht, befördert
weder die Verdauung, noch die geistige oder körper¬
liche Arbeit Einzelne Gelehrte halten noch an der
Meinung fest, dass ganz kleine Mengen Alkohol ganz
vorübergehend die Muskelkraft steigern oder sonst
etwas Gutes machen. Aber diese Erörterungen über
einen etwaigen mikroskopischen Nutzen des Alkohols
können an jenen hinreichend bewiesenen Verneinungen
nichts ändern: praktisch genommen hemmt und schä¬
digt der Alkohol stets die Thätigkeiten unseres Orga¬
nismus. Auch darüber, dass der Alkohol kein brauch¬
bares Arzneimittel ist, kann, von vereinzelten Fällen
abgesehen, nicht mehr gestritten werden“ .... —
und wenn Clemm in seinem Aufsatz: „Alkohol
als Genuss-, als Nahrungs- und als Heilmittel“ („Die
med. Woche“, 1902, S. 303) zu dem Schluss kommt:
„Alkohol ist also, entgegen allem Ansturm der Tem¬
perenzler, 1) ein Nähr- und Genussmittel von Werth,
so lange er in geringen Mengen genossen wird, und
2) ein Heilmittel von hoher Bedeutung, welche viel¬
leicht bald genauer erkannt werden dürfte, wenn
nach dem gegebenen Gesichtspunkte seine Anwen¬
dung überwacht und ermessen wird“ .... — so
sind das allerdings zwei recht verschiedene Stand¬
punkte. —
Die Veröffentlichung der bereits vorher in der
„Internationalen Monatsschrift zur Erforschung des
Alkoholismus etc.“ erschienenen Erklärung von Möbius
in dieser Wochenschrift geschah auf besonderen
Wunsch der Redaction der letzteren. Red.
Personalnachricht.
— Herrn San.-Rath Dr. Alter-Leubus wurde
der Titel eines Geheimen San.-Raths verliehen.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. iiresler, K rasch nitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Ruchdruckorei (Gebr. Woiff) in Halle a S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
Direktor Dr. K. Alt,
Uchtspringe (Alunark).
Prof. Dr. A. Guttstadt,
Geh. Med.-Rath, Berlin.
Direktor Dr. G. Ol ah,
Budapest.
herausgegeben von
Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Graz. Zürich. Meerenbcrg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel
Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 26.
27. September.
1902.
Die Psy chiatrisch-Neur olo gi sehe Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Projekt eines Stadtasyles.
(S. 297). — Personalnachricht (S. 300).
Von Dr. G. Kolb-Bayreuth (S. 289. — Mittheilungen (S. 296). — Referate
Project eines Stadtasyles.
Von Dr. G. Kolb , Bayreuth.
Alle Rechte des Autors Vorbehalten.
J^ine Grossstadt beabsichtigt die zcitgemässe Ver¬
sorgung ihrer Geisteskranken. —
Die Vertreter der Gemeinde haben unter Zu¬
ziehung der aus psychiatrischen und bautechnischen
Sachverständigen bestehenden Baukommission folgende
allgemeine Gesichtspunkte festgelcgt:
1. Da für alle Erkrankte rascheste Verbringung
unter sachverständige Pflege angestrebt wird, ist für
das Stadtasyl eine centrale Lage vorgesehen.
2. Dieser centralen Lage entsprechend kann nur
ein kleines Areal zur Verfügung gestellt werden.
3. Eine Belästigung der Anwohner ist nach Thun-
lichkeit zu vermeiden.
4. Das Asyl dient lediglich als Durchgangsstation
d. h. die nicht heimathsberechtigten Kranken sind
sofort nach Feststellung ihrer Zugehörigkeit resp. so¬
gleich mit dem Eintritt der Transportfähigkeit der
regionären Provinzialirrenanstalt zuzuführen, während
diejenigen, welche der dauernden Fürsorge durch die
Stadt unterliegen, mit dem Eintritte der Transport¬
fähigkeit der im Bereiche des Vorortverkehrs neu zu
errichtenden, kolonialen städtischen Anstalt überwiesen
werden.
5. Das Stadtasyl soll eine Grösse erhalten, welche
voraussichtlich noch in 20 Jahren den erhöhten An¬
forderungen der gesteigerten Bcvölkerungszifler ge¬
nügen wird.
6. Um schon in den ersten Jahren eine voll¬
kommene Ausnützung der Räume des Stadtasyles er¬
zielen zu können, hat man in Aussicht genommen
diejenigen unter den der ständigen Fürsorge durch
die Stadt unterliegenden Kranken, welche besonderer
Pflege und Aufsicht bedürfen oder für die sich der
Exitus in absehbarer Zeit erwarten lässt, in den näch¬
sten Jahren auch nach Eintritt der Transportfähigkeit
nicht in die städtische koloniale Anstalt zu überführen,
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290 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2b.
sondern im Stadtasylc zu belassen; die Rcduction
der Zahl der unter jene Definition fallenden Insassen
des Asyles unter gleichzeitigem Ausbau der Wachab¬
theilungen der kolonialen Anstalt wird für das Asyl
den Uebergang bilden zu der Periode erhöhter Zu-
gangsziffem in späteren Jahren.
7. Entspricht die thatsächlichc Zunahme des Kran¬
kenstandes den angenommenen Ziffern, so ist nach
Ablauf von 15 Jahren in vorbereitende Berathung
über den weiteren Ausbau der städtischen Irrenfür-
sorge zu treten.
Aus den vom statistischen Bureau der Stadt
gesammelten Angaben:
1. Jetzige Höhe der Aufnahmeziffer Geisteskranker.
2. Durchschnittliche jährliche Zunahme dieser
Ziffer.
3. Durchschnittliche Dauer der bisherigen Ver¬
pflegung dieser Kranken in den alten Räumen
— unter Berücksichtigung des Umstandes,
dass bisher in Folge der ungenügenden Grösse
und Einrichtung der zur Verfügung stehenden
Räumlichkeiten Evacuirung oft früher als wiin-
schenswerth gewesen wäre, erfolgen musste.
4. Jetzige Grösse und procentuales Wachsthum
der Stadt.
5. Grösse und jährliche Zunahme des Fremden¬
verkehres.
6. Mittheilungen über bestehende Privatirrenan¬
stalten im Bereiche und in der Umgebung der
Stadt
lasse sich berechnen, dass eine für die Aufnahme
von ca. 90 Kranken (50 Männer, 40 Frauen) einge¬
richtete Anstalt noch in 20 Jahren voraussichtlich
allen Anforderungen genügen wird.
Die Baukommission gelangt auf Grund dieses
Materiales zu folgenden Beschlüssen.
A. Allgemeines.
I. Die geringe Ausdehnung des zur Verfügung
stehenden Areals zwingt zu einer möglichst weitge¬
henden Beschränkung der zu überbauenden Fläche
d. h. zur grössten Einschränkung hinsichtlich der Zahl
der Gebäude und zu einer geringen Flächen-Aus-
dehnung der Bauten bei einer stärkeren vertikalen
Entwicklung derselben als sonst bei Irrenanstalten
üblich.
Als unbedingt nothwendig wurde für jedes der
beiden Geschlechter ein eigener Pavillon gefordert.
Ein 3. Gebäude enthält im Souterrain Koch- und
Waschküche, weiterhin Räume für den administrativen
und ärztlichen poliklinischen Dienst, Wohnungen für
Aerzte und Beamte; Vorrathsräume.
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Um die postulirte Krankenzahl in Bauten von der
zulässigen Flächenausdehnung unterbringen zu können,
musste man die Krankenpavillons mit 3 vollständig
ausgebauten Stockwerken versehen.
Es wurde nicht verkannt, dass die Unterbringung
einer grösseren Anzahl von Kranken, welche sich
mit wenigen Ausnahmen im akutesten Stadium ihrer
Psychose befinden werden, innerhalb eines Baues, in
mehreren über einander liegenden Stockwerken, auf
erhebliche Bedenken stossen muss und von Seite der
psychiatrischen Sachverständigen wurde die Consta-
tirung zu Protokoll gegeben, dass man auf diese Bau¬
art nur eingehen konnte angesichts der Thatsachen,
dass die maassgebenden Faktoren sich zu einer
Aenderung der für den Bau maassgebenden principi-
ellen Gesichtspunkte nicht entschliessen konnten und
dass ein grösseres für den Bau geeignetes Terrain
weder vorhanden noch in absehbarer Zeit zu beschaffen
war; ferner nachdem die bautechnischen Sachver¬
ständigen in ihren Entwürfen eine Reihe von Ein¬
richtungen und Vorkehrungen angegeben hatten,
welche geeignet erschienen die Missstände auf ein
zulässiges Maass zu reduciren.
1. Da der Schall leichter von unten nach oben
dringt, als umgekehrt, wurde das Erdgeschoss eines
jeden Krankenpavillons für die Aufnahme der relativ
ruhigsten, der 1. Stock für unruhigere vorwiegend in¬
dolente, der 2. Stock für die unruhigsten Patienten
bestimmt.
2. Innerhalb des Baues wurde eine Uebertragung
des Lärmes durch besondere Construktion der Decken
wie durch Anbringung eines schalldämpfenden Fuss-
bodenbelags nach Möglichkeit verhindert.
3. Eine ca. 3 m tiefe, in der Frontseite vor den
Haupträumen laufende geschlossene Veranda resp. die
entsprechenden ebenfalls geschlossenen Altanen wer¬
den auf dieser Seite verhindern, dass der etwa aus
den geöffneten Fenstern eines Stockes dringende Lärm
sich im Innern der übrigen Stockwerke in unzulässiger
Weise geltend macht.
4. Ausgehend von der Thatsache, dass erregte
Kranke wohl nicht wesentlich weniger durch ihren
Anblick, durch versuchte oder durchgeführtc Angriffe
— also durch optische und taktile — als durch den
von ihnen ausgehendem Lärm — also durch akusti¬
sche Reize — störend und erregend auf andere Pa¬
tienten einwirken, wurde die Möglichkeit einer weitest
gehenden Sonderung der Kranken angestrebt; dieselbe
gestattet einige besonders störende oder erregte Kranke
dem Ohre wie dem Auge vollständig, andere weniger
erregte dem Blicke vollständig zu entziehen, den von
ihnen etwa verursachten Lärm in wesentlich abge-
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
igo^.]
schwächter Stärke an das Ohr der anderen Kranken
dringen zu lassen, ohne deswegen alle jene störenden
Elemente in Isolir- oder Einzelzimmern unterhringen
zu müssen.
So stehen in dem Männerpavillon für 52 Kranke
6 Krankensäle ä 8 Betten,
6 Tagräume,
4 Einzelzimmer,
5 grosse Baderäume,
9 Isolirzimmer
in Summa 30 Räume zur Verfügung; rechnen wir
diejenigen Zimmer, welche zur Aufnahme nur eines
Patienten bestimmt sind (4 Einzelzimmer, 9 Isolir¬
zimmer) ab, so stehen im Nothfalle für die restiren-
den 39 Patienten 17 Räume zur Verfügung, so dass
auf einen Raum nicht mehr als 2 — 3 Insassen ent¬
fallen (2, 3).
Die 9 Isolirzimmer und 5 Baderäume sind von
den Krankensälen in einer Weise getrennt, welche
das Herüberdringen von Lärm bei den Isolirzimmem
vollkommen ausschiiesst, bei den Baderäumen auf ein
sicher zulässiges Maass reducirt.
Die Baderäume konnten, da sie bei dem domini-
renden Ueberwiegen frischer Psychosen sehr häufig
zu Daueibädern Benützung finden werden, für die
Berechnung in diesem Falle als annähernd gleichwertig
den Wohnräumen in Rechnung gezogen werden.
Noch günstiger sind die Verhältnisse bei den
Frauen entsprechend deren zweifellos höherem Sepa-
rationsbedtirfniss gelagert.
Hier stehen für 40 Kranke
6 Krankensäle a 6 Betten,
6 Tageräume,
4 Einzelzimmer,
5 Baderäume,
8 Isolirzimmer
in Summa 29 Räume zur Verfügung; rechnen wir
hier die Zimmer für Einzelverpflegung (= 4 Einzel¬
zimmer, 8 Isolirzimmer) ab, so stehen im Nothfalle
für die restirenden 28 Patienten 17 Räume zur Ver¬
fügung, so dass auf einen Raum dann durchschnitt¬
lich nicht einmal 2 Insassen entfallen (1, 8).
II. Die Möglichkeit einer Störung der Nachbar¬
schaft durch den vom Asyle ausgehenden Lärm wird
schon durch die oben erwähnte Vertheilung der Kran¬
ken in die verschiedenen Stockwerke auf ein geringeres
Maass zurückgeführt, indem eine Belästigung durch
die im 2. Stockwerk des Pavillons untergebrachten
erregtesten Elemente im Wesentlichen nur für die
Bewohner der obersten Stockwerke benachbarter
Häuser in Frage kommen könnte.
291
Ferner wmrde — das nachstehend Gesagte gilt
in gleicher Weise für beide Krankenpavillons — die
Einrichtung getroffen, dass in dem einen Flügelbau
lediglich Separatzimmer für relativ ruhige Patienten
vorwiegend der theueren Verpftegungsklassen, durch
welche eine Störung nicht zu befürchten ist, vorge¬
sehen wurden.
1
In der Front der Pavillons wurden die mit Kran¬
ken belegten Räume 3 m hinter die Frontlinie der
Flügelbauten zurückgezogen und dieser Zwischenraum
durch eine geschlossene Veranda resp. in den oberen
Stockwerken durch geschlossene Altane ausgefüllt; die¬
selben werden, ohne dass die Zufuhr von Luft und
Licht in unzulässigem Maasse verhindert würde, einen
deutlichen Einblick in die betr. Räume von den be¬
nachbarten Wohnhäusern aus verhindern und zur Ab¬
schwächung des aus den Fenstern jener Räume etwa
dringenden Lärms erheblich beitragen.
• In ähnlicher Weise wurde auf der Rückseite der
Mittelbau um ca. 3 m hinter die Frontlinie der
Flügelbauten zurückgezogen; eine Veranda etc. hier
aber nicht vorgesehen.
Es ist demnach die Gefahr einer Belästigung der
Umgebung
a) ausgeschlossen auf der vom Flügel der Separat¬
zimmer eingenommenen Seite,
b) ganz erheblich reducirt auf der Vorderseite,
c) etwas vermindert auf der Rückseite,
d) in unvermindertem Maasse lediglich zu be¬
fürchten auf der vom Flügel der Isolirzimmer einge¬
nommenen Seite.
Durch diese Eintheilung ist es ermöglicht die bei¬
den Krankenpavillons derart zu situiren, dass eine
Störung der Nachbarschaft in einem unzulässigem
Maasse wohl ausgeschlossen erscheint.
III. Aus der Bestimmung des Stadtasyles lediglich
— resp. in den ersten Jahren vorwiegend — als
Durchgangsstation, ergiebt sich das dominirende Ueber¬
wiegen solcher Kranker, welche sich in den akutesten
Stadien ihrer Psychose befinden.
Es wird demnach
a) für fast alle Kranke Indikation für Bettbehand¬
lung bestehen;
b) es wird sehr häufig Indikation für Badebehand¬
lung besonders in Form des warmen Dauerbades ge¬
geben sein;
c) Isolirung w r ird relativ häufig nicht zu vermei¬
den sein;
d) für einen recht erheblichen Procentsatz der
Insassen wird sich eine ununterbrochene Ausdehnung
der Pflege und Ueberwaehung auch über die Dauer
der Nacht als nothwendig erweisen.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
Boden-
fläche
qm.
Breite
m.
Höhe
m.
Tiefe
m.
3,70 13,26
„ 10,20
» I 3 * 26
- 19,80
3JO 13,26
15 2,10 15,00 —
28,00
5,88
22,47
31,50
3,70 I 18,87
49,06 I
| Isolirr. I
37.74
Handgarde¬
robe I
49,06
Isolirr. II
—
Treppe I
49,06
Isolirr. III
116,55
' Corridor I
103,60*
Tagraum I
2 1,76
Abort I
83.14*1
Bad I
257,74 * Krankens. I
„ j Krankens. II
i03,öo*jTagraum II
21,76 Abort II
83,14* Pflegerz. I
116,55 Corridor II
69,82 Besuchsz.
66,05 Jourzimmer
— Treppe II
18,87 Abort III
56,61 Spülküche I
Isolirr. IV
Handgarde¬
robe II
Isolirr. V *
Treppe I
Isolirr. VI
Corridor III
Tagraum III
Abort IV
Bad II
Krankens. III.
I Krankens. IV
Tagraum IV
I Abort V
Bad III
Corridor IV
| Separatz. I
1 Separatz. II
I Treppe II
I Abort VI
Handgarde -
i robe IV
Isolirr. VII Spülküche II
Handgarde- —
robe III
Isolirr. VIII —
Treppe I Treppe I
Isolirr. IX —
Corridor V CorridorVII
Tagraum V —
Abort VII —
Bad IV
Krankens. V | Haupt-
Krankens. VI j garderobe
Tagraum VI —
Abort VIII —
Bad V —
Corridor VI Corridor VIII
Separatz. III Pflegerz. II
Separatz. I\ r |Pflegerz. III
Treppe II Treppe II
Abort IX Abort X
Abtheilungs- Pflegerz. IV
pfl.
Untersuchungsz.
* 6,20:4,00:3,70 =
24,8 qm.: 91,76 cbm.
*4,55:4,20:3,70 =
19,11 qm.: 70,71 cbm.
} 6.oo : 8,60 : 3,70
= 51,60 qm.
= 190,92 cbm.
*= Nr. 7
= Nr. 9
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HARVARD UNIVERSITY
I. Stock II. Stock | III. Stock
Bei den
Frauen
Parterre
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
0. on □ □□ LD 00 □
1. Isolirrautn I. 2. Handgarderobe. 3. Isolirraum II. 4. Treppe I. 5* Isolirraum III. 6. Corridor I. 7* Tagraum 1 .
8. Abort I. 9. Bad. 10. Krankensaal I. 11. Krankensaal II. 12. Tagraum II. 13. Abort II. 14. Pllegerzimnicr. 15. Corri¬
dor II. 16. Besuchszimmer. 17. Jourzimmer. 18. Treppe II. 19. Abort III. 20. Spülküche.
,.0 Y .
Dimensionen und Bestimmung der Innenräume.
IQC2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
293
Diesen Postulaten sucht der Entwurf durch fol¬
gende Einrichtungen und Vorkehrungen zu genügen:
I. Die Krankensäle (10, 11) sämmtlicher Stock¬
werke der beiden Pavillons sind entsprechend den
Anforderungen konstruirt, welche wir an für Belt-
bchandlung bestimmte Räume zu stellen berechtigt
sind: Für jedes Krankenbett wurde ein Luftraum
von 30 cbm vorgesehen, Lichteinfall und Lufterneue-
rung durch eine der Summe der Krankenbetten ad¬
äquate Zahl von Fensteröffnungen, welche sich in
zwei einander gegenüber liegenden Hauswänden be¬
finden, nach Möglichkeit sicher gestellt.
2 Das Erdgeschoss — bestimmt zur Aufnahme
der relativ ruhigsten Kranken — verfügt über einen
(Ob die (»bereu Stockwerke über je 2 (t) u. 14) ge¬
räumige Baderäume von 22 1 2 (bei den Frauen 10)
qm Bodenfläche und 83 (bei den Frauen 70 J / 2 ) cbm
Luftraum; für jedes Stockwerk ist ausserdem eine
transportable Badewanne, welche Bäder in jedem be¬
liebigen Raume zu verabreichen gestattet, vorgesehen;
cs stehen demnach 5 X! 2 -f 3 X 1 = T 3 Badewan¬
nen d. h. auf je 4 (bei den Frauen auf je 3) Kranke
1 Wanne zur Verfügung.
3. In dem einen der beiden Flügelbauten wurden
9 (1, 3, 5) (bei den Frauen 8) Isolirzimmer vorge¬
sehen , bei denen durch Situirung und Construction
eine Störung der Krankensäle ausgeschlossen, eine
event. gegenseitige Störung der Insassen auf ein zu¬
lässiges Maass zu recluciren versucht wurde.
Der relativ hohe Procentsatz von 17,3 (bei den
Frauen 20) Procent Isolirzimmer dürfte durch die An¬
häufung von überwiegend ganz akut Erkrankten hin¬
reichend gerechtfertigt erscheinen.
4. Die Krankensäle eines jeden Stockwerkes sind
derart situirt, dass sie im Nothfalle durch je I Pfleger
nachts mit Leichtigkeit vollkommen überwacht werden
können; im Allgemeinen dürfte es genügen im 2. Stock
nachts eine Doppelwache, welche event. auch die
Ueberwachung der Isolir- und Separatzimmer zu über¬
nehmen hätte, im 1. Stocke eine einfache Wache zu
ctabliren und auf diese Weise 2 /s der Patienten unter
ständige Pflege und Aufsicht zu bringen; die Aus¬
dehnung derselben auf sämmtliehe Kranke ist durch
Aufstellung einer weiteren Wache im parterre jederzeit
leicht ermöglicht.
Die vorübergehende Verstärkung einer dieser
Wachen zur Doppelwache wird sich zeitweise eben¬
so wenig vermeiden lassen als die Aufstellung eines
eigenen Wachpflegers für die Isolir- resp. Separat¬
zimmer. —
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B. Specielle Beschreibung der Kranken-
p a v i 11 o n s.
I. Allgemeines.
Die Pavillons der männlichen und weiblichen Ab¬
theilung zeigen im Grossen und Ganzen identischen
Grundriss.
Eine Ausnahme bilden die Krankensäle (10, 11),
welche bei den Männern für je 8 Kranke bestimmt,
auf der weiblichen Abtheilung nur für je 6 Kranke
Platz bieten; es konnten dementsprechend Kranken¬
säle (10, 11), Tagräume (7, 12), Baderäume (9,
14) der weiblichen Abtheilung durch entspr. Reduc-
tion des Breitendurchmessers etwas kleiner konstruirt
werden als dies auf der männlichen Seite der Fall ist.
Ferner wurde einer der bei den Männern als
Isolirzimmer dienenden Räume des 1. Stockes (3) als
Untersuchungszimmer vorgesehen.
Die Pavillons sind im Wesentlichen dreistöckig
projectirt, nur die Flügelbaulen erhalten über dem
Erdgeschosse, dem 1. und 2. Stocke noch ein 3.
Stockwerk.
Die Bauten sind schon im Hinblicke auf die durch
das kleine Areal gebotene Einschränkung der über¬
bauten Fläche in reinem Pavillonstyl gehalten.
Unterkellerung ist, insoweit sie zur Etablirung der
centralen Heizanlagen nothw'endig erscheint, vorge¬
sehen. —
II. Verwendung und Beschreibung der einzelnen
Räume.
1. Krankensäle und Tagräume.
Die beiden Krankensäle (10, 11) eines jeden Stock¬
werkes, für Bettbehandlung von 8 (bei den Frauen
von ö) Kranken eingerichtet, stossen unmittelbar an
einander und grenzen auf der anderen Seite an die
Tagräume (7, 12) einerseits, an die nothwendigsten
Haupträume — Aboit und Bad (8, 13 hezw. 9, 14)
andrerseits.
Durch diese Anordnung ist eine möglichst inten¬
sive Ueberwachung und leichte Pflege bei relativ ge¬
ringem Pflegeraufwand gewährleistet.
Die Krankensäle wurden relativ klein, d. h. nur
für 8 bezw. 6 Kranke konstruirt, w’eil erfahrungsge-
mäss die Unruhe der in einem Raume vereinigten
Kranken bei Erhöhung der Krankenzahl in viel höhe¬
rem Maassc als dem einfachen Zahlenverhältnisse
entsprechen würde, zunimmt.
Die Krankensäle sind unter sich und von den
Tagräumen durch gut schliesscndc Doppelthürcn mit
Glasfenstern getrennt.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSUM
294
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2 6.
Auf Tagräume glaubte inan, ohne zu verkennen,
dass durch deren Wegfall eine ganz wesentliche Er¬
leichterung der Konstruktionsbedingungen gegeben sei
und ohne die Bettbehandlung etwa in den Hinter¬
grund treten lassen zu wollen, nicht verzichten zu
sollen in Anbetracht des günstigen Einflusses, den
auf viele Kranke die Möglichkeit ausübt wenigstens
einige Stunden aus dem Milieu der Krankensäle zu
kommen, zumal die betr. Räume, wenn nicht als Tag¬
räume benützt, eine treffliche Gelegenheit bieten be¬
sonders laute Kranke von den übrigen Patienten ab-
sondem zu können ohne zur „Isolirung“ schreiten zu
müssen.
Ein weiterer Grund, der für die Beibehaltung der
Tagräume spricht, ergiebt sich aus einer Schwierig¬
keit, der wir in Bauten, welche — für Bettbehand¬
lung bestimmt — im Pavillonstyl aufgeführt sind,
begegnen: wo man nämlich die Patienten, während
die Krankensäle der doch meist in recht kurzen
Zwischenräumen nothwendig werdenden gründlichen
Reinigung unterzogen werden, unterbringen soll; im
vorliegenden Projecte bieten die Tagräume im Ver¬
eine mit den Baderäumen Platz hierzu in genügen¬
dem Maasse.
Die Tagräume (7, 12) erhielten eine Grösse, welche
2 / a der im betr. Stockwerke untergebrachten Patienten
den für diese Räume üblichen Luftkubus von 16 cbm
sichert.
2. Die Isolirzimmer
(1,3,5), bei x 3 Vi c ^ m Bodenfläche 46 cbm Luftraum
bietend, sind derartig angelegt, dass in der Horizontalen
kein Isolirraum unmittelbar an einen 2. stösst; ein¬
geschobene Corridorthüren verhindern, dass der in der
Nachbarzelle durch Schlagen an die Thüre entstehende
Lärm sich in unzulässiger Weise geltend macht.
Eine gegenseitige Störung in vertikaler Richtung
wurde durch entsprechende Deckenkonstruktion, durch
einen den Schall dämpfenden Bodenbelag auf ein zu¬
lässiges Maass zu reduciren versucht.
Eine Störung der Krankensäle durch den event.
aus den Isolirzimmern dringenden Lärm erscheint
durch die gegenseitige Situirung vollkommen ausge¬
schlossen.
Die nothwendigen Nebenräume, Bad und Abort
(9 u. 8), sind von den Isolirzimmern aus leicht und
rasch erreichbar.
Die Thüren erhalten verschliessbare Einblicköff-
nungen, damit auch nachts im Bedarfsfälle durch
einen Pfleger einer Doppel wache resp. durch einen
eigenen Wachpfleger eine zeitweise Controlle isolirter,
aber einer gewissen Ueberwachung bedürftiger Kran-
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ker bethätigt werden kann, ohne dass die Patienten
jedesmal durch Eintreten gestört werden müssten.
Die Leistungen des die Ueberwachung ausübenden
Pflegers werden auch hier durch eine in vorgeschrie¬
benen Zeiträumen zu markirende Wachuhr (wenn
möglich mit Rückmeldevorrichtung) kor.troll irt bezw.
gesichert.
3. Die Baderäume
(9, 14) wurden der Art situirt, dass von allen, dauernd
oder vorübergehend mit Kranken belegten Räumen
(Krankensälen wie Tagräumen, Isolirzimmern und
Separatzimraern) aus, directer Zugang besteht.
Zur Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse
stehen den Patienten die unmittelbar an die Kranken¬
säle wie an die Tag- und Baderäume anstossenden
Aborte
I und II (8, 13) zur Verfügung; vom Flügel der
Isolirziramer ist der Abort I (8) durch den Bade¬
raum hindurch leicht zu erreichen, während für den
Flügel der Separatzimmer ein eigener Abort III (19)
gegeben ist.
An
Nebenräumen
sind vorgesehen:
1. In jedem der beiden Seitenflügel eines jeden
Pavillons eine Spülküche — als solche dient im Flügel
der Isolirzimmer Raum 1 des III. StockWerkes, im
Flügel der Separatzimmer Raum 20 im Parterre. Jede
Spülküche ist mit Wärmetisch ausgestattet; je ein auf
der Rückseite des Baues — in den durch Mittelbau
und Flügelbauten gebildeten Ecken — befindlicher
Speiseaufzug ermöglicht die rasche Zufuhr der Speisen,
die prompte Vertheilung des Geschirres.
2. Im Erdgeschosse wurde Zimmer 16 als Be¬
suchszimmer eingerichtet, ferner
3. Zimmer 17 dem dienstthuendem Arzte
zur Verfügung gestellt.
4. Für die 3 grossen Abtheilungen eines jeden
Pavillons wurde in jedem Stockwerke eine zwischen
den Isolirzimmern (1,3) gelegene Handgarderobe
(2) vorgesehen.
Im Flügel der Separatzimmer dient Raum 20 im
1. Stock als Handgarderobe für die Patienten der
Separatzimmer; im gleichen Raume werden die für
den täglichen Gebrauch etwa nöthigen Requisiten, so¬
weit sie nicht in den Spülküchen ihren Platz haben,
untergebracht.
5. Die für das Pflegepersonal nöthigen
Räume befinden sich im Wesentlichen im Flügel
der Separatzimmer; hier dient im 2. Stocke Zimmer
20 dem Oberpfleger als Wohn- und Schlafzunmer,
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
205
1902.]
während der gleiche Raum ira 3. Stocke, sowie 16,
17 den Pflegern als Schlafräume dienen.
3 Pfleger — von jeder Abtheilung einer — schla¬
fen nachts alarmbereit im Zimmer 14 des Erdge¬
schosses; ein Glockenzeichen des Wachpflegers ruft
einen oder alle zur Unterstützung der Wache herbei.
Die Privatpfleger schlafen theilweise in den Zim¬
mern der ihrer speciellen Obhut anvertrauten Kranken.
6. Ein Handdepot befindet sich in 5 des 3.
Stockwerkes.
7. 2, 3 im gleichem Stockwerke dienen der Auf-
bewahrung von Requisiten.
8. Eine Hauptgarderobe befindet sich in den
Bodenräumen über dem mittleren Theile des Mittel¬
baues.
9. Die Verbindung zwischen den einzelnen Stock¬
werken ist durch zwei Treppenhäuser (4, 18)
sicher gestellt; diese sind so situirt, dass, wo immer
auch im Hause ein Brand ausbrechen möge, den
sämmtlichen Kranken doch stets mindestens eine
Treppe zur Verfügung bleiben würde.
10. Die Veranda, 3 m tief, ca. 31 (bei den
Frauen ca. 25) m breit, bietet die Möglichkeit bett¬
lägerige Kranke, welche mit ihrem Bette hinausgefahren
werden, in die frische Luft zu bringen ohne sie den
Witterungseinflüssen direct aussetzen zu müssen; im
1. und 2. Stock erhöht der betreffende Altan —
bei event. Verzicht auf Fensterschutz durch Gitter —
die Sicherheit der Abtheilungen, indem ein Sturz oder
Sprung aus dem geöffneten Fenster den Patienten
nicht sofort in die Tiefe, sondern zunächst nur auf
den Altan führt
Veranda und Altanen sind in Eisenkonstruction
projectirt, mit mächtigen in den unteren Theilen mit
stärkerem Glas versehenen Fenstern, welche gestatten
die Veranda resp. die Altanen vollkommen nach aussen
hm abzuschliessen. Es wird unter diesen Umständen
wohl kein Bedenken bestehen, den — ohnehin recht
schwachen — Verkehr des Pflegepersonales zwischen
dea beiden Seitenflügeln der Pavillons über die ja vor
jedem Witterungseinflusse geschützte resp. zu schützende
Veranda bezw. über die Altanen zu leiten; auch die
zeitweise Verbringung von hinfälligen, jedoch erregten
Patienten, für welche das den Gartenbesuch ermög¬
lichende Treppensteigen zu anstrengend oder sonst
unzulässig erscheint, auf die Altanen des 1. und 2.
Stockes dürfte bei solider Konstruction der Altanen-
fenster und bei einem verlässigem Pflegepersonal
wohl als durchaus zulässig zu bezeichnen sein.
Dass die Altanen mit zahlreichen, nur durch die
nothwendige Eisenkonstruction von einander getrenn-
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ten Fenstern versehen, welche 1 m über dem betr.
Boden beginnen und bis unmittelbar an den Fuss-
boden des nächsten Stockwerkes heranreichen, den
Haupträumen Luft und Licht nicht in unzulässiger
Weise entziehen werden, dürfte sicher sein.
Ein weiterer Zweck dieses geschlossenen Aussen-
baues: den aus den Fenstern dringenden Lärm zu
dämpfen und den Einblick in die Krankensäle zu er¬
schweren, wurde bereits weiter oben betont.
11. In das Freie führen
auf der Rückseite des Baues je eine Thüre von
6, 15 aus direct; ausserdem 2 Thüren auf die Ve¬
randa ebenfalls von 6, 15 aus; auf die Veranda
resp. die Altanen gelangt man durch Thüren von den
Krankensälen (10, 11) aus.
III. Vertheilung des Pflegepersonales.
Ein Pavillon bietet Platz für
48 (36) Kranke dei III.; 4 (4) Kranke der I. und
II. Verpflegskiasse.
Die Isolirzimmer können hier, weil nur zeitweise
und vorübergehend belegt, nicht mit in Rechnung ge¬
zogen werden.
Die Kranken vertheilen sich in folgender Weise
auf die verschiedenen Stockwerke:
1. Erdgeschoss: (Relativ ruhige Kranke; vorläufig
keine ständige Nachtwache),
16 (12) Kranke III. Klasse — 3 Pfleger (3 Pflege¬
rinnen).
2. 1. Stock: (Unruhige Kranke; ständige Nacht¬
wache),
16 (12) Kranke III. Klasse; 4 (4) I. und II. Klasse,
3 Pfleger (2 Pflegerinnen).
3. 2. Stock: (Die unruhigsten Kranken; ständige
Doppel wache),
16 (12) Kranke III. Klasse; 4 (4) I. und II.
Klasse — 4 Pfleger (3 Pflegerinnen).
Die 9 (8) Isolirzimmer werden durch 2 (2) eigene
Pfleger (Pflegerinnen) versehen.
Für die Insassen der Separatzimmer sind Privat¬
pfleger, von deren Bezahlung in der Regel die Ge¬
währung der separaten Verpflegung abhängig zu
machen ist, vorgesehen; von den zwei für jedes der
beiden oberen Stockwerke demnach vorhandenen
Privatpflegern kann je einer zum Abtheilungsdiensle
herangezogen werden.
Bei dem anstrengenden Dienste und in Anbetracht
der relativ geringen Zahl von Pflegern erscheint es
unzulässig, dieselben zu Nachtwachen heranzuziehen
und es sind für den Nachtdienst eigene Pfleger vor¬
zusehen; die Verpflichtung zum Wachdienst wechselt
1 monatlich im Kreise des gesammten Pflegepersonales,
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HARVARD UNIVERSUM
2 g6
so dass bei einem Gesammtbestand von 20 Pflegern,
und bei dreifac her Wache jeden Pfleger jeden 7. Mo¬
nat Nachtdienst treffen würde.
Nach höchstens einjähriger Dienstzeit im Stadt¬
asyle ist eine mindestens sechsmonatliche Verwendung
als Arbcitspflegcr in der städtischen kolonialen An¬
stalt zur Erholung vorgeschrieben.
Nac h der umstehend gegebenen Eintheilung treffen,
wenn wir die Privatpfleger ausser Rechnung lassen,
bei den Männern auf 48 Kranke 12 Pfleger, 4
Nachtpfleger — auf 3,2,
bei den Frauen auf 46 Kranke 10 Pfleger, 3
Nachtpfleger = auf 2,8 Kranke eine Person des
Pflegepersonales.
Diese hohe Vcrhältnissziffer dürfte, da cs sich aus¬
schliesslich um Patienten handelt , welche an Pflege
und Aufsicht die höchsten Anforderungen steilem, als
nicht zu hoch zu bezeichnen sein.
Für jeden der beiden Pavillons ist ein Oberpfleger
bezw. eine Oberpflegerin vorgesehen.
Für die Nacht tritt folgende Vertheilung ein
3 Pfleger sind auf Wache,
3 schlafen alarmbereit in Zimmer (14) Parterre,
4 schlafen in den Separatzimmern,
je 3 in Zimmer 17, 20, und 4 in Zimmer 16
des 3. Stockes.
Für die mir zugesandten kritischen Aeusserungen
[Nr. 26.
über mein Project einer Wachabtheilung für unruhige
Kranke gestatte ich mir, besonders Herrn Oberarzt
Dr. Ncisser-Leubus und Heim Oberarzt Dr. Fischer-
Illenau meinem verbindlichsten Dank auszusprechen
— ich werde mir erlauben auf sie sowie auf den ob¬
jectixen Theil der Ausführungen von Dr. Frank-
Münsterlingcn an anderer Stelle einzugehen und bitte
auch für das vorstehende Project um private oder
öffentliche Kritik.
In einer grossen Anzahl von Zuschriften, für die
ich gleichfalls bestens danke, wurde meine Ansicht,
dass die Herausgabe einer zusammenfassenden Arbeit
im Bereiche des Anstaltsbauwesens ein Bedürfniss sei,
zugestimmt, ich hoffe in Kürze die Grundzüge des
Programms hierfür vorlegen und die gütige 1 Ansic ht der
älteren Herrn ('ollegen darüber erbitten zu können. *)
Die Punkte, welche ich mir gestatten möchte in
erster Linie zur Discussiun zu stellen, sind :
„I. Erscheint die Unterbringung der unruhigsten
Kranken im obersten Stockwerke durch die von mir
erwarteten Vortheile gerechtfertigt oder überwiegen
die sicher sehr erheblichen Nachtheile?
2. Erscheint die abgelegene Lage der Isolirzinmier
unter den angegebenen Cautelen (LJcberwachung tags
durch 2 eigene Pfleger, nachts durch den 2. Pfleger
der Doppelwache) als zulässig ?•*
*) Von dem angedcutetcn Werke „Sammel-Atlas für den
Bau von Irren-Anstalten“ (Verlag von Carl Marhold in Halle a. S.)
sind bereits 4 Lieferungen erschienen. D. Red.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Aus Nieder-Oesterreich. Derlandwirthschaft-
liche Besitz von Mauer-Oehling ist durch einen in
den letzten Tagen erfolgten Ankauf wesentlich er¬
weitert worden. Es ist die Besitzung der Eheleute
Kirchweger in Mauer-Oehling um den Betrag von
318000 Kronen erworben. Dieselbe umfasst ausge¬
dehnte Acker-, Wiesen- und Waldgründe, ein grosses
Wohnhaus summt Wirtschaftsgebäuden und Stallungen,
eine Walzmühle mit Wasserkraft, einen Ziegelofcn und
eine Brettersäge. Durc h diesen Ankauf ist das Flächen-
ausmass der Maucr-Ochlinger Anstalt auf 21 1 Hektare
gestiegen. Der Viehstand ist jetzt 120 Kühe, ih Pferde,
200 Schweine etc. Das Wohnhaus ist dazu bestimmt,
50 zu landwirtschaftlicher Beschäftigung geeigneten
Kranken Unterkunft zu bieten. Auch die Uolonie
Hasch hof der n. ö>. Landes-Irrenanstalt K ierling-
Gugging wird jetzt erweitert. Eben jetzt wurde ein
geschmackvoll eingerichteter Pavillon für 60 Kranke
fertig gestellt, welcher im Laufe des Monates Oktober
eröffnet werden dürfte. —
Es erhielten Auszeichnungen anlässlich der Eröffnung
der Kaiser Franz Josef Landes Heil- und Pflegeanstalt
in Mauer-Oehling:
Herr Landesausschuss Steiner das Comthurkreuz
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des Franz Josef Ordens, Herr Baurath von Buog
und Herr Administrationsinspector Fcdor Gcrcnyi
das Ritterkreuz des Franz Josef Ordens, Herr Director
Dr. Krayatsch den Titel eines Regiert!ngsrathes.
— Berlin. Die Beschuldigung eines geistes-
k ranken Quäru lauten gegen die Leitung der
Irrenanstalt in Herzberge hatte im Osten der Stadt
und in IIerzberge eine gewisse Aufregung hervor¬
gerufen. Der in der Anstalt internirte Kranke hatte
in einer Eingabe an die Staatsanwaltschaft nicht nur
über eine unerhörte Behandlung durch die Wärter
Klage geführt, sondern auch gegen den Leiter der
Irrenanstalt schwere Ansehuldigungen erhoben, die
kaum wiederzugeben sind: Es verbreiteten sieh aller¬
hand abenteuerliche Gerüc hte, bis die Uriminalpolizci
cinschritt, indem sie eine Untersuchung einleitete.
Hierbei hat sich herausgcstcllt, dass man es mit einem
notorischen Quärulanten zu tliun hat, der an Verfol¬
gungswahn leidet und schon in anderen Irrenanstalten,
in denen er internirt war, derartige Denunciationen
geschic kt zu verbreiten verstand.
— Waldbröl, ib. Sept. Im vergangenen Jahre
fand in der hiesigen Provinzial-Irrenanstalt ein Kranker
Aufnahme, der in den letzten Jahren keinen festen
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HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wohnsitz hatte, dessen Personalien aber auf Grund
der bei ihm Vorgefundenen Papiere festgestellt werden
konnten. Vor einigen Tagen wurde wieder ein Kranker
aufgenommen, dessen Personalien ganz genau mit
denjenigen des zuerst aufgenommenen Kranken über¬
einstimmten. Bei einer Gegenüberstellung beider Per¬
sonen ergab sich, dass beide in früherer Zeit mitein¬
ander gearbeitet hatten, bei welcher Gelegenheit der
zuerst aufgenommene Kranke sich die Papiere seines
Mitarbeiters an eignete und auch zwecks seines Fort¬
kommens benutzte. Ein tragisches Geschick hat nun
beide wieder zusammengeführt. (Köln. Ztg.)
— Halle a. S. Dem berühmten Irren-Arzte Prof.
Dr. Reil, der hier nach segensreicher Thätigkeit auf
dem idyllischen Reilsberg, dem jetzigen Park des
Zoologischen Gartens, seine letzte Ruhestatt gefunden,
hat der Verein deutscher Irrenärzte das Grab schmücken
und verschönern lassen durch Errichtung einer Ehren¬
tafel und Umgitterung der Gruft. Der Garten, in dem
Reil ruht, ist s. Zt. dem verdienten Gelehrten von
Friedrich Wilhelm III. geschenkt worden. (Siehe Jahr¬
gang I, No. i u. 4.)
— Statistisches aus der Irren - Anstalt
Sainte-Marie in Clermont-Ferrand. Von
dem leitenden Arzte, Dr. P. Hospital. Dr. H. ist .31
Jahre lang Chefarzt obgen. Anstalt gewesen, sein Vater
34 Jahre. Schon frühe hat er letztem bei den Kranken¬
visiten begleitet; ist später, nach absolvirter Studien¬
zeit, sein Assistent und dann sein Nachfolger geworden.
Die Anstalt wurde vom Assumptionisten-Orden
nicht eigentlich gegründet, aber gleich nach deren
Gründung im Jahre 1836 übernommen und zu grosser
Blüthe gebracht. Ihre Gebäulichkeiten, immer wieder
veigrössert und modernen Anforderungen angepasst,
beherbergen jetzt 950 Kranke und stehen auf einem
Complexe von 8 Hectaren Land. Dr. H. hat nun
aus den (zu einer guten Hälfte von ihm selbst verfassten)
Journalen (besonders von 1838 an) die wichtigsten
Daten ausgezogen und zusammengestellt, die, weil auf
grossen Zahlen fussend, von Interesse sind.
Die Anstalt hat von 1838 bis Juni 1900 die Zahl
von 9692 Kranken (4012 M., 5680 W.) aufgenommen,
wovon aber etwa ein Sechstel wiederholte Aufnahmen
betrifft. Bei den Männern findet sich die grösste
Ziffer (608) im Alter von 35—40 Jahren, bei den
Weibern (755) zwischen 25 und 30. —
1473 M. sind geheilt und gebessert ausgetreten,
= 36,7 °/o. 208c) W. ebenso = 36,8 °/ 0 .
In andre (besonders staatliche) Anstalten transferirt
wurden 1667 M. (41,5%) und 72 W. (1,2 °/ 0 ). In
der Zeit von 1854 bis Juni 1900 (vorher sind die An¬
gaben unzuverlässig) starben 2300 (514 M. 1786 W.),
Die speciellern Angaben über die Krankheitsformen
können nicht leicht im Auszuge wiedergegeben werden,
da sie bezüglich Nomenclatur u. s. w. noch auf dem
Boden der Esquirol’schen Eintheilung stehen. Aber
erwähnenswerth ist es, dass die Anstalt während langer
Jahre den Dienst einer Staatsanstalt geleistet und viel
Gutes gethan hat, und einzig in seiner Art wird es
wohl sein, dass deren Chefarzt, Dr. Hospital, über
ein halbes Jahrhundert an derselben und nur an der¬
selben, in verschiedenen Stellungen thätig gewesen ist,
offenbar zeitweise unter schwierigen Verhältnissen und
selten sich Erholung gönnend. — Das ist eine schöne
Leistung. Ann. Med.-Psyeh. 1901, p. 405 ff.
G. Burckhardt.
— Aus der wissenschaftlichen Bibliothek einer
Irrenanstalt muss, wenn sie nicht einseitig sein und
die Leser einseitig machen soll, nicht nur medicinische,
sondern auch allgemeine Bildung geschöpft werden
können; namentlich herrscht jetzt bei den Collegen
grosse Neigung, sich mit socialpolitischen Dingen und
Fragen zu beschäftigen. Eine für diesen Zweck sehr
empfehlenswerthe Zeitschrift ist die seit kurzem er¬
scheinende „Politisch-anthropologische Revue“
Monatsschrift für das sociale und geistige Leben der
Völker. Herausgeber: L. Woltmann und Hans K.
E. Ruhmann, Thüringische Verlags-Anstalt, Eisenach
und Leipzig. Unter den Mitarbeitern finden sich eine
Reihe namhafter Psychiater. —
Eine andere nichtmedicinische Zeitschrift, die der
wissenschaftlichen Bibliothek unserer Anstalt alle Ehre
machen würde, ist die „Internationale Monats¬
schrift zur Erforschung des Alkoholismus und
Bekämpfung der Trinksitten“. Officielles Organ
des Alkoholgegnerbundes und des Vereins absti¬
nenter Aerzte des deutschen Sprachgebietes, Verlag
von Friedrich Reinhardt in Basel, von Dr. Hermann
Blocher in Basel trefflich redigirt; unter den 25
mitwirkenden Herren finden wir 8 Psychiater! Be¬
sonders anregend waren z. B. die in den letzten Heften
erschienenen Erörterungen über „Alkohol und künst¬
lerische Produktionen“. Der Abonnementspreis beträgt
nur 4 M. pro Jahr.
Referate.
— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten. Bd. 35 Heft 1.
Jahrmärker-Marburg. Zur Frankenberger
Ergotismusepidemie und über bleibende
Folgen des Ergotismus für das Centrai¬
ner vensystc in.
Ueber die Mutterkomerkrankung, welche nach
Brotgenuss vor 20 Jahren im Frankenberger Kreise
in Hessen wüthete, ist im Archiv Bd. 11, 13, 18 und
25 ausführlich berichtet worden. Im Sommer 1901
wurden über 42 damals erkrankte Personen, die jetzt
noch leben, Erkundigungen eingezogen, und von im
Ganzen 67 Fällen wurde das weitere Schicksal nach
der Erkrankung bekannt. Ueber ein Viertel der
Individuen genasen und blieben gesund, alle übrigen
behielten dauernde oder vorübergehende, nervöse
Störungen. Jugendliche behielten Neigung zu Krämpfen,
andere blieben mehrere Jahre geistig und körperlich
zurück, machten aber dann gute Fortschritte, andere
blieben dement. Erwachsene behielten Kriebelgefühl,
• geringe fibrilläre Zuckungen an den Extremitäten,
Krampfziehen und Schwindelgefühl, welche sich aber
nach vielen Jahren noch verloren, sowie dauernd eine
auffällige Ermüdbarkeit, Neigung zu Kopfschmerzen
und bekamen zur Zeit des Klimacteriums hysterische
Symptome. Andere blieben intellectuell geschwächt,
zeigten aber noch sehr lange Tendenz zur Besserung.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
2 g8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 26.
Recht häufig kamen späterhin epileptische An¬
fälle zur Beobachtung und zwar hauptsächlich bei
Jugendlichen.
Die Kinder von 15 damals Erkrankten sind bis
auf 1, welches nervenschwach sein soll, frei von irgend
welchen Störungen geblieben.
Kalmus-Lübeck. Ehescheidung bei indu-
cirtem Irresein nach einem Gutachten er läutert.
Seitdem das B. G. B. in Kraft getreten ist, wird
die Folie ä deux zum ersten Male Gegenstand eines
veröffentlichten Gutachtens wegen Ehescheidung.
Ein Lehrer, dessen Frau an Paranoia chron.
leidet, erkrankte an inducirtem Irresein, genas nach
2 jährigem Anstaltsaufenthalt vollständig, während die
in der gleichen Anstalt untergebrachte Frau unheil¬
bar dort verblieb. Die letztere übte eine sehr er¬
hebliche inficirende Kraft aus, denn sie bewirkte nicht
nur bei 2 Entweichungen nach Hause, dass die Wahn¬
ideen bei ihrem Mann wieder auflebten, sondern sie
übertrug auch ihre Ideen z. Th. auf eine Mitkranke.
Nach der strengen Auffassung d. Verf. bot die
Psychose an sich keine Handhabe zur Entscheidung,
dagegen gab die relative Eigenart den Ausschlag. Da
jede intime Verkehrsbeziehung den Mann der sicheren
Gefahr wieder zu erkranken überantwortete, so wurde
die Ehescheidung für geboten erachtet. Der Richter
schloss sich dem Gutachten an.
Heft 2:
Pick-Prag. Zur Psychopath ol ogie der Neu¬
rasthenie.
Eine 79jährige Frau hat seit ihrer Kindheit „über
alles Herzeleid“, auch über Dinge, die sie gar nichts
angehen. Diese Eigenschaft auf alle irgendwie auch
nur die Möglichkeit negativer peinlicher Gefühlstöne
bietenden Vorstellungen in ganz ungewöhnlichem
Maasse zu reagiren, hat sie vom Vater ererbt, aber
erst im Senium verschlimmerte sich der Zustand so,
dass sie social unmöglich wurde. Nach einem leichten
Schlaganfall mit kurzdauernder rechtsseitiger Schwäche
und Aphasie kehrte der alte Zustand, der sich durch
keine Modication bessern Hess, wieder zurück.
Verfasser grenzt die Krankheit, deren Hauptsymp¬
tome Morel als impressionabilite und emotivite en
exces bezeichnet hat, von anderen Krankheiten (Melan¬
cholie, psychische Hyperästhesie, Zwangsvorstellungen
11. s. w.) ab, fasst sie als neurasthenische Psychose auf
und formulirt daraus ein besonderes Krankheitsbild.
Kölpin-G reifswald. Beitrag zur Kennt-
11 iss der inducirten Psychosen.
Verf. fasst den Begriff des inducirten Irreseins
enger als gewöhnlich und fordert namentlich, dass
die secundär erkrankte Person nicht nur von den
Wahnideen der anderen Person überzeugt ist, sondern
auch dieselben in jeder Hinsicht unterstützt und das
Wahnsystem weiter auszubaucn vermag.
Es werden zwei recht interessante Fälle geschildert
(Querulantenwahn und Paranoia). Bei dem ersteren
ist die secundär erkrankte Person (ein Lehrer) im
Verlauf der Krankheit schliesslich diejenige, welche
die Führung übernimmt und das primär erkrankte
Individuum in rücksichtslosem Vorgehen gegen die
gemeinsamen Feinde übertrifft.
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Die inducirten Fälle von Querulantenwahn sind
nach Ansicht d. Verf. nicht nur in hohem Grade
remissionsfähig, sondern sogar heilbar.
Auerbach-Frankfurt a. M. Ueber einen Fall
von myasthenischer Paralyse.
Im Anschluss an ein körperliches und psychisches
Trauma entwickelte sich allmählich bei einer 37 jährigen
Patientin vor 17 Jahren das Bild der myasthenischen
Paralyse, wie es durch die Beschreibungen von
Oppenheim u. a. bekannt geworden ist. Interessant
war besonders, dass die Muskeln der Extremitäten
durch den Willen nicht in sichtbarer Weise ermüdeten,
wohl aber durch den faradischen Strom, und dass
die Krankheit bereits 17 Jahre dauerte, während in
der Mehrzahl der beschriebenen Fälle nur eine 1 bis
3 jährige Dauer bis zum Tode bekannt geworden
ist. — Die Kranke starb dann im Ausland an
Respirationslähmung, Section wurde nicht gemacht.
Raecke-Tübingen. Statistischer Beitrag
zur Aetiologie und Symptomatologie der
progressiven Paralyse.
Unter den Aufnahmen der Tübinger Klinik wurde
ein allmähliches Anwachsen der Paralysen im Allge¬
meinen und bei den Frauen im Besonderen con-
statirt. Bei 11 o bis zum 1. IV. 1901 aufgenommenen
Paralytikern (92 M. und 18 Fr.) war Lues, die bei
den Männern recht oft in der Militärzeit erworben
war, in 57,3 °/ 0 sicher, in 20,9 °/ 0 wahrscheinlich. Anti¬
luetische Therapie brachte nach Ausbruch der Paralyse
in 42,9 °/o der geeigneten Fälle gewisse Besserung
(nach Hg allein oder in Verbindung mit KI), niemals
aber eine Verschlechterung des Allgemeinbefindens.
Potus fand sich nur in 25,5 °/ 0 , Trauma in 5°/ 0 , dagegen
ziemlich häufig neuropathische Veranlagung (31,8 °/ 0 ).
Von den sonstigen zahlreichen Einzelangaben sind noch
zu erwähnen, dass die Wiederkehr eines zweifellos
erloschenen Patellarreflexes niemals gesehen wurde,
dass das Ueberwiegen der dementen Form nicht zu
finden war (nur 12,7 ü / 0 ) und dass 20,9 °/ 0 der Paralytiker
Selbstmordversuche machten.
Heft 3:
Stephan Kekule vonStradonitz, Dr. jur.
utr. et phil., Fürstl. Schaumburg-Lippischer Kammer¬
herr. Ueber die Untersuchung von Vererbungs¬
fragen und die Degeneration der spanischen
Habsburger.
An dem Beispiel der spanischen Habsburger zeigt
Verf. in seiner ausserordentlich klar und interessant ge¬
schriebenen Arbeit, welche Methode bei der Unter¬
suchung von Vererbungsfragen von den Medicinem
befolgt werden muss. Nicht mit Stammbäumen, sondern
mit Ahnentafeln ist zu operiren, und es müssen stets
alle, oder wenigstens möglichst viele, Geschwister der
zu berücksichtigenden Person mit in Betracht gezogen
werden. Erst wenn eine grosse Zahl derartiger Unter¬
suchungen vorliegt, dürfen allgemeine Sätze aufgestellt
werden. Vorläufig kann die Genealogie jeden Fall,
den die Medicin heranzieht, um für die erbliche Be¬
lastung eine allgemeine Regel aufzustellen, einen ana¬
logen Fall an die Seite stellen, bei dem die Regel
versagt.
Original from
HARVARD UNfVERSITY
iqo2 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. u. psych.
ger. Medicin. 59. Bd. 2. Heft.
Mönkcmöller-Osnabrück. Casuistischer Bei¬
trag zur Geschichte der Irrenbehandlung im
1 8. Jahrhundert.
Fall von Paranoia persecutoria mit ausgesprochenem
querulirenden Character, der dem Staatsarchiv zu Os¬
nabrück vom Jahre 1773 entnommen ist. Da der
Kranke eine hohe Stellung einnahm, wurde er trotz
seiner unaufhörlichen Querelen mit grosser Langmuth
von allen Behörden behandelt. Eine grössere Anzahl
von Aerzten, welche sich über ihn gutachtlich zu
äussern hatten, gaben ihre Ansichten zwar in schwül¬
stiger, weitschweifiger, aber verständiger und sachge-
mässer Form ab. In dem aufgestellten Curplan wurde
besonders abstinentia concubitus verlangt.
— Ueber einen Fall von totaler retrograder
Amnesie von Dr. Binswanger-Constanz. Sonder¬
abdruck aus der v. Leyden-Festschrift, II. Band.
Bei einem exquisiten Neuropathiker trat plötzlich
im 47. Lebensjahr eine epileptische Psychose mit
characteristischem Dämmerzustand auf, w r elche 1891
Anstaltsaufnahme nothwendig machte. Als Patient
klar wurde, bestand Amnesie, die sich zunächst auf
diese Krankheitsphase erstreckte und nachher rück¬
schreitend auf eine Zeitdauer von 15 Monaten. Im
weiteren Verlauf hat sich das Bestehen von dauernder
Epilepsie in Gestalt von petit mal und seltenem
grand mal ergeben, und seit Eintritt in das höhere
Alter (1900) ist Diabetes (bis 1 °/ 0 Zucker) nachge¬
wiesen.
Eine so lange dauernde retrograde Amnesie gilt
im Allgemeinen als typisch für Hysterie, bei Epilepsie
sind bisher nur 2 ähnliche Fälle, von Strümpell und
Alzheimer, veröffentlicht worden.
— Zur Kenntnis s der psychischen Er¬
krankungen durch Bleivergiftung von Dr.
Quensel, II. Arzt der psych. und Nervenklinik
d. Univ. Leipzig. Mit 2 Tafeln. Sonderabdruck a. d.
Arch. f. Psych. Bd. 35, Heft 3.
Die klinische Erfahrung lehrt hauptsächlich drei
Formen acuter Bleipsychosen kennen, Bleimanie, das
hallucinatorische Bleidelirium und die durch combinirte
Einwirkung von Blei und Alkohol entstehenden Delirium
tremens-artigen Zustände. Allen dreien gemeinsam ist
die nahe Beziehung bezw. sogar Verwandtschaft zur
Epilepsie, so dass der epileptische Character als eine
specifische Eigenthümlichkeit dieser Zustände be¬
zeichnet werden kann. Unter diesen kommt der
Bleimanie wiederum eine gewisse Sonderstellung zu.
Verf. beschreibt b Fälle aus der Leipziger Klinik
und bespricht besonders einen Fall von reiner Blei¬
manie bei einer 29jährigen Frau, die 2 Stunden p.
m. zur Section kam. Klinisch war characteristisch
und darf nach der Ansicht d. Verf. als specifisch für
Bleimanie angesehen werden das anfallsweise Auftreten
der einzelnen Krankheitserscheinungen und besonders
der schroffe Wechsel im Bewusstseinszustand, im
motorischen Verhalten und in der Stimmung. Mikro¬
skopisch Hessen sich deutliche Veränderungen des
Kernes und des Zellleibes der Ganglienzellen feststellen.
Arnemann, Gr.-Schweidnitz.
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— Weygandt, Atlas und Grundriss der
Psychiatrie; Lehmann’s medicinische Handatlanten
Bd. XXVII. IQ02. 628 S. 16 M.
Verf. hebt im Vorwort selbst hervor, dass für das
Studium der Psychiatrie bildliche Darstellungen nicht
die gleiche Bedeutung haben, wie etwa für das der
Chirurgie oder pathologischen Anatomie. Das ist
gewiss richtig; aber gerade das vorliegende Buch liefert
den practischen Beweis, dass auch hier die Abbildungen
keineswegs überflüssig sind, vielmehr bei richtiger Aus¬
wahl und guter Ausführung recht instructiv sein können.
Die Auswahl der darzustellenden Gegenstände ist
durchaus zweckmässig, wenn man auch hier und da
ein Bild treffen mag, das man für überflüssig halten
möchte, — Meinungsverschiedenheiten sind ja in
solchen Dingen unvermeidlich. Durchweg sind solche
Gegenstände zur Darstellung gewählt, bei welchen
thatsächlich die optische Wahrnehmung zum vollen
Verständniss nothwendig ist. Und durch die vor¬
treffliche technische Wiedergabe wird es erreicht,
dass die Abbildungen in der That dem Lernenden
fürs erste einen recht anschaulichen Begriff von der
Sache vermitteln, wenn sie auch natürlich das Studium
der Natur nicht entbehrlich machen können, was ja
garnicht beabsichtigt ist.
Unter den farbigen Tafeln seien besonders die
Gehirn-anatomischen Darstellungen als ganz vortrefflich
hervorgehoben, während bei einigen der klinischen
Tafeln eine recht überflüssige grelle Buntheit nur
störend wirkt. Ein Fehler der farbigen Tafeln ist
ihre Neigung zum Zusammenkleben mit der gegen¬
überliegenden Seite, wodurch beide Schaden leiden.
— Die schwarzweissen Darstellungen sind durchweg
von characteristischer Schärfe und Klarheit.
Der Text des Buches soll nicht nur eine die
Illustrationen begleitende Erläuterung sein, vielmehr
soll er „eine möglichst praecis gefasste Darstellung der
gesammten Psychiatrie“ bieten. Er zerfällt also
naturgemäss in einen allgemeinen und einen speciellen
Theil.
Der allgemeine Theil ist durch die knappe, ge¬
drängte Darstellung theilweise etwas schwer verdaulich
geworden. Das ist kein Vorwurf für den Verfasser.
Die allgemeine Psychopathologie eignet sich nun
einmal nicht zu so kurzer Darstellung. Eine solche
ist durchaus am Platze, wo die objectiven Thatsachen
einer Erfahrungswissenschaft mitzutheilen sind Aber
das ist die Psychologie doch noch nicht, sondern will
es erst werden; und um sich in den verschlungenen
Pfaden psychologischer Theorien zurechtzufinden,
braucht der Lernende eine ausführlichere Darstellung.
— Die anderen Kapitel des allgemeinen Theils, ich
nenne z. B. die pathologische Anatomie, die Prognose,
die Therapie; dürften dagegen ihren Zweck durchaus
erfüllen. Im Kapitel über allgemeine Diagnostik würde
ich es für zweckmässig halten , dem Anfänger den
Gang der psychiatrischen Untersuchung etwas praeciser,
etwa an der Hand eines Schemas vorzuschreiben.
Die erforderlichen Abweichungen vom Schema findet
der Geübtere von selbst, während der Anfänger ohne
Schema in Gefahr geräth, wichtiges zu übersehen.
Der spcncllc Theil sehlicsst sich in der Systematik
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HARVARD UNIVERSITY
300 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 2ö.
der Hauptsache nach an Kraepelin an. Vortrefflich
ist besonders die Schilderung des manisch-depressiven
Irreseins, zu dessen Klärung der Verf. ja schon früher
wesentlich beigetragen hat. In dem Kapitel über die
juvenilen Verblödungsprocesse drängt sich der Einwand
auf, dass die aufgestellten Unterformen nicht scharf
von einander zu trennen sind, sondern ohne Grenze
in einander fliessen; in der Praxis muss man sich
doch recht oft mit der allgemeinen Diagnose Dementia
praecox begnügen. Den Erschöpfungspsychosen hätte
ich, ihrer practischen Wichtigkeit wegen, eine etwas
ausführlichere Darstellung gegönnt. Hervorhebung
verdient endlich noch der Abschnitt über die Alkohol¬
psychosen, welche die ausführliche Besprechung wohl
ihrer wachsenden Actualität zu verdanken haben.
Besonders die Erörterungen über die sociale Be¬
deutung des Alkoholismus dürften für recht viele
practische Aerzte eine nützliche Lectüre sein.
Ein didaktisches Hilfsmittel von grosser Bedeutung
sind die in allen Kapiteln reichlich eingefügten Krank¬
heitsfälle. Alle Krankheitsformen von practischer
Wichtigkeit wurden durch einen oder mehrere trefflich
geschilderte Fälle illustrirt. Dass es sich dabei fast
durchweg um sorgfältig ausgewählte Schulfälle handelt,
ist ja nur natürlich und liegt auch im Interesse des
Lernenden. Nur möchte man diesen immer wieder
gern darauf hinweisen, dass er in der Praxis nicht da¬
rauf rechnen darf, stets so „schöne“ Fälle zu sehen.
Dem practischen Arzte, der, ohne viel Zeit darauf
verwenden zu können, sich über psychiatrische Fragen
orientiren will, wird Weygandt’s Buch ein willkommener
Rathgeber sein. Ebenso kann es dem Anfänger zur
Einführung in die Psychiatrie nur empfohlen werden.
Dass es die ausführlicheren Lehrbücher verdrängt,
ist nicht zu befürchten; wer eingehendere Belehrung
sucht, wird von selbst zu diesen greifen.
Deiters- Andernach.
— Handbuch der gerichtlichen Psy¬
chiatrie. Unter Mitwirkung von Professor Dr.
Aschaffenburg, Privatdocent Dr. Schultze, Prof.
Dr. Wollenberg, herausgegeben von Professor Dr.
Hoc he. Berlin 1901. Verlag von A. Hirschwald.
Grossoctav. 73 2 Seiten.
Wer sich dieses Werk angeschafft hat, kann sich
der angenehmen Empfindung nicht erwehren, etw r as
zu besitzen, was ihm eigentlich längst fehlte. Ref.,
dessen Zeilen sich nicht nur auf das einmal durch-
blätterte, sondern, jetzt nach Jahresfrist, auf das ge-
handhabte Buch beziehen, ist in der Lage zu sagen,
dass er es eigentlich nicht mehr entbehren könnte.
Es existirt wohl kein Gegenstand in unserer Sach-
verständigen-Thätigkeit, über den war nicht in dem
Handbuch genaue Auskunft erhalten. Für den Irren¬
arzt, dem die klinische Psychiatrie schon geläufiger,
hat besonders der 1. Theil des Buches: „Die recht¬
lich e n G r u n d 1 a g e n der g e r i c h 1 1 i c h e n Psy¬
chiatrie“ einen hohen praktischen Werth, dem
auch die Bearbeiter (Aschaffenburg und Schultze)
durch Aufwand grosser Sorgfalt vollauf gerecht ge¬
worden sind. Sämmtliche einschlägigen Gesetzes¬
paragraphen, einschliesslich der Straf- und Civilpro-
zessordnung, werden eingehend ihrer Entstehung und
ihrer Bedeutung nach erörtert, dabei neben dein
Standpunkt des geltenden Rechts auch der des frühe¬
ren und zukünftigen berücksichtigt. Es ist somit das
Buch auch zur Orientirung für denjenigen geeignet,
der sich in die forensische Psychiatrie neuschaffend ein-
arbeiten will, zumal nicht nur die psychiatrische, son¬
dern auch die einschlägige juristische Littcratur in
dem jedem Abschnitt beigefügten Verzeichniss aufge¬
führt ist. Den Abschnitten über die betr. § § des bürger¬
lichen Gesetzbuchs ist dabei in Schultze’s vollendeter
Bearbeitung naturgemäss ein verhältnissmässig grosser
Raum zugekommen. Sehr gut gelungen sind auch
Aschaffenburg’s Artikel über die Verantwortlich¬
keit, das Berufsgeh eimniss und die Sach verständigen-
Thätigkeit des Irrenarztes. Hoche hat den zweiten
Theil — die klinischen Grundlagen der ge¬
richtlichen Psychiatrie — geschrieben und
zwar so geschrieben, dass ihn auch der Itficht-
psychiater versteht, bringt aber gleichwohl, namentlich
in der Casuistik, auch für uns sehr viel Lehrreiches. —
Besonders zu empfehlen ist die Lektüre des Kapitels
Hoches: das Gutachten des ärztlichen Sach¬
verständigen. — Alles in Allem muss das Hand¬
buch der gerichtlichen Psychiatrie als ein ebenso
nützliches, wie gelungenes Werk bezeichnet werden,
dem der erste Platz auf diesem Gebiete der Fach-
litteratur gebührt. Br es ler.
— Beiträge zur Kenntniss der Myasthenie
und der verwandten Syraptomencomplexe
von Dr. Fajersztajn in Lemberg. Mit 1 Curven-
abbildung und 1 Tafel. Tübingen, Franz Pietzcker
1902. Preis 2 M.
4 Fälle von Myasthenie, die ätiologisch keine An¬
haltspunkte ergaben, zeigten die Muskelermüdbarkeit
— Myasthenie sensu strict. — in hochgradiger Weise.
Eine Kranke kam zur Section, mit der Marchischen
Methode Hessen sich in den intramedullären Wurzel-
fasera des Oculomotorius, Hypoglossus und Abducens
Anzeichen eines Myelinzerfalls nachweisen. Da die
Nissl’sche Methode stets negative Ergebnisse gehabt
hat, empfiehlt Verf. bei ähnlichen Fällen die An¬
wendung der Osmiummethode zur Durchforschung
aller Kerngebiete.
Diesen 4 Fällen schliessen sich eng 2 weitere Be¬
obachtungen an, die der Myasthenie sehr ähnlich sind,
ohne mit ihr identificirt werden zu dürfen. Es handelt
sich um Formen, die zu einer Gruppe von toxischen
Kernlähmungen ohne anatomischen Befund zusammen-
gefasst werden können. In dem einen, letalen, Fall
waren bulbäre Einscheinungen überw iegend, im zweiten
Falle bestanden ausgedehnte bulbo-spinale Lähmungen
mit raschem Ausgang in Genesung. Arnemann.
Personalnachrichf.
— Obermedicinalrath Dr. v. Zeller, langjähriger
Director der Irrenanstalt Winnenthal, ist am 19. d. Mts.,
70 Jahre alt, gestorben.
Für den redactioiiellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
TIcvnemann'sche P.urhdruckcrci (Gcbr. WoifT) in Halle a S.
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Gck gle
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe {Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Hitti, Oberarzt Dr. Emst Schnitze, Direktor Dr. TJrquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W, Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Vor lag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 27 , 4. Oktober. 1902 .
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt ErmiLssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Dementia paralytica bei einem Ehepaar. Von Dr. Herman Lundborg (S. 301). — Zum 50jährigen Jubi¬
läum der Irrenanstalt Allenberg am 1. September 1902 (S. 304). — Mittheilungen (S. 307). — Referate (S. 307).
Aus der Irrenanstalt zu Upsala.
Dementia paralytica bei einem Ehepaar.
Die Paralyse bei der Frau eine periodische Psychose komplicirend.
Von Dr . Herman Lundborg.
| ^ie Forscher der verschiedenen Länder haben sich
noch nicht einigen können, wenn es sich um
die Bedeutung der Syphilis für die Entstehung der
Dementia paralytica gehandelt hat.
Die Aufmerksamkeit der schwedischen Aerztc war
indess schon recht früh auf die grosse Bedeutung der
Lues in dieser Beziehung gelenkt worden und zwar
durch die Arbeiten von Stcenberg*), Kjillberg*),
Jespersen***) u. a. Bezeichnend für deren Standpunkt
ist Friedenreich’s Ausspruch t), welcher sich allerdings
*) Steenberg, den syphitiske Hjcrnelidelse, Kjobcnhavn
1860.
**) Kjoillberg, Om sinncssjukdomarnes otadier: Upsala
universitetets arsskrift 1863.
***) Jespersen, Skyldes den almindelige fremstridende Parese
Syfilis Kjbenhovn 1874.
-{*) Friedenreich, Kortfallet Speciel Psykialri. Kjoben-
havn 1901.
zunächst auf Dänemark bezieht: „Es ist hier zu Lande
zufolge Steenbergs und Jespersens Arbeiten lange die
allgemeine Ansicht gewesen: „Ohne Syphilis keine
Parese“ (= Dementia paralytica).“
Bereits im Jahre 1857 sprechen zwei deutsche
Forscher, Esmarrh und Jessen*) auf Grund ihrer
Beobachtungen die Ansicht aus, dass die progressive
Paralyse syphilitischen Ursprungs sei.
Es scheint indess, als ob Kjillberg in Upsala un¬
abhängig von ihnen zu derselben Anschauung ge¬
kommen sei und zwar durch einen Fall von Paralyse
bei Mann und Frau, die er in seiner Anstalt beob¬
achtet hat. In seiner oben citirten Arbeit, S. 56,
*) Esmarch uud Jessen, Syphilis und Geistesstörung.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1857.
□ igitized by Google
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
302 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27.
schreibt er nämlich folgendes, was wohl zu verdienen
scheint, ans Licht gezogen zu werden:
„Im Jahre 1857 wurde ein ehemaliger Gerichts¬
diener aus einer entfernten Provinzialstadt mit den
Symptomen der Paralyse generale im zweiten Stadium
in die Upsalaer Irrenanstalt aufgenommen. Im fol¬
genden Jahre starb er, und 1860 im Frühjahr wurde
seine Frau in die Anstalt aufgenommen, wobei sie
Symptome derselben Krankheit zeigte, die auch den
gleichen Ausgang hatten. Sie starb im November
desselben Jahres, nachdem die Krankheit zuvor alle
die traurigen Symptome, welche zum dritten Stadium
gehören, hatte entwickeln können. Dass eine in unserm
Lande so äusserst seltene Krankheit so gut wie auf
einmal Mann und Frau hatte befallen können, erregte
bei uns die Vermutung, dass hier eine gemeinsame
Ursache hatte wirksam sein müssen. Die Gedanken
gingen dann zu sekundärer Syphilis, die möglicherweise
bei beiden vorhanden war, obwohl zur Zeit der Geistes¬
krankheit äussere Symptome fehlten. Infolge dessen
haben wir der Anamnese bei den Fällen von Paralyse
generale, die seit diesem für unsere Beobachtung er¬
reichbar gewesen sind, grössere Aufmerksamkeit ge¬
widmet und dabei Gelegenheit gehabt zu konstanten,
dass alle viele Jahre, bevor die Geisteskrankheit aus¬
brach, an primärer Syphilis gelitten haben.“
Dieser Fall ist um so merkwürdiger, als man erst
viel später im Auslande dazu kam, der sog. konjugalen
Paralyse *) eine Bedeutung beizulegen. Der eine und
der andere einzelne Fall wurde in den 1880 er Jahren
von Acker, Goldsmith u. a. als Curiosum mitgetheilt.
Grössere Aufmerksamkeit erregte es, als Mendel 1888
in der psychiatrischen Gesellschaft in Berlin 5 solche
Fälle mittheilte und auf deren grosse Bedeutung hin¬
wies, wenn es sich darum handelte, den Zusammen¬
hang zwischen Syphilis und Paralyse darzuthun.
Seit diesem hat man in verschiedenen Ländern
nicht so wenig Fälle von Paralyse oder Tabes bei
Ehegatten gesammelt. Bereits 1895 konnte Mendel
über nicht weniger als 18 Fälle berichten.
Im Jahre 1899 hat Raecke**) eine recht voll¬
ständige Zusammenstellung der Tabes- und Paralyse¬
fälle bei Ehegatten gemacht, die bis zu diesem Zeit¬
punkte veröffentlicht waren; die Zahl betrug nicht
weniger als 69 Fälle.
*) Noch einen Fall von konjugaler Paralyse erwähnt
Kjiliberg in Upsala Lükere förenings Föttendlinger, Bl. IV.
**) Raecke, Paralyse und Tabes bei Eheleuten. Monatsschr.
f. Psychiatrie und Neurologie, Bd. IV.
Paralyse kam bei beiden Ehegatten vor in
„ bei dem Mann und Tabes bei
2/
Fällen.
der Frau in
14
»
Tabes bei beiden in
22
Paralyse bei der Frau und Tabes beim
Manne in
6
»>
Summe
69 Fälle.
Davon war Lues bestimmt konstatirt in
38 Fällen
„ „ „ wahrscheinlich in
11
»
„ „ „ geleugnet in
2
»
„ „ „ unbekannt in
18
Während der letzten zwei Jahre sind noch mehr
Fälle dieser Art mitgetheilt worden *), so dass die
Summe jetzt um verschiedenes grösser ist.
Ich kann nicht umhin, im Zusammenhänge damit
einen äusserst bemerkenswerthen Fall von Morel-
Lavellee **) zu erwähnen. Ein syphilitisches Weib
(Martha X.) infizirt nämlich nicht weniger als 5
Männer, welche später alle an syphilitischer Gehim-
krankheit sterben.
Im Mai 1870 zieht sich erwähntes Weib Syphi¬
lis zu, sie steckt ihren Liebhaber (I) an, welcher
22 Jahre alt ist. Dieser stirbt nach 3 Jahren an
syphilitischer Meningitis. Im December 1871 wird
sie die Geliebte eines andern Mannes (II), den sie
nach einem Monat angesteckt verlässt. Darauf lebt
sie 4 Jahre mit einem dritten (III) zusammen. Dieser,
welcher sich dann verheirathet, erhält 2 Kinder, stirbt
aber 1882 an Dementia paralytica. Der Mann Nr. 2
verheirathet sich auch und erhält 2 Kinder; im Jahre
1888 starb dieser an Paralyse. Ein vierter Geliebter
(IV) desselben Weibes stirbt 1890 gleichfalls an Pa¬
ralyse. Zuletzt stirbt ein fünfter (V) 19 Jahre nach
der ursprünglichen Infektion an luetischer Gehirn-
krankheit.
Unlängst wurde in die Irrenanstalt zu Upsala ein
Weib aufgenommen, welches von frühester Jugend an
an einer periodisch wiederkehrenden Geisteskrankheit
gelitten hatte.
Bei näherer Prüfung fand sich, dass sie auch sehr
deutliche Zeichen von Dementia paralytica hatte und
dass der Mann vorher an der letztgenannten Krank¬
heit gestorben war.
Hier lag also ein Fall von konjugaler Paralyse
und ausserdem — etwas, was von bedeutend grösserem
*) Unter anderem von Mönkemöller, der unter 741 Pa¬
ralysen in einer Anstalt nicht weniger als 18 Fälle von konjug.
Paralyse ^bezw. Tabes) gefunden hat. Siehe übrigens seine
Arbeit in Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. VIII, S. 421.
**) Morel-Lavallde. Bull, de la Soddt6 francaise de Dermat.
et Syphil. 1892.
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IQ02.]
Interesse war — einer ganz ungewöhnlichen Kom¬
bination von zwei ganz verschiedenen Psychosen vor.
Bevor ich näher darauf eingehe, will ich ihre
Krankengeschichte in Kürze anführen.
Krankengeschichte.
N. N., 53 Jahre, Wittwe eines Schiffskapitäns.
Mutter periodisch geisteskrank. Eine Schwester ist
geisteskrank gewesen. Ein Cousin in der Irrenanstalt
gestorben.
Pat. hat eine gute Erziehung erhalten und ist gut
begabt gewesen. Von ihrem 14. Jahre an hat Pat.
Anfälle von Geisteskrankheit (Man periodica) 3 mal
alljährlich während eines oder mehrere Monate gehabt.
Die ersten Jahre wurde sie während derselben zu
Hause gepflegt. Später ist sie eine häufig wieder¬
kehrende Patientin in der Irrenanstalt und im Kranken¬
haus zu Hemösand gewesen. Während der freien
Zeiten (Zwischenzeiten) ist ihr Zustand recht gut
gewesen. Die verschiedenen Anfälle der Geistes¬
krankheit gleichen einander fast vollständig. Aus
dem Journal von der Irrenanstalt zu Hernösand (wo
sich Pat. vom 23. März 1897 bis 19. August des¬
selben Jahres befand) sei folgendes über sie angeführt:
Vor 14 Tagen schlaflos; bereits am folgenden
Tage brach ihre Tobsucht aus mit der Lust, alles,
was sie erreichen konnte, zu zerschlagen. Zu Anfang
der Anfälle pflegt sie stets deprimirt zu sein.
Status praesens, den 24. März 1887.
Pat. ist (mässig) exaltiert. Sie spricht unbehindert
und schnell über eine Menge von Dingen, oft ohne
Zusammenhang. Mitten während des Gespräches be¬
ginnt sie zu weinen und zeigt sich weinerlich geärgert,
wobei sie sich über die Behandlung zu Hause, über
den Mann u. s. w. beklagt. Diese Stimmung geht
indess bald vorüber, und sie wird wieder exaltirt.
Den 30. 3. Pat. ist bisweilen unsauber und lässt
die Exkremente ins Bett gehen. Den 3. 4. Sagt an
einzelnen Tagen gar nichts. Isst wenig, bisweilen
gar nichts, musste heute mit der Sonde gefüttert
werden. Zankt und schwatzt. Den 8. 4. wieder stumm.
26. 4. Die letzten Tage ruhiger und stiller; spricht in
etwas deprimirtem Ton. Behauptet, dass sie sich
mehrfach, sowohl zu Hause als hier, mit Selbstmord¬
gedanken getragen hat. Den 11. 5. Unruhiger die
letzten Tage, weint, beklagt sich, ist laut, schilt. Den
24. 5. Besserung. 25. 6. Ganz von Sinnen, unver¬
schämt und heftig, droht sogar den Wärterinnen;
weint unter unzusammenhängendem Geschwätz. Heute
Nacht Koth ins Bett gelassen. Den 21. 7. Während
der letzten Woche ruhig und fügsam; zufrieden. Den
17. 8. Zustand nicht befriedigend. Wird entlassen.
303
Im Juni 1899 stellten sich bei Ausbruch einer
Unruheperiode recht zahlreiche epileptiforme Anfälle
ein, welche sich später wiederholten. Die Kranke
wurde dann theils zu Hause, theils im Krankenhause
gepflegt. Am 30. Januar 1900 wurde sie wieder in
die Irrenanstalt aufgenommen. Dort war der Zustand
variirend. Oft war Pat. äusserst unruhig, streitsüchtig
und unsauber. Sie zeigte sich cynischer als während
der früheren Anfälle und untermischte ihre Rede
mit Flüchen. Recht zahlreiche epileptiforme Anfälle.
An gewissen Tagen war sie ruhig und sogar fleissig.
Näher dem Sommer schien eine mehr anhaltende
Besserung einzutreten. Den 18. August wurde sie als
gesund entlassen. Bereits zwei Tage nach der Heim¬
kehr war sie wieder unruhig und exaltirt; es stellten
sich am 22. und in der Nacht zum 23. nicht weniger
als 8 epileptiforme Anfälle ein. Einen grossen Theii
des Jahres 1901 hat sie im Krankenhause zu Her¬
nösand zugebracht. Seit diesem hat sich der Zustand
noch mehr verschlechtert. Pat. wurde zu Hause ge¬
pflegt. Während der kurzen ruhigen Perioden, welche
Pat. während der letzten Jahre gehabt hat, hat sie
sich anders als früher gezeigt, sie ist stumpf und
gleichgültig, aber recht geschwätzig gewesen.
Im Alter von 31 Jahren verheirathete sie sich
mit Kapitän S., der 5 Jahre jünger war als sie.
Während der Ehe hatte sie zuerst einen Missfall
(auf einer Seereise bei hoher See). Darnach bekam
sie 4 Kinder, welche noch leben. Darauf hatte sie
einen Missfall nach dem andern (im ganzen 5, den
letzten vor 8 Jahren). Der Mann starb vor 6 Jahren.
Dr. Mortelin, welcher Kapitän N. N. während seiner
letzten Krankheit behandelte, hat die Güte gehabt,
mir folgendes über ihn mitzutheilen: „Im Jahre 1893
wurde ich (Dr. M.) nach dem Schiff geholt, welches
er führte. Er hatte eine kleine Gehirnblutung gehabt
(Ohnmachtsanfälle, Parese in den Gesichtsmuskeln
der einen Seite). Er genoss Alkohol, doch, wie ich
glaube, nicht im Uebermass, war vielleicht in geringerem
Grade dem stillen Trunk ergeben. Seine Krankheit
trat indess völlig zurück, obwohl eine gewisse Abge¬
stumpftheit bestehen blieb, die jedoch nicht grösser
war, als dass er dss Schiff noch 1 oder 1 l j 2 Jahr
nach dem Anfall führen konnte. Darauf begann er
tiefsinnig zu werden, wollte nicht mit andern Menschen
umgehen, war gegen seine Umgebung heftig und boshaft.
Er litt an Kopfschmerzen und Schwindel und hatte
deutliche Symptome von Tabes dorselis. Er erhielt
von mir Jodkalium, zufolge seines Ausbleibens aber
war die Behandlung äusserst unvollständig. Ins
Krankenhaus war er mindestens einmal aufgenommen.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
304
Sein Zustand verschlechterte sich immer mehr.
Das letzte Mal, als ich ihn in seinem Hause sah,
war er völlig abgestumpft, konnte nur mit Mühe seinen
Platz verändern, war von Gemüth boshaft und heim¬
tückisch. Kurz darauf ersah ich aus den Zeitungen,
dass er gestorben war. Eine Obduktion wurde leider
nicht gemacht. Mir wissentlich hat er keinen andern
Anfall als den auf dem Schiff gehabt. Er fiel zwar
häufig um und schlug sich recht sehr, das aber kam
von seinem schlechten Gang her.“
So weit Dr. Mortelin. Aus dieser Mittheilung
geht also hervor, dass der Kapitän N. N. mit grösster
Wahrscheinlichkeit Lues gehabt hat und dass er an
Tabes wie Dementia paralytica gestorben ist.
15. 11. 1901 wurde Frau N. N. in die Irrenan¬
stalt zu Upsala aufgenommen. An demselben Tage
hatte sie einen epileptiformen Anfall. Sie war ruhig
und fügsam.
Status praesens, den 26. 11. 1901.
[Nr. 27.
Pat., welche gut gebaut und recht gut genährt ist,
hat ein recht gesundes Aussehen.
Die rechte Pupille ist etwas kleiner als die linke
und reagirt langsamer. Seitens der Sinnesorgane und
der Sensibilität nichts zu bemerken. In den Händen
ein gewisser Grad von Tremor, desgleichen in der
Zunge. Im Gesicht dann und wann fibrilläre Muskel¬
zuckungen.
Die Motilität betreffend sonst nichts zu bemerken.
Innere Organe gesund. Pulsfrequenz 92 in der
Minute.
Pat. hat einen gutmüthigcn, aber etwas schlaffen
G esichtsausd ruck.
Blick recht lebhaft. Pat. zeigt deutliche Euphorie,
abwechselnd mit Weinerlichkeit; während sie mit grosser
Befriedigung spricht, kommt sie plötzlich ins Weinen,
wenn sie zufällig von ihrem vortrefflichen Vater oder
einem andern Verwandten etwas erzählt. Dergleichen
Wechsel erfolgen während eines kürzeren Gespräches
wiederholt. (Fortsetzung folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Zum 50jährigen Jubiläum der Irrenanstalt Allenberg am i. September 1902.
Ein Rückblick.
^^m 1. September sind es 50 Jahre, dass die erste
geordnete Provinzial-IrrenanstaltinOstpreussen zu
Allenberg bei Wehlau eröffnet worden ist. Zu einer
officiellen Feier dieses Tages scheint keine Neigung
vorhanden gewesen zu sein, w r as auch nicht weiter
befremdet. Hat doch, um ein Moment anzuführen,
das Aerztecollegium, das neben dem Director aus
6 Aerzten besteht, in den letzten 2 Jahren beinahe
2 mal gewechselt, indem in dieser Zeit nicht weniger
als 10 Aerzte die Anstalt verlassen haben. So ist
denn das Jubiläum wie die alljährlichen Stiftungsfeste
nur im Rahmen der Anstalt verlaufen.
Ich aber, der ich 12 Jahre an der Anstalt gewirkt
habe, möchte doch den Tag nicht vorübergehen lassen,
ohne die Bedeutung desselben hervorzuheben und
durch einen Rückblick auf die Vergangenheit zu feiern.
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Geistes¬
kranke im grossen Königlichen Hospital zu Königsberg
(dem jetzigen Löbenicht’schen Hospital) in sogenannten
„Tollstuben“ verpflegt, die unter Aufsicht eines „Toll¬
vaters“ standen. Diese Tollstuben wurden im Jahre
1789 durch eine auf Kosten des Staates ebendaselbst
erbaute Irrenanstalt ersetzt, welche aber erst im Jahre
1816 eine feste Organisation erhielt. Es wurde ihr
durch Hinzufügung angrenzender Hospitalgebäude eine
angemessene Erweiterung gegeben, ihre Verwaltung
von der des Hospitals getrennt, ihr Etat regulirt und
der so begründeten „Provinzial-Irrenanstalt für die
Regierungsbezirke von Königsberg und Gumbinnen“
ein eigener ärztlicher Director vorgesetzt. Seit 1829
fungirte an ihr der Kreisphysikus Dr. Bernhardi, zu¬
erst als Arzt und seit 1834 als Director des Kranken-
und Irrenhauses. Die Anstalt war für 100 Kranke
berechnet. Anfänglich hielt sich auch die Frequenz
auf dieser Höhe, ja sie überstieg dieselbe bisweilen
ansehnlich. Als aber im Jahre 1826 die Landarmen-
Verpflegungs-Inspection die aus ihrer Kasse verpflegten
unheilbaren Irren der grossen Kostspieligkeit wegen
aus der Anstalt entfernten (!) <md viele ärmere Kom¬
munen und Privatpersonen diesem Beispiele folgten,
sank die Frequenz bedeutend unter die normirte Zahl
herab bis auf 70 und 60. Die Frequenz durfte aber
auch nicht viel höher steigen, als im Jahre 1834 das
3. Stockwerk des Hauptgebäudes durch einen Brand
zerstört worden w r ar und zur Wiederherstellung des¬
selben der mit grossen pecuniären Schwierigkeiten
kämpfenden Anstalt die Geldmittel fehlten. Im Jahre
1845 zerstörte ein zweiter furchtbarer Brand, bei welchem
mehrere Pfleglinge umkamen, einen grossen Theil der
Anstalt (die ganze Frauenabtheilung), so dass seitdem
nur die Hälfte der alten Irrenanstalt zu benutzen w*ar
und höchstens noch 60 Kranke aufgenommen werden
konnten. Besass doch die Anstalt vor diesem letzten
Brande nur 32 heizbare Zimmer, darunter 4 Zimmer
für Beamte. Ringsherum war sie von 16 Fuss hohen
Zäunen umgeben. Heinrich schildert uns in einer
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
305
Denkschrift vom Jahre 1848 (Allg. Zeitschr. f. Psych.
Bd. 5, S. 401) die Lage folgendermaassen: „Ein bizarres
Conglomerat frommer Stiftungen und Wohlthätigkeits-
anstalten verschiedenster Art leben hier: ein Kranken¬
haus, die Irrenanstalt, ein Frauen- und Fräuleinstift in
unmittelbarer Nachbarschaft, ihr friedliches Dasein. Das
Irrenhaus, den Schluss mehrerer zu obigen Zwecken
bestimmten Gebäude bildend, wird nach vom von
einem kleinen Hofe, rückwärts von einem geräumigen
baumreichen (205 □ Ruthen grossen) Garten begrenzt;
hart zur Seite blinkt der Spiegel des Pregels.“ Ge¬
sundheitlich und in manchen andern Beziehungen
zeigte sie grosse Mängel, welche von Bemhardi in
einem in den Preussischen Provincialblättem (Nov. 1840)
erschienenen Aufsatze „Bemerkungen über die Ver¬
hältnisse der Königsberger Irrenanstalt“ eingehend
dargelegt worden sind. „Ihre Lage auf dem niedrigen,
selbst öfteren Ueberschwemmungen ausgesetzten Fluss¬
ufer macht die Gebäude stockig und feucht; die un¬
mittelbar oberhalb der Anstalt in den Pregel führende
Hospital-Cloake trägt zur Luftverderbniss bei; die hohen
Zäune, welche ringsum die Gebäude nahe umgeben,
verhindern die genügende Erneurung der Luft.“ Dazu
kam die ungünstige Lage mitten in der Stadt. „Der
Kranke bewegt sich Tagaus, Tagein, Jahraus, Jahrein
auf demselben eng begrenzten Raum, Spaziergänge ins
Freie hinaus müssen ihm versagt bleiben, denn er kann
nicht ins Freie gelangen, ohne die ihm verwehrte
Stadt zu passiren.“ Noch unangenehmer machte sich
die unbequeme Nachbarschaft der Stadthäuser geltend.
„Kann die Isolirung in unserer Anstalt nach Gebühr
gehandhabt werden, wo die Kranken aus ihren Fenstern
des oberen Stockwerks auf die umliegenden Strassen,
den belebten Fleischmarkt, den Hospitalhof ungehindert
hinabsehen, dort nicht selten Angehörige und Bekannte
unerwartet erblicken, wo Vorwitzige durch die Zäune
oder von den Fenstern der umliegenden Gebäude
herab beständigen Verkehr mit den Irren zu unter¬
halten, sie wohl gar zu necken und zu reizen suchen?
wo die Maassregeln der Anstalt der Controle und
Kritik der aus den Nachbarhäusern frei Hineinschauen¬
den fortwährend ausgesetzt sind ? Kann es den
Familien der Irren gleichgültig sein,’ wenn gleich die
ganze Stadt es erfährt, wer in die Anstalt eingeliefert
wird, wie er sich beträgt und wie er behandelt wird ?“
Bemhardi kam zu dem Schluss, dass die Königsberger
Irrenanstalt ihrem Zwecke durchaus nicht entspreche,
als zweckwidrig aufzugeben und durch eine ländliche
Irrenanstalt zu ersetzen sei.
Der Aufsatz Bernhardi’s hatte zur Folge, dass der
Plan der Errichtung je einer Irrenanstalt für Ost-
und Westpreussen, welcher schon lange ventilirt worden
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war*), nunmehr energisch aufgenommen wurde. Bereits
im Jahre 1841 sprach sich das Ministerium den Ständen
der Provinz gegenüber mit Festigkeit dahin aus, dass
„die wegen ihrer Lage, Ausdehnung und Einrichtung
stets als mangelhaft und unausreichend anerkannte
Irrenanstalt durch den Brand im Jahre 1834 zu einem
blosen Nothbehelf geworden sei“ und forderte im Ein-
verständniss mit dem Staatsminister und Oberpräsidenten
von Schön die Errichtung einer Irrenheil- und Pflege-
Anstalt für die Provinz Ostpreussen und Litthauen
und einer zweiten für Danzig und Marienwerder.
Für die in Ostpreussen zu erbauende Irrenanstalt
wurde den Ständen unter besondere Angabe der hier¬
für sprechenden Gründe die Nähe von Königs¬
berg angerathen. Von denselben mag der als fünfter
und letzter Grund angeführte Passus der Denkschrift
besonders hervorgehoben werden: „Königsberg ist der
Sitz einer an practischen und gelehrten Aerzten sowie
an Sammlungen ausgezeichneten Universität, deren
Nähe für die Irrenanstalt sehr wünschenswerth ist,
gleichwie die Nähe dieser für jene, damit die Irren¬
anstalt später als Bildungsanstalt für junge preussische
Aerzte in der practischen Irrenheilkunde möglichst
benutzt werden kann.“
Trotzdem richteten die Stände zunächst ihr Augen¬
merk auf das dem Domkapitel von Ermland gehörige
und in Verfall gerathende Schloss zu Heilsberg nebst
dem dazu gehörigen Garten. Erst als nach langen
Verhandlungen bei näherer Untersuchung der Localität
sowie in Folge der vom Domkapitel erhobenen über¬
triebenen Forderungen der Plan 1843 als unausführbar
aufgegeben worden war, erliess die ständische Land¬
armencommission für Ostpreussen und Litthauen eine
öffentliche Bekanntmachung,, worin sie zur Anzeige
geeigneter Baustellen aufforderte. Bei der Kritik der
eingelaufenen Meldungen, die sich auf 21 beliefen,
wurde ausdrücklich bemerkt, dass als Haupterfordemiss
für die Wahl stets die Nähe von Königsberg be¬
rücksichtigt wurde, und es erwies sich auch hier nach
dem Urtheil Bemhardi’s mehr als eine Stelle als
sehr geeignet. Trotzdem wurde schliesslich von einer
solchen Wahl Abstand genommen, da inzwischen die
Befestigung von Königsberg beschlossen worden war
und nach einem Schreiben des Festungsbaudirectors
*) Anfang der 30 er Jahre hatten die Stände die Absicht,
in Verbindung mit den Landarmenanstalten zu Tapiau und
Graudenz Provincial-Irrenanstalten zu errichten, worauf von dem
Minister v. Altenstein ein Erlass an den Oberpräsidenten v. Schön
erging (7. Juli 1832) „diesen Plan durchaus zu verhindern, weil
diese längst als verwerflich erkannte Verbindung mit den An¬
sprüchen der Humanität und der Wissenschaft in Widerspruch
steht.“
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY ,
3°6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
v. Dechen an den Oberpräsidenten (Juli 1845) be-
fürchtet werden musste, dass im Falle einer Belagerung
der Feind die Gebäude der Irrenanstalt als Lazareth
benutzen und die Irren veijagen würde, während dies
bei einer dem wahrscheinlichen Kriegsschauplätze nicht
so nahe befindlichen Anlage nicht so leicht zu be¬
fürchten sei.
Die Bedenken von militärischer Seite waren aus¬
schlaggebend, und obgleich Professor Heinrich in einer
ausführlichen Denkschrift vom Juli 1849 (Allg. Zeitschr.
f. Psychiatrie, Bd. 5) diese Bedenken widerlegte und
mit grosser Beredsamkeit alle Gründe klarlegte, welche
für die Nähe von Königsberg und gegen die Wahl
der Anstalt auf dem platten Lande sprachen — es
war bereits 1845 die Wahl auf Peterswalde bei Wehlau
gefallen — und energisch gegen die Ausführung des
Baues bei Wehlau protestirte (er statuirte für Stadt und
Universität die Verpflichtung aus der Verlegung der
Irrenanstalt in Königberg’s Nähe eine Art Lebensfrage
zu machen), so blieb es doch bei der ursprünglichen
Wahl, ebenso wie der Einspruch gegen die von den
Provincialständen mit alleiniger Rücksicht auf die Kosten-
erspamiss geplante Errichtung der westpreussischen
Irrenanstalt bei Sch wetz in Verbindung mit dem grossen
Landarmen- und Krankenhause*) nichts fruchtete.
Von dem gewählten Gelände für die ostpreussische
Anstalt, welches auf einem unmittelbar an der Alle
50 Fuss über dem Spiegel des Flusses befindlichen
Plateau gelegen war, wurden als besondere Vortheile
die hohe gesunde Lage, der fruchtbare Boden, an-
muthige Aussicht und die bequeme Verbindung mit
der (über 7 Meilen entfernten) Hauptstadt gerühmt.
Der Bau der für 250 Kranke berechneten Irren-Heil-
und Pflegeanstalt, welche nach der vorbeifliessenden
Alle aus Peterswalde in Allenberg umgetauft wurde,
wurde schnell soweit gefördert, dass die Heilanstalt Aus¬
gang Sommer 1852 fertiggestellt war und eröffnet
werden konnte (während die w'estpreussische Anstalt
*) Das Ministerium Eichhorn wandte sehr richtig ein, dass,
abgesehen von der geringen Bedeutung etwaiger Ersparnisse, einer¬
seits die Landkrankcnanstalt nach Eröffnung der Irren-Heil- und
Pflege-Anstalt als lästiges Beiwerk dieser angesehen und dirigirt
werden, also wahrscheinlich an Werth, Bedeutuug und Wirksam¬
keit verlieren würde, anderseits auch der Irren-Heil- und Pflege-
Anstalt ein unübersteigliches Hinderniss sich entgegenstellen würde,
sowohl für deren mö glich s t vol le und se 1 bs tän di ge Or¬
ganisation im Allgemeinen, als insbesondere für die gleichfalls
unerlässliche Einheit, Einfachheit und Ordnung in
der Ver w a 1 tu ng. Schliesslich erklärte das Ministerium sich
dahin, dass nach der übereinstimmenden Erfahrung des In-und Aus¬
landes die Verbindung der westpreussischen Irren-Heil-und Pflege-
Anstalt mit der Landkrankenanstalt zu Schwetz alsein Rück¬
schritt zu bezeichnen sein würde.
[Nr. 27.
zu Schwetz für 200 Kranke erst im Frühjahr 1855
eröffnet wurde).
Am 1. September 1852 erfolgte der Umzug von
Königsberg mit 59 Kranken „grösstentheils Tollen, die
alle übrigen Kranken aus der Königsberger Irrenanstalt
verdrängt hatten“, bezeichnenderweise Frühmorgens
4 Uhr und in geschlossenen Wagen, die von
3 berittenen Gensdarmen bis zur Kreisgrenze in Arnau
eskortirt wurden, wo letztere von anderer Bedeckung
abgelöst wurden. Für so gefährlich wurden noch vor
50 Jahren Geisteskranke erachtet. Unterwegs wurden
Erfrischungen eingenommen. Der mehr als 7 Meilen
weite Transport, welcher von dem zum Director der
neuen Anstalt ernannten Dr. Bemhardi, den Beamten
und dem Wartepersonal begleitet wurde, ging in 5 l / t
Stunden ohne Unfall und ohne die mindeste Störung
von Statten. „In der Anstalt war wie gewöhnlich das
Fertigseinsoliende noch lange nicht fertig, und die
Unbequemlichkeiten und Störungen begannen erst“,
berichtet Bemhardi. Aber auch diese waren nach
einiger Zeit überwanden. Die Kranken richteten sich
in den geräumigen und im Gegensatz zu der alten
Königsbeiger Anstalt confortablen Gebäuden, deren
Anlage für die damalige Zeit sicher mustergültig zu
bezeichnen war und jetzt noch mit Ausnahme der
Zellengebäude sich als ziemlich angemessen erweist,
sowie in den freieren ländlichen Verhältnissen schnell
ein. Die Anstalt, die schon nach 10 Jahren überfüHt
war, hat seitdem, wie ich in meinem Aufsätze: „Ent¬
wicklung und Stand des Irrenwesens in Ostpreussen“
(diese Wochenschr. Bd. I. 1900. S. 173 ff.) ausgeführt
habe, zahlreiche Erweiterungen erfahren und sich zu
einer Anstalt grossen Styls entwickelt, (wie es ja heute
leider die meisten Irrenanstalten sind) welche für 850 bis
900 Kranke berechnet, zur Zeit beinahe 1000 Kranke
(am 16. August 1902) zählt; sie hat 1885 in der Irren¬
anstalt Kortau eine Schwesteranstalt erhalten, die vor
kurzem auch wesentlich vergrössert (bis zu 1000 Plätzen),
zur Zeit gleichfalls stark überfüllt ist (am 16. August
1072 Kranke); und in Tapiau, wo 1897 eine kleine
Pflegeanstalt für gefährliche Geisteskranke mit 68 Plätzen
eröffnet wurde, werden in der Verbindung mit der
Landarinenanstalt (Pfleglings-Abtheilung), in der bereits
beinahe 200 Geisteskranke untergebracht sind, Kolossal¬
gebäude für je 125 unheilbare Geisteskranke errichtet,
womit der Rückschritt perfect geworden ist, der als
solcher von dem Ministerium Eichhorn vor mehr als
einem halben Jahrhundert und als verwerfliche mit
den Ansprüchen der Humanität und der Wissenschaft
in Widerspruch stehende Verbindung von dem Minister
v. Altenstein bereits vor 70 Jahren bezeichnet worden
ist. Die Entwicklung, welche das Irren wesen der
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HARVARD UNiVERSITY
lg 02 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 307
Provinz Ostpreussen im letzten Jahrzehnt genommen
hat und sich durch das Bestreben kennzeichnet, mit
unzulänglichen und z. Th. rückschrittlichen Mitteln
den Bau einer der Verwaltung längst als nothwendig
bezeichneten dritten Irrenanstalt zu umgeben, sowie
manches andere in den Verhältnissen vermag den
Irrenarzt am Jubil&umstage der vor 50 Jahren mit
so viel Hoffnungen eröffneten Irrenanstalt Allenberg
gerade nicht mit Freude zu erfüllen.
Zum Schluss sei noch der Aerzte gedacht, welche
an der Irrenanstalt Allenberg gewirkt und sich daselbst
oder später einen Namen gemacht haben, es sind das
ausser den Dircctoren Wendt, Jensen und Sommer
besonders Kahlbaum, welcher, lange Jahre 2. Arzt der
Anstalt, daselbst seine Hauptwerke concipirt hat, Hecker,
Rabow, von Ludwiger, Hallervorden und Kurella.
Hoppe.
M i t t h e i
— Berlin. Die Minister der geistlichen Ange¬
legenheiten und des Innern haben ein neues Regle¬
ment für die Berliner Irrenanstalten genehmigt. Es
ist darin angeordnet, dass, wenn ein Kranker in der
Anstalt stirbt, das Standesamt, die Angehörigen sofort
zu benachrichtigen sind. Die Kranken sind selbst¬
verständlich, so lange sie sich in einer städtischen
Irrenanstalt befinden, nach allen ihren Lebensbezie¬
hungen den ärztlichen Anordnungen und den Vor¬
schriften der Hausordnung unterworfen. Innerhalb
dieser soll ihnen indessen jede Freiheit gewährt werden,
welche die Zwecke der Anstalt nicht gefährdet und
mit dem jeweiligen Krankheitszustande, sowie der
Sicherheit der Kranken und ihrer Umgebung verträg¬
lich ist. Kranke, welche sich soweit gebessert haben,
dass sie nach ärztlichem Urtheil der Anstaltspflege und
auch der Aufsicht seitens der Anstalt nicht mehr be¬
dürfen, sind unter Beobachtung gewisser Vorschriften
zu entlassen. Ist ihre Erwerbsfähigkeit vermindert,
so kann ihnen eine Unterstützung mitgegeben werden
und sind sie der Armendirection zu weiterer Unter¬
stützung zu empfehlen.
Referate.
— Pharmaceutische Producte der Far¬
benfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.,
Elberfeld.
In einem stattlichen Hefte von 292 Seiten werden
die wichtigsten Bayerischen Arzneiproducte in chemi¬
scher wie pharmaceutischer Richtung, hinsichtlich
ihrer Dosirung und der Erfahrungen, die mit ihnen
gemacht worden sind, besprochen. Am Schluss des
Buches ist ein alphabetisch geordnetes Indikations-
registcr angefügt. Die beachtenswerthesten Präparate,
wie Phenacetin, Tannigen, Salol, Sulfonal, Trional,
Creosotal und Somatose sind so bekannt und be¬
währt, dass sie voraussichtlich dauernd ihren Platz in
unserm Arzneischatz behalten werden. Von den Er¬
rungenschaften der letzten Jahre seien Tannigen als
Adstringens, Analgen als Antipyreticum, Salophen
und Aspirin als Antirheumatica, Epicarin als Anti-
skabiosum, Aristol, Europhen und Protargol als Anti-
septica, Hedonal und Heroin als Hypnoticum bezw.
Sedativum sowie Jodothyrin als organo-therapeutisches
1 u n g e n.
Präparat erwähnt Für jedes Product sind practische
Receptformeln mitgetheilt, leider fehlt die Angabe
des Preises und gerade diesen muss der Arzt bei
den modernen Medicamenten doch oft so sehr in
Rücksicht ziehen. G. Ilberg (Grosschweidnitz).
— Die otitischen Erkrankungen des Hirns,
der Hirnhäute und der Blutleiter. Von Dr.
OttoKoerner, o. ö. Professor und Director der
Klinik für Ohren- und Kehlkopf kranke in Rostock.
3. vollst. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Wies¬
baden 1902.
Nach der Statistik von Pitt-London kommt ein
Todesfall durch Ohreiterung auf 158 Sectionen;
Gruber-Wien und Poulson-Kopenhagen fanden einen
solchen Fall auf 173 bezw. 303 Autopsien: Büchner
und Randall berechnen die Häufigkeit der Todes¬
fälle in Folge von Ohreiterungen im Verhältniss zur
Zahl aller Ohrkrankheiten übereinstimmend auf 0,3 °/ 0 .
Ein Drittel aller Himabscesse ist otitischen Ursprungs,
zwei Drittel aller Sinusphlebitiden entsteht durch
Krankheiten des Ohrs und des Schläfenbeins. Die
otitische Meningitis kommt im Vergleich zu anderen
Meningitiden selten vor. Die zur Section gekommenen
Fälle von otitischen Himkrankheiten betreffen grössten-
theils das Alter von 11 bis 30 Jahren. Der durch
massenhafte Thatsachen erwiesene Emst der acuten
und chronischen eiterigen Mittelohrentzündung und
die Beachtung, welche ihr selbst die Aerzte durch¬
schnittlich noch zuwenden, stehen in umgekehrtem
Verhältnisse zu einander!
Verf. bespricht in dem nunmehr in 3. Auflage
vorliegenden, vorzüglichen Werke die eitrige Entzün¬
dung an der Aussenfläche der harten Hirnhaut, die
otitische Pachymeningitis interna, die otitische Lepto-
meningitis purulenta, die Meningitis serosa in Folge
von Eiterungen im Ohr und im Schläfenbein, die
tuberkulösen Hirnhaut- und Hirnerkrankungen bei
Tuberkulose des Ohrs und des Schläfenbeins, die
Phlebitis und Thrombose der Sinus durae matris und
der Vena jugularis, die Himembolie in Folge von
Carotisthrombose bei Mittelohreiterung und Schläfen-
beincaries und vor allem den otitischen Himabscess.
Die Errungenschaften auf dem Gebiet der Behand¬
lung der H irnabscesse, die durch Ohrenkrank¬
heiten erzeugt sind, sind ja bekanntlich geradezu
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HARVARD UNiVERSITY
3ö8
fSYCttlAtRtSCÖ-NEÜROLOGISCHE WOCHENSCHRIFt.
[Nr. 2 ? .
glänzende. Bis October 1901 sind nicht weniger als
2 68 Abscesseröffnungen mit 137 Heilungen bekannt
geworden. Ueber operirte Sinusphlebitis hat der
Verf. nunmehr 308 statistisch verwerthbare Fälle ge¬
sammelt; von diesen fanden 180 Patienten Heilung.
G. Ilberg (Grossschweidnitz).
— Von der Nervenzelle und der Zelle im
Allgemeinen. Von Paul Kronthal. Mit 6 chro¬
molithographischen, 3 heliographischen Tafeln und
27 Figuren im Text. Jena, Gustav Fischer, 1902.
Von der Nervenzelle ausgehend bespricht Verf.
eine Reihe von äusserst interessanten Fragen über
die Zelle im Allgemeinen. Die geformten Substanzen
im Protoplasma wie im Kern erkennt er als das
Lebendige, während er die ungeformten als Nahrungs¬
material auffasst. Er erörtert, wie die Zelle Stoffe
aufnimmt, verarbeitet und abgiebt und führt aus, dass
zwar die Zelle, aber nicht die Nervenzelle,
ein Elementarorganismus im biologischen Sinne ist.
Es sei mit Rücksicht auf das Interesse, dass wir
Nervenärzte an den, die Nervenzelle betreffenden,
biologischen Vorstellungen haben, gestattet, über das
betreffende Kapitel zu referiren: Die weissen Blut¬
körperchen sind identisch mit den Lymphkörperchen
bezw. den lymphoiden Zellen. Sie durchbrechen die
Epithelschicht des Centralkanals, dringen durch die
Wandungen der Gefässe oder wandern längs der Pia
oder der Piascheiden in die Nervenmasse. Die Lymph¬
körperchen des Liquor cerebrospinalis, die sich in
den Subarachnoidealräumen oder in den adventitiellen
Lymphräumen befinden, treten in die Masse der
Nervensubstanz ein, verlieren hiermit ihren Charakter
als Lymphzellen und werden theils zu Stützkörpem,
theils zu nervösen Elementen. In letzterem Falle
treten sie zu den nervösen Elementen in Beziehung.
So wird die vorher nomadisirende Zelle angesiedelt
und lebt von da an unter ganz andern physikalischen
und chemischen Bedingungen. Sie entwickelt nun
Neigung zum Confluiren mit gleichen Individuen,
ihr Protoplasma wächst, die protoplasmatischen Zellen
verschmelzen mit weiteren Lymphzellen und beziehen
aus deren Kernen ihre chromatischen Substanzen.
Die Nervenzellen entstehen also durch
Addition weisser Blutkörperchen. Addirt
oder einzeln behalten die weissen Blutkörperchen in
der Nervenmasse die Eigenschaft der amöboiden Be¬
wegung bei. Bei ganz gesunden Individuen werden
die grossen Nervenzellen mit reichlichem Protoplasma
in sehr verschiedenem Zustande betroffen; namentlich
muss man die absterbenden Gebilde, bei denen
die Kernsubstanz von der protoplasmatischen Substanz
unscharf oder gar nicht gesondert ist, von der Jugend¬
form , wo die genannten Substanzen scharf differenzirt
sind, unterscheiden. Findet Resorption absterbender Ner¬
venzellen statt, so sind hieran eigenartiger Weise wieder¬
um die Leukocythen in hohem Grade betheiligt. Die
Nachkommen der aus dem äussem Keimblatt direkt
stammenden Zellen des Nervenrohrs theilen sich
zwar, sowie aber Faserentwicklung stattfand, d. h.
sowie die bisher neutrale Zelle zur Nervenzelle ward,
theilt sie sich im normalen Gehirn oder Rückenmark
niemals! Die Kerne der Ganglienzellen werden im
Gegensatz zu den Kernen aller anderen Zellen, die
gezeugt und geboren werden, aus den Kemsubstanzen
anderer Zellen z-u sammeng eschmol zen, sie
sind nicht Produkt einer Befruchtung, sondern
Ergebniss der Addition verschieden grosser Zahlen
von Kernen. Während nun die mitotisch entstandene
Zelle einen bestimmten Character hat, da sich hier
die Chromatinmassen in bestimmter gesetzmässiger
Form gegeneinander lagern, so zeigt die durch Ad¬
dition von Kernen entstandene Nervenzelle, in der
nur eine Vermischung der einzelnen Zellen mitein¬
ander stattgefunden hat, nichts von den Charakteren
ihrer Coinponenten, sie ist charakterlos. Sind die
Lebenswege der mitotisch entstandenen Zelle begrenzt,
da sie untergeht, wenn sie aus ihrer Bahn geschleu¬
dert wird, so sind die Lebenswege c}cr charakterlosen
Nervenzelle mannigfaltig. Die Nervenzelle zeigt be¬
deutende Widerstandsfähigkeit, wohin sie auch das
Schicksal ruft Stirbt sie, so geht sie dauernd unter
und dauernd entstehen durch Verschmelzung von
Leukocythen Nervenzellen neu.
G. Ilberg (Grossschweidnitz).
— Die Thatsachen über den Alkohol.
Dr. med. H. Hoppe. 2. verbesserte Auflage. Berlin.
S. Calvary & Co. 5 M.
H. bespricht zunächst den Alkoholconsum, dann
das Wesen und die physiologischen Wirkungen des
Alkohols, den Alkohol als Krankheitsursache, seine
Beziehungen zu Morbidität und Mortalität, zu Geistes¬
störung und Verbrechen, seinen Einfluss auf Familien¬
leben und Wohlstand, den ursächlichen Zusammen¬
hang zwischen Alkohol und Entartung und zuletzt
die Verbreitung der Trinksitten und der Trunksucht.
63 Tabellen sind am Schlüsse angefügt. Es ist ganz
unmöglich, bei der erstaunlichen Fülle des Stoffes
und der überaus grossen Reichhaltigkeit des Buches,
seinen Inhalt auch nur auszugsweise wiederzugeben
oder auf Einzelheiten besonders hinzuweisen. Be¬
ständig hat H. die neuesten Erscheinungen auf dem
Gebiete der Alkohollitteratur verfolgt und verwerthet.
Vor Allem aber verdient hervorgehoben zu werden
der Fleiss, der erforderlich war, um ein Buch zu
schaffen, in dem eine so gründliche Darstellung ge¬
boten wird und das für jeden, der sich eingehender
mit dem Studium der Alkoholfrage befassen will un¬
entbehrlich sein dürfte. Dass bereits 2 Jahre ’nach
dem Erscheinen der ersten Auflage die zweite noth-
wendig wurde, beweist, wie sehr das Hoppe’sche Buch
Anerkennung und Verbreitung gefunden und dass es
einem thatsächlichen Bedürfniss entsprochen hat.
Braune (Schwetz a. V.)
Für den rcdactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt l)r. J. Breslt-r, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
bcrausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ii. Edinger,
Uchtspringe (Alimark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Quttetadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Ming&zzini, Dr. P. J, Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesiern.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
N 7 r 28 ~ 11. Oktober. 19 Ö 2 .
Die Psychiatrisch-Neu ro 1 o gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermüssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Eine neue Methode experimenteller Physiognomik. Von Dr. Hallevvorrien in Königsberg (S. 309). —
Dementia paralytiea bei einem Ehepaar. Von Dr. Hcrman Lundborg (Schluss) (S. 311). — Obermedicinalrath Dr. Ernst
von Zeller. Nekrolog (S. 313). — Mittheilungen (S. 315). — Referate (S. 315).
Eine neue Methode experimenteller Physiognomik.
Von Dr. Hallervorden in Königsberg.
i. Eigenbericht des Verfassers
über den am 26. Mai 1 <902 in der Gesellschaft für
wissenschaftl. Heilkunde in Königsberg gehaltenen
Vortrag, abgedruckt aus der Deutschen med. Wochen¬
schrift IQ02, Nr. 31.
usgehend einerseits von seiner Wahrnehmung, dass
die beiden Gesichtshälften häufig mimisch in
verschiedenem Sinne thätig zu sein scheinen, anderer¬
seits von der Auffassung, dass Physiognomik als
Wissenschaft lediglich Kunsttheorie, ihrem Wesen
nach aber Kunst sei, hat der Vortragende versucht,
das physiognomische Kunstvermögen unter Beding¬
ungen leichterer Bewährung zu setzen. Es wurden
Momentphotographicen von Gesichtern genau en face
und mit Blick aufs Objectiv (also im Bild: auf den
Beschauer) aufgenommen, ausser den gewöhnlichen
Abzügen auch einige vom umgewendeten Negativ,
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also Spiegelbilder, hergestellt und nach Längshalbirung
der Bilder je eine rechte Gesichtshälfte mit ihrem
Spiegelbilde und je eine linke Gesichtshälfte mit ihrem
Spiegelbilde zu vollständigen, künstlichen Gesichtern
ergänzt. Man erhält also ganze rechtsseitige und
ganze linksseitige Gesichter, in welchen der störende
Einfluss der nicht congruirenden Gesichtshälfte eliminirt
und der früher schwache Eindruck von der einen
Gesichtshälfte durch ihre Verdoppelung verdeutlicht
ist.
Nach diversen Aufnahmen von 18 Köpfen er-
giebt sich, dass die Formverschiedenheiten und Ver¬
zerrungen (Karrikaturen), welche dabei vielfach ent¬
stehen und anfänglich den Beobachter verblüffen,
für den sich schnell übenden Blick eine Nebenrolle
spielen. Die beiden ergänzten Gesichter unterschei¬
den sich dann aber, von jenen Verzerrungen abge-
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3 IO
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
sehen, i. vom normalen Gesicht in jedem” Falle
durch Ausdrucksarmuth, wie Gesichter von Defekt¬
menschen; 2. von einander in jedem Falle durch den
Charakter der Ausdrucksreste. Und zwar ist der
Charakter aller linksseitigen
Gesichter von niederer Art
alsdeijenige der rechtsseitigen.
Die letzteren sind mehr apper-
ceptiv oder thätig denkend
oder lucide oder verständig
wollend; die linksseitigen etwa
perceptiv oder affectiv oder
dunkeln, ungeformten Inhalts
oder directionslos. Bei dem
einzigen linkshändigen Men¬
schen geht der apperceptive
Charakter des Ausdrucks auf
die linke Gesichtshälfte über.
Es besteht also eine Links-
hirnigkeit wie für Sprache und
Hand auch für die Mimik
des Gesichts; — und wenn
die Mimik des Gesichtes
einen Ausdruck des seeli-
einem einheitlichen und reichen Gesichtsausdruck
vollziehen wir stets unbewusst und unwillkürlich durch
unser physiognomisches Kunstvermögen in schöpfe¬
rischem Akt Die Untersuchungen werden unter steter
und kritischer Vervollkomm¬
nung der Methode fortgesetzt
und auf die verschiedenen Ge¬
biete der angewandten Psycho¬
logie und der Psychopathologie
ausgedehnt
2. Beschreibung photo-
graphischer Einzel-
h eiten zu i.
Die Aufnahmen sind von
Herrn Photographen Kauz in
Königsberg mit einer SteinheiP-
schen Atelierkamera, Gruppen¬
antiplanet 64 mm, ausgeführt.
Die Köpfe haben im Bilde
etwa die Grösse eines silber¬
nen Fünfmarkstückes.
Die aufzunehmende Person
sitzt in gerader Haltung gegen
Licht, welches gleichmässig von
Original.
Links. Rechts.
35 jähriger gesunder Arbeiter am Tage der Freisprechung nach langer Untersuchungshaft.
sehen Lebens darstellt, so liest man vom links¬
seitigen Gesicht den Inhalt der Seele rechter Hemi¬
sphäre, vom rechtsseitigen den Inhalt der Seele linker
Hemisphäre ab. Die Synthesis der beiden hetero¬
genen Ausdruckscomponenten links und rechts zu
vom auf sie fällt. Seitliche Beleuchtung oder Beschattung
ist streng zu vermeiden. Der Blick der Person wird
womöglich auf den Mittelpunkt des Objektivs (oder
wenigstens auf die vertikale Mittellinie desselben,
z. B. bei kleinen Kindern auf ein Fixationsobjekt
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
3ii
1902.]
dicht über dem Objektiv), also auf den Beschauer
des Bildes gerichtet. Der schärferen Wiedergabe
aller Details dient eine „kleine Mittelblende“ an der
Linse. Als Platte ist nicht Glas, sondern Celluloid
und zwar Film dünnster Qualität (Kodak) — be¬
hufs grösserer Deutlichkeit der von der Kehrseite zu
nehmenden Kopien — etwa in der Grösse von 9 zu 12
zu verwenden. Nach Einstellung der Mattscheibe in
den Fokus wird die Filmplatte, zwischen 2 Glas¬
scheiben befestigt, eingebracht und um die Dicken¬
ausdehnung der vorderen Scheibe dem Objektiv ge¬
nähert, also ihrerseits in den Fokus eingestellt. Ex¬
positionsdauer mit Blende bis zu mehreren Sekunden.
Zunächst wird nur eine Kopie gemacht, welche zur
Gewinnung der Halbirungslinie auf der Platte dient.
Eine gute Halbirung setzt reine Enfaceaufnahme
voraus. Die bekannten Asymmetrieen im Bau des
Gesichts machen dabei nur theoretische Schwierigkeit.
Man geht am besten von der Augenstellung aus und
ermittelt die geforderte Kopfhaltung in praxi bald
mit ziemlicher Sicherheit, kann sie auch auf dem
Bilde besonders an der symmetrischen Lage der
Pupillen zu den innern Augenwinkeln controlliren.
Als beste Theilungslinie des Bildes darf eine senk¬
recht auf der Mitte des Pupillenabstandes stehende
Medianlinie gelten. Darum wird auf dem ersten Ab¬
züge von jeder Pupille aus je ein Kreis mit dem
.Pupillenabstand als Radius beschrieben. Oberer und
unterer Schnittpunkt beider Kreise markiren die Thei¬
lungslinie auf dem Probebild. Hiernach wird sie auf
der Filmplatte als Kratzlinie ausgezogen. Jede fernere
Kopie der Filmplatte, sei’s von der Bildseite, sei’s
von der Kehrseite, zeigt nun die Theilungslinie als
feine weise Naht und lässt sich darnach sauber hal-
biren.
Aus der Irrenanstalt zu Upsala.
Dementia paralytica bei einem Ehepaar.
Die Paralyse bei der Frau eine periodische Psychose komplicirend.
Von Dr. Her man Lundborg.
(Schluss.)
Pat. ist orientirt. Sie ist sehr gedächtnissschwach,
besonders für die Ereignisse späterer Zeit. Das w r eiss
sie selbst. Bisw eilen kann sie nicht einmal den Namen
des Pastors oder des Arztes in ihrer Heimath angeben.
Nicht selten gebraucht sie andere Namen für den sie
untersuchenden Arzt, trotzdem sie oft zeigt, dass sie
seinen wirklichen Namen kennt. Solche Irrthümer merkt
sie zuweilen, zuweilen auch nicht. Infolge ihrer Ge-
dächtnissschwäche, die sich an verschiedenen Tagen
verschieden enveist, fällt es ihr oft schwer, einen
Gedanken auszudrücken. Dazu kommt, dass sie nicht
selten vergisst, was sie hat sagen wollen. Diese ihre
Unfähigkeit, einen Gedanken zu Ende zu denken und
sich dessen zu erinnern, tritt noch deutlicher zu Tage,
wenn sie einen Brief abfassen will. Sie machte kürz¬
lich einen Versuch. Trotz grosser Anstrengung werden
es nur einige unvollständige Zeilen; hier und dort ist
eine Silbe zweimal geschrieben. Pat. liest das Ge¬
schriebene durch, und merkt sie ein Theil der Fehler,
so giebt sie den Versuch auf.
Pat. kann ziemlich tadellos lesen, doch nicht zu
lange Wörter. Sie kann nicht längere Wörter nach¬
sprechen, wie z. B. Artilleriebrigade, ohne sich zu ver¬
wickeln.
Ihre Fähigkeit zu rechnen ist recht mangelhaft,
nicht einmal einfache Additionen kann sie auf dem
Papiere richtig ausführen, obgleich sie es selbst glaubt.
Weder Sinnes- noch Gedankemvahn ist nachzu¬
weisen.
In Bezug auf den Mann giebt sie an, dass er ihr
in der Ehe untreu gewesen ist. Dies bereitete ihr
anfangs viel Kummer, nun hat sie ihm indess verziehen.
Von einer venerischen Krankheit weiss sie nichts, weder
bei sich selbst noch bei ihm.
Vom 27. 11. bis 4. 12. hatte Pat. nicht weniger als
23 epileptiforme Anfälle. Eine Unruheperiode begann
gleichzeitig mit den Anfällen. Pat. wurde geschwätzig,
streitsüchtig, polternd und cynisch; sie musste isolirt
werden. Sprache undeutlicher und verwischter, w r enn
sie unruhig ist. Schlaf und Appetit schlecht. Unsauber.
Zuweilen weinerlich, weint und klagt; bisweilen ist sie
so schwierig, dass mehrere Wärterinnen kaum mit ihr
fertig werden können. Sie schlägt und beisst, wenn
sie ankommen kann. Pat. hat mehrere Abende Chloral
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312
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
per os oder im Klystir mit recht guter Wirkung be¬
kommen. An einigen Tagen ist sie ruhiger, an andern
dagegen sehr unruhig. Im letzten Monat ziemlich
ruhig und fleissig, während dieser Zeit keine Anfälle.
Pat. hat einigermassen regelmässig Jodkalium (i 1 2 g
täglich vom 28. 11.) genommen.
Epikrise.
Pat., welche erblich belastet ist, wurde schon zur
Pubertätszeit für eine kürzere Zeit geisteskrank. Da¬
rauf hat sie fast alljährlich einen ähnlichen Anfall ge¬
habt. Hier handelt es sich also um eine periodische
Psychose, eine manisch-depressive Geisteskrankheit
nach Kraepelins System oder eine periodische Manie
nach dem alten. Gewöhnlich gleicht auch bei diesen
Kranken der eine Anfall dem andern vollständig.
Aus dem Auszug des Hernösander Journales geht un¬
zweideutig hervor, dass zu ihren Anfällen Depression
wie Exaltation gehört, da sie zuweilen weinerlich
exaltirt erscheint. Ferner war sie an gewissen Tagen
stumm und deprimirt, an anderen laut und lärmend
und solche Wechsel konnten während desselben An¬
falles mehrfach beobachtet werden. Es befremdet,
dass Pat. trotz ihrer häufigen Anfälle von Geisteskrank¬
heit verheirathet wurde. Der Mann scheint zu dem
Zeitpunkt, als er die Ehe einging, frei von Syphilis
gewesen zu sein, denn er hatte 4 Kinder mit der
Frau, die noch leben. Später dagegen soll er der
Frau untreu gewesen sein und hat da wahrscheinlich
Lues bekommen und diese Krankheit dann auf seine
Frau übertragen, welche im letzteren Abschnitt der
Ehe nicht weniger als 5 Missfälle bekam.
Im Alter von einigen 40 Jahren starb der Mann
an Dementia paralvtica und Tabes dorsalis.
Vor 2 1 2 Jahren begann die Krankheit der Pat.
sich zu verändern, indem sich zahlreiche epileptiforme
Anfälle in Verbindung mit einer ihrer gewöhnlichen
Unruheperioden einstellten. Zufolge der Kenntniss
ihrer Familienverhältnisse lind ihrer Vorgeschichte hätte
man schon zu dieser Zeit den Verdacht hegen können,
dass eine Paralyse im Anzuge war, denn es dürfte
wohl eine höchst ungewöhnliche Erscheinung sein,
dass epileptiforme Anfälle in einer periodischen Manie
auftreten. Aus dem Status, den ich hier in der Up-
salaer Irrenanstalt aufgenommen habe, geht ja mit
aller Deutlichkeit hervor, dass bei dieser Kranken wirk¬
lich eine Paralyse vorliegt. Die eine Pupille ist kleiner
als die andere und reagiert langsamer ; Pat. zeigt Zittern
in den Händen und der Zunge und wird von zahl¬
reichen epileptiformen Anfällen heimgesucht: littcrale
Ataxie wird bemerkt; ihre ganze Psyche bietet so
viele charakteristische Zeichen von Paralyse: Besonders
zu bemerken sind ihre Euphorie, Gedächtnissschwäche,
welche zeitweise weniger, zeitweise mehr ausgesprochen
ist, ihre Unfähigkeit, die allereinfachsten Additionen
auf dem Papier auszuführen etc. Bei der Aufnahme
in die Anstalt war Pat. recht ruhig. Die Krankheits¬
zeichen, welche dann hervortraten, waren wohl aus¬
schliesslich der Paralyse zuzuschreiben. Da keine
hypochondrischen noch Grössenwahnvorstellungen bei
ihr bemerkt worden sind, so ist anzunehmen, dass ihre
Paralyse zu der beim Weibe gewöhnlichsten Form,
der dementen gehört. Infolge des oben Angeführten
glaube ich bestimmt behaupten zu können, dass in
diesem Falle eine Combination von zwei verschiedenen
Psychosen vorliegt.
Da dergleichen Fälle recht ungewöhnlich sind, so
will ich versuchen, denselben in bester Weise anzu¬
wenden, ich will nämlich danach streben, zu erforschen,
in welcher Weise die Paralyse, welche während der
letzteren Jahre hinzugestossen ist, auf das vorhergehende
(Krankenbild) Krankheitsbild eingewirkt hat. Dann
erst dürfte gesagt werden können, dass die ruhigen
Zwischenzeiten bedeutend verkürzt worden würen und
dass während derselben nur Zeichen einer Paralyse
von dementer Art auftreten, die, obwohl nicht gerade
schnell, progredicirt. 2 1 / 2 Jahr sind bereits vergangen,
seit sich deutliche Symptome von dieser Krankheit
zuerst zu zeigen begannen, und trotzdem ist die ganze
Krankheit gegenwärtig noch nicht weiter vorgeschritten,
als dass die Pat. arbeiten und sich einigermassen selbst
bedienen kann.
Die Unruheperioden sind länger geworden, zeigen
aber sonst fast denselben Typus wie früher; indess ist
sie jetzt erheblich cynisch und untermengt ihre exal-
tirte Rede mit Flüchen, d. h. es leuchtet ein gewisser
Grad von Demenz hindurch. Ausserdem tritt die
litterale Ataxie recht scharf hervor. Auch trüben zahl¬
reiche epileptiforme Anfälle das Bild.
Die Prognose für diese Kranke ist natürlich schlecht.
Indess hat sie bereits längere Zeit gelebt, als den meisten
paralytischen Pat., die an der dementen Form leiden,
vergönnt ist. Nach Kraepelins Zusammenstellung über¬
stieg der Krankheitsverlauf für solche Pat. in 60 °/ 0
nicht 2 Jahre; in 17 ,J / 0 trat der Tod bereits innerhalb
eines halben Jahres ein; von den übrigen lebten nur
wenige 4 — 5 Jahre.
In der Litteratur sind verschiedene Fälle erwähnt,
w'o eine Dementia paralvtica eine andere Psychose
komplicirt hatte. Dennoch habe ich unter denen, die
ich angetroffen habe, keinen mit dem von mir be¬
schriebenen analog gefunden, obgleich solche möglicher-
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
-weise Vorkommen. Bereits Calmeil*) beschreibt einen
höchst eigentümlichen Fall, der grosses Interesse bietet,
recht ausführlich. Später hat Hoestermann**) 3 Fälle
beschrieben. Voisin***) hat mehrere zusammengestellt.
Mendelf) berichtet in grösster Kürze über 2 Fälle,
welche unter seinen 210 paralytischen Patienten vorge¬
kommen sind. Frey Svenson erwähnt 3 Fälle unter
117 Paralysen aus der Stockholmer Irrenanstalt ft),
Hoogberg fff) glaubt eine solche Combination in 100
Fällen 6 mal gefunden zu haben. Mehrere der Hoog-
berg’schen Fälle erscheinen mir indess höchst zweifel¬
haft, wie z. B. sein Fall Nr. 14, den er auf Seite 57
folgen dermassen beschreibt:
Ehemaliger Stabshauptmann, 43 Jahre, verheirathet,
auf dem Lande wohnhaft. Wurde den 17. 4. 1877
ins Lappviker Krankenhaus aufgenommen. Anam-
*) Calmeil. De la paralysie considöree chez les altenes.
Paris 1826,
**> Hoestermann. Ueber secundäre progressive Paralyse.
AI lg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 32, 1875.
***) Voisin. Trait6 de la paralysie generale des aliends.
Paris 1879.
f) Mendel. Die prögr. Paralyse der Irren. Berlin 1880.
ft) Frey Svenson. Beitrag zur Statistik der allg. progr.
Paralyse. (Dementia paralytica.) Psych. Wochenschr. Nr. 14.
1899.
*}*‘S~j-) Hoogberg. Beitrag zur Kenntniss der Aetiologie der
progressiven Paralyse. Helsingfors 1892.
nese: Keine hereditäre Prädisposition. Im Mai 1875
brach bei dem Patienten eine Psychose aus, und er
war vom 22. 6. 1875 bis zum 8- 9- desselben Jahres
mit der Diagnose Mania cum hallucination. visus et
auditus ins Krankenhaus aufgenommen und wurde
als gebessert entlassen. Nach seiner Entlassung war
er ruhig, deprimirt und apathisch bis an fang des Jahres
1877, wo wieder ein unruhiger Anfall kam. Status
praesens und Verlauf: Maniakalisch, prahlend,
Grössenwahnideen, abwechselnd unruhig und ruhig.
12. 9. 1878 Apoplektiformer Anfall. Wackelnder Gang.
Gedächtnissschwach, Sprache ungelenk. Paresis vesicae.
Insensibel. Anfall von vorübergehender Taubheit.
Pupillen dilatiert. Decubitus. Somnolent. Schwierig¬
keit zu schlingen. Tod den 15. 12. 1879.
Nun ist es die Frage, ob man zu der Annahme
berechtigt ist, dass der Anfall von Geisteskrankheit,
der sich 1873 bei diesem Patienten zeigte, und von
dem er sich nicht völlig erholte, denn er wurde nur
als gebessert entlassen, eine primäre Psychose war,
zu welcher später eine Paralyse hinzustiess, oder ob
man nicht einfacher das ganze Krankheitsbild als einen
Ausdruck für einen paralytischen Prozess von Anfang
bis zu Ende, d. h. von 1875 — 79 erklären kann.
Der Raum verbietet mir hier, mehr Fälle näher
zu analvsiren. Indess hoffe ich bei einer andern Ge¬
legenheit auf die so interessante Frage betreffend
kombinirte Psvchoscn zurückkommen zu dürfen.
Obermedicinalrath Dr. Ernst von Zeller.
Nekrolog.
och ist kein Jahr vergangen, seitdem die Kgl. weise in Berlin oblag, im grossväterlichen Hause (Ver-
Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal sich durch lagsbuchhändler G. Reimer) nicht nur innigen Fami-
den Tod ihres Direktors verweist sah, und schon lienanschluss, sondern auch einen sehr anregenden
wieder ist sie von tiefer Trauer erfüllt durch den Verkehr gefunden, dem er manche auch später noch
Hingang eines Mannes, der zwar seit 2 Jahren nicht hochgehaltene Beziehungen verdankte. 1833 bestand
mehr in ihrem aktiven Dienste stehend ihr doch bis er zu Tübingen die erste und im folgenden Jahre
zu seinem Lebensende so innig verbunden geblieben die zweite medicinische Staatsprüfung mit sehr guten
war, wie er es von Kindesbeinen auf gewesen ist. Noten besonders auch in den naturwissenschaftlichen
— Der am 18. September d. }. ganz unverm thet Fächern, denen ei immer das regste Interesse und
uns entrissene Obermedicinalrath Dr. Ernst von Zeller Verständniss entgegengebracht hatte. Seine praktische
war am 2. December 1830 zu Stuttgart geboren. Thätigkeit hat er dem Beispiel des Vaters folgend
Er hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet, alsbald in der Irrenheilkunde gesucht, zunächst 1854
als sein Vater Dr. Albert Zeller zum Vorstande der in Siegburg unter der Leitung des Geheiinrath Dr.
werdenden ersten Irrenheilanstalt Württembergs er- Jakobi, eines der hervorragendsten Vertreter seines
nannt nach Winnenthal übersiedelte. Der Aelteste Faches. Die Leistungen in der dortigen Assistenten-
in einem grösseren Geschwisterkreise hat er hier eine stelle verschafften ihm so vorzügliche Empfehlungen,
fröhliche Jugend verlebt, auf die allerdings der 1847 dass ihm schon 1857 die selbstständige Leitung der
erfolgte Tod der geliebten Mutter schon frühe düstere Irrcnabthcilung an der tlmrgauischen Kantonskranken-
Schatten geworfen hat. Musste er schon zum Zweck anst.ilt zu Münsterlingen übertragen worden ist. Mit
seiner Vorbildung das Elternhaus verlassen, so hat welch’ primitiven Einrichtungen er sich daselbst zu
-er während seiner Universitätsstudien, denen er theil- behelfen hatte, wusste er mit köstlichem Humor zu
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
schildern. Eine vorübergehende Unterbrechung hat
seine Wirksamkeit in Münsterlingen erfahren durch
die Mobilmachung des Jahres 1859, über deren
Dauer er zum Oberarzt beim Festungsspital in Ulm
■bestellt worden war. Endgültig hat er die dortige
Stellung trotz nicht unbefriedigender Verhältnisse 1862
verlassen, um in die bescheidene Rolle eines Assi-
stenzarzts bei seinem Vater zurückzutreten, für die
sich geeignete Bewerber nicht gefunden hatten.
Diesem pietätvollen Entschlüsse ist er auch später
trotz wiederholter ehrenvoller Berufungen zu selbst¬
ständigeren Stellungen treu geblieben, so dass der
Vater in den Jahren abnehmender Kraft jeder Sorge
um eine zuverlässige Unterstützung in seinem ver¬
antwortungsvollen Berufe überhoben blieb. Wohl
fand dies äussere Anerkennung durch eine für seine
Person ausnahmsweise bewilligte definitive Anstellung
und die Verleihung des Medicinalrathstitels. Neben
der dominirenden Persönlichkeit seines Vaters be¬
deutete sein Entschluss aber den vorläufigen Verzicht
auf selbstständige Wirksamkeit im Berufe. Ohne unter
einer solchen Entsagung zu leiden, hat er sich neben
der treuen Unterstützung des Vaters in anstrengender
Berufsarbeit sein besonderes Arbeitsfeld zu schaffen
gewusst. In seinen spärlichen Musestunden hat er
sich wieder zoologischen Forschungen zugewandt, auf
die ihn unter Anderem schon seine Inauguraldisser¬
tation geführt hatte. Als gründlicher und gewissen¬
hafter Beobachter hat er auch auf diesem Gebiete
einige der schwierigsten Probleme so erfolgreich auf¬
zuklären vermocht, dass die Leopoldinisch-Karolinische
Akademie ihn zu ihrem Ehrenmitgliede ernannt hat.
Den eigentlichen Berufsaufgaben wurde er durch
diese Forschungen so wenig entzogen, dass ihm viel¬
mehr der hauptsächlichste Antheil zukam an einer
von 1875 an planmässig eingeleiteten Reorganisation
der baulichen Einrichtungen in Winnenthal, wozu ihn
weitgehende technische Kenntnisse, sowie eine künst¬
lerische Begabung und Geschmacksrichtung besonders
befähigten. Diese Aufgabe ist bald ganz in seine
Hände übergegangen, als er nach dem 1877 erfolg¬
ten Tode seines Vaters dessen Nachfolge in der Lei¬
tung der Anstalt angetreten hat.
Dieser Umbau der Anstalt war entsprechend den
Fortschritten moderner Technik ein so durchgreifen¬
der und musste, um den Betrieb ungeschmälert auf¬
recht erhalten zu können, auf eine so lange Zeit ver¬
theilt w-erden, dass fast die ganze Wirksamkeit Zellers
als Direktor unter seinem Zeichen gestanden hat. Er
erfolgte nach dem von ihm entworfenen Programm
freilich mit mancherlei Abänderungen und Zuthaten,
wie sie die neuen Anforderungen an die Irren pflege
und der stets wachsende Zudrang zur Anstalt mit
sich gebracht haben. Als er in den Ruhestand ge¬
treten ist, w’ar dieses Programm in allen wesentlichen
Punkten durchgeführt. Die Zahl der Plätze in der
Anstalt war dabei nahezu verdoppelt, alle ihre Ab¬
theilungen waren wohnlicher und hygienisch zweck¬
mässiger geworden. In manchen Punkten hatten sie
selbst eine Modernisirung erfahren, die nicht ganz
nach seinem Sinn war. Er wollte sie nicht verhin¬
dern, da er nichts unversucht lassen wollte, woraus
seinen Kranken etwa Vorth eil erwachsen konnte, auch
wenn er selbst bei seiner vorsichtigen Beurtheilung
aller Neuerungen von ihrer praktischen Bedeutung
noch nicht völlig überzeugt war. Denn nicht vorge¬
fasste Meinungen und theoretische Speculationen lei¬
teten ihn bei seinem Thun und Lassen, sondern
humane Bestrebungen, wie sie sich ihm aus gewissen¬
hafter Beobachtung und reicher Erfahrung ergaben.
Hatte er nicht den Ehrgeiz mit Neuerungen anderen
zuvorzukommen, so war ihm um so mehr daran ge¬
legen, das Loos seiner Kranken so erträglich als
irgend möglich zu gestalten. Aller eitle Schein und
alle leere Formen waren dabei seiner geraden und
aufrichtigen Natur so zuwider, dass er sie als Hemm¬
nisse für fortschreitende Erkenntniss stets rückhalts¬
los verurtheilt hat.
Mit solchen Gesinnungen war er keine Natur, die
schon bei der ersten Begegnung für sich einnehmen
musste. Sie konnte aber nicht verfehlen, zu ge¬
winnen, je länger man mit ihm verkehrte, je näher
man ihn kennen lernte. Dann kam neben der Recht¬
lichkeit und Wahrhaftigkeit die herzliche und wohl¬
wollende Seite seines Wesens unverkennbar zum Vor¬
schein, der eine w r arme Gemüthlichkeit und fröhlicher
Sinn sich beigesellten, wo er sich unter Gleichge¬
sinnten wusste. Ganz besonders sind die gewinnen¬
den Seiten seiner Persönlichkeit hervorgetreten im
Verkehr mit seinen Kranken, von denen jeder Ein¬
zelne ihm ein Gegenstand reiflichen Nachdenkens
und wohlmeinender Fürsorge war, die auch nicht
abschloss mit dessen Austritt aus der Anstalt, sondern
sich auch auf die späteren Schicksale der einstigen
Pflegebefohlenen noch erstreckt hat. So war er ein
Seelenarzt im vollsten Sinn des Wortes ähnlich seinem
Vater, von dem dies in so ganz besonderem Maasse
gerühmt wird, und doch nach mancher Richtung hin
sehr verschieden von diesem. War jener in seine Lebens¬
aufgaben hereingewachsen zu einer Zeit, in der natur-
philosophische Betrachtungen und Speculationen auch
die Mcdicin beherrschten und in der die erst wer¬
dende Psychiatrie eines moralisirenden Zugs sich
kaum zu erwehren vermochte, so fiel die Ausbildung
des Sohnes schon ganz in die Epoche, in der die
beobachtende Naturwissenschaft die einzige Grund¬
lage bilden sollte, für ärztliche Anschauungen und
ärztliches Handeln. Die tief angelegte Natur Emst
Zeller's hat sich aber nie durch Zeitströmungen allein
beherrschen lassen; niemals sich verschlossen gegen
Andersdenkende, so dass cs nicht erst der ihm eige¬
nen kindlichen Pietät und aufrichtigen Verehrung für
den Vater bedurft hätte, um ihm ein harmonische*
Zusammenwirken mit demselben durch 1 1 / 2 Jahr¬
zehnte zu ermöglichen. So mancherlei Verschieden¬
heiten die Krankenbehandlung bei Vater und Sohn
im Einzelnen zeigen mochte, in den leitenden Ge¬
sichtspunkten, in dem Streben nach sorgfältiger Indi-
vidualisirung und warmherziger Theilnahme für alle
Leidenden war sie sich gleich geblieben: ein Geist
hat bei Vater und Sohn durch 67 Jahre hindurch
in der Anstalt geherrscht und dieser hat sich auch¬
übertragen auf alle, die mit unter Ernst Zeller im
Krankendienste mitzuwirken berufen waren. Liebte
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
-er es nicht direct didaktisch seinen Assistenten gegen¬
über aufzutreten, so konnten seine Art und sein Bei¬
spiel um so weniger verfehlen, diesen tiefen Eindruck
zu machen und sie zu aufrichtiger Verehrung gegen
ihren Chef zu stimmen.
So sehr ihm seine Anstalt und seine Kranken am
Herzen lagen, so hat Ernst Zeller doch wenig Ver¬
kehr gesucht mit psychiatrischen Kreisen, wie er auch
litterarisch auf dem Felde seiner Berufsthätigkeit
nicht hervorgetreten ist Was ihm an Müsse blieb,
wurde auf das Studium der Naturwissenschaften ver¬
wandt, mit denen er in allen ihren Zweigen wohlver¬
traut gewesen ist Alle seine gelegentlichen Wahr¬
nehmungen im Garten, auf Spaziergängen oder Reisen
sind ihm sogleich auch zum Gegenstand eines gründ¬
licheren Studiums geworden, fast immer haben ihn
Mikroskop und Präparirbesteck auch im Erholungs¬
urlaub begleitet So hat ein Zusammensein mit ihm
auch draussen des Anregenden und Belehrenden
immer unendlich viel geboten.
Als besondere Forschungsgebiete hatte er das
Leben von Süsswasserthieren und Parasiten, wie die
Enthomologie sich erkoren. Auf ihnen bewegen sich
auch die Studien, die er der Oeffentlichkeit übergeben
hat Seine Inauguraldissertation über „Alveolarkolloid
<ler Leber“ behandelt einen Fall von Echinococcus,
dessen wahre Natur er selbst wohl erkannt hatte, die
auch zu bekennen ihn aber Luschka abgehalten hat
Besonderes Aufsehen haben seine ganz selbststän¬
digen „Untersuchungen über die Entwicklung des
Diplozoon paradoxon“ erregt, denen er später einen
Nachtrag über den Geschlechtsapparat dieses Thieres
folgen Hess. Nicht weniger ausgezeichnet sind seine
Studien über Polystomum, schmarotzende Opalinen,
Tritonen und Urodelen u. a. m., auf die hier nicht
weiter eingegangen werden kann. Sie sind theils in
-der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, theils in
den Jahresheften des württembergischen Vereins für
vaterländische Naturkunde enthalten.
Der eben genannte Verein hat ihn zu seinen eif¬
rigsten und geschätztesten Mitgliedern gezählt. Selten
fehlte er bei seinen Jahresversammlungen, häufig hat
er diese durch interessante Mittheilungen und Vor¬
M i t t h e i
— Tagesordnung für die vierte Jahresver¬
sammlung des Vereins norddeutscher Irrenärzte am
Montag den 13. October 1902 in Lübeck. 1. Zwang¬
loses Zusammensein der Theilnehmer am Sonntag, den
12. October, abends 9 Uhr im Hotel Stadt Hamburg.
2. Sitzung am Montag, den 13. October, vormittags
9 Uhr im Festsaal der Irrenanstalt: a) Begrüssung.
b) Wahl des Vorsitzenden und des Schriftführers.
c) Bestimmung des Ortes der nächstjährigen Ver¬
sammlung. d) Vorträge. 3. Frühstück. 4. Besichtigung
der Anstalt. 5. Gemeinsames Essen im Rathskeller,
abends 6 Uhr.
träge belebt und mit besonderem Eifer hat er dessen
Sammlungen bereichert durch Zuwendungen von
Funden und von Produkten seiner eigenen Züch-
tungsversuche. Mit besonderer Vorliebe hat er auch
zum geselligen Verkehr die Kreise aufgesucht, in
denen er Interesse und Verständnis für Beobach¬
tungen und Forschungen aus dem Gebiet der Natur¬
wissenschaften gefunden hat. Hier wurde der meist
stille und in sich gekehrte Mann lebendig und heiter,
wie man ihn sonst wohl nur im engsten Kreise seiner
Familie gesehen hat.
Ein inniges Familienleben hat Zeller stets ge¬
nossen, zunächst im Vaterhause, wo die einzige
Schwester an Stelle der früh verstorbenen Mutter
waltend, dem Vater und den Brüdern ein Heim er¬
halten hatte, das ein Sammelpunkt der wachsenden
Familie geblieben ist und wo er nach des Vaters
Tode als Haupt verehrt wurde.
Erst 1886 hat er in seiner Cousine Emma geb.
Reimer auch eine Gattin nach seinem Herzen ge¬
funden.
Im Verkehr mit ihr und dem einzigen Sohn hat
er sich glücklich gefühlt, ohne wirklich zu altem trotz
seiner Jahre. In voller geistiger Frische hat er auch
im Ruhestande noch seinen zoologischen Forschungen
gelebt, mit sicherer Hand seine Präparate gefertigt
und nach diesen Zeichnungen, deren Feinheit von
jeher die Bewunderung der Kenner erregt hat. Kör¬
perliche Beschwerden haben in den letzten Jahren
wohl seine Beweglichkeit beeinträchtigt, nie ihn zum
Klagen veranlasst.
Nachdem er erst wenige Wochen vorher in dem
geliebten Winnenthal noch einen Besuch gemacht
hatte, allen seinen alten Freunden und Verehrern
zur herzlichen Freude, hat ungeahnt ein Gehimschlag
binnen wenigen Stunden seinem reichen Leben ein
Ziel gesetzt. Was er während desselben gewirkt hat,
werden weite Kreise in dankbarem Andenken be¬
wahren. Dem Dank der hiesigen Anstalt und der
durch Emst Zeller in die Psychiatrie eingeleiteten
Aerzte hat bei der Beerdigung am 20. September
auf dem Pragfriedhof in Stuttgart der jetzige Anstalts¬
direktor durch Niederlegen eines Lorbeerkranzes am
Grabe Ausdruck verliehen.
1 u n g e n.
Die Herren Collegen werden gebeten, etwaige
Vorträge dem Unterzeichneten anmelden zu wollen.
Lübeck. Wattenberg.
Referate.
— AllgemeineZeitschriftf. Psychiatrie
und psych. ger. Med. Bd. 59, 1.
Stier (Jena): Ueber Geisteskrankheiten
im Heere.
Verf. scheidet scharf zwischen Krankheiten der
Berufssoldaten (Unterofficiere und Officiere) und denen
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316 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 28;
der Pflichtsoldaten. Nur bei den ersteren kommen
die specifischen militärischen Einflüsse zum Ausdruck.
Unter 84 Psychosen bei Officieren waren 50 °/ 0 Para¬
lysen, Lues war bei allen anzunehmen. Bei Berück¬
sichtigung aller Umstände ist die Ansicht von der
abnorm grossen Häufigkeit der P. bei Officieren als
noch nicht erwiesen anzusehen. Trauma und Alko¬
hol werden bei der Aetiologie überschätzt, Erblichkeit
unterschätzt.
Unter den Mannschaften, wo hauptsächlich der
grosse Eindruck des Eintrittes in das Heer wirk¬
sam ist, überwiegen bei weitem die Fälle von Dementia
praecox, dann kommen männliche Hysterie, Psychosen
im Anschluss an Hitzschlag, Trauma etc.
Die Zahl der Psychosen in der deutschen Armee
betrug 1897/98 nur 268 (0,52 p. in.), war also äusserst
geringfügig.
Luther (Neustadt i. H.): ZurCasuistik der
Geistesstörungen auf dem Boden des chro¬
nischen A1 k o h o 1 i s m u s.
Von den Erscheinungsformen der Alkoholpsy¬
chosen werden nur 4 Krankheitsgruppen herausge-
griffen und mit den Beschreibungen anderer Autoren,
die theilweise andere Nomenclatur führen, verglichen.
Es handelt sich um
1. Formen im Anschluss an Delirium tremens (8
Fälle), 2. Alkoholische Verwirrtheit (11 Fälle), 3. Hallu-
cinatorischer Wahnsinn (18 Fälle), 4. Chron. alkohol.
Grössenwahn (15 Fälle). Das Krankenmaterial stammt
aus den Angehörigen der arbeitenden Klassen aus
Vorpommern und Mittelpommern, die Alkohol in
Form von Schnaps genossen. Irgend eine Erklärung,
warum sich im einen Fall die, im andern Falle eine
anders geartete Psychose entwickelte, war nicht zu
finden.
Würth (Hofheim): Ueber die Bettbehand¬
lung bei chron. Psychosen.
In Hofheim wurden im April 1901 die Kranken
der unruhigsten, bisher in Tages- und Schlafräumen
untergebrachten Abtheilung, ganz unvermittelt, dauernd
der Bettbehandlung unterzogen. Die ganz einwand¬
freie Beobachtung ergab eine zahlenmässig genau an¬
gegebene erhebliche Abnahme der Gewaltthätigen,
der durch Kranke Verletzten, der Isolirungen und
deijenigen, welche feste Kleidung, Schuhe u. dgl. er¬
hielten. Dagegen änderte sich nicht die Durchschnitts¬
zahl der Unreinen und Schmierer.
Kaiser (Altscherbitz): Beiträge zur Diffe¬
rentialdiagnose der Hysterie und Kata¬
tonie. III. Hysterie mit katatonischen Stuporzu¬
ständen.
Aus 3 ausführlich beschriebenen Fällen wird die
Lehre gezogen, dass sowohl bei einer Hysterie kata¬
tonische Erscheinungen, als auch bei einer Katatonie
psychogene Symptome auftreten und dadurch die Diag¬
nose zu einer schwierigen gestalten können. Aus¬
schlag gebend sind nicht einzelne Symptome, sondern
der gesammte Krankheitsverlauf.
Schäfer (Blankenhain S.-W.): Ueber das Ver¬
halten der Cerebrospi n al flüssigkei t bei
Dementia paralytica und einigen anderen
Formendes Sch wachsinns.
Verfasser hat hauptsächlich in diagnostischer Ab¬
sicht Lumbalpunktionen bei Geisteskranken vorge¬
nommen und Menge, Druck, Aussehen, Eiweiss- und
Zuckergehalt der Cerebrospinalflüssigkeit untersucht.
Bei einem Epileptiker schwanden klonische Zuckungen
und Benommenheit sehr bald, bei den verschieden¬
sten Schwachsinnsformen ergab sich fast durchweg
eine abnorme Drucksteigerung. Bedingt war dieselbe
bei Dementia paralytica durch Hydrops ex vacuo
(Hirnschwund) und entzündlichen Hydrops (Menin¬
gitis), bei den übrigen Schwachsinnsformen (4 Fälle
von Dementia post apoplexiam, 15 Idioten, 20 Im-
becille, 32 Dementia epilept.) dagegen nur durch
Hydrops ex vacuo (Hirnatrophie resp. Entwickelungs¬
hemmung). Während die übrigen Schwachsinnsformen
eine Cerebrospinalflüssigkeit mit normalem Eiweissge¬
halt ergaben, war dieselbe bei Dementia paralytica,
infolge der entzündlichen Vorgänge erhöht.
van Brero (Buitenzorg, Java): Einige Be¬
merkungen über den Bau tropischer Irren¬
anstalten.
Kurze Abhandlung, in der nur über 2 belang¬
reiche Faktoren beim Bau tropischer Anstalten be¬
richtet wird, und zwar 1. über die Höhenlage; unter
Berücksichtigung der einschlagenden hygienischen und
ökonomischen Verhältnisse erscheint eine Höhe zwischen
150 — 500 in über d. M. als zweckmässig, 2. über
die Aenderungen, welche die Bettbehandlung und die
Wachsäle in der Anstaltseinrichtung gemacht haben ;
seit Einführung der genannten Behandlungsmethoden
an Stelle der früher gebräuchlichen Zellen, sind vor
allem Bauten aus viel billigerem Material (Bambus
statt Steine) möglich geworden. Als bequemste Ueber-
wachungsanlage wird ein durch eine Tafel erläutertes
Doppelrechteck für 28 — 32 Betten empfohlen.
Kornfeld (Gleiwitz): A bl ehnu ng einer Ent¬
mündigung. Aus der Rechtssprechung der Ver¬
einigten Staaten von Nord-Amerika.
Aus 3 ärztlichen Gutachten vom Jahre 1900 geht
unzweifelhaft hervor, dass es sich im vorliegenden
Fall, der in Nord-Amerika Aufsehen erregt hat, um
Paranoia bei einer Frau handelte (systemat. Grössen-,
Verfolgungs-, Vergiftungsideen), infolge deren Pat. mit
allen Personen ihrer Umgebung in Conflikt gerieth,
sich und ihr Hauswesen im schmutzigsten Zustand
Hess und in endlosen Processen ihr Geld verschwen¬
dete. Auf Grund richterlicher Entscheidung wurde
die Kranke zwar als excentrische Dame, aber nicht
als geisteskrank bezeichnet und von der Vormund¬
schaft befreit. Dass auch bei uns unter der Herr¬
schaft des B. G. B. ein gleicher Ausgang des Pro-
cesses meist zu erwarten sein würde, wird noch be¬
sonders betont. Arnemann.
Für den redactioncllen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Iircsler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schirms der Inseraten an nah ine 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’schc Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Hallo a, S.
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Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
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Kraschnitz (Schlesiern.
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Nr. 29. 18 . Oktober. 1902.
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Zuschriften fiir die Redaction sind an Obeiar/t Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten.
Inhalt. Originale: lieber die Berechtigung der forensischen Psychiatrie. Von Dr. Weygandt, Privat-Docent in Wiirzburg
(S. 317). — Mittheilungen (S. 322)
Ueber die Berechtigung der forensischen Psychiatrie.
Von Dr. U'evgandt, Privat-Docent in Würzburg.
^ chutz des P11 b 1 i c u m s v o r d c n P s v -
chiateni, betiteln sicli zwei Aufsätze dieser
Zeitschrift, der eine in Nr. 7 von Dir. Pfaus -
ler-Valduna, der andere in Nr. 10 von Primar¬
arzt Dr. S a 1 g o - Budapest. Der merkwürdige
Titel kann von vorn herein eine Fülle von
Associationen wecken, die ungefähre Vermuthungen
des Inhalts betreffen. Denkt ein Autor etwa an die
Smht mancher Fachgenossen, jede auffallende histo¬
rische Erscheinung sofort in die Kategorien eines
psychiatrischen Lehrbuchs unterzubringen, wie z. B.
Lombroso den Entdecker Columbus als Paranoiker
kostüinirt hat? Oder an die Neigung, alle mög¬
lichen Erscheinungen unserer Litteratur auf ihre Zu¬
gehörigkeit zu einer der v. Kraflt-Ebing'schcn Gruppen
der Psychopathia scxualis hin zu prüfen und bei¬
spielsweise, wie cs schon gesell ah, Göthes Gedieht
„Lilis Park“ als ein Muster des Masochismus hinzu¬
stellen? Oder vielleicht an die voreilige Sucht, auf¬
sehenerregende öffentliche Erscheinungen, wie etwa
die Fälscherfamilie der Humberts, vor jeder Unter-
suchungsmöglichkeit schon psychiatrisch abzustempeln ?
Es handelt sich in jenen zwei Aufsätzen um etwas
Anderes, um praktischere Angelegenheiten, besonders um
forensische Dinge. Auch hier läuft manche psy¬
chiatrische Ansicht und Stellungnahme mit unter, bei
der das Publicum, oder besser gesägt, das öffentliche
Wohl zu kurz kommen kann, so dass jener Hilfruf
gerechtfertigt wäre. Vor allem wäre hier an die
mancherorts bei Grcnzfällen vorkommende Verdreh¬
ung des § 51 Str. G. B. zu denken, indem gelegent¬
lich so geschlossen wird, dass man sagt: Der Rubri-
kat ist zwar nicht geisteskrank im klinischen Sinne, aber
doch, etwa durch seinen hysterischen Charakter, nicht
in der Lage, seinen Willen wie ein Normaler zu be-
thäligcn; die freie Willensbestimmung ist nicht völlig
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318 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29.
vorhanden, folglich ist sie ausgeschlossen. Auf diese
Weise jeden Psychopathen völlig zu exkulpircn,
widerspricht durchaus den Intentionen der Gesetzgeb¬
ung und hat seine schweren socialen Bedenken. Die
Folge davon ist, dass viele Hysterische u. s. w. einen
langjährigen Kreislauf durchleben können, der sie in
Untersuchungshaft, in die Irrenanstalt zur Begutach¬
tung und bald darauf nach der Exkulpirung wieder,
weil ein Grund zur dauernden Anstaltsbehandlung
nicht vorliegt, in die Freiheit führt, wo sich dann aufs
Neue Gelegenheit zur Gesetzesübertretung bietet.
Wer hier die Fürsorge für den Kranken mit dem
Sinn des Gesetzes und der Rücksicht auf das allge¬
meine Wohl vereinen will, hat im praktischen Fall
den Richter darauf hinzuweisen, dass es sich um
ein nicht vollwerthiges, wenn auch nicht um ein im
klinischen Sinn geisteskrankes und den Voraussetz¬
ungen des § 51 ganz entsprechendes Individuum
handelt, worauf es dann Sache des Richters ist, durch
das Surrogat der Zubilligung mildernder Umstände
oder auf andere Weise den geeigneten, relativ besten
Ausweg zu finden. Im übrigen aber besteht für den¬
selben Begutachter . die Pflicht, statt durch eine zu
weitgehende Empfehlung der völligen Exkulpirung,
die dem Allgemeinwohl manchmal in das Gesicht
schlägt und dazu die Psychiatrie nicht selten auf
das Schwerste im Urtheil der Oeflentlichkeit discre-
ditirt, vielmehr auch theoretisch für die Einführung
des Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit
cinzutreten. So dringend auch nach dieser Richtung
hin der Kampf de lege ferenda ist, so kann der Sieg
freilich nur dann erspriesslich sein, wenn gleichzeitig
auch eine besondere Form der Fürsorge für die als
in ihrer Zurechnungsfähigkeit vermindert erkannten
Personen erstritten wird.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäu¬
men, auch gegen die Angriffe Stellung zu nehmen,
die E* Weyer*) in einer umfangreichen Besprechung
meines „Atlas und Grundriss der Psychiatrie“ in dieser
Frage gegen mich unternommen hat. Er sagt (S. 341):
„Das höchste Erstaunen muss aber endlich der Satz
W.’s erregen, dass nur während der Dämmerzustände,
Delirien, Krampfattacken, Stupor- und Schlafzustände
die Hysterischen den Voraussetzungen des § 51 ent¬
sprechen. Das heisst meines Erachtens, das Wesen
der Hysterie völlig verkennen.
Gilt denn die weitgehende Acnderung des Ge¬
fühls- und V01 Stellungslebens bei der hysterischen
Geistesstörung gar nichts ?“ Fälle von „Hysteria
gravis, hysterischer Paranoia, hysterischem Schwach-
*) Centralblatt ftyr Nervenheilkunde und Psychiatrie.
XXV. 1902. Mai, S. 373 ff.
sinn“ u. dgl., wie sie hier und da diagnosticirt werden,
schalte ich von vornherein aus, da ich sie in ihrer
Mehrheit zur Gruppe der Dementia praecox rechnen
muss. Dass ich eine völlige Exkulpirung aller Hyste¬
rischen für grundverkehrt und geradezu socialschäd¬
lich halte, habe ich oben ausgeführt. Aber deshalb
alle Hysterischen, die ausserhalb der Attacken mit
dem Gesetz in Conflict kommen, für völlig zurech¬
nungsfähig zu erklären, was nach Meyers Worten an¬
genommen werden könnte, ist mir nie und nimmer
eingefallen, wie sich schon aus der kursorischen Lec-
türe meiner Ausführungen ergeben muss. Ich habe
nicht nur in dem Kapitel XIV über Hysterie (S. 257)
darauf hingewiesen, dass der Richter mildernde Um¬
stände zu Geltung bringen kann, sondern in dem
Kapitel XI, über die forensische Bedeutung der Geistes¬
krankheiten, gerade als Beispiel ausführlicher den Fall
einer hysterischen Angeklagten gebracht, die vor ihren
Delictcn nur hysterisches Temperament erkennen
liess, aber erst mehrere Monate nach den Delicten
Krämpfe, Dämmerzustände u. a. gezeigt hatte. Es
heisst hierüber S. 156: „Das Gutachten sprach sich
dahin aus, dass die Frau zeitlebens hysterisch sei,
weshalb an sic nicht derselbe Maassstab wie an einen
Vollgcsundcn angelegt werden könne. Während
allerdings zur Zeit der hysterischen Däfnnterzustände
und Anfälle die freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war, hat zur Zeit der Begehung der Handlung ein
Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Stö¬
rung der Geistesthätigkeit, durch welche die freie
Willensbestimmung ausgeschlossen war, nicht existirt.“
Dass in praxi die Anwendung mildernder Um¬
stände oftmals nur eine kürzere Freiheitsstrafe und
damit raschere Rückkehr zur Deliklsgclegenheit erzielt,
verkenne ich nicht. So lang jene Lücke im Gesetz¬
buch wie in der Art der Vollstreckung und Fürsorge
besteht, kommen wir um ein gewisses Laviren und
einen Rest von Unausgeglichenheit des Verfahrens
nicht herum, am wenigsten durch eine zuweitgehende
Anwendung des § 51.
Es sei mir gestattet, auch noch gegen die Vor¬
würfe zu opponiren, die E. Meyer am gleichen Ort
vorbringt hinsichtlich meiner Anwendung der Aus¬
drücke „Täuschung“ und „Simulation“ auf Hysterische.
Es geht meines Erachtens mit nicht misszuverstehen¬
der Deutlichkeit aus meiner ganzen Darstellung her¬
vor, dass ich hier bei Täuschung und Simulation die
pathologische, hysterische Grundlage überall aner¬
kenne. Der Absatz über die gerichtliche Beurtheilung
der Hysterischen (S. 256) beginnt mit den Worten:
„Forensisch ist das Vorkommen von Simulation auf
krankhafter, hysterischer Basis zu beachten“. Von
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 319
einer pathologischen Simulation und Täuschung zu
reden, ist ebenso gerechtfertigt, wie etwa die längst
eingebürgerte Bezeichnung der „pathologischen Lüge“.
In diesem Zusammenhang ist doch bei den Begriffen
Täuschung und Simulation eine mala fides, auf die
offenbar E. Meyer hinzielt, ebensowenig einge¬
schlossen, wie etwa in der von dem allgemeinen
Sprachgebrauch durchaus gedeckten Redewendung „er
hat sich getäuscht“. Bekanntlich wurde von mancher
Seite auch der Ausdruck „geisteskranke Verbrecher“
und „verbrecherische Geisteskranke“ bemängelt, da
nach § 51 die That eines Geisteskranken keine straf¬
bare Handlung, kein Verbrechen sei und somit der
Geisteskranke überhaupt kein Verbrechen begehen
könne; über diese Silbenstecherei ist der forensische
Sprachgebrauch mit Recht zur Tagesordnung über¬
gegangen.
Nach diesen Exkursen komme ich auf die beiden
Aufsätze dieser Zeitschrift zurück. Von all den bis¬
herigen Erörterungen über den Schutz des Publicums
vor den Psychiatern haben die 2 Autoren keine im
Auge gehabt; sie zielten auf etwas anderes.
Director Pfausler hatte in seinem Aufsatz (S. 80)
einen Erlass des österreichischen Justizministeriums
vom Februar 1902 besprochen, wonach bei Begut¬
achtung von in Anstalten befindlichen Geisteskranken
die Beiziehung der ordinirenden Anstaltsärzte zu ver¬
meiden sei. Die daraus erwachsenden Missstände
waren durch einen Fall illustrirt worden. Lebhaft
machte der Aufsatz Front gegen das durch den Er¬
lass den Anstaltsärzten ausgestellte Misstrauensvotum
und gegen die unberechtigte Ansicht, als sei auf diese
Weise ein „Schutz des Publicums vor den Psychiatern“
zu erstreben.
In dem 2. Aufsatz (S. 190) erhebt Dr. Saig/»
Opposition gegenüber den Ausführungen Pfauslers.
Er giebt zu, dass das Urtheil auch fachmännisch vor¬
gebildeter Gerichtsärzte doch nicht so zutreffend sein
kann wie das der Anstaltsärzte; trotzdem gelangt
er zu entgegengesetztem Schluss wie Pfausler. Er
betont den schwerwiegenden Eingriff, den eine Ent¬
mündigung darstellt, und die daraus resultirende Noth-
wendigkeit weitgehender Cautelen bei dem Verfahren.
Ferner verweist er darauf, dass sich auch ein Anstalts¬
arzt optima fide irren kann. Daraufhin schliesst er:
„Wenn dem so ist, hat man wohl Grund zu sagen,
dass das Gutachten des Anstaltsdirectors zur Verhängung
des Curatel, d. h. zur Vernichtung einer Individua¬
lität ganz ungenügend sein muss.“
Um diese Vergewaltigung der Logik vollkommen
zu verstehen, sei der Leser daran erinnert, dass in
Oesterreich wie in Deutschland das Gutachten des
Sachverständigen keineswegs ausschlaggebend und
bindend für den Richter ist, sondern dass erst ein
gerichtlicher Beschluss, der nach freier Würdigung
des Gutachtens erfolgt, die Entmündigung wirklich
ausspricht. Ja, genau gesagt, die Cautelen sind in
Oesterreich noch strenger als in Deutschland, insofern
dort zur Curatelverhängung, wie übrigens auch in
kriminellen Fällen bei der Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit, stets die Untersuchung und Begutachtung
durch zwei Aerzte vorgeschrieben ist. Uebrigens
giebt es ja auch Berufung, sowie Rehabilitation.
Was aber fernerhin zum Widerspruch herausfor¬
dert und mich in erster Linie zu meiner Aeusserung
veranlasst hat, sind die verallgemeinernden Folgerungen,
die Salgo aus seiner Stellungnahme zieht.
Er begreift nicht, „wie und warum diese Frage
eine psychiatrische werden konnte.“ Zunächst sei be¬
tont , dass die Frage der Zwangsintemirung und die
der Entmündigung eines Geisteskranken keineswegs
so unlösbar verknüpft sind, wie es nach Salgos Aus¬
führungen scheint. Weiter wird gesagt, es könne dem
Irrenarzt gleichgültig sein, wie sich der Jurist mit der
Entmündigung abfindet; wäre gesetzlich zur Entmün¬
digung allein die richterliche Ueberzeugung erforder¬
lich, so hätte der Irrenarzt auch dem gegenüber kein
Recht sich aufzulehnen. Der Psychiater diene seinen
Kranken vollauf, w’enn er ihre Heilung oder Wartung
besorge, die Erledigung der an die Geistesstörungen
geknüpften rechtlichen Fragen sei anderen Kreisen
zu überlassen. Bedauerlich sei es, dass man über¬
haupt von einer „forensischen Psychiatrie“ spreche.
Hier ist nun aber doch auf das Entschiedenste
Einspruch zu erheben, auch ohne dass man an das
von Salgo citirte Selbstgefühl oder die Empfindlich¬
keit des Irrenarztes zu appellieren braucht.
I. Es ist nicht richtig, dass sich die Psychiatrie
allein eine forensische Nebendisciplin geschaffen hat.
Die gerichtliche Medicin macht Anleihe bei einer
Reihe medicinischer Disciplinen, bei der pathologischen
Anatomie, Chirurgie, Geburtshilfe, Pharmakologie u. s. w.
Es ist zugegeben, dass das Wichtigste, was der Ge-
richtsarzt aus diesen Disciplinen wissen muss, ihm
schon im allgemeinen inedicinischcn Studium geboten
wird. Keineswegs aber jedes und alles. Die Fragen
der Leichenschau, des Selbstmords, der Kindesabtreib¬
ung u. s. w. werden zum Theil gar nicht, zum Theil
nur ganz kursorisch von jenen Disciplinen behandelt,
so dass der Unterricht in der gerichtlichen Medicin
auch hier noch eine Reihe ganz specieller Aufgaben
zu erledigen hat, weshalb sehr wohl von einer foren-
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320
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20.
sischen Seite der pathologischen Anatomie u. s. w.
gesprochen werden kann.
In ganz analoger Weise hat sich in Deutschland
seit der Unfallgesetzgebung als wohlberechtigte Dis-
ciplin die Unfallheilkunde eingebürgert, obwohl die
rein medicinischen Vorkenntnisse dieses Fachs schon
beim Studium der Chirurgie, Neurologie u. s. w. er¬
worben werden.
2. Während nur ein geringer Procentsatz der Sek¬
tionen oder der Aborte u. s. w. die rechtliche Sphäre
berührt, ist fast jeder psychiatrische Fall mit recht¬
lichen Fragen verknüpft, so dass sich hier eine Zu¬
sammenfassung der einschlägigen Fragen zu einer be¬
sonderen Disciplin viel eher erklärt als in der patho¬
logischen Anatomie, der Geburtshilfe u. s. w. Civil-
rechtliche Fragen werden ja überhaupt fast nur an
den Psychiater gerichtet.
3. Besonders zu betonen ist, dass die den patho¬
logischen Anatomen, Chirurgen u. s. w. gestellten
gerichtlichen Fragen sich doch in einem wesentlichen
Punkt von den dem Psychiater vor Gericht vorge-
legten Fragen entscheiden. Der pathologische Ana¬
tom, der Geburtshelfer u. s. w. liefert mit seiner Un¬
tersuchung und Aussage vor Gericht nur Beiträge
zum Thatbestand, so gut wie etwa ein Bücherrevisor,
der in einem Fall von betrügerischem Bankerott als
Sachverständiger herangezogen wird. Das jedoch,
was der Psychopathologe in kriminellen Angelegen¬
heiten zu eruiren hat, betrifft die Stellung des Sub¬
jekts,. die Kernfrage des gerichtlichen Verfahrens, die
Schuldfrage, mag auch die letzte Entscheidung dem
Richter überlassen bleiben.
Seitdem die Psychiatrie im Laufe des XIX. Jahr¬
hunderts überhaupt zur Entwicklung gekommen ist,
haben es die Irrenärzte als eine ihrer Hauptaufgaben
angesehen, ihre Kranken nicht nur von den Ketten
und Kerkermauern der alten Anstalt zu befreien,
sondern sie auch vor den Maassregcln des Straf¬
richters und dem Makel der Schuld zu bewahren.
Noch vor 70 Jahren hatten die Aerzte ihre Compc-
tenz auf diesem Gebiet vielfach zu vertheidigen. Alle
Verbesserungen nun, die in der Behandlung wie auch
in der gerichtlichen Beurtheilung des Irrsinns erzielt
wurden, sind der Initiative der Irrenärzte zu verdanken.
In leider recht zahlreichen Fällen beschränken sich
die Dienste, die der Irrenarzt seinen Kranken über¬
haupt zu erweisen vermag, ja grade auf die forensi¬
sche Unterstützung, während von einer Heilung oder
Besserung der Krankheit selbst nicht die Rede sein
kann.
Die Behandlung der verwickelten Fragen, die dem
Irrenarzt von juristischer Seite gestellt werden, er¬
fordert eine gewisse Schulung, weshalb die üblichen
Vorlesungen und Cur.sc über gerichtliche Psychiatrie
dringend erforderlich sind. Dass die Zurechnungs¬
fähigkeit oder freie Willensentschliessung einer medi¬
zinischen Methode nicht zugänglich ist, kann kein
Grund sein, ein ärztliches Urtheii darüber abzulehnen.
Auch die ärztliche Prognose einer Geisteskrankheit
ist nicht durch Methoden festzustcllen, sondern sie
stellt eine Sache klinischer Erfahrung dar.
Dass die Vorurtheile gegenüber der Psychiatrie
von einer Verquickung der ärztlichen Wissenschaft
mit juristischen Begriffen herrühre, ist unzutreffend.
Diese Vorurtheile beruhen vielmehr einmal auf der
Furcht und dem Widerwillen vor dem Irrsinn selbst,
was sich dann auf den Irrenarzt überträgt, ferner auf
der Furcht vor vermeintlichen Ucbergriffen der Irren¬
behandlung in Gestalt von Freiheitsberaubung und
Misshandlung, und schliesslich auch auf manchen
Uebertreibungen mit der Exkulpirung in der Weise,
wie ich oben solche angedeutet habe, oder durch un¬
gerechtfertigte Versuche, Begriffe der Kriminalpsycho¬
logie, etwa des Delinquente nato, verfrüht auf die lex
lata anzuwenden.
Gegen diese Vorurtheile lässt sich nun keineswegs
dadurch ankämpfen, dass die Irrenärzte die Hände
in den Schoss legen und sich vor jeder Berührung
mit juristischen Fragen zurückziehen. Die Juristen
selbst würden ja wohl bald genug ihr Veto einlegen. Die
ursprünglich von Mendel*) vertretene Ansicht, wonach
der Irrenarzt sich nur über die erste Hälfte des £
51 im deutschen Str. G. B. auszusprechen habe und
jede Aeusserung über „Willensfreiheit“ ablehncn müsse,
verliert übrigens doch immermehr Anhänger zu Gunsten
der Anschauung von Jollv, dass der Arzt als Berather
des Richters zum Sachverständigen berufen wird und
dadurch moralisch verpflichtet ist, mit allen Mitteln
zur Urtheilsbildung mitzuwirken, mithin auch die
Frage nach der freien Willcnsbeslimmimg zu beant¬
worten. Hatte die resignirtc Mendel sclie Auffassung
des $ 51 noch eine, wenn auch wenig kräftige Stütze
in den Motiven des die eine Zweitheilung der Be¬
stimmung desselben in freilich recht unklarer Weise
betonten, so kann auf zivilrechtlichem Gebiet von einer
Beschränkung des Gutachtens auf eine klinische Aus¬
sage keine Rede sein. Dass eine rein klinische Auf¬
fassung der Begriffe „Geisteskrankheit“ und „Geistes¬
schwäche“ im § () des B. G. B. völlig fehl ginge, ist
so gut wie allgemein zugestanden.
*) Der ärztliche Sachverständige und der Ausschluss der
freien Willensbestimmung des § 51 St. G. B. Vierteljahrsschrift
f. gerichtliche Medizin, 44, S. 116.
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I0O2.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 321
Ein Verzicht auf forensisch - psychiatrische Bc-
thätigung, wie er durch Salgos Aufsatz empfohlen
wird, ist nicht nur direct abzuweisen, sondern im
Gegentheil sollten die Psychiater ihre Anschauung
noch weit eindringlicher zur Geltung bringen, als es
bisher geschah. Volle Beistimmung verdient Aschaffen-
burgs*) Ausspruch: „Auf diesem Gebiet müssen die
Irrenarzte die Führung zu erlangen suchen und in
grossen Zügen die Grundlage feststellen, auf denen
der Strafrechtsichrer seine Gesetze aufbauen kann.“
Mag man eine derartige Stellungnahme immerhin „ein
Aunebnen gegen das Gesetz“ nennen. Jedes Gesetz
ist eine zeitliche Einrichtung und bedarf der Weiter¬
entwicklung, die am besten von denen, die es angeht
und die Sachkenner sind, angeregt wird. Die es an¬
geht, sind in unserem Fall zunächst die Kranken, ihre
Sachwalter und Sachverständige sollten die Irrenärzte
sein. Freilich ist immer streng zu unterscheiden, wie
sich 1. der Psyc hiater als Gutachter in dem einzelnen
Fall verhalten soll, wo er sich streng an die bestehenden
Gesetzesformeln zu binden hat und höchstens, wie in
dem angeführten Beispiel der Begutachtung einer Hyste¬
rischen, auf die Punkte Hinweisen darf, die nach dem
bestehenden Recht eine glatte Erledigung erschweren,
und dann 2., wie sich im übrigen der Psychiater de
lege ferenda zu stellen hat.
Von einem „Schutz des Publicums vor den Psy¬
chiatern“ kann man wohl reden in dem Sinne, wie
ich cs in der Einleitung angedeutet habe. Es sind
Warnungen in verwandtem Sinne von irrenärztlicher
Seite schon öfter erhoben worden. Manchmal freilich
sind Erörterungen über Verantwortlichkeit, Kunstfehler,
Berufsgeheimniss auch schon mit solcher Schärfe vor¬
getragen worden, dass man eher einen Staatsanwalt,
als einen Irrenarzt zu hören glaubte.
In der Stellung gegenüber forensischen Fragen
haben wir jedoch im Interesse unserer Kranken selbst
keinen Schritt zurückzuweichen. Die angedeutete
Fortentwicklung der gerichtlichen Psychiatric berührt
die heutige Praxis noch nicht direct. Dass dabei
Uebertreibungen zu vermeiden sind, wie sie etwa das
oft Kritik- und methodcnluse Vorgehen Lombrosos
zeitigte, ist selbstverständlich. In welchem Sinne die
Fortentwicklung am gedeihlichsten geschehen kann,
darüber brauche ich nur auf den Vortrag von Dir.
Frau k-Mtinsteilingen **J zu verweisen. Vor allem die
Ausbildung der Aerzte und Juristen ist es, bei der
*) Hoclies Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. Berlin
1901. S. 4.
**) Strafrechtspflege und Psychiatrie, Psychiatrische Wochen¬
schrift III, 1901, No. 37, S. 359.
zuerst der Hebel angesetzt werden muss. „Es
sollten hierzu,“ sagt Frank u. a., „die Anstalts-
directoren, besonders natürlich die Universitäts¬
professoren besondere practische Curse ertheilen, wie
das durch Professor Kräpelin in Heidelberg und von
Speyr in Bern schon geschieht.“
Bemerken möchte ich hier, dass in mehreren
Zeitschriften bei der Besprechung dieses Vortrags der
Referent hinter die beiden Universitätsnamen in Paren¬
these eingefügt hat: „und an den meisten deutschen
Kliniken!“ Diese Referentenbemerkung ist durchaus
unzutreffend. Was bisher an den meisten deutschen
Kliniken in forensischer Hinsicht geboten wird, sind
einmal rein theoretische Vorlesungen über gerichtliche
Psychiatric, allenfalls auch Vorlesungen über criminelle
Anthropologie und Psychologie, und dann Curse, in
denen wohl forensische Fälle vorgestellt und vom
Docenten besprochen werden, w'omit aber keineswegs
das erreicht ist, was Frank im Auge hat. Es sind
vielmehr in dem Vortrag Curse gemeint, an denen
Studenten der Medicin und solche der Jurisprudenz aktiv
theilnehmen; vor jeder Stunde haben sich ein Jurist
und ein Medicin er die Acten oder ein Actenexzerpt,
sowie den Rubrikaten anzusehen; im Curs trägt dann der
Jurist den Thatbestand vor und formuliert die an
den Sachverständigen zu stellenden Fragen, der Medi-
ciner versucht sich darauf in einer psychiatrischen
Beurtheilung des Falls und Formulirung des Gut¬
achtens. Darauf greift der Docent ein, der Rubrikat
wird eingehend demonstrirt und die Corona betheiligt
sich durch Fragen, ev. Einwände u. s. w. an der
Klarlegung des Falls. Diese ausgezeichnete didaktische
Methode ist keineswegs an vielen Kliniken im Ge¬
brauch. Noch wirksamer könnte dGr Unterricht sein,
wenn auch ein kriminalistischer Docent sich an den
Cursen beth eiligen würde, wie es meines Wissens in
Prag versucht worden ist.
Freilich ist die Psychiatric noch eine w r enig fort¬
geschrittene Disciplin. Durch Resignation wird sie
aber nicht besser; viel eher kann das Interesse für
die psychiatrische Forschung gew r eckt werden durch
den Hinweis auf die eminenten Aufgaben, die eine
entwickeltere Stufe unseres Fachs zu lösen oder doch
wenigstens zu bearbeiten im Stande w r äre. Vorläufig
sind es nur wolkenferne Zukunftsbilder, die Möbius*)
in einem anregungsreichen Aufsatz entwarft: „Will
aber der Psychiater diese Aufgabe recht erfüllen, so
darf kein Gebiet geistigen Lebens ihm fremd sein,
er muss überall zu Haus sein, um die Bedingungen
geistiger Gesundheit zu kennen, wie der Hygieniker
*) Psychiatrie und Litteraturgeschichte, in Stachyologic,
Leipzig 1901, S. 54 u. in dieser Wochenschr. I, S. 18.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29.
322
die verschiedenen Gewerbe, Fabrikbetriebe u. s. w.
kennen muss als die Bedingungen körperlicher Ge¬
sundheit. Fasst man die Psychiatrie so auf, so wird
sie aus einer Magd zu einer Herrscherin. Dann aber
wird sie das, was sie ihrer Natur nach sein soll.
Der Psychiater wird ein Richter in allen menschlichen
Dingen, ein Lehrer des Juristen und des Theologen,
ein Führer des Historikers und des Schriftstellers“.
Es ist wohl noch nicht vergessen,, wie vor 2 Jah¬
ren auf der Versammlung des Vereins deutscher
Irrenärzte zu Halle, anlässlich der Debatte zu Wollen¬
bergs Referat, die Psychiater mehrfach den Zeitpunkt für
wenig opportun bezeichneten, mit neuen Vorschlägen
an die Juristen heranzutreten, bis ein anwesender
Criminalist, Liepmann, darauf aufmerksam machte, dass
man auf juristischer Seite vielfach darauf warte, ob
nicht die Psychiater die Initiative ergreifen würden;
die damals in Aussicht genommene Enquete betreffs
eines der actuellsten Probleme, wie die Häufigkeit
der Fälle, in denen die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit psychiatrisch angebracht erscheint, ist freilich
rasch in Vergessenheit gesunken. Es bleibt jedem,
dem die Fortentwicklung des Fachs am Herzen liegt,
nichts anderes übrig, als immer von neuem seiner
Ueberzeugung von der Berechtigung und Dringlich¬
keit der nächsten Aufgaben Ausdruck zu geben.
Gerade solchen resignirten Acusserungen gegenüber,
wie sie Salgo laut werden Hess, erscheint die dringende
Mahnung an die Fachgenossen angebracht: tua res
agitur!*)
*) Während der Drucklegung dieses Aufsatzes erschien am
7. 10. die allgemeine VeifÜgung des preussischcn Justizmini¬
steriums, wonach als Sachverständige bei Entmündigungssachen
regelmässig der Gerichtsarzt, erforderlichen Falls sein Assistent
zugezogen werden sollen, andre Personen nur dann, wenn be¬
sondere Umstäude es erfordern, gegenüber der Verfügung vom
28. 11. 1899, die als Sachverständige in erster Linie solche
Personen bestimmt, die auf dem Gebiet der Irrenheilkunde be¬
sondere Erfahrung besitzen. Auch jener Neuerung gegenüber,
die sowohl für die Kranken, wie auch für die Psychiater ihre
bedenklichen Seiten hat, gelten die Ausführungen Dir. Pfauslers,
sowie meines obigen Aufsatzes. Es wäre dringend angebracht,
wenn die verschiedenen psychiatrischen Versammlungen, die
demnächst in Dresden, Stuttgart u. s. w. tagen, sofort in
Resolutionen gegen die Verfügung vom 7. 10. Stellung nehmen
würden.
-ww-
M i t t h e i
— Programm der am 26.—27. Oktober in
Budapest stattfindenden II. Landesconferenz
der Irrenärzte Ungarns.
25. Oktober.
Begrüssungsabend (Hotel „Istvan Jöhcrczeg“ V.
Akademia u.)
26. Oktober.
Vormittag. I. Constituirung. 2. Sekretärsbericht.
3. Referate: a) ,.Die Grundprincipien des Irrenge¬
setzes“, Ref. v. Schwartzer. b) „Die neueren Grund¬
sätze der Irrenbehandlung“, Ref. Lechner und von
O 1 a h.
Nachmittag. Referate: „Die Unterbringung ver¬
brecherischer Geisteskranker.“, Ref. Moravsik. b) „Der
Rechtschutz der Geisteskranken“, Ref. Konrad und
Markus, c) „Alkoholismus“. Ref. Stein und von
Reusz.
27. Oktober.
Vormittag. 1. Referat: „Die sexuellen Perversitäten
vom psychiatrischen und strafrechtlichen Gesichts¬
punkte“, Ref. Salgo und Baum garten.
2. Vorträge: Schaffer: „Weitere Beiträge zur
Rindentopographic der Paralyse.“ v. Sarbo: „Die
Bedeutung des Achillessehnenreflexes bei der progr.
Paralyse.“ Donath: „Durch Spiritismus hervorge¬
rufene Fälle von Hvsteroepilepsie.“ B a 1 i n t: „Die
diätetische Behandlung der Epilepsie“.
Nachmittag. 1. Vorträge: Kentle: „Ueberdie Für¬
sorge der Schwachsinnigen und Idioten in den Staaten
1 u n g e n.
Europas“. Hajos: „Ueber die wissenschaftliche Er¬
kennung des normalen psychischen Lebens“. Decsi:
„Ueber die Pflegerfrage“. Hollos: „Beiträge zur
Paralyse in Ungarn“. Frey: „Histologische Präpa¬
rate eines Falles von Idiotismus“. 2. Eventuelle An-
träge. 3. Sekretärs-Bericht. 4. Schlussrede.
28. Oktober.
1. Besichtigung des elektromagnetischen Instituts
(Varosligeh Jasor 13.) 2. Ausflug nach Pomaz behufs
Besichtigung der Dr. Martin’schen Heilanstalt.
Die Sitzungen finden im Lokale des Kgl. Acrzte-
vereins. (Bentkiralyintoxa 21) statt.
— VII. Jahresversammlung des Vereins
abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets
zu Karlsbad. 1. Sitzung am 24. September 1902.
Professor K a s s o w i t z (Wien) spricht über „Nahrung
und Gift“. Von der Ansicht ausgehend, dass die
Nahrung als Heizmaterial für die Lebewesen diene,
und unter Zugrundelegung des Princips der Kraftum¬
wandlung wurde schon von R. Meyer rein theoretisch
deduziert, dass der Alkohol, da er im tierischen oder
menschlichen Körper verbrenne, auch die Funktionen
einer Nahrung ausüben müsse. Diese Deduktion
steht oder fällt aber mit der Voraussetzung, dass die
Nahrungsmittel im Körper einfach verbrennen. Hier¬
für ist jedoch der Beweis nirgends gebracht worden.
Dagegen wissen wir sicher, dass die Nahrung wenigstens
zum Theil als Baumaterial für den Körper
dient, während uns keine einzige Thatsache zu der
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1902.]
323
Annahme nötigt, dass irgend ein Nahrungsstoff im
Körper verbrennt, ohne sich vorher an seinem Auf¬
bau, d. h. in erster Linie am Aufbau der Protoplasmas
betheiligt zu haben. Es ist nun die Frage zu beant¬
worten, ob neben dem metabolischen Stoffwechsel,
der dadurch characterisirt ist, dass die Nahrung zu¬
nächst das lebende, assimilirende Protoplasma auf baut,
und dass die Stoffwechselprodukte erst durch Zerfall
dieser Protoplasmas entstehen, und der für einen ge¬
wissen Teil der Nahrung ganz sicher vorhanden ist;
ob neben dem bewiesenen metabolischen auch der
katabol isehe Stoffwechsel m öglich ist, d. h. der
unmittelbare Zerfall, die direkte Verbrennung der
Nahrungsstoffe. Die Untersuchungen über den Alhohol
beweisen, dass ein solcher katabolischer Stoffwechsel
nicht stattfindet. Dass der Alkohol ein narkotisches
Gift ist und jedes lebende Protoplasma zerstören kann,
ist eine bekannte Thatsache. In der Anschauung,
die seit R. Meyer rein dogmatisch geglaubt wird, dass
der Alkohol, der ein Gift ist, zugleich ein Nahrungs¬
stoff, ein Stärkungsmittel sei, sehen wir ein Paradoxon,
das von einem anderen Gifte zu behaupten keinem
Menschen einfällt. Andererseits giebt es keinen wirk¬
lichen Nahrungsstoff, der zugleich das Protoplasma
zerstört. Das Experiment kann die Frage entscheiden.
Chauveau liess einen Hund bei bestimmter Nahrung
arbeiten; das Thier leistete täglich eine bestimmte Ar¬
beitsmenge und nahm dabei am Körpergewicht zu;
die Nahrung des Hundes wurde dann so verändert,
dass, während alles übrige gleich blieb, eine bestimmte
Menge von Kohlenhydrate durch eine Alkoholmenge
ersetzt wurde, die, unter Voraussetzung deskatabolischen
Stoffwechsels, den fortgelassenen Kohlenhydraten gleich¬
wertig war. Wenn auch der Alkohol nährend wirkte,
hätte sich nichts ändern dürfen. Das Versuchsthier
leistete jedoch in der Alkoholperiode täglich nicht nur
weniger Arbeit, was mit auf Rechnung der einschläfernden
Wirkung des Alkohols zu setzen ist, sondern es
magerte auch ab! während doch bei geringerer
Arbeitsleistung und gleicher Nahrung eine noch grössere
Zunahme des Körpergewichtes hätte stattfinden müssen.
Der Versuch beweist also, dass der Alkohol als Gift
nicht nährend wirken kann, sondern nur das Proto¬
plasma schädigt. Aus dieser Erkenntniss heraus werden
wir wohl in Zukunft auch darauf verzichten, schwache
und kranke Menschen mit Alkohol stärken zu wollen
und in Spitälern und Krankenhäusern für Alkohol
grosse Summen auszugeben, die besser anders ver¬
wandt werden können, zu wirklicher Aufbesserung der
Ernährung.
Die Wissenschaft kann irren; ein folgenschwerer
Irrthum ist die Proklamirung des Alkohols als Nahrungs¬
und Stärkungsmittel gewesen. Aber die Wissenschaft
selbst wird durch ihren Fortschritt ihren Irrthum und
so auch den Alkoholirrthum wieder korrigiren.
In der Discussion sagt Prof. Hueppe (Prag), dass
zwischen Nahrung und Gift doch kein solcher principieller
Gegensatz bestände, da die wichtigsten Nahrungsmittel, in un¬
geeigneter Form eingeführt, schwere Gifte seien; dabin ge¬
hörten Pepton und Fettsäuren, die trotzdem jeder Mensch täglich
in Mengen aufnähme. Man müsse die Entgiftungsfähigkeit des
Körpers berücksichtigen, die auch den» Alkohol gegenüber vor¬
handen sei. Theoretisch liege die Sache so, dass der Körper
mit bestimmten kleinen Mengen Alkohol wohl fertig werde,
wie er mit dem Pepton fertig werde; practisch jedoch so,
dass es trotz des Entgiftungsmechanismus nicht günstig sei, ihn
zu viel in Anspruch zu nehmen, da die Gefahr bestände, die
Grenzen nicht einzuhalten und nebenbei die Giftwirkung her¬
vortreten zu sehen. Redner selbst habe bei sich und andern
die Erfahrung bedeutend erhöhter Le is tu ngsfähigkeit
bei Abstinenz gemacht. Er weist schliesslich auf die Wich¬
tigkeit der Körperübungen im Kampfe gegen den Alkohol hin.
Prof. Rosemann (Greifswald) übt Kritik an den Ex¬
perimenten Chauveaus, betont jedoch, dass der Alkohol, wenn
ihm auch theoretisch eine nährende Funktion zuertheilt werden
müsste, praktisch doch kein Nahrungsmittel sei, da
bei den nöthigen Mengen die Giftwirkung in den Vordergrund
träte.
Dr. Sicking er (Brünn) weistauf die Erfahrungen unter
den österreichischen Weinbauern hin.
Dr. Rumpf (Graz) erwähnt die Abstinenz der meisten
Bergführer bei Ausübung ihres Berufes.
Dr. Lenzmann (Duisburg) betont den Unterschied zwischen
Stoffen wie Pepton und Alkohol, die sich gar nicht so ohne
weiteres vergleichen lassen Der Körper mache aus dem Pepton
eine Substanz, die zum Aufbau diene, aus dem Alkohol aber
eben nicht. Kleine Mengen Alkohol schädigen allerdings z. B.
noch nicht die gröberen Leberzelleu, aber in sehr merkbarer Weise
doch die am feinsten organisirten Nervenzellen des Gehirns.
Prof. K a s s o w i t z kommt auf den fundamentalen
Unterschied zwischen Pepton und Alkohol zurück:
Pepton wird während der Aufsaugung im Verdauungs¬
organ verändert, im Blute findet sich kein Pepton mehr;
der Alkohol dagegen wird unverändert resorbirt und
ist als Gift im Blute vorhanden. Seiner Ansicht,
dass kein Stoff zugleich Nahrung und Gift sein könne,
sei durch keine empirische Thatsache der Boden ent¬
zogen worden. Die Abstinenz, zumal der Aerzte,
sei jetzt aber practisch das Wichtigste, was in der
Alkoholfrage geschehen könne. (Schluss folgt.)
— Zum neuesten preussischen Justizministe¬
rialerlass für das Entmündigungsverfahren. Der
preussische Justizministerialerlass vom 28. XI. 1899
über das Verfahren bei Entmündigungen wegen Gei¬
steskrankheit oder wegen Geistesschwäche besagte:
„Die Wahl von Sachverständigen ist in erster
Linie auf solche Personen zu richten, welche auf
dem Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf
besonderer Erfahrung besitzen. Sind solche
Personen nicht zu erreichen, so ist die Wahl, wenn
möglich, auf einen Kreisphysikus (Kreisarzt) oder
wenigstens auf einen zu diesem Amte geprüften Arzt
zu richten“. Kaum sind drei Jahre verflossen, und
wir sehen seitens derselben Behörde diesen Erlass
aufgehoben und durch einen anderen, vom 7. d. Mts.
datirten, ersetzt, der gemäss dem § 404, Abs. 2 der
neuen Civilprocessordnung („Sind für gewisse Arten
von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so
sollen andere Personen nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände es erfordern“) bestimmt,
dass der Gerichtsarzt (Kreisarzt) als der für medici-
nische Angelegenheiten *) öffentlich bestellte Sachver¬
ständige, erforderlichenfalls dessen Assistent, zu Ent¬
mündigungssachen regelmässig zu wählen ist. —
Sofern dieser Wandlung der Dinge etwa die Ansicht
zu Grunde liegen sollte, dass die Kreisärzte — diese
Institution als Ganzes genommen — zufolge ihrer
Vorbildung und Erfahrung im Stande sind, die Irren-
*) doch nicht für alle möglichen!
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324 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20.
ärzte von Fach, also die Specialärzte, bei der Be¬
gutachtung krankhafter Geisteszustände zu ersetzen,
so waltet ein folgenschwerer Irrthum ob. Die bei
den Kreisärzten vorhandene Kenntniss der gericht¬
lichen Psychiatrie beruht auf deren Studium in der
psychiatrischen Klinik einer Universität oder im gün¬
stigeren Falle auf einem 1 / i — 1 / 2 jährigen informato¬
rischen Cursus in einer Irrenanstalt; später, im Amt,
haben sie nur immer vereinzelt mit psychiatrischen
Fällen zu thun. Sie haben daher gar nicht ein¬
mal Gelegenheit, sich d e n Grad der practischen
Erfahrung und wissenschaftlichen Vertiefung in Bezug
auf psychiatrische Dinge zu erwerben, wie die An¬
staltsärzte und überhaupt die Specialärzte, welche
mitten in dieser Wissenschaft darin stehen, die was
sie ist und was sie wird, eben den Irrenärzten ver¬
dankt, aber nicht im Geringsten den Kreisärzten.
Oder hat an den Hand- und Lehrbüchern der ge¬
richtlichen Psychiatrie von Hochc, Cramer,
Delbrück, v. Krafft-Ebing etc., überhaupt an den vielen
Lehrbüchern der Psychiatrie ein Kreisarzt mitgearbei¬
tet? Wenn in der deutschen Irren- und Nervenheil¬
kunde so intensiv gearbeitet wird, dass die sieben
bis acht Fachzeitschriften den Stoff kaum bewäl¬
tigen, haben die Kreisärzte etwa daran einen A11-
theil? Sind sie überhaupt in der Lage, sich gegen¬
über so intensiver Forschung mit ihren Kenntnissen
auf der Höhe der Zeit zu halten ? Es ist wahrlich
etwas Anderes, bacteriologische oder Brunnenwasser-
untersuchungen zu machen und den Geisteszustand
eines kranken „Ichs“ zu analysiren.
Da nun aus obigen und sonstigen Gründen der
neue Erlass, dessen Zweck, wie ein Berliner Blatt
meint, kaum ein anderer sei, als das vielfach sehr
magere Einkommen der Kreisärzte aufzubessern, nicht
als Fortschritt, sondern als Rückschritt auf dem
Gebiete des Irrenrechts bezeichnet werden muss, so
sei bei dieser Gelegenheit aus der Praxis heraus
ein besserer Reformvorschlag gemacht, dessen In¬
halt zu dem früheren Erlass (vom 28. XI. 1899)
hinzuzufügen wäre und mit welchem dem Publikum
und auch den Richtern gedient sein wird : 1. Bei
denjenigen Amtsgerichten, an deren Sitz
oder in deren Bereich sich zugleich eine
grössere Irren-Epileptiker - oder Idioten-
Anstalt befindet, bei denen also die Ent¬
mündigung eines der gewöhnliebsten Ge¬
schäfte bildet, ist ein Richter anzustellen,
der durch einen l / 2 bis ijährigen Cursus
an einer grossen Anstalt sich einen tieferen
Einblick in die Wissenschaft von den Geistes¬
störungen und ihren concretcn Erscheinungen
verschafft hat. 2. Bei Entmündigung von
nichtinternirten Personen ist wenn irgend
thunlich ein Facharzt als Sachverständiger
zuzuziehen. Bresler.
— Der neue preussische Justizministerial-
Erlass in der Tagespresse. — Vossische Zeitung
(Berlin), 15. X. 1902. Uns wird geschrieben: Die
Aenderung, welche der Justizministcr in dem Ver¬
fahren bei Entmündigung wegen Geisteskrankheit ge¬
troffen hat — es ist darüber in der Montagsausgabe
berichtet worden —, verdient beachtet zu werden.
Worin besteht die Aenderung? In § 14 der All¬
gemeinen Verfügung vom 28. November. 1899 wird
den Amtsgerichten für die Wahl des Sachverständigen in
Entmündigungssachen das folgendeV» »rgehen empf< >1 ilen :
„Die Wahl des Sachverständigen ist in erster Linie
auf solche Personen zu richten, welche auf dem Ge¬
biete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Erfahrung'
besitzen. Sind solche Personen nicht zu erreichen,
so ist die Wahl, wenn möglich, auf einen Kreisphysikus
oder wenigstens auf einen zu diesem Amte geprüften
Arzt zu richten.“ Fortan aber soll als Sachverständiger
in Entmündigungssachen der Gerichtsarzt, d. i. der
Kreisarzt oder sein Assistent, zugezogen werden. Mit
anderen Worten: die Gutachterthätigkeit in Entmün¬
digungssachen wird das Monopol der Kreisärzte. Alle
anderen Aerztc — und wären es auch die erfahrensten
und geschätztesten Irrenärzte — sind, von sicher
ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, von der Mit¬
wirkung bei Entmündigungen ausgeschlossen. Die
bisherige Bestimmung war ohne Zweifel die zwcck-
mässigstc. Sie zieJte darauf ab, als Sachverständige
in Entmündigungssachen gerade diejenigen Aerztc
zu gewinnen, die nach ihrer Ausbildung und ihrem
Können am ehesten befähigt sind, dem Gerichte die¬
jenige Hilfe zu leisten, die eine saehgemässe Durch¬
führung der Bestimmungen über die Entmündigung
am ehesten verbürgt. Und das liegt im Interesse der
Rechtspflege und ist zugleic h ein Mittel, etwa auf¬
tauchende Beschuldigungen, ein Geisteskranker sei zu
Unrecht entmündigt worden, von vornherein zu ent¬
kräften. Kann von den Kreisärzten durchgängig an¬
genommen werden, dass sie in der Beurtheilung
Geisteskranker in der Regel die Erfahrung eines ge¬
schulten Irrenarztes haben, eines Arztes, „der auf
dem Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer
Erfahrung besitzt“, wie cs in der Justizministerial-Ver-
fügung von 1899 heisst? Durchaus nicht. Wohl sind
unter ihnen eine Reihe von Aerzten, die als Assistenten
an Irrenanstalten thätig waren. Die meisten von ihnen
aber haben nur ganz dieselbe Ausbildung in der Irren¬
heilkunde genossen wie die nicht kreisärztlich geprüften
Aerzte. Ihre klinische Erfahrung beschränkt sich auf
das, was sie als Praktikant der psychiatrischen Klinik
sich zu eigen gemacht haben. Der Zweck der neuen
Bestimmung des Kultusministers ist kaum ein anderer,
als das vielfach sehr magere Einkommen der Kreis¬
ärzte aufzubessem; denn trotz des Kreisarztgesetzes
ist an den alten Zuständen nicht allzu viel geändert.
Ob es aber gerechtfertigt ist, um dieses Sonderzweckes
willen eine durchaus gute und im allgemeinen Besten
liegende Anordnung abzuändern , kann nicht fraglich
sein. Noch eines: Die neue Bestimmung erweitert
noch die Kluft zwischen der grossen Masse der aus¬
übenden Civilärzte und den Kreisärzten.
Für den redactionellen Theil verantwortlich; Oberarzt Dr. j . liresler, Kraschnitz (Sch esien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inscratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Ilevnemann’sche Ruchdruckerei (Ge.br. WoliT) in Halle, a, S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. JL Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I* Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Mcercnberg (Holland). Frankfurt a. M,
Prof. Dr. A. Guttotadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
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Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Brßsler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 30 . 25. Oktober. 1902.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhotd in Halle a. S*. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzcile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erraüssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: A propos du Congres d’Anvers. Par M. le Dr. A. Marie, M&lecin en chef des asiles de la Seine a
Villejuif (S. 325). — Mittheilungen (S. 329).
A propos du Congres d’Anvers.
Par M. le Dr. A. Marie , Mädecin en chef des asiles de la Seine ä Villejuif.
y j i question de l’hospitalisation des alienes, fut,
et cela se comprend, une des plus discutees au
congres d’Anvers. 11 y a, en effet, tant & faire encore
ä ce sujet dans toutes les nations civilisees pour arri-
ver a la perfection! Et cette perfection ne consiste
pas, comme on pourrait le croire, exclusivement en
des ameliorations interieures d'asilc. Elle reside, sour-
tout, en des ameliorations morales. II y a diverses
sortes d’alienes: les dangcreux et les malades. Eh
bien! le malade a droit a des attenuations du regime,
fi une liberte qu'il faut lui donner pleine, entiere et
heureuse. Nous sommes deja arrives en France, avec
nos colonies, ä fournir a nos pauvres malades plus
que l’illusion de la libre existcnce. Nos hospitalises
vivent sans contrainte, au grand soleil des pleiues
campagnes, dans latmosphere, reconfoitante et qui
guerit, de la vic familiale chez les particuliers.
Mais il faut commencer par le commencement.
Ce qui a fait l’objet, au congres d’Anvers, de longues
discussions c’est que l’assistance des alienes est fondee,
actuellement en beaucoup de pays sur les etablissements
centralises ou asiles fermes qui sont de plusieurs
sortes: les quartiers d’hospices et asiles prives faisant
fonction d’etablissements publics, et les asiles publics
proprement dits.
Ccs derniers sont di rectement regis par les depar-
tements, a la difference des premiers qui hospitalisent
par traite, a un prix d’adjudication a la joumee,
en quelque Sorte, ä Tentreprise. Or, c’est de la que
vient tout le mal, toute la defectuosite du regime.
Four le departement de la Seine seul, le nombre
total des alienes est d’une quinzaine de mille; la
moitie sculement est assistee directement par le de¬
partement de la Seine.
Le rcste, exactemcnt 5,940 est adjuge aux eta-
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326
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30.
blissements prives ou publics des autres departcmcnts
voire aussi a quelques quartiers d’hospices.
Ce stock de 5,940 est en grande partie compose
de ehroniquegt qui ont dautant moins de cbances
d’etre elargis par sortie ou placemcnt familial qu'ils
constitucnt pour res etablissements qui en entrepren-
nent l’assistance a forfait, une Source de revenus de
la part de la Seine en ineme temps que du fait du
travail de cos chroniques generalement bons automates.
Hcureuscmcnt que l’intervention medicale sait
s’affranchir de telles considerations et restc juge en
demiere analyse des maintenues. Cependant on peut
reprocher a cc point de vue a tous les etablissements
privcs faisant fonctions d'asiles publics rinsuffisante
independance des medecins qui choisis par l’etablisse-
ment lui meine et appointes par lui perdent de ce
fait une partie de Pautorite preponderante qui doit
legitimcinent leur revenir.
A premiere vue ces etablissements prives se char-
geant des premieres mises d’installations et prenant
a forfait des malades a la journee semblent constituer
des institutions avantageuses et economiques.
Neanmoins a les examiner de pres ils reviennent
souvent a une speculation qui consistc essentiellement
a clepc nser pour le malade une somrae quotidienne
infericure a celle qui est allouec par Petat, tous frais
gencraux compris et amortissement des premieres
mises.
On peut donc dire qu’a prix egal ces etablisse¬
ments sont fatalement inferieurs aux etablissements
geres par Petat et dont les bonis peuvent etre appli-
ques a des ameliorations generales exclusivem ent.
Si Pon compare dans ces etablissements la part
budgetaire des frais mcdicaux et administratifs, d’en-
tretiens et ameliorations de locaux et mobiliers, de
pecule aux travailleurs et excedents divers utilises, on
remarque qu’elle est bien moindre que dans les eta¬
blissements publics analogues geres par les departements.
La preponderance de Pelement medical en nombre
comme en autorite reelle y est egalement tres differente.
L’ avenir de P assistance d’ alienes me semble
donc resider dans la reforme des etablissements a
Pentrcprise. Celle reforme a pour pivot la pre¬
ponderance de Pautorite medicale et Paugmentation
du personnel competent corrcspondant. Ses moyens
seront la mise en regio toutes les fois que cela sera
possiblc des etablissements faisant fonctions d'asiles
publics sous Pautorite direetc des pouvoirs publics
s’inspirant uniquement de vues medicales et du bien
des malades.
Le desencombrement des etablissements divers
existants tant en regie qu’ä Pentrcprise devra etre
opere a l’aide de Passistance familiale comme regime
corrollaire employe sur la designation des malades par
les medecins seuls.
Lorsque j'ai cree dans le Cher la premiere colonie
familiale francaise, j’ai choisi dans tous nos Services
de Paris les malades qui me paraissaient les plus calmes,
hommes et femmes; je les ai emmenes et installes
chez Phabitant, suivant mon principe. Je me bäte
de dire, en passant, que les resultats ont ete exeellents
et <]ue, sur plusieurs centaines de ces alienes, bien
peu ont trompe les esperances que j’avait mises en
eux. A peinc avons-nous su compfer quelques suicides
d'hypocondriaqucs. Les conditions realisees la ont
d’ailleurs pu etre appreciees par nos confreres allemands
qui nous ont fait le grand honncur de les visiter;
en particulier Messieurs les Drs. Paetz et Alt.
Je resolus donc de demander au departement de
la Seine de desencombrer les asilcs prives qu'il four-
Tiit de malades et de m’cn conficr un certain nombre
pour nos colonics. On m’y autorisa, je partis donc
pour la Bretagne.
J’arrivai dans le Finistere, dans un hospicc dirige
par des religieux et dont le medecin, ancien major
de la marine, assumait tont le Service medical, ce qui
est notoirement insuffisant vu le contingent des ma¬
lades de Pasile.
J’exposai le but de ma visite, qui consistait a re-
prendre, pour les emmener dans une colonie, tous les
hospitalises de la Seine qu’on voudrait bien me sig-
naler comme absolument inoft’ensifs.
L’administration fit la grimace, puis, comme j’
insistais, le docteur vint a Ja recousse et me declara
que presque tous ses pensionnaires etaient dangereux.
Je voulus les voir et je fis bien, car j’en eramc-
nai le quart c’est a dire deux Cents qui, aujourd’hui,
sont libres quoique sous la tuteile administrative.
Ils ne sont plus astreints aux besognes qui, sans etre
obligatoires, sont peut-etre force es, ce qui est moins
un paradoxe que qa n’en a l'air.
On comprend que l’administration de l’hospice
dont je parle (ils sont legion dans ce cas-la) ne
voyait pas sans deplaisir partir de chez eile deux
Cents pensionnaires pour qui Paris paie un fr. 25 c.
par jour, dont les soins ne necessitent que Tentre-
tien d’un medecin local a faibles honoraires, et dont
le travail rapportc cncore quelques menus avantages.
Eh bien! c'est ce (pi’il ne faut pas laisser subsister.
Le malade ne doit pas etre un chair exploitable. II
faut lui soigner le moral tout autant que le physique
et lui donner le bien-etre a defaut de la raison re-
courree. Et n’est-ce pas, la plupart du temps, le bien-
etre qui guerit?
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
En France, nous avons la dualite du Systeme et
j’espere arriver, avec l’assentiment des savants qui
etudient la question, a faire reduire l’hospitalisation
dans les asiles du genre de ceux dont je parle.
Mais, en Belgique, la Situation est plus grave. Je
m’en suis explique au Congres, et ce n’est pas sans
quelque diplomatie, car j’arrivais pour critiquer les
aimables confreres qui nous avaient invites. J’ai du
prendre, courtoisement d’ailleurs, mais nettement, ä
paitie ceux, qui monopolisent chez nos voisins, dans
leurs etablissements religieux presque tous les alienes.
Vous comprenez bien que l’Etat beige envoyant ses
pensionnaires aux religieux, ceux-ci ont tout interet
a les garder. Ils constituent un rapport, une affaire,
une maison de commerce. Et, a cote de cela, l’Etat
beige est desarme, car, ä la moindre objurgation, les
religieux peuvent lui dire: »Vous voulez vos malades?
Reprenez-les!« C’est bientot dit! Mais, ou les mettre,
puisque nos voisins n’ont pas pour ainsi dire d’asiles
publics ?
Et c’est pour cela qu’il fallait agiter cette grave
question au Congres. Je dois dire que si la Belgique
en grande partic du moins, nous a combattu, les
autres Congressistes se sont rendus aux arguments que
mon excellent collegue le Dr. Alt et moi avons devc-
loppes, notamment les Hollandais, qui, apres avoir
visite aussi nos colonies d alienes, il y a quelques
annees, en ont installe de semblables, je dirai meme
plus, de superieures.
Voici le texte du voeu adopte, a ce sujet:
Le congres einet le voeu que tous les etablisse¬
ments fermes publics ou prives soient pourvus de
medecins en nombrc süffisant (medecins cbcfs, et
assistants residents) et d’organisations annexcs permet-
tant l’application du regiine familial sous une surveil-
lance medicale effective, pour tous les malades actu-
ellement internes qui pourraient en benelicier, suit
commc moven curatif de convalescence, soit comme
moven d’assistance des chroniques tranquillcs aptes
a une libcrte surveillec.
Comme on le voit, c’est le principe de l’assistancc
familiale libre que nous avons devcloppe. Quant a
ce que nous voulons combattre, c’cst la methode d’un
autre age, qui consiste a ne pas considerer les alienes
comme des malades ordinaires meritant des ameliora-
tions materielles, mais a les considerer, un peu trop,
comme une source de benefices.
II ne s’agit pas de supprimcr reffort des initiatives
privees pour y substituer purement et simplement l’Etat;
le 2 doivent coexister et l’initiative privec a fourni
d’admirables et respectables eflbrts.
Mais il faut denoncer cette fausse charite, qui
a y regarder de pres revicnt a une ingenicuse specu-
lation. Et ce que je dis est vrai des orphelinats, d’
enfants, de vieillards, des sourds tnuets, des aveugles,
des idiots comme des alienes et sur toute la ligne
la meme distinction est a faire, c’est partout le meine
Systeme. Mon rapport sur les asiles prives s’applique
ä toutes les categories precitees aussi bien qu’a la
question des alienes.
Cette fausse charite concentre, entre ses inains
sous le masque de la foi, d’un cote tout l’effort de la
charite privec a qui on fait verser le maximuin
pour etablir des batisscs qui au lieu d’appartenir aux
misereux sont inscrites au nom de tel particulier ou
de tel ordre, puis ce proprietaire reclame a letat un
prix de journcc par chaque tete d’assiste, prix d’en-
tretien qui rapporte ä son tour des soinmes dont les
benifices vont aussi a la caisse premiere qui en peut
faire tous les virements possibles. Ces bonis defen-
dables pour les pensionnats payants le sont moins
pour les indigents. De la soite on confisque a son
profit moral et materiel reffort de la charite privee
ainsi que la contribution publique, enfin on exploite
ä volonte le travail de ces serfs d’un nouveau genre
reconstitues au XX em e siede sur le dos de la societc.
Pour les orphelinats religieux il a fallu en France
c^uhin eveque (!) Monseigneur Turinaz de Nancy jette
lui meine le cri d’alarme que Tabus etait flagrant.
Il existe dans l’ordre d’idees des asiles des etablisse¬
ments analogues qu’il importe de reformer ou de sup-
primer; on peut dire que la majorite de ces etablisse¬
ments reste encore a un niveau insuffisant.
Un caractere commun a tous ces etablissements
religieux consiste non pas taut dans l’insuffisancc
materielle du regime et des installations locales que
dans la non comprehension des principes generaux
c[ui doivent dominer essentiellemcnt l’assistance des
malades alienes.
L’autorite medicale est visiblcment tres secondaire
dans ces etablissements, et les medecins sont trop peu
independants des communautes qu’ils deviennent ainsi
incapables d'orienter dans le sens d’un regiine plus
scientifique et plus moderne. Les quartiers sont fre-
quemment en bordure d’une cour commune de 120
a 150 malades dont 1’alimentation et la survcillancc
sont faites en bloc par un nombre aussi minime ejue
possiblc de religieuses, dont l’aptitudc physique est
generalement insuffisante.
Enfin une pratique egalement abusive consiste dans
l’exploitation exageree du travail des malades sans
remuneration süffisante et cela par des moyens de-
tournes tcls que: »Inscriptions au compte recompenses
en nature< de certains vetements ou de certaines
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328 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30.
rations de remplacements; ce qui permet de faire
payer ainsi ä la fois aux malades et au departement
certaines foumitures de vetements et d’alimentation.
Ces critiques suffisent semble-t-il, ä caracteriser les
vices du r£gime d’assistance dans les etablissements
religieux.
En Belgique, il y a trop. d’asiles, Systeme caserne,
ou un grand nombre d’alienes sont rasscmbles pele-
mele dans un espace restraint. Ce sont des serres-
chaudes oü les folies les plus diverses fermentent et
s’excitent, des milieux d’une desesperance effroyable
pour qui conserve encore une lueur de conscience.
A cette Situation penible, se joint la monotonie
d’une existence oü tout est prevu, regle a des heures
fixes, oü rien des emotions ordinaires qui entretien-
ncnt les sentiments affectifs ne vient reveiller la sen-
sibilite emoussee de ces cerveaux malades. Le travail,
cet heureux derivativ des cxcites et des delirants,
n’est pas, ou du moins, est insuffisamment organise.
Le Service medical est incomplet; il n’y a pas de
medecins speciaux: ce sont des medecins civils ordi¬
naires qui se Chargent en meme temps du Service me¬
dical de I’asile erige dans le voisinage. Ces medecins
ne demcurent pas dans I’asile meme corame cela
devrait etre, et leur clientele civile les empeche de se
consacrer, sans arriere-pensec, a l’amelioration du
sort des alienes. Au surplus, ces medecins dnivent se
contenter de traiter les malades, car ils n’ont aucunc
autorite rüelle et la direction du Service general de
I’asile leur echappe totalement. C'est 1 c contre-pied
de ce qui se passe dans les autres pays oü le medecin
seul tient la direction de l’asile.
Cette absence du medecin dans Padministration
meme de l’asile se revele immediatement dans la qua-
lite moindre des gardes-malades et dans les soins dont
on entoure les alienes; les gardes-malades ne re<^oivent
aucune * instruction professionnelle, et on ne semble
meme pas se douter des progres realises a ce point
de vue dans les autres pays.
Chez tcrus les peuples civilises les moycns de con¬
trainte disparaissent progressivement; en Hollande,
ils sont radicalement supprimes dans plusieurs asilcs;
dans d’autres ils sont si rarem ent employ es qc.', dans
le demier rapport triennal officiel, on designc indivi¬
duellement les cas oü Fapplication de contraintes fut
jugee necessaire. Chose inou'ie, en Belgique et d’apres
les demiüres statistiques, Fapplication des moyens de
contrainte augmentent pfogressivement. Voila quel¬
ques points k mediter pour tous ceux qui s’interessent
au sort des alienes.
D’oü proviennent toutes ces defectuosites? Elles
decoulent de ce principe meme de l’assistance des
ali&nüs que n’importe qui, peut, sauf certaines forma-
lites legales, ouvrir, gerer et exploiter un asile d’alie¬
nes. La est le fond de la question.
Du haut en bas de Pechelle aucune garantie de
competence speciale n’est exlgee. Les medecins peu
nombreux, peu payes, non loges et non spccialiscs
sont obliges de s’appuyer sur la ciientüle ordinaire
pour vivre, et l’asile reste une garderie sacrifiee au
lieu de devenir l’hopital des alicncs.
A l’appui de ces vues et de ces critiques je me
suis abrite dans mon rapport sous des temoignages
nombreux dont je ne retiendrai ici que 3 que je me
borne a citer en terminant sans autre commentaire.
„En Belgique, le regime est defectueux. Les
maisons d alienes sont aux mains des particuliers. Je
voudrais refondre tout cela.“ (M. Le Jeune, ministre
d’Etat, au Congres d’Amsterdam, 1901.)
„Les traitements des medecins d’asile de\raient
etre fixes d’une fa^on uniforme et non pas au prorata
du nombre des malades. Vous devinez le motif:
Dans la Situation actuel e, les medecins ont interet
a retenir dans Tasilc des malades qui sont en etat
d etre rendus a la liberte; or, il est toujours mauvais
de placer un homme entre ses iutercts et sa conscien¬
ce. . . N’v a-t-il pas lieu de craindrc que dans les
etablissements prives, les alicncs ne soient victimes
de la cupidite, de l’exploitation ?“ (M. le Dr. Masoin,
a la Socicte de medecine mentale de Belgique, 21
fevrier 189b.)
„L’avenir de lassistance des alienes semble donc
rcsider dans la reforme des etablissements a l’entre-
prise. Cette reforme a pour pivot la preponderance
de Pautorite medieale et l’augmeniation du personnel
competent correspondent. Ses moyens sont la mise
en regie, toutes les fois que cela sera possible, des
etablissements faisant fonction d’asiles publics sous
Pautorite directe des pouvoirs publics s’inspirant uni-
quement de vues medicalcs et du bien des malades.“
(M. le Dr. Lcntz, a la meine Societc, 25 avril 1896.)
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 329
Mittheilungen.
— VII. Jahresversammlung des Vereins
abstinenter Aerzte des deutschen Sprachgebiets
zu Karlsbad. 2. Sitzung am 25. September 1902.
Auszug aus dem Vortrag von Dr. Ad. Frick.
Ottingen*Zürich. Ueber Behandlung fieberhafter
Krankheiten ohne Alkohol. Die heute noch fast
allgemein übliche Behandlung fieberhafter Krankheiten
mit Alkohol ist von England ausgegangen. In Deutsch¬
land haben namentlich Binz und seine Schüler sie
theoretisch zu begründen gesucht. Seither sind die
Indicalionen zwar wieder wesentlich eingeschränkt
worden, in der Praxis ist die Alkoholbehandlung aber
noch sehr verbreitet. Die dem Alkohol zugeschriebenen
Eigenschaften halten jedoch einer sorgfältigen Kritik
nicht Stand, wie für die Eigenschaften als inneres
Antisepticum, Antipyreticum, Excitans im Einzelnen
ausgeführt wird, und namentlich ist der Alkohol
endgültig aus der Reihe der Nahrungsmittel gestrichen,
als welches er beim Fieber besonders empfohlen
worden ist. Die allgemeine Beliebtheit des Alkohols
ist vielmehr auf seine Eigenschaft als Narcoticuin
zurückzuführen. Dag egen hat der Alkohol eine
Reihcvon Eigenschaften, diese hwcreCon-
traindicationen gegen seine Verwendung
am Krankenbette überhaupt und ganz be¬
sonders bei der Behandlung fieberhafter
Krankheiten bilden. Laitinen und Andere
haben experimentell nachgewiesen, dass der Alkohol
die Widerstandsfähigkeit des thierischen Körpers gegen
Infcctionsstoffe herabsetzt. Mit diesen Experimenten
stimmt die allbekannte Thatsache überein, dass Säufer
gegenüber allen Infectionskrankheiten eine viel ge¬
ringere Widerstandsfähigkeit besitzen als Nichttrinker.
Auch die klinische Beobachtung zeigt, dass die Resultate
der Behandlung fieberhafter Krankheiten besser sind,
wenn die Kranken keinen Alkohol erhalten. Man
darf dabei nicht nur keinen Alkohol verordnen, sondern
auch allen Alkoholgenuss während der Krankheit strenge
verbieten. Dem steht das allgemeine Vorurtheil ent¬
gegen, dass es gefähilich sei, Trinkern den Alkohol
plötzlich zu entziehen. Diese Meinung ist aber durch¬
aus unrichtig. Forel und andere haben nach¬
gewiesen, dass es nicht nur ganz ungefährlich
ist, Trinkern den Alkohol plötzlich zu ent¬
ziehen, sondern dass auch Delirium tremens
schneller heilt und seltener zum Tode
führt, wenn dem Pat. sofort der Alkohol
gänzlich entzogen wird. Der Vortragende hat
selbst seine fiebernden Patienten seit mehr als 10 J.
ohne Alkohol behandelt, und auch Trinkern dabei
den Alkohol sofort vollständig entzogen, mit dem
besten Erfolg. Als Hauptvortheile der Behandlung
Fiebernder ohne Alkohol beobachtet man: Viel
weniger Delirien, viel weniger Schwierigkeiten
mit der Ernährung und wesentlich abge¬
kürzte Reconvalescenz. Collapse kommen
dabei viel seltener vor und die Mortalitäts¬
verhältnisse sind günstiger als wenn die
Kranken Alkohol bekommen. Besonders schäd¬
lich wirkt der Alkohol bei solchen fieberhaften Krank¬
heiten, die das Herz schädigen, wie Diphtherie,
oder die Anforderungen an das Herz steigern, wie die
Lungenentzündung, da der Alkohol bekannter-
massen selbst schädlich auf das Herz wirkt. Auch
bei Blutvergiftung und Puerperalfieber ist ein
Nutzen des Alkohols nicht nachgewiesen, und die Er¬
fahrung zeigt, dass diese Krankheiten ohne Alkohol
besser verlaufen. Ebenso verhält es sich mit den
anderen fieberhaften Krankheiten. Beim Scharlach
liegt ein besonderer Grund zur Verwerfung des Alko¬
hols darin, dass der Alkohol notorisch die Nieren
schädigt und für sich allein schon Nierenentzündung
hervorzurufen vermag. Da nun die Hauptgefahr des
Scharlachs in der Schädigung der Niere liegt, muss
dabei der Alkohol streng vermieden werden. Der
gleiche Grund gilt mehr oder weniger für alle In¬
fectionskrankheiten , da fast alle Infectionsgifte die
Nieren schädigen und gelegentlich Nierenentzündung
hervorrufen. Besonders ausführlich werden die Re¬
sultate der Behandlung der Lungenentzündung be¬
sprochen. Dieselbe verläuft ohne Alkohol viel besser
und führt dabei auch bei Trinkern viel seltener zum
Tode, als wenn Alkohol gegeben w’ird.
Von den an Lungenentzündung leidenden Kranken
starben
im Kantonsspital Zürich bei Behandlung
mit Alkohol .19,5 °/ 0
in der Behandlung von Dr. Frick ohne
Alkohol . 9>8°/ ft .
Die Lungenentzündung wird mit zunehmendem Alter
des Patienten immer gefährlicher.
Im Alter unter 50 Jahren starben in
Zürich (mit Alkohol).13,6°/ 0 ,
bei Dr. Frick (ohne Alkohol) o.
Im Alter über 50 Jahre starben in Zürich (mit
Alkohol). 45 » 4 °/o
bei Dr. Frick (ohne Alkohol) . 26,1%.
Dabei w r ar das Durchschnittsalter der letzteren
Patienten bei Dr. Frick ein höheres als in Zürich.
(Eigenbericht.)
ln der Discussion erwähnt Dr. Haenel (Dresden), dass
das Vorkommen der Abstinenzdelirien doch nicht ganz geleugnet
werden könne. Bonnhöffer (Breslau) habe häutiger nach plötz¬
licher Entziehung des Alkohols leichte Delirien auflreten sehen.
Auch die Möglichkeit, dass der Alkohol trotz seiner lähmenden
Wirkung vorübergehend excitirend wirken könne, könne nicht
von vom herein bestritten werden. Man denke an die ähn¬
lichen Verhältnisse beim Morphium.
Prof. Aschaffenburg (Halle a. S.) hat auch Delirien
beobachtet, die er als zweifellose Abstinenzdelirien aufiassen
musste; er betont jedoch ihren leichten, harmlosen Character.
Dr. Frick hält die Frage, ob Abstinenzdelirien
verkommen oder nicht, für weniger wichtig als die
nach dem Endresultat. Wenn, wie es thatsächlich
der Fall ist, die alkoholfreie Behandlung der In-
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330
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 30.
fectionskrankheiten, auch bei Potatoren, eine bessere
Mortalitätsstatistik ergiebt als die Behandlung mit
Alkohol, so ist diese Thatsache allein für unser the¬
rapeutisches Handeln bestimmend und muss uns
zwingen, den Alkohol bei der Behandlung der In-
fectionskrankheiten aufzugeben. G. K.
— 74. Versammlung Deutscher Naturfor¬
scher und Aerzte zu Karlsbad, 21—26. Sep¬
tember 1902.
19. Abtheilung: Neurologie und Psychiatrie.
1. Sitzung, 22. September. Vorsitzender: v. Wagner
(Wien).
1. Eulenburg (Berlin): Ueber einige
neuere elektro therapeutische Methoden;
knüpft an den Entwicklungsgang der wissenschaft¬
lichen Elektricitätslehre, namentlich die Arrhenius-
sche Iventheorie und die Hertz’sche Wellenlehre, und
die darauf beruhenden Errungenschaften der moder¬
nen Elektrotechnik an, wodurch auch die medicinische
Elektrotechnik und ihre Anwendungsformen zu Heil¬
zwecken mächtige Anregung und Förderung erhielten.
E. bespricht kurz das Princip und die Anwendung
der Tesla’schen und d’Arsonval’schen Apparate bei
Nervenkrankheiten und geht dann noch auf einige
neuere Verfahren näher ein, mit denen er gleichfalls
eigene Versuche bei Nervenkranken angestellt hat,
nämlich: 1. die sog. monodischen Voltströme
von Jodko-Narkicwicz, die in allgemeiner Form („Volt¬
bad“) und in localer Form (Massage, oder punktför¬
mige Reizung) zur Anwendung kommen; 2. die sog.
elektromagnetische Therapie, System Konrad,
die bisher nur an eigenen Instituten in Berlin, Wien,
Budapest, Hamburg u. s. w. geübt wird, (hervorragende
sedative, antineuralgische und schlafmachende Wirkung)
und endlich 3. das elektrische Vierzellenbad
von Schnee in Karlsbad (von Noorden bei Complicatiuncn
des Diabetes, von Lossen bei mannigfachen Nach¬
zuständen chirurgischer Verletzungen u. s. w. em¬
pfohlen; E. selbst erhielt bei 17 Fällen chronischer
Nervenerkrankungen meist befriedigende, wenn auch
nur palliative Resultate). Im Allgemeinen ist, wie E.
meint, ein forsches und lebenskräftiges Aufblühen der
Elektrotherapie gerade während des letzten Decen-
niums — anderweitigen trüben Vorhersagungen über
diesen Zweig der physikalischen Therapie gegenüber
— nicht zu verkennen.
2. Anton (Graz): Wahre Hypertrophie
des Gehirns mit Befunden an Thymus¬
drüse und Nebennieren.
Das untersuchte Gehirn stammte von einem im
Status cpileplicus gestorbenen 20jährigen, hereditär
schwer belasteten Individuum von normaler Intelligenz
und auch im übrigen normalen Hirnfunktionen. Es
wog 2055 g, war dabei in jeder Hinsicht wohl pro-
portionirt gebildet. Das Schädeldach war auf fast
Papierdünne reducirt. — Die Thymus war in auf¬
fallender Grösse vorhanden, die Nebennieren cystisch
degenerirt, ihre Marksubstanz völlig geschwunden. —
Ein Zusammenhang zwischen Nebennieren und Thy¬
mus einerseits und Gehirnentwicklung andrerseits ist
schon wiederholt beobachtet worden, sodass darin
wohl eine gewisse Gesetzmässigkeit erkannt werden
kann.
Diskussion: Herr Obersteiner erinnert an
ein von ihm beschriebenes Gehirn von 1920 g Ge¬
wicht, bei dem ebenfalls die Intelligenz keine Defecte
hat erkennen lassen.
Herr St ekel glaubt, dass auch in der Migräne¬
pathologie ein solcher Zusammenhang zwischen Neben¬
nieren- und Gehirnfunktion in Betracht komme.
3. Pilcz (Wien): Ueber Ergebnisse elek¬
trischer Untersuchungen an Geistes¬
kran ken.
Vortr. ging von dem Gedanken aus, dass be-
kanntermaassen ein und dieselbe Schädlichkeit Poly¬
neuritis mit Psychosen hervorrufen kann; so kann
man vielleicht auch bei Psychosen anderer Art, die
nur allgemein auf toxischem Boden entstehen, eine
Mitbetheiligung peripherer Gebiete erwarten. Vortr.
lenkte zum Nachweis der letzteren seine Aufmerk¬
samkeit vor allem auf die Zuckungsträgheit, und
durch myographische Aufzeichnung gelang es ihm,
auch geringe Grade einer solchen nachzuweisen und
zahlenmässig zu messen. Er fand nun bei 10 Fällen
von Amentia 6 mit galvan. und farad. Zuckungs¬
trägheit. Bei Delir, tremens, acut, hallucinat. und
Alkohol-Psychose stellten sich bei ersterem die schwe¬
reren peripheren Veränderungen heraus (neben gal¬
vanischer auch faradische Trägheit). Auch bei pro-
gress. Paralyse wurde einigemale träge Zuckung nach¬
gewiesen, doch ist zu weitergehenden Schlüssen hier¬
bei das Material noch zu klein.
2. Sitzung, 23. September Vormittags. Vorsitzender:
(j b e r s t e i n e r (Wien).
4. Marinesco (Bukarest): Untersuchungen
über spinale Lokalisation.
Vortr. hat sowohl an Hunden experimentirt als
auch Erfahrungen aus der menschlichen Pathologie
gesammelt, die ihn zu folgenden Ansichten geführt
haben: in den einzelnen Segmenten des Rückenmarks
sind nicht sowohl die Extremitätenabschnitte oder
die Nervenstämme, sondern die Muskeln durch
distincte Ganglienzellgruppen vertreten, diese aber
nur insoweit, als sie eine isolirte Function besitzen,
einer gesonderten Bewegung fähig sind. So hat z. B.
der M. Sterno-cleido-inastoid. eine andere Kemgruppe
als der Trapezius, obwohl beide vom N. accessorius
versorgt werden, der M. pectoralis major eine andere
als der M. serrat. anticus major; dagegen haben der
N. medianus und ulnaris, die beide der gleichen
Function vorstehen (Flexion am Unterarm und Hand)
auch die gleichen Kerne. Muskeln, die nur associirt
in Thätigkeit treten, haben auch keine differenten
Ganglienzellgruppcn. An den untern Extremitäten
liegen die Verhältnisse ganz dem entsprechend. Im
Allgemeinen haben die der Medianlinie näher liegenden
Muskeln auch in ihrer Vertretung im Rückenmark
eine mehr mediane Lage.
Discussion: Herr Roth mann fragt, wie es
mit diesen den Muskeln und ihrer Function ent¬
sprechenden Zellcentren wird, wenn die peripheren
Nerven kreuzweis vernäht werden („greffe nerveuse“)?
Herr Marinesco will später auch darauf achten.
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HARVARD UNiVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 331
5. Münzer (Prag): Zur Lehre vom Neuron.
Vortr. hat den Versuch nachgeprüft, über den
B e t h e im vorigen Jahre berichtete: Durchschneidung
eines peripheren Nerven bei einem jungen Thiere,
Verhinderung der Verheilung beider Stümpfe, trotz¬
dem Neubildung von functionstüchtigen Nervenele-
menten im peripheren Stumpfe. Er fand, dass das
proximale Ende des peripheren Stumpfes kolbig an¬
schwillt und mit der umgebenden Muskulatur fest
verwächst. Bei mikroskopischer Untersuchung dieser
Verwachsungsstelle konnte er eine enge Verbindung
und Verflechtung der neuen Fasern mit solchen
zwischen den benachbarten Muskelbündeln nach-
weisen, und nimmt an, das die jungen Nervenfasern
nichts als Auswachsungsproducte dieser intramusku¬
lären Fasern sind. Da wahrscheinlich auch in den
Bcthe’schen Versuchen eine solche Verwachsung
stattgefunden hat, hält er den Beweis für die Mög¬
lichkeit autochthoner, vom Central-Organ unabhängiger
Entstehung resp. Regeneration von Nerven noch
nicht für erbracht, darum auch einen Grund dafür,
die Neuronenlehre an dieser Stelle für widerlegt zu
halten, nicht für vorliegend.
Discussion: Herr Rai mann ist bei Nach¬
prüfung der Bethe’schen Versuche zu demselben
Resultate wie der Vortr. gekommen: Es sprach alles
dafür, dass trotz aller Bemühungen, dies zu verhin¬
dern, doch von neuem Verbindungen zwischen cen¬
tralen Gebieten und peripherem Stumpfe sich wieder
hcrgestellt hatten.
Herr Lilien st ein erinnert daran, dass Bethe’s
Versuch nur an neugeborenen Thieren gelungen ist
und fragt, ob bei dem Vortr. dasselbe der Fall war.
Herr Obersteiner hält nach dem Gehörten
das Argument Bethe’s gegen die Neuron-Lehre für
hinfällig.
6. Sträussler (Prag): Ucbcr eine Missbil¬
dung des Centralnervensystcms und ihre
Beziehung zu f oetaler H y d roc eph al i c. (Mit
Demonstrationen).
Bei einem neuntägigen Kinde mit einem enormen
Hydrocephalus internus und einer lumbosacralen
Rhachischisis wurde makroskopisch eine Unterent¬
wicklung des Kleinhirns und Verlagerung der Medulla
oblongata, mit einem Einschluss im Centralkanal,
welcher sich mikroskopisch als Kleinhirn erwies,
in den Wirbelkanal beobachtet. Der Befund ent¬
sprach einer Missbildung, welche Chiari zuerst als
Folgezustand congenitaler Hydrocephalie beschrieb;
der Fall unterschied sich, wie aus der mikroskopischen
Untersuchung hervorging, von den Beobachtungen
Chiari’s nur dadurch, dass der Einschluss von
wohl differenzirter Kleinhirnsubstanz
sich über den grössten Th eil des Medul-
larrohres erstreckte; im Aquaeductus Sylvii befand
sich Kleinhirnsubstanz und war von hier durch den
Centralkanal des Nachhirnes bis in den caudalen
Theil des Rückenmarkes zu verfolgen.
Ueber das ganze Centralnervensystem waren Ent¬
wicklungsstörungen verbreitet: Im Vorderhirne be¬
stand eine gemeinsame Hemisphaerenhöhle — Balken
und Fomix fehlte; Verbildung des Kleinhirnes und
eine breite Verwachsung desselben mit dem Gehirn -
stamme, Persistenz der Deckplatte des Nachhirncs,
Verlagerung von Olivensubstanz, Hetcrotopieen grauer
Substanz und Verwachsung des unteren im Wirbel¬
kanal gelegenen Theiles des Nachhirnes mit dem
oberen Theile des Rückenmarkes zeugte von schwerer
Entwicklungsstörung des 3. Gehirnbläschens; Persi¬
stenz der embryonalen Mcdullarplatte in der Rhachi¬
schisis, Verdopplung des Rückenmarkes, Verdopplung
und Verlagerung von Spinalganglicn vervollständigte
die Kette der mannigfachen Zeichen gestörter Ent¬
wicklung.
Der Annahme Chiari’s, dass die Missbildung des
3. Gehimbläschens und die Kleinhirn Verlagerung in
einem Theil des Central kanales des Medullarrohres
durch eine Raumbeengung in der Schädelhöhle in
Folge Hydrocephalie des Grosshirnes hervorgerufen sei,
setzt der Vortragende die Auffassung entgegen, dass
die Gesammtheit der Entwicklungsstörungen einheit¬
lich zu beurtheilen sei und für die Erkenntniss der
Ursachen der Missbildung die aus der experimen¬
tellen Teratologie gewonnenen Erfahrungen maass-
gebend sein müssen.
Gegen die Annahme des Hydrocephalus als Ur¬
sache der Bildungsstörung des 3. Gehimbläschens ist
insbesondere anzuführen:
1. Das Bestehen einer grossen Anzahl von Ent-
wicklungsstörungen, über das ganze Centralnerven¬
system verbreitet, welche durch die Hydrocephalie
nicht zu erklären sind; in den Fällen Chiari’s er¬
streckten sich Bildungsstörungen auch auf andere
Organe.
2. Die für die Missbildung characteristischen Stö¬
rungen in der Entwicklung des Hinterhimes und
Nachhimes mit der Verlagerung von Kleinhirn in
den Centralkanal des Medullarrohres konnten nur in
einer sehr frühen Entwicklungsperiode zu Stande
kommen; das Bestehen der Rhachischisis beweist, dass
bereits zur Zeit des Verschlusses des Medullarrohres
irgendwelche Schädlichkeiten auf das Ei eingewirkt
hatten, welche den normalen Verschluss verhinderten;
analog der Entw’icklungsstörung der dorsalen Par¬
tie eil des Schwanzendes des Medullarrohres, wäre
das Einsetzen der Störung in der Entwicklung der
Deckplatte des 3. Gehirnbläschens in die früheste
Entwicklungsperiode, wahrscheinlich in die Zeit des
Verschlusses des Kopfthcilcs der Medullarrinne zu
verlegen; eine Raumbeengung in der Schädelhöhle
kann zur Erklärung der Missbildung also nicht in Be¬
tracht kommen.
3. Ist die Verlagerung des Kleinhirnes in dem
vom Vortr. beobachteten Falle nicht nur distal, vom
Sitze des Kleinhirnes aus, sondern auch proximal —
im Aquaeductus Sylvii vorhanden, was gegen die
mechanische Beeinflussung der Wachsthumsrichtung
des Kleinhirnes durch eine Raumbeengung in der
Schädelhöhle spricht.
Der bestehende Hydrocephalus ist in dem Falle
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[Nr. 30-
332 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
des Vortr. secundär durch die Kleinhimbildung be¬
dingt, indem durch Hineinreichen des Kleinhirnes
bis an den Boden des 4. Ventrikels die Communi-
cation zwischen den Höhlen des Grosshimcs und des
Rückenmarkes aufgehoben wurde; eine Rolle mag
auch die in dem Falle wie bei allen Missbildungen
vorhandene Erweiterung und Vermehrung von Blut¬
gefässen gespielt haben. Zunächst sccundäre Folge
der Kleinhirnmissbildung kann der Hydrocephalus
vielleicht später an der weiteren Ausgestaltung der
Missbildung mitgewirkt haben.
7. v. Leonova (Würzburg): Ucber die Ent¬
wicklungsabnormitäten des Central-Nerven-
sytems bei Cyclopie.
Es bestand im untersuchten Falle neben Cyclopie
Microcephalie und Arhinencephalie; das Kleinhirn
war verkümmert, erhalten nur das Rückenmark, die
Medulla oblong., die Vierhügel und das Zwischenhim.
Es bestanden zahlreiche Heterotopien grauer und
weisser Substanz. Vortr. erinnert an die Theorie von
Dareste über die Pathogenese der Cyclopenbildung,
woraus das häufige Zusammentreffen dieser Missbil¬
dung mit Microcephalie bis zu einem gewissen Grade
erklärlich sei.
Discussion: Herr Sternbeig weist auf das
Verhalten der Hinterstränge hin, die gut entwickelt
sind, obgleich die Hinterstrangkeme fast fehlen. Es
muss also neben dem Ursprungskem auch dem „End-
kem“ in der Entwicklung des Nervensystems eine
Bedeutung zukommen, was in gewissem Sinne gegen
die Neuronen-Theorie spricht.
Herr Anton bestreitet, dass die Amnion-Theorie
von Dareste für Missbildungen wie die vorliegende
eine genügende Erklärung gebe; beim sich entwickeln¬
den Organismus wirken eben andere Wachsthums¬
kräfte als beim Erwachsenen. Auch er w r eist auf die
Bedeutung für die Neuron-Frage hin; die Incongruenz
zwischen Kernen und Fasern spricht für eine Wachs¬
thumsunabhängigkeit beider, der Zusammenhang wird
erst mit der Function gegeben.
3. Sitzung, 23. September Nachmittags.
8. Marburg (Wien) : Zur Pathologie der
Hirngefässe.
Vortr. fand in Uebereinstimmung mit Jones, bei
jugendlichen Individuen (6 und 24 J.), die keinerlei
Zeichen einer Gefässerkrankung im Leben dargeboten
hatten, isolirte Verkalkung der Elastica, glaubt dass
dieselbe u. A. in der Aetiologie von Früh-Apoplexien
eine Rolle spielen könne. Ferner fand er bei End-
arteritis der Hirngefässe in der gewucherten Intima
echte Knorpelbildung, die auf dem Wege einer reinen
Metaplasie zu Stande gekommen war.
— Der preussische Justizministerial-Erlass
vom 7. d. Mts. und der Richterstand. — Das
Corrclat der „freien Bew'eisw'ürdigung“ des Richters
ist bekanntlich dessen Rechtspflicht, alles aufzubieten,
um die Fähigkeit zur Bildung eines sachgemässen
Urtheils zu erlangen. Durch obigen Ministerialerlass,
wonach nicht mehr der Specialarzt, sondern der Kreis¬
arzt das „Mädchen für Alles“ (sc. für alles Medici¬
nische) , bei Entmündigungen wegen Geisteskrank¬
heit und Geistesschwäche „regelmässig“ zu „wählen“
ist, wird den Richtern eine Beschränkung bei der
Beweisführung auferlegt, abgesehen, wo „besondere
Umstände“ eine Ausnahme erfordern. Man denke
sich den Fall, dass zur Beurtheilung einer Erkrankung
der Augen und Ohren und ihrer rechtlichen Folgen
von den Justizbehörden die regelmässige Wahl, nicht
des Augen- bezw. Ohrenarztes, sondern des „Kreis¬
arztes“ vorgeschrieben wäre, und man ward zugeben
müssen, dass nicht bloss auf dem Gebiete der Irren¬
kunde, sondern auf allen Gebieten der medicinischen
Wissenschaft, welche eine specialistischc Sonderstellung
und Vertretung haben, der Richter, w'enn er seinem
Verantw'ortlichkeitsgefühl folgt, stets denjenigen Sach¬
verständigen ward wählen wollen, der das betreffende
Fach am besten beherrscht. Und in diesem ge¬
sunden Bestreben sollte ihm, im Interesse der Recht¬
sprechung, freie Hand gelassen werden. Es ist
also eine alsbaldige Abänderung des obigen Erlasses
vom Standpunkt des Richters erforderlich, um
so mehr, als auch jeder Richter w-eiss, dass die Be¬
gutachtung von krankhaften Geisteszuständen nicht,
wie diejenige hygienischer und köq)erlicher Verhält¬
nisse, Sache einer in kurzer Zeit zu erlernenden tech¬
nischen Methode, sondern in erster Linie Sache lang¬
jähriger Erfahrung und umfangreichen Wissens ist
— Zum Ministerial-Erlass vom 7. October
1902. — Die Tages presse beschäftigt sich weiter
mit dem Erlass. Selbst ein Blatt, das die Entmün¬
digung überhaupt in die Hände eines Laienkollegiums,
nicht in diejenigen des Richters und Arztes gelegt
wissen will, das also wirklich keine Sympathie für die
Irrenärzte übrig hat, bedauert, dass durch diese Re¬
form die Rechtsunsicherheit, die auf dem Gebiete
des Irrenrechts bestehe, in nicht unbedenklichem
Maasse vermehrt w-ird. — Wir beabsichtigen, dem¬
nächst sämmtliche Pressstimmen über den Erlass in
einer Nummer zu vereinigen — Eine Seitens eines
Collcgen an die Redaction der psych.-neurolog.
Wochenschrift gerichtete Zuschrift verdient besondere
Beachtung: „Zu erwägen dürfte auch sein, ob nicht
eine Versammlung der preussischen Irren¬
ärzte oder eine ausserordentliche Sitzung des
Vereins deutscher Irrenärzte mit möglichst zahl¬
reicher Betheiligung in Berlin zu veranstalten wäre,
zu welcher der Justizminister eingcladen würde und
in welcher in Gegenwart von Vertretern der Presse
die Führer der deutsc hen Irrenärzte eingehende Be¬
richte über die nachtheilige Wirkung der Verfügung
vom 7. d. Mts. zu erstatten hätten.“ Red.
Für den rcdactioncllen Theil verantwortlich: Oberar/t I)r. J. liresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heyocmann’sche Buchdruckerci (Gebr. WolflF) in Hallo a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
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Prof. Dr. A. Quttetadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, - irektor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Krasrhnitz (Schlesiern.
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Nr, 31. 1 . November. 1S02.
Die Psychiatrisch-Neurolo gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend r.nu kostet pro Quartal 4 Mk.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien', zu richten.
Inhalt. Originale: Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen und daraus abzuleitende Forderungen nach
Weiterausgestaltung derselben. Von Dr. Ernst Kalmus, k. k. Polizeiarzt in Prag (S. 333). — Zum Capitel „Familien¬
pflege“ (S. 337). — Mittheilungen (S. 338).
Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen
und daraus abzuleitende Forderungen nach Weiterausgestaltung derselben*).
Von Dr. Ernst Kaltnus , k. k. Polizeiarzt in Prag.
AÄ/ enn m * r heute erlaube, hier ein Thema zu
* ’ besprechen, das mehr oder weniger nur von
local beschränkter Bedeutung ist, so geschieht dies
einerseits deshalb, weil ich wohl ein gewisses allge¬
meineres Interesse für die sanitären Einrichtungen des¬
jenigen Landes voraussetzen kann, in welchem die
diesjährige Naturforscherversammlung stattfindet, dann
aber und hauptsächlich deshalb, weil ich aus meiner
kurzen Darstellung der gegenwärtigen Verhältnisse
einige Wünsche und Forderungen abzuieiten gedenke,
welche ich einer so sachverständigen Versammlung
zur gütigen Kritik vorlegen möchte, um ihnen an
*) Vortrag, gehalten in der neurologisch-psychiatrischen
Section der 74. Versammlung der Naturforscher und Aerzte in
Karlsbad, am 25. September 1902.
maassgebender Stelle eine grössere Autorität zu ver¬
leihen.
Die Irrenfürsorge in Böhmen ist durchaus nicht
neuen Datums, sondern beginnt, wie in allen mittel¬
europäischen Staaten, schon zu Ende des 18. Jahr¬
hunderts. Unter der Regierung Kaiser Josef II. wurde
in Prag ein heute noch stehender, jetzt allerdings
anderen Zwecken dienender Tract des allgemeinen
Krankenhauses der Irrenpflege speciell gewidmet, wie
eine heute noch leserliche Inschrift auf demselben:
Custodiae mente Captorum: Josephus II. Leopoldus II.
Augusti 1790 bezeugt.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die histo¬
rische Entwickelung des Irrenwesens in Böhmen vor¬
zuführen ; doch seien mir, bevor ich auf mein eigent-
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HARVARD UN1VERSITY
334
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 31.
liches Thema eingehe, folgende kurze Bemerkungen
gestattet:
Unter den gegenwärtigen für die Irrenpflege noch
in Verwendung stehenden Bauten aus früherer Zeit
ist jener Theil der Prager Irrenanstalt bemerkenswert!!,
welcher in den Jahren 1840—1844 aufgeführt, im
Kasemenstile als zweistöckiges Corridorgebäude erbaut,
heute noch als „Neues Haus“ bezeichnet wird. Er
stellte seinerzeit als erster derartiger Bau auf dem
Continente ein Muster der damals üblichen Irrenan¬
stalten dar und war auch für viele Anstalten des In-
und Auslandes (ich erwähne z. B. die Anstalt Nietleben)
vorbildlich. — In demselben sind heute noch die
beiden psychiatrischen Kliniken (die deutsche und
die böhmische) untergebracht.
Erwähnenswerth scheint mir ferner auch eine am
Ende der sechziger Jahre (1856—57) getroffene Ein¬
richtung, welche nach dem Berichte des Landesaus¬
schusses als erste „Irrencolonie“ anzusehen wäre, „wie
sie zu jener Zeit weder in Oesterreich noch in einem
Nachbarstaate eingeführt war“. Es ist dies die Er¬
werbung der Sluper Gründe, eines 20 Joch grossen
Grundstückes in unmittelbarer Nähe der Prager An¬
stalt, auf welchem eine beträchtliche Zahl von Geistes¬
kranken mit Gartenbau beschäftigt wurde, beziehungs¬
weise noch beschäftigt wird. Diese Einrichtung schien
mir schon deshalb erwähnenswerth, weil sie demnächst
verschwinden wird, da die Grundstücke vom Staate
zum Zwecke der Errichtung einiger Universitätsinstitute
angekauft wurden.
Sehr wesentliche Erweiterungen und Verbesserungen
erfuhr die Irrenfürsorge Böhmens seit dem Jahre
1861, in welchem die Verwaltung der bis dahin
staatlichen Irrenanstalt in Prag an das Land Böhmen
überging und nun dieses, beziehungsweise dessen
Körperschaften, der Landtag und der Landesaus¬
schuss für die Unterbringung der immer zahlreicher
werdenden Aufnahme in Irrenanstalten suchenden
Geisteskranken zu sorgen hatte.
Ausser verschiedenen kleineren Veränderungen
wurden im Jahre 1869 die Anstalt in Kosmanos,
im Jahre 1880 jene in Dobran (sprich Dobrschan),
im Jahre 1887 die Filialanstalt in Woporan (sprich
Woporschan) und 1892 die Filialanstalt in Ober-
berkowitz neu errichtet. Von diesen Anstalten
ist Dobran*) die bemerkenswertheste, da sie allein
unter den derzeitigen Anstalten in Böhmen nicht
durch Adaptirung sondern als planmässiger, den da-
*) In der Versammlung wurde eine Planskizze, sowie ein
photographischer Atlas der Dobraner Anstalt, welchen der
Landesausschuss zur Verfügung gestellt hatte, demonstrirt. S.
diesbezügl. den Bericht des Landesausschusses vom Jahre 1897.
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maligen und wohl auch heutigen Anforderungen voll
entsprechender Neubau bezw. Neuanlage entstanden
ist und für andere österreichische Anstalten (ich er¬
wähne hier: Troppau, Stemberg in Mähren, Kierling,
ja in gewisser Beziehung selbst die neueste Anstalt in
Mauer-Oehling in N.-Oesterreich) vorbildlich wurde.
Die Dobraner Anstalt ist auf einer kleinen An¬
höhe nächst Dobran, einem kleinen Städtchen, un¬
weit von Pilsen gelegen. — Die ursprüngliche An¬
staltsaue hatte eine Fläche von über 75 Joch =
4312 Ar und die Gestalt eines gegen Nordost sich
verengenden Rechteckes. — Heute beträgt sie über
124 Joch.
In der Mittellinie des ganzen Complexes sind:
das Administrationsgebäude, dahinter die Kirche, die
Küche, das Maschinen- und Waschhaus mit dem
Centralbadehaus, die Werkstätten, das Lagerhaus,
das Leichenhaus und eine Portierswohnung gelegen.
Zu beiden Seiten dieser „Mittelgebäude“ sind die
einzelnen Krankenpavillons gelagert und zwar ist der
südliche Theil der Anstalt für Männer, der nördliche
für weibliche Kranke bestimmt.
Nach ihrem Zwecke sind die Pavillons in zwei
Abtheilungen getheilt.
I. Der Haupttheil mit gedeckten Gängen ver¬
bunden, für solche Kranke bestimmt, welche dauern¬
der Aufsicht und Pflege bedürfen.
II. Der Nebentheil: in welchem die zur Arbeit
fähigen, sowie die minder aufsichtsbedürftigen Kranken
unterbracht sind.
Im Haupttheil sind zu unterscheiden:
I der Pavillon für ruhige,
II „ „ für minder ruhige,
III „ „ für unruhige Kranke,
IV „ „ für somatische Kranke (keine
Decke bis zum Satteldach vorhanden.)
Auf weitere Details der Einrichtung der Dobraner
Anstalt kann hier nicht näher eingegangen und muss
auf den Bericht des Landesausschusses verwiesen
werden. Es sei nur noch gestattet, hier zweier aus¬
ländischer Fachberichte zu erwähnen, welche der An¬
lage der Dobraner Anstalt volle Anerkennung zu theil
werden lassen und, weil von Ausländem (einem fran¬
zösischen und einem englischen Arzte) stammend,
wohl als unvoreingenommen angesehen werden dürfen.
Der erstere Bericht stammt von Dagonet, dem
bekannten Chefarzte der Irrenanstalt St. Anne und
erschien in den Annales Medico-Psychologiques v. J.
1885. Sein Schlusssatz lautet: En resume, le nouvei
asile de Dobran merite la reputation dont il jouit en
Autriche; son Organisation medicale est des plus seri-
euses et nous l’avons visite avec le plus grand interet;
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
■ 1
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
335
son importance nous a paru devoir justiner les details
un peu minutieux, dans lesquelles nous sommes entres.
Der englische Bericht ist dem bekannten 1564
Seiten starken Buche des australischen Arztes G.
A. Tuck er: Lunacv in many lands entnommen; er
sagt zum Schluss: Nach den modernsten und er¬
probten Ideen eingerichtet und geleitet; excellent ver¬
waltet; ein bemerkenswerth hoher Procentsatz von
Patienten arbeitet.
Beide Berichte heben insbesondere die ärztliche
Leistung durch die damaligen Aerzte der Dobraner
Anstalt, die jetzigen Professoren A. Pick in Prag und
Anton in Graz rühmend hervor. — Leider musste
im Laufe der Zeit die ursprünglich für 600 Kranke
Einwohner zählte, im Ganzen fünf öffentliche, in
der Verwaltung des Landes stehende Anstalten. Die
drei ausserdem in Böhmen bestehenden Privatheilan¬
stalten für Geisteskranke, ich meine: die Idiotenan¬
stalt des St. Anna Frauen Vereines mit über 100 Pfleg¬
lingen, ferner die nur wohlhabenden Kranken offen
stehenden Privatanstalten in Bubenc (Dr. Kramer)
und Krec (Dr. Simsa) kommen für die Frage der Irren¬
fürsorge weniger in Betracht; erstere, die Idiotenan¬
stalt, soll übrigens als ein rühmenswerther Anfang
später noch Erwähnung finden. —
Zu dieser Zeit (Ende 1900) standen nach den mir
freundlichst zur Verfügung gestellten Berichten der
Statthalterei in Prag in den 5 öffentlichen Irrenan-
Kgl. böhm. Landes-Irrenanstalt in Dobran (dem citirten Bericht des Landesausschusses entnommen).
I. Administration. 2. Kirche. 3. Küche. 4. Maschinenbaus, Waschanstalt, Bäder.
A. Beamtenhaus. B. Wirthschaftsgebäude. C. Gasanstalt. D. Pumpenhaus. E. Verbindungsgang.
I. Pavillon für Ruhige. II. Pavillon für Minderruhige. III. Pavillon für Unruhige. IV. Pavillon für somat. Kranke.
V, VI, VII. Villen für Kranke.
bestimmte Anstalt immer stärker und stärker belegt
werden, so dass sie Ende 1901 einen Normalbeleg¬
raum von 1500 Betten zählte. Doch beweisst an¬
dererseits die Möglichkeit einer derartigen Erweiterung
wohl die Zweckmässigkeit der ursprünglichen Anlage.
Die anderen Anstalten Böhmens sind, wie schon
erwähnt, durch Adaptation anderer, nicht zu derartigen
Zwecken erbauter Gebäude entstanden, an welche
man im Laufe der Zeit entsprechende Neubauten,
wie z. B. in Woporan angliederte.
Mit Ende des Jahres 1900 hatte Böhmen, das
nach der Zählung vom December 1900, 6318280
stalten Böhmens in Summa 4176 Betten zur Dispo
sition, welche sich folgendermassen vertheilen:
Bettenzahl.
Prag
1119
Dobran
150°
Kosmanos
858
Ober- Berk owitz
415
Woporan
284
4176
Es kamen somit auf 1000 Einwohner 0,661 Betten,
eine im Vergleich zu anderen Ländern sehr geringe
Zahl. (Baden hat 1,28 Plätze, mit Einbeziehung der
Privatanstalten 1,66 Plätze auf 1000 Einwohner). Durch
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336
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 31.
Erweiterung der Anstalt in Woporan wuchs die Zahl
der Betten daselbst im Laufe des Jahres 1901 von
284 auf 520, so dass mit Ende 1901 in ganz Böhmen
4412 Betten zur Verfügung standen. Dabei ist jedoch
und vom Vorjahre Verbliebenen). Seit dem Jahre
1885 ist die Zahl der Verpflegten von 3360 auf
6699, also fast auf das Doppelte gestiegen. Ver¬
gleichen wir damit die Zahlen (im Jahre 19 01 )
I. Die Zahlen der in den böhm. Landesirrenanstalten jährlich Verpflegten.
II. Die Zahlen der in den böhm. Landesirrenanstalten mit Ende des Vorjahres Verbliebenen.
die Prager Anstalt mit 1229 Betten eingestellt, während
ihr normaler Belegraum nur 800 Betten beträgt.
Betrachten wir nun die Krankenbewegung in diesen
5 Anstalten, so sei hier zunächst auf das enorme An¬
wachsen der Zahlen der jährlich verpflegten Geistes¬
kranken in ganz Böhmen hingewiesen (s. beifolgend
die Curve über die vom Jahre 1850—1900 Verpflegten
der mit dem Ende des Vorjahres Verbliebenen, welche
etwa als maximaler Fassungsraum der Anstalten
angesehen werden kann, wobei auf die in einzelnen An¬
stalten bestehende Ueberfüllung später noch Rücksicht
genommen werden soll, so ergiebt sich: Im Jahre 1885
waren 2019 Kranke vom Vorjahre verblieben; im
Jahre 1902 schon 4590 — für welche jedoch, wie
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
337
1902.]
oben erwähnt nur 4412 Betten bei voller Ausnützung
des Raumes zur Verfügung standen. — Es waren
demnach 187 Kranke mehr in den Anstalten, als
eigentlich darin Raum haben. —
Geht daher aus diesen Zahlen hervor, dass das
Land zwar versucht hat durch Vermehrung der Plätze,
es sind seit dem Jahre 1885 etwa 2400 Betten zuge¬
kommen, den Anforderungen gerecht zu werden, so
beweisen andererseits diese Zahlen auch die Unzuläng¬
lichkeit dieser Bemühungen.
Untersuchen wir nun die einzelnen Anstalten
genauer auf ihre Krankenbewegung im letzten Jahre,
speciell auf ihre Überfüllung; so ergiebt sich für Ende
1901:
Prag mit
Ueberbelag
1119
Betten (norm, nur 800) hatte
1445+326 (645)
1500
Dobran mit
„ hatte.
1417— 83
858
Kosmanos mit
„ hatte.
806— 52
415
Ober-Berkowitz mit
„ hatte.
41 1— 4
520
Woporan
„ hatte.
520
4412 (4093) 4599+187(4-606)
Es zeigte demnach Prag die stärkste Ueberfüll-
ung: 326 Kranke über seinen maximalen Fassungs¬
raum, 606 über seinen normalen Belegraum.
Um diesem Uebelstande wenigstens theilweise abzu¬
helfen, beschloss der Landesausschuss am 7. Mai 1902
9 Bezirkshauptmannschaften, welche bis dahin nach Prag
gehört hatten, bezw. deren Geisteskranke der Anstalt in
Kosmanos zuzuweisen, sodass jetzt die Vertheilung der
einzelnen Bezirke folgende ist:
Der nordöstliche Theil von Böhmen, 33 Bezirks¬
hauptmannschaften inclusive der Stadt Reichenberg
mit zusammen 2059219 Einwohner, gehören zum
Aufnahmsbezirke von Kosmanos. 31 Bezirkshaupt¬
mannschaften des südöstlichen Böhmen mit 1 830451
Einw. gehören in den Aufnahmebezirk Dobran, und die in
der Mitte gelegenen 32 Bezirkshauptmannschaften mit
der Landeshauptstadt Prag, zusammen 2 428620 Einw.,
gehören in den Aufnahmsbezirk der Anstalt Prag und
der Filialanstalten Ober-Berkowitz und Woporan. —
Ausserdem sind, laut einer frdl. Mittheilung des
Landesausschusses bez. dessen Sanitätsconcipirten
Doc. d’Matiegka, in Dobran 4 neue Villen für je 50
Kranke im Bau, von denen jede mit 50000 Kronen
in den Voranschlag des Landesausschusses aufge¬
nommen ist; 4 weitere solche Villen sollen demnächst
errichtet werden. — Auch in Berkowitz sollen Zu¬
bauten geplant sein.
Ob ein derartiges stückweises Vergrössem der
ohnehin schon heute kaum zu übersehenden Anstalt
in Dobran zweckmässig ist, ob kleinere Anstalten
(von höchstens 1000 Kranken) vom ärztlichen Stand¬
punkte aus nicht zweckmässiger wären, mag dahinge¬
stellt bleiben. — Jedenfalls möchte ich glauben, dass
man bei der Neuerrichtung einer Anstalt, an Stelle
der Prager Irrenanstalt, mindestens bei der Organisation
des ärztlichen Dienstes auf diesen Umstand Rücksicht
nehmen sollte. (Schluss folgt.)
Zum Capitel „Familienpflege. 1
I Tnter die Zahl derjenigen Anstalten, die Kranke
in Familienpflege gegeben haben, ist seit dem
Anfang Juni d. J. auch die Anstalt Brieg, Bez. Breslau,
getreten. Die bisherigen Erfolge ermuntern nicht nur
hier, sondern hoffentlich auch an andern Orten zur
Einrichtung und weiteren Ausgestaltung dieser Ver¬
pflegungsart, da sich einmal überall damit Versuche
in kleinerem Umfange anstellen lassen, andrerseits
auch sicher überall Kranke sich befinden, die harm¬
los, sauber und ruhig sind, sich also für Familienpflege
eignen, ja in der Familie sogar wohler und besser
befinden, als in den Räumen unserer zumeist über¬
füllten und mit zahlreichen unruhigen, gewaltthätigen
und unsauberen Kranken belegten Anstalten.
Es sind sowohl weibliche, wie in letzter Zeit auch
männliche Kranke hinausgegeben worden und weitere
Pfleglinge sollen folgen, bis zur Zahl von zwanzig
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Stellen, die vorläufig als Grenze angenommen ist.
Gelingen die. weiteren Versuche in dem Maasse, wie
bisher, dann wird voraussichtlich die Einrichtung weiter
ausgedehnt werden können, da man nach den ersten
gelungenen Versuchen muthiger wird und Kranke in
Pflege zu geben wagt, bei denen zuerst Bedenken
vorliegen. Allen theoretischen Erwägungen gegenüber
erweist die Praxis in den meisten Fällen sich über¬
legen und man sieht in der Mehrzahl der Versuche,
dass die Kranken sich draussen wohler fühlen und
sich besser und rascher einleben, als man erwartet
hatte, während Misserfolge öfter nicht durch unpassende
Auswahl der Kranken, als vielmehr durch Täuschung
in der Wahl von Pflegestellen, die man für geeignet
hielt, welche sich nachher aber nicht bewährten, her¬
vorgerufen weiten. Secundäre Schwächezustände, Zu¬
stände von Verwirrtheit, alte paranoische Kranke oder
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
338 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 31.
Periodici mit langen Remissionen eignen sich sämmt-
lich und werden natürlich besonders dann gern ge¬
nommen , falls sie sich noch etwas beschäftigen. Es
konnte aber auch beobachtet werden, dass Kranke,
die sich in der Anstalt gar nicht arbeitsfähig zeigten,
anfingen, in der Familie zu arbeiten, wegsamer zu
werden und sich selbst körperlich zu erholen. Die
Pflegesätze betragen monatlich 20 — 25 Mark, sind
also recht niedrig bemessen.
Die weiblichen Kranken sind sämmtlich in der
Stadt untergebracht, die Männer auf dem unmittelbar
an die Stadt grenzenden Dorfe, das voraussichtlich
nächstens eingemeindet wird, und wo sich seit Jahren
eine Irrencolonie befindet. Pflegestellen sind vorläufig
genügend vorhanden. Sollte Mangel daran sich geltend
machen und die Familienpflege weitere Ausdehnung
gewinnen, so erscheint auch die Anlage von Wärter-
häusem, welche gleichzeitig zur Aufnahme von Pfleg¬
lingen dienen, nicht ausgeschlossen. K.
Mittheilungen.
— 74. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte zu Karlsbad. 21. bis 26.
September. Abth. Neurologie und Psychiatrie.
(Fortsetzung.)
9. v. J acksch (Prag): Ueber die im Mangan-
betriebe vorkommenden nervösen Affec-
tionen.
Demonstration mehrerer Kranker, die alle über¬
einstimmend das gleiche Symptomenbild zeigen:
Spastischer Gang, scandirendc Sprache, Zwangslachen
und Weinen, Demenz, dazu als sehr chaiacteristisch
eine ausgesprochene Retropulsion beim Gang nach
rückwärts. Es fehlen Nystagmus, Intentionstremor,
Ataxie, Romberg’sches Zeichen, jede Sensibilitätsstö¬
rung. Als die allein giftige Manganvcrbindung hat
sich das Mg-Oxydul nachweisen lassen. Die Dauer
der Einwirkung bis zum Auftreten von Intoxications-
Erscheinungen ist sehr verschieden (Wochen bis Jahre).
Die Prognose ist infaust. Vortr. sieht die Bedeutung
dieser Fälle in ihrer Aehnlichkeit mit der multiplen
Sklerose.
Discussion: Herr Marinesco hebt als Unter¬
schied zwischen diesen und Fällen von multipler
Sklerose die Vielgestaltigkeit der letzteren hervor; die
vorgestellten Fälle zeichnen sich gerade durch ihre
Einförmigkeit aus.
Herr v. Wagner muss doch die grosse Aehn¬
lichkeit beider Krankheitsbilder hervorheben, die durch
die einheitliche Aetiologie in den vorgestellten Fällen
noch an Bedeutung gewinnt.
Herr Häenei sucht die von Herrn Marinesco
erwähnten Unterschiede durch die verschiedene Loca-
lisation des anatomischen Prozesses, der dabei wohl
bei beiden von der gleichen Art sein könnte, zu er¬
klären.
Herr Obersteiner sieht in dem einen der vor¬
geführten Fälle kl einschlägigen Nystagmus in der
Mittelstellung der Augen.
Herr Rothmann fragt nach dem Verhalten des
Babinski’schen Reflexes. Derselbe fehlt hier.
Herr Jacksch, Schlusswort.
10. Friedei Pick (Prag): Ue^er klinische
Temperatursin nsprüfung.
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Vortr. hat einen kleinen handlichen Apparat con-
struirt (Erwärmung eines Wasserbehälters durch eine
vom elektrischen Strom durchflossene Platinspirale,
Temperaturablesung an eingefügtem Thermometer),
der eine genaue Abstufung des Wärmereizes und da¬
durch die Gewinnung von Schwellenwerthen gestattet.
Er berichtet über Untersuchungen, die Herr Dr.
Neu mann mit diesem Apparate bei Gesunden und
Kranken angestellt hat.
11. Stern b erg (Wien): Zur Physiologie
des menschlichen Centralnervensystems
nach Studien an Hemicepha 1 en.
Gemeinsam mit Dr. Wilhelm Latz ko hat Vortr.
die Lebensäusserungen einer hirnlosen Missgeburt
studirt, und nach ihrem am dritten Tag erfolgten
Tode das Centralnerven System eingehend untersucht.
Das Geschöpf besass Rückenmark und Meduila
oblongata bis in die Gegend des Locus coeruleus,
sowie ein höchst rudimentäres Kleinhirn. Der innere
Aufbau zeigte eine gewisse Thierähnlichkeit. Von
grösseren Bahnen fehlten die Pyramidenbahn, das
Monakow’sche Bündel, wahrscheinlich auch das Go-
werssche Bündel, sowie die Kleinhimverbindungen
der Olive und des Pons. Die Lebensäusserungen
der Missgeburt unterschieden sich nur in sehr Weni¬
gem von denen eines normalen Neugeborenen. Sie
stiess den ersten Kindesschrei aus, saugte, wurde
durch die Anregung des Saugens beruhigt, wenn sie
schrie, sie legte die Arme zurück, wenn man diese
aus der eingenommenen Stellung brachte. Das Stimm¬
centrum reicht daher nicht höher als bis in die Ge¬
gend des Locus coeruleus, der Kern des hinteren
Vierhügels gehört wahrscheinlich nicht mehr dazu.
Die Beruhigung des Schreiens durch Saugen beruht
auf einer Reflexhemmung, die sich in der Oblongata
vollzieht, die Wirkung und Beliebtheit des „Schnullers“
beruht auf diesem Reflexvorgange und nicht auf einer
„Ungezogenheit“. Die ziemlich complicirte Coordi-
nation, die zum Zurücklegen der Arme erforderlich
ist, geschieht ohne Mitwirkung der Pyramidenbahn.
Schob man einen Finger in das Händchen, so ergriff
ihn die Missgeburt und hielt ihn fest. Diese Bewe¬
gung, die Eltern und Pflegerinnen so „herzig“ und
„nett“ zu finden pflegen, ist also ein tiefstehender
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
339
Reflex. Das Geschöpf führte spontanen und reflec-
torischen Lidschluss aus. Da der Oculomotoriuskem
nicht ausgebildet war, kann daher der Augenfacialis
nicht — wie Mendel’s Hypothese annimmt — von
diesem Kerne entspringen, sondern muss wohl auch
im Facialiskem gesucht werden. Auf unangenehme
Reize reagirte die Missgeburt, wie schon von Flechsig
in einem ähnlichen Falle gesehen wurde, mit verschiede¬
nen Schmerz oder Unwillen ausdrückenden Grimassen
des Mundes. Es muss daher unterhalb des von
Nothnagel und Bechterew im Sehhügel nachge¬
wiesenen mimischen Centrums noch ein Centrum für
einige mimische Reflexe in der Oblongata liegen.
Unter den beobachteten Grimassen ist insbesondere
jene unwillig schmollende Geberde bemerkenswerth,
die in Wien „Schnoferl“ genannt. wird. Sie ist nach
Darwin eine Ausdrucksform, die Chimpansen und
Orangutangs besitzen, die bei Kaffernweibern häufig
ist, sich bei Europäern aber noch in der späteren
Kindheit verliert. Auch das reflectorische Festhalten
des in die Hand geschobenen Fingers geht in der
spätem Kindheit verloren und ist wahrscheinlich ein
phylogenetisch alter Reflex. Er musste für ein Wesen,
das auf Bäumen lebte und von Ast zu Ast sprang,
sehr wichtig sein. Während das hirnlose Geschöpf
alle die aufgezählten Functionen mit dem normalen
Kind gemein hatte, fehlten ihm die Abwehrbewegungen
der Extremitäten, die bei gewissen unangenehmen
Reizen (z. B. Kitzeln der Nasenschleimhaut), auch
beim Neugeborenen sonst auftreten. Das Fehlen
dieser Bewegungen, der Reactionen auf Licht und
Schall, und die ungenügende Temperaturregulirung
erwiesen gleich im Beginne des Lebens die Mängel
der Organisation, die das Fortleben unmöglich machen.
Discussion: Herr Anton erinnert an die Be¬
obachtung einer Athmung ohne Medulla oblong, auch
bei anderen Missgeburten, und wendet sich gegen
Petren, der solche Fälle durch eine Art Atavismus
erklären will; die Beschaffenheit des Neuroepithels
ist maassgebend. Die auch im vorgeführten Falle
nicht fehlenden Blutungen im Gehirn hält er weder
durch das Geburtstrauma noch durch eine Asphyxie
für erklärt; vielleicht spielen auch hierfür die Neben¬
nieren eine Rolle.
12. Wiener, zugleich für Münzer (Prag): Das
Zwischen - und Mittelhirn des Kaninchens.
Normal-anatomische Untersuchungen, für kurzes
Referat ungeeignet. (Ausführliche Veröffentlichung in
der Monatsschrift f. Psych. u. Neurol. XII, October¬
lieft).
An der Discussion betheiligen sich die Herren
Rothmann, Wiener, Münzer, Sternberg.
13. Raimann (Wien): Polioencephalitis.
Vortr. berichtet über einen Fall von Polioen¬
cephalitis sup. acuta nebst Korsakoffscher Psychose
aussergewöhnlicher Aetiologie. Es war nämlich Alko¬
holismus mit Sicherheit auszuschliessen, es ging auch
keine Infectionskrankheit voraus: hingegen bestand,
wie die Obduction lehrte, ein chronischer Darmpro-
cess (Lymphosarcomatose mit Geschwürsbildung)
und es musste eine auf diesem Boden stehende
Autointoxication zu der Neuropsychose geführt haben.
Vortr. weist darauf hin, dass die gastro-intestinale
Autointoxication in der Aetiologie des vorliegenden
Symptomencomplexes eine grössere Rolle spielen
dürfte, als man bisher glaubte. Schliesslich bestä¬
tigt der Casus, dass die Cerebropathia Korsakoffs
nicht nur in Fällen, die auf alkoholischem Boden
stehen, einer Polioencephalitis superior acuta ent¬
spricht.
4. Sitzung, 24. September Nachmittags, Vorsitzender:
Meschede (Königsberg).
14. Rosenfeld (Karlsbad): Kranken-Demon-
strationen:
a) Sklerodermie mit Myosklerose.
b) Raynaud’scher Symptomen comp lex
und Sklerodermie.
15. Meschede (Königsbeig): Gruppirung
der Psychosen (erscheint unter den Originalien
dieser Wochenschrift).
Discussion: Herr Aschaffenburg betont
ebenfalls den Unterschied zwischen Krankheitsbild
und -Process. Er glaubt aber nicht, dass man mit
einer Einteilung der Psychosen nach rein logischen
Gesichtspunkten viel nützen wird; maassgebend in
der Praxis ist nur der Gesichtspunkt der Prognose.
Wichtig ist aber hierfür, dass man das Leben der
Kranken, auch der Entlassenen, jahrelang verfolgt
Herr Meschede: In der nosologischen Bezeich¬
nung ist meist Prognose und Therapie schon mit ent¬
halten.
16. Rothmann (Berlin): Ergebnisse der
Ausschaltung der motorischen Function
und ihre Bedeutung für die Pathologie.
Experimente an Thieren haben gezeigt, dass Aus¬
schaltung der Pyramiden-Bahn keinen vollständigen
Ausfall der motorischen Function zur Folge hat; es
existiren Nebenbahnen (Monakow’sches Bündel, Vier¬
hügel-Vorderstrangsbahn u. a.), die die Leitung über¬
nehmen. Auch die Gesamtausschaltung einer ganzen
Rückenmarkshälfte führt selbst bei Affen zu keiner
vollkommenen Lähmung, es tritt, eine weitgehende
Restitution wieder ein. Beim Menschen sind die
Symptome einer reinen plötzlichen Pyramidenbahn¬
unterbrechung, — die gewöhnliche Hemiplegie ist
keine solche! — vorübergehende leichte Parese,
Spasmen, erhöhte Reflexe. Bei allmählichem Aus¬
fall treten die anderen Fasern auch beim Menschen
vicariirend ein; in diesem Sinne ist auch die thera¬
peutische Bedeutung der Uebung bei Hemiplegikern
zu verstehen. — Die spastische Spinal-Paralyse ist
von C har cot und Erb als reine Py.-B.-Erkrankung
erklärt worden; dass es auch bei dieser selbst nach
jahrelangem Bestände nicht zu eigentlicher Lähmung
kommt, spricht im selben Sinne. Auch die Seiten¬
strang-Degeneration an sich führt nicht ohne wei¬
teres zu Lähmung und Spasmen, wie man andrerseits
auch spastische Symptomencomplexe ohne Seiten-
strang-Erkrankung sicher beobachtet hat.
Im Ganzen sind jedenfalls die Ergebnisse der
Thierversuche in weitem Umfange auf den Men¬
schen übertragbar und haben zur Beleuchtung und
Erklärung pathologischer Verhältnisse wesentlich bei¬
getragen.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
340
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 31.
Discussion: Herr Anton weist darauf hin,
dass der Muskeltonus in seinem Endergebniss ab¬
hängig ist von den combinirten Einflüssen von Seiten-
und Hinterstrang (physiologische Spasmen beim Neu¬
geborenen), sowie darauf, dass der Py.-B. ausser ihrer
motorischen auch sicher eine trophische Function
ganz besonderer Art zukommt.
Herr Haenel erinnert an den von ihm unter¬
suchten Fall infantiler Hemiplegie mit Athetose,
in dem die Py.-B. völlig zerstört und degenerirt war,
dafür aber die entsprechenden Bahnen, die beim
Thier noch mit unzweifelhaften motorischen Func¬
tionen betraut sind, d. h. vor allem das Monakow-
sche Bündel, eine echte Hypertrophie erfahren und
ohne Zweifel die im Leben möglichen ausgiebigen
Bewegungen geleitet hatten.
Herr Rothmann, Schlusswort.
17. Stransky (Wien): Ueber disconti nuir-
liche Zerfall sprocesse an peripherischen
Nerven.
Vortr. hat auf der Klinik v. Wagner in Wien
eine grosse Anzahl von Meerschweinchen experimen¬
tell chronisch mit Blei vergiftet und die peripheren
Nerven untersucht. Er fand Zerfallsprocesse, ähnlich
denen, wie sie französischerseits von Gombault
beschrieben worden sind. Sie characterisiren sich
durch die Discontinuität des Markzerfalls, der sich
mitten in einer sonst normalen Faser etablirt, durch
die Feinkörnigkeit desselben, durch die Möglichkeit
des Erhaltenbleibens des Axencylinders, sowie durch
die Möglichkeit einer ebenso discontinuirlich wie. der
Zerfall selbst erfolgenden Restauration.
Vortr. demonstrirt zur Illustration des Gesagten
eine Reihe von histologischen Präparaten und weist
insbesondere darauf hin, dass der Vorgang von der
Waller’schen Degeneration, die besser als Nekrose
zu bezeichnen wäre, wohl völlig zu trennen ist. In
der Neuritislitteratur fänden sich gar nicht selten
ähnliche Befunde verzeichnet, die aber selten recht
gewürdigt wörden sind, speciell auf deutscher Seite.
Nach dieser Richtung hin wäre demnach die Neu¬
ritislehre recht reformbedürftig. Zuzüglich einer An¬
wendung der erhobenen Befunde auf die Neuronen¬
lehre verhält sich der Vortr. zurückhaltend. — Die
dem Vortrage zu Grunde liegende Arbeit wird ander¬
wärts erscheinen.
18. Fuchs, zugleich für Braun (Wien): Ueber
neurasthenisches Pulsphänomen.
Verf. führten durch folgenden Versuch den Nach¬
weis, dass die nicht selten zu beobachtende Herzirre¬
gularität bei leichter körperlicher Anstrengung bei
Neurasthenikern ein Vagus-Phänomen ist:
Sie Hessen bei einem neurasthenischen Indi¬
viduum, das in Rückenlage sich befand, ein conti-
nuirliches Sphygmogramm aufzeichnen, das jede, auch
geringste, Abnormität des Pulses sofort erkennen liess;
nach einmaligem Heben des gestreckten Beines gegen
Widerstand zeigte sich schon eine leichte Arhythmie;
dieselbe blieb aus nach Darreichung von 0,001 Atro¬
pin, das ein Vagusgift ist, kehrte bei allmählichem
Aufhören der Atropinwirkung wieder.
19. K almus (Prag): I rrenpflege in Böhmen
(siehe den Original-Artikel in dieser Wochenschrift).
20. Löwenthal (Braunschweig): Ueber die
objektiven Symptome der Neurasthenie.
Unter den objectiven Störungen sondert Redner
zwei Klassen ab, 1. die rein objectiven, 2. die be¬
dingt objectiven. Den subjectiven Störungen kann
durch den Nachweis ihrer gesetzmässigen Abhängig¬
keit auch ein gewisser objectiver Character verliehen
werden. Die rein objectiven Störungen setzen sich
zusammen aus solchen der allgemeinen Ernährung
und des Stoffwechsels (Körpergewicht fast immer ver¬
mindert), ferner aus solchen im Gebiete der glatten
Muskulatur, sowie der Drüsenthätigkeit BezügHch
der vegetativen Sphäre stellt Redner den Satz auf,
dass die erschöpfte Nervenzelle zu Dauercontraktion
in der glatten Ringmuskulatur neigt und weist dies
an den Vasomotoren, ferner am Verdauungs-Genital
und Respirationstractus nach. Zu den rein objectiven
Störungen in der willkürlichen Muskulatur gehören
die Veränderung der Sehnenreflexe, der Tremor und
verwandte Störungen.
(Schluss folgt.)
— Obornik (Provinz Posen). Die benachbarte
N ervenheilanstalt K o w a n o w k o, Eigenthum der
von Karczewski’schen Erben, ist als alleiniges Eigen-
thum in den Besitz des Herrn Dr. Adam von
Karczewski übergegangen.
— Am 16. Oct. fand bei Geh.-R. Jolly in Berlin
eine Sitzung des Vorstandes des Vereins
der Deutschen Irrenärzte statt. Es wurde
als Ort der nächsten Jahresversammlung 1903 Jena
in Aussicht genommen und als Zeit der 19. April
(Begrüssungsabend) und der 20. und 21. April (Sitz¬
ungstage). Als Referats-Themata wurden gewählt:
1. Ueber die Anwendung der Isolirung bei der Be¬
handlung der Geisteskranken; Referent Director Dr.
Mercklin in Treptow a. R.; 2. ein klinisch-foren¬
sisches Thema. — Der Vorstand wird den Antrag
stellen, den Namen des Vereins abzuändem in
„Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie“,
und die Jahresversammlung den „Cengress der
D. G. f. Psych.“ zu nennen.
Auch der neue Min.-Erlass v. 7. Oct. 1902
wurde besprochen. Es wurde von berufener Seite
angeführt, dass die Bestimmung „Andere Personen
sollen als Sachverständige nur dann gewählt werden,
w-enn besondere Umstände es erfordern“ — dahin
zu verstehen sei, dass ein solcher besonderer Um¬
stand jedesmal vorliege, wenn ein zu Entmündigender
Insasse einer öffentlichen Anstalt sei und dass dann
die Anstaltsärzte gewählt werden müssten.
Siemens.
Für den redactioncllen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Br es ler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevmoann’scbe Bucbdruckerei (Gebr. WoHT) in Halle a. S.
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Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
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Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
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redigirt von
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Kraschnitz (Schlesien).
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Nr. 32. 8. November. 2 ^1902.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint j**den Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), ru richten.
Inhalt. Originale: Einiges über die Befangenheit der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachverständige. Von Dr. Pfausler, Direk«
. tor in Valduna (S. 341). — Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen und daraus abzuleitende Forde¬
rungen nach Weiterausgestaltung derselben. Von Dr. Emst Kalmus, k. k. Polizeiarzt in Prag (S. 34"). — Mittheilungen
(S. 350). — Personalnachricht ^S. 352).
Einiges über die Befangenheit der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachverständige.
Von Dr. Pfausler , Director in Valduna.
T Tnser Artikel: „Schutz des Publikums vor den
Psychiatern“, in Nr. 7 dieser Wochenschrift 1 . J.
(S. 80), ist bei dem durch den bekannten Justiz-
Ministerial-Erlass betroffenen Kreise auf verschiedene
Ansichten gestossen. Ein grosser Theil der Anstalts¬
ärzte schloss sich unseren Anschauungen insoweit an,
dass er eine, von anderer Seite ausgegangene, dies¬
bezügliche gemeinsame Beschwerdeschrift an das
Justizministerium mitfertigte, während ein Theil die
Mitfertigung ablehnte, ohne auch nur über das Meri-
torische derselben und die Gründe für ihre Stellung¬
nahme sich zu äussem. Leider kam so die geplante
gemeinsame Aciion nicht zur Durchführung.
Eine durch den Vorarlberger Landesausschuss an
das Justizministerium geleitete Beschwerde wurde unter
Berufung auf den verstorbenen Prof. Dr. Schlager mit
der Begründung abgewiesen, „dass die Beizieh¬
ung der Anstaltsärzte zur Expertise natur-
gemäss bei Gesunden und Kranken zu der
Annahme führe, dass die Sachverständigen
wegen ihrer Beziehung zur Anstalt nicht
unbefangen seien.“
„In dieser Hinsicht Vorsicht zu üben, sei aber zurZeit
um so mehr angebracht, als das öffentliche Bewusstsein
hinsichtlich der Zulänglichkeit der gesetzlichen Schutz¬
mittel gegen ungerechtfertigte Entmündigung empfind¬
lich geworden und wie der Ruf nach Reform be¬
weise, beunruhigt sei.“
Nachdem das Justizministerium eine anderweitige
Begründung für seinen einschneidenden Erlass nicht
bekannt gegeben, so haben wir uns vorläufig nur da¬
mit zu befassen, ob die aus unserer Beziehung zur
Anstalt abgeleitete Befangenheit zu wirklich begrün¬
deter Beunruhigung des öffentlichen Bewusstseins
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
342 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32.
führt und inwieweit der Ausschluss der Anstaltsärzte
als gerichtliche Experten das öffentliche Bewusstsein
wieder beruhigen kann.
Es ist gesetzliche Vorschrift, dass keine Person
ohne ärztlich bescheinigte Geistesstörung in eine
Irrenanstalt abgegeben werden darf. Die Anstalts¬
leitung hat die Verpflichtung, die zuständige Behörde
innerhalb 24 Stunden von der erfolgten Aufnahme
eines Kranken zu verständigen. Sache des Gerichtes
ist es dann, durch Berufung einer Constatirungs-
Commission den Geisteszustand eines Internirten zu
erheben. Nachdem aber zu solcher Aufgabe schon
durch den Studiengang die Unzulänglichkeit des
Richters allein dargelegt ist, ist im Gesetze die Zu¬
ziehung „vollkommen befähigter und erprobter Ex¬
perten“ vorgesehen. Deren Aufgabe ist es, auf Grund
ihres Fachwissens und eingehender gewissenhafter
Beobachtung „den Geistes- und Gemüthszustand“
eines Kranken in einer auch für den Laien verständ¬
lichen Weise darzulegen. Das Gutachten der Ex¬
perten trägt somit den Character einer fachwissen¬
schaftlichen Leistung, die als solche vom Richter ent¬
gegengenommen wird. Es steht dem Richter voll¬
kommen frei, sich der durch die Sachverständigen
dargelegten Anschauung anzuschliessen oder nicht.
Der Richter wird seine Entscheidung gemäss seiner
Instructionen auf mehrfache, eventuell auf nicht ärzt¬
liche Erhebungen treffen und kommt diesfalls das
Gutachten der Sachverständigen nur einer fachwissen¬
schaftlichen Zeugenaussage gleich. Das Entscheidende
bleibt also das Urtheil des Richters „und an den
Spruch der Gerichte, wenn er allzeit von
Sieg des Rechtes ist, kann die öffentliche
Kritik, wie umfassend sie sein mag, nicht
heran“, so sagte unser Ministerpräsident Dr. von
Korber als Justizminister.*) Das Urtheil des Richters
schliesst somit jedes ineorrecte Vorgehen aus.
Es ist aber von grosser Wichtigkeit, dass der Richter,
„je weniger er ein Sclave des Buchstabens“ sein darf
und je mehr er „frei nach dem Geiste des Gesetzes zu
entscheiden berufen ist“,*) sein Urtheil auf die best¬
möglichste und zuverlässigste Grundlage innerhalb
des gesetzlichen Rahmens aufbauen muss und dass
er in seinem gesetzlich gewährleisteten Rechte (siehe
Motivenbericht zu g 351 C. P. O.j, welches dem un¬
abhängigen Richter die Wahl der Experten freistellt,
nicht gerade in Bezug auf den hierfür berufensten
Kreis der Anstaltsärzte beschränkt werde. Und wenn
Dr. v. Korber den auch in den Staatsgrundgesetzen
*) Rundschreiben des Ministerpräsidenten als Leiter des
Justizministeriums vom 18. X. 02 an die Oberlandesgerichts-
präsidenlen.
proclamirten Fundamentalsatz: „es soll einerlei
Recht sein für jedermann“ als den gemein¬
schaftlichen Leitstern bezeichnet, so ist dieser Leit¬
stern durch den im Gesetze nicht begründeten Justiz-
Ministerial-Erlass, welcher bei der Berufung praktischer
Aerztc auch ohne jede psychiatrische Fachkenntniss
den für die Expertise wissenschaftlich befähigten
Fachmann, den Anstaltsarzt, vom gleichen Rechte
ausschliesst, unsichtbar hinter eine Wolke getreten.
Wir haben das von Docent Dr. Salgo in seiner Ent¬
gegnung (Nr. 16 dieser Wochenschrift 1 . J. S. 190) an¬
geführte Vorurtheil gegen Irrenärzte und gegen Irren¬
anstaltsärzte im Besonderen in der grossen Mehrheit
des Publikums nicht finden können und halten es
auch nicht für gerechtfertigt, dass ein Ministerial-Er-
lass einem wirklich selten auftretenden, „aus Miss¬
trauen und B o s h e i t entspringenden Vor-
urtheile“, in einer das Ansehen der berufensten
Experten, der Irrenanstaltsärzte, so schwer schädigen¬
den Weise Rechnung trägt.
Die Entmündigung ist ein Gerichts ver¬
fall ren und wird vom Gesetze nicht als „eine Vernich¬
tung der Individualität“, sondern vielmehr als ein dem
Individuum zu theil werdender R ech tsschutz auf-
gefasst. Wie beflissen in dieser Ansicht die Gerichte
Vorgehen, mag daraus erkannt werden, dass ein in
unsere Anstalt freiwillig behufs geeigneter Behandlung
cingetretener Magister pharmaciae, wiewohl seine
volle Handlungsfähigkeit von uns bescheinigt wurde,
der Curatelverhängung nur durch ein gestempeltes
Gesuch an das Gericht entgehen konnte.
Aber auch der Rechtsschutz der persönlichen
Freiheit hat beim bisherigen Verfahren in keinem nach¬
weisbaren Falle zu einer ungerechtfertigten Internirung
beziehungsweise Zurückhaltung durch Anstaltsärzte
geführt. Die Kranken werden ja in Befolgung der
gesetzlichen Bestimmungen vollkommen unab¬
hängig von den Anstaltsärzten auf Grund
von auswärtigen Aerzten nachgewiesener und beschei¬
nigter Geistesstörung der Anstaltsbehandlung zuge¬
führt. Im beruflichen Interesse der Anstaltsärzte
liegt es, den Kranken durch sorgfältige Behandlung
und Pflege zu heilen oder soweit zu bessern, dass
er dem häuslichen Kreise, je eher desto besser, wieder
zurückgegeben werden kann. Zudem steht es den
Angehörigen und gesetzlichen Vertretern frei, auch
ungeheilte und unheilbare Kranke jederzeit der An¬
stalt zu entnehmen und kein Anstaltsarzt wird da¬
gegen Einspruch erheben. Es ist übrigens genugsam
bekannt, dass gegen Entlassungen nicht geheilter
Kranker von den Angehörigen und selbst von Be-
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iqo2 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
hörden mehr Schwierigkeiten gemacht werden als von Verschleuderungen und geschlechtlichen Ungeheuer-
den Anstaltsärzten. lichkeiten verhüten, die wir als etwas ganz Selbst-
Wenn, wie Dr. Salgd uns entgegenhält, es vor- verständliches hinzunehmen pflegen. Wer den trau¬
kommen mag, dass auch erfahrene Fachmänner bei rigen Muth findet, diese unerschöpfliche Summe
bestem Wissen und Gewissen irrthüm iche oder diver- menschlichen Elends noch vergrössern zu wollen, der
girende Anschauungen über einen gegebenen Fall beweist dadurch nur, dass er keine Ahnung von dem
vertreten haben, so ist doch damit noch nicht er- zerstörenden Einflüsse besitzt, den schon ein einzelner
wiesen, dass Anstaltsärzte die Interessen der ihnen Geisteskranker auf die Familie ausübt, die für ihn zu
anvertrauten Kranken in erster Linie auch den Rechts- sorgen gezwungen ist. Gewiss sind nicht alle Geistes¬
schutz der persönlichen Freiheit ausser Acht gelassen kranke gefährlich, aber es giebt wenige, die es nicht
haben. Zudem muss hervorgehoben werden, dass einmal werden können. Ich habe daher auch über¬
psychiatrische Irrthümer an die Zahl der Rechtsirr- all die Schwierigkeiten grösser gefunden, unheilbare,
thümer nicht heranreichen, abgesehen davon, dass die halbwegs entlassungsfähige Pfleglinge wieder los zu
aus ersteren sich ergebenden Folgen, wie Entmündigung, werden, als gemeingefährliche Kranke gegen ihren
von keiner so schweren oder hervorragenden Bedeutung Willen in der Anstalt festzuhalten“,
sind als die letzteren. Es ist auch keineswegs klargelegt, wieso der Rechts-
Prof. Dr. Kraepelin hat sogar Gelegenheit ge- schlitz der persönlichen Freiheit durch die Anstalts¬
habt, 6 Jahre hindurch alle seine Kranken ohne irgend ärzte gefährdet sein sollte, oder wie durch die Bei¬
weiche Papiere aufzunehmen, und sind ihm nach Ziehung der Anstaltsärzte als gerichtliche Sachver-
seinem Geständnisse keine nennenswerthen Unzu- ständige die Gefahr einer Entmündigung, welche doch
träglichkeiten daraus erwachsen. (Siehe Lehrbuch der ein Gerichtsverfahren ist und nicht vom An-
Psychiatrie, 1899. 6. Auflage, I. Band, Seite 346.) staltsarzt verhängt wird, vergrössert sein soll. Noch
Er knüpft daran den Satz: „Freilich ist die Ver- weniger scheint uns erwiesen, dass der Rechtsschutz
an t wo rtlic h k ei t für den Irrenarzt selbst der persönlichen Freiheit und die fachwissenschaftliche
unter diesen Umständen eine viel grössere, Grundlage im Entmündigungsverfahren durch die Bei¬
ais wenn er sich überall auf gesetzliche Vor- Ziehung praktischer Aerzte, welche mit der Psychiatrie
Schriften berufen kann, aber er ist als Sach- ungenügend oder gar nicht vertraut sind, besser be-
verständiger auch am meisten dazu befähigt, stellt sein sollte. Prof. Kraepelin schreibt in seinem
sie zu tragen, und die Kranken befinden sich Lehrbuche (I. Band, S. 301), wo er der Einführung
dabei ohne Zweifel am wohlsten.“ Wir halten der Psychiatrie als obligatorischer Prüfungsgegenstand
entgegen von Prof. Kraepelin die Erledigung aller das Wort redet: „Dann endlich wird auch der
Förmlichkeiten bei Aufnahme eines Kranken nicht empörende Unfug aufhören, dass tagtäg-
blos „in allen • schwierigen Fällen“, sondern über- lieh Aerzte als Sachverständige auftreten
haupt in allen Fällen dringend wünschenswerth, und gehört werden in Fragen, von deren
schliessen uns aber vollends seinen Anschauungen Bedeutung sie auch nicht die leiseste
über eine Erschwerung der Aufnahmen in die Kennt n iss haben, dass sie für befugt e r -
Anstalten an, worüber Kraepelin sich folgendermaassen achtet, ja unter Umständen gezwungen
an gleicher Stelle äussert: „Man versuche aber die werden, ohne weiteres über die Einbrin-
Durchfiihrung einer solchen „Reform“ auch nur ein g u n g in Irrenanstalten, über Entmündi-
einziges Jahr lang wirklich in irgend einem Landes- gungen , über Zurechnungsfähigk eit rcchts-
theile, so werden die papierenen Verbcsscrungsvor- gültige Gutachten abzugeben“.
Schläge schneidiger Juristen und ihrer sachverständigen Von den zustehenden Behörden wurde uns
Halbirrenärztc von einem Sturme der Entrüstung über übrigens wiederholt bekannt, wie unzufrieden sie mit
die mangelhafte Irrenfürsorge hinweggefegt werden. den Ergebnissen der Neuerung, mit der Begutachtung
Es bedarf nur eines Blickes in unsere Tageszeitungen, durch Nicht-Anstaltsärzte sind. Belege hierfür anzu-
um einen klaren Begriff von der Grösse des Unheils führen erschiene uns kleinlich, wiewohl wir über die
zu gewinnen, welches noch jetzt tagtäglich Geistes- Art und die Resultate der jetzigen Expertise die
kranke in der Freiheit über sich und ihre Umgebung haarsträubendsten Dinge zu berichten w'üssten.
heraufbeschwören. Rechtzeitige Fürsorge für diese Wie sehr auch die Gerichte das Missliche der ge-
Unglücklichen könnte ohne Zweifel einen grossen schaffenen Lage zu umgehen und zu bessern suchen,
Theil der sich immer wiederholenden Selbstmorde, mag daraus entnommen werden, dass sie an die Anstalts-
Familientödtungen, Angriffe, Brandstiftungen, der Geld- ärzte noch vor Tagung der gerichtlichen Constatirungs-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32.
commission Fragen stellen, über das Betragen des
Kranken, ob eine acute oder chronische Geistesstör¬
ung vorliege und in welcher Zeit Heilung zu er¬
warten sei. Nachdem aber die Beantwortung solcher
Fragen nur auf Grund unseres Fachwissens in Form
gutachtlicher Acusserungen geschehen kann, haben
wir deren Beantwortung unter Hinweis auf den Mini-
sterial-Erlass abgelehnt und erklärt, dass den Behörden
in der Fragestellung an die Anstaltsärzte kein weiteres
Recht mehr zustehe, als es in unserer Pflicht zur
Zeugenaussage gelegen ist. Darauf wandten sich zwei
Gerichte Beschwerde führend vergeblich an den Landes¬
ausschuss unter dem Hinweis um Hilfe, „sie hätten
von den Anstaltsärzten kein formelles Gutach¬
ten, sondern nur die Beantwortung von für
die Expertise zweckdienlichen (allerdings!)
Fragen verlangt, welche den Zweck gehabt hätten,
die kostspieligere gerichtliche Consta-
tirungs-C ommissio n eventuell vermeiden
zu können“.
Wenn aber der Ministerial-Erlass den Rechtsschutz
der persönlichen Freiheit im Auge zu haben scheint, und
die bisherige Befugniss der Anstaltsärzte der strengsten
Controlle unterworfen wissen will, so klingt die Aeusse-
rung der erwähnten Bezirksgerichte, „um die kost¬
spieligere gerichtsärztliche Untersuchung
des Geisteszustandes allenfalls vermeiden
zu können“ zum Gelindesten sehr unjuristisch,
da doch der Rechtsschutz der persönlichen Freiheit
weder von der Zeitdauer des Aufenthaltes einer Person
in der Irrenanstalt, noch weniger vom Kostenpunkte
abhängig gemacht werden darf.
Wir haben uns bisher auch geweigert, den begut¬
achtenden Aerzten unsere Krankengeschichten zur
Verfügung zu stellen und können dies vollends recht-
fertigen. Wenn auch die Zuschrift des Justizmini¬
steriums besagt, die Krankengeschichten würden zum
Zwecke für die Behörden angelegt, so ist dies eben
eine Meinung, die wir als Nicht - Ministerialbeamte
nicht theilen müssen. Die Krankengeschichten sind
das geistige Eigenthum der Anstaltsärzte, tragen in
allen ihren Theilen das Gepräge ihres Fachwissens,
ja sie sind gewissermaassen nur durch dieses ermöglicht.
Eine Einsichtnahme in die Krankengeschichten kommt
darum indirect einer Vernehmung der Anstalts¬
ärzte als Sachverständige gleich. Die Kranken¬
geschichten können darum nicht einfach als Zeugen¬
materiale angesehen w f erden, in welches Einsicht zu
nehmen die Behörden auf Grund unsrer Staatsbürger-
Pflicht zur Zeugen-Aussage ohne weiteres ein Recht
haben. Und wenn sich gegenüber einer solchen Stel¬
lungnahme ein Justizministerial-Beamter zur Aeusse-
rung veranlasst gesehen hat, „wir würden zur Her¬
ausgabe der Krankengeschichten mit seiner Macht
gezwungen werden“, so ist uns dies nur ein Bew r eis,
dass bisher ein solch unbedingtes Recht den Behörden
nicht zusteht. Es wirft übrigens ein eigenartiges Licht
auf das unbegrenzte Uebergewicht der Juristen im
modernen Staate, wenn sie einfach, w r o ihnen das
Recht fehlt, ihre Macht als Argument in das Feld
führen. Wir getrauen uns dieses Argument nicht bis
zu seinen letzten Consequenzen zu verfolgen, sind
aber der Ueberzeugung, dass die Nicht-Juristen in der
Gesellschaft, welche denn doch nicht gerade in allem
die von jenen Geführten sein müssen, unter einem
gewissen zu weit gehenden Ueberdruck der Juristen
stehen. Wenn wir schliesslich in der Sache unter¬
liegen sollten, so werden wir vom erhebenden Be¬
wusstsein getragen, dass w r ir mehr der Macht als
dem Recht gewachen sind.
Ueberdies dürfen nach den Intentionen des Er¬
lasses die Krankengeschichten der Anstaltsärzte für
die begutachtenden Aerzte nicht jene volle objective
Sicherheit bieten, dass dieselben für deren Gutachten
von entscheidendem Belange sind. Die auswärtigen
Aerzte werden vielmehr gezwungen sein, erst auf
Grund wiederholter, eingehender eigener
Beobachtung ihr Gutachten abzugeben und nicht
bei der eigenen Unkenntniss der Verhältnisse die
Krankengeschichten einfach abschreiben, abgesehen
davon, dass sie ja durch dieselben auch irre geführt
werden könnten. Dann wird es sich aber auch viel
objectiver und sicherer zeigen, dass deren gutacht¬
liche Leistungen in keinem Falle jene wissen¬
schaftliche Höhe und objective Sachlichkeit
erreichen, wie diese bisher bei den Gutachten der
Anstaltsärzte die volle Anerkennung der Gerichte
gefunden haben. Und darauf kommt es doch
in erster und letzter Linie an.
Aber auch der Rechtsschutz der persönlichen
Freiheit wird durch den Erlass kaum gesicherter sein,
als er es bisher schon war, da, abgesehen von bereits
Besprochenem, auch durchaus nicht einzusehen ist, wie¬
so practische Aerzte ungesetzlichen und strafbaren Ein¬
flüssen zu Gunsten einer Person oder Sache weniger
ausgesetzt sein sollten als Anstaltsärzte.
Aus allem geht hervor, dass der Justiz-Ministerial-Er-
lass einem unglücklichen Schein-Manöver gleich¬
kommt. Die Anstaltsbeobachtung soll, wie auch Docent
Dr. Salgo hervorhebt, „das S übst rat für das ge¬
richtliche Urth eil“ abgeben und „die gerichts¬
ärztliche Untersuchung durch Nicht-An-
staltsärzte nur die Flagge, unter w r elcher
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1902 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
345
das Verfahren weiter fortgeführt wird.“
Jenes Publikum aber, welches „aus Misstrauen
und Bosheit“ gegen die Anstaltsärzte Recrimina-
tionen wegen ungerechtfertigter Internirung erhebt und
dem zu Liebe die neue Regelung gleichsam als be¬
hördliche Sanktionirung dieses Vorurtheiles anscheinend
erfolgte, wird alsbald über den geschaffenen Schein
hinwegsehen und seine aus den nie versiegen¬
de n Q u e 11 e n „d e s M i s s t r a u e n s und d e r B o s-
heit“ fliessenden Anschuldigungen gegen
„die neue Flagge“ um so sicherer erheben, als
sie die alte sturmerprobte Fahne der Anstalts-Ve¬
teranen mit ministerieller Hilfe in den Koth ge¬
zogen. Nachdem das Justizministerium der Scylla
ihr geneigtes Ohr geliehen, wird cs in gleicher Con-
sequenz auch der Charybdis nic'lit mehr länger wider¬
stehen können. Denn andererseits weiden immer
wieder mehr Stimmen und Beschwerden laut, welche
die Anstaltsärzte anklagen, dass sie ihre Kranken
allzu früh wieder „a u f das Publikum los-
lassen.“ Der Director der Wiener Irrenanstalt Dr.
Tilkowsky musste beim VIII. internationalen Anti-
alkohol-Congress in Wien (1901) so manchen dies¬
bezüglichen schweren Vorwurf auch von Seite der
Juristen hören. In gerechter Würdigung auch solcher
Recriminationen wird das Justiz - Ministerium nicht
umhin können und auswärtige Aerzte bestellen müssen,
welchen die Aufgabe zufällt, jeden von den Anstalts¬
ärzten zur Entlassung vorgeschlagcnen Kranken gutacht¬
lich überprüfen zu lassen. Dann ist vielleicht jenes von
Dr. Salg/> ersehnte Ziel erreicht und der Anstalts-
Psychiater ein f ac h wissen schaf t lieber Irren-
p fl eg er geworden. Aber auch dann wird jenes
„aus Misstrauen und Bosheit“ schöpfende Publikum
nicht befriedigt sein, denn heute schon hören wir
Stimmen, auch von Juristen, laut werden, welche die
Bei Ziehung von Laien zur Constatirungs-
Commission verlangen, ähnlich wie bei den Ge¬
schworenen - Gerichten; dann werden wir glückliche
Psychiater jene Scenen mit dem von Prof. Kraepelin
erlebten Ausspruch dieser Sachverständigen: „Den
Mann nehmen wir mit, der ist gescheidter als wir
sind“, an der Tagesordnung linden und die Consta-
tirungs-Commission wird in hohnlachendem Jubel auf
die Anstaltsärztc mit dem ihnen entrissenen Opfer
von dannen ziehen.
Dass der Justiz - Ministerial - Erlass in der Sache
keine Besserung in sich schliesst, hat auch Dr. Saig/)
wesentlich anerkannt, indem auch er glaubt, dass
„eigentlich die Anstaltsbeobachtung das Substrat für das
gerichtliche Urtheil und die gerichtsärztliche Unter¬
suchung nur die Flagge abgiebt, unter welcher das
Verfahren weiter fortgeführt wird“. Seine falsch ge¬
zogenen Schlüsse und seine irrthümliche Anschauung,
„dass mit der Frage der Geistesstörung die der zwangs¬
weisen Detenirung unlösbar verknüpft sei“, hat in¬
dessen von Docent Dr. Weygandt (s. Nr. 29 dieser
Wochenschr. 1 . J.) die gebührende Würdigung gefunden,
dessen Ausführungen ich mich nur anschliessen kann.
Geradezu herausfordernd ist, was Dr. Salgo über
die forensische Psychiatrie sagt. Es heisst die
ganze Entwicklung derselben nicht kennen, wenn er
glaubt, dass die Psychiatrie sich selbst eine
forensische N ebendisciplin geschaffen habe.
Nicht der Arzt ist es, welcher in einem gegebenen
Strafrcchtsfall sich mit seinem Wissen und seiner An¬
schauung an den Richter herandrängt, sondern der
Richter beruft im Gefühle der durch seinen
Studiengang gegebenen eigenen Unzuläng¬
lichkeit für die Bcurthcilung einer Indi¬
vidualität d e n fach Wissenschaft liehen Sach¬
verständigen, den Psychiater. Es darf dabei
auch nicht übersehen werden, dass die sonst nicht
allzu bescheidenen Juristen nicht über eigenen An¬
trieb allein zur Anhörung von Sachverständigen
sich herbcigclassen haben. Hierbei spricht eben auch
die gesamrntc Gesellschaft als solche mit, welche auf
die Fortschritte in allen Wissensgebieten Bedacht
nimmt und ihnen, wenn rechtsdienlich, gesetzlichen
Ausdruck zu verleihen strebt. Die solchermaassen aus
der Gesellschaft hcrausgewachsenen Gesetze erweisen
sich als eine lebenskräftige Wohlthat für die Gesell¬
schaft, machen sie frei, während rein juristische
Schöpfungen, welche nicht der Volksseele ent¬
sprossen sind, jener nur einen unleidlichen Zwang
anthun und infolge Mangel für deren Verständniss
wieder verkümmern. Ist schon der Arzt überhaupt
zum Verständniss und zur Beurtheilung menschlicher
Dinge gemäss seinem Studiengang unter allen gebil¬
deten Ständen am besten befähigt, so ist es in ganz
besonderem Maasse der Psychiater. Die Gesellschaft
braucht darum auch unsere Mitarbeit, und es ist
unsere Pflicht, allen menschlichen Dingen unser Augen¬
merk zuzuwenden, unser Wissen und unsere Erfahrung
nicht bloss bei den uns anvertrauten Kranken anzu¬
wenden, sondern der ganzen Gesellschaft als solchen
dienstbar zu machen. Mag darum auch Dr. Salgo
sich in resignirter Ruhe bescheiden, wir werden es
uns nicht nehmen lassen, im Sinne von Möbius an
der Entwicklung und dem Ausbau der Psychiatrie
mitzuwirken, auf dass der Psychiater zum Richter
in allen menschlichen Dingen, zum Lehrer
des Juristen und Theologen, zum Führer
des Historikers und des Schriftstellers werde.
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34ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32.
Nach diesen Darlegungen müssen wir mit Be¬
dauern noch auf einen besonderen Umstand hin-
weisen. Bei den im Laufe dieses Jahres tagenden
Enquete-Berathungen zur Schaffung eines neuen Irren¬
gesetzes waren die Meinungen der hierzu Berufenen
über die Beiziehung der Anstaltsärzte zur Expertise
über Kranke in den Irrenanstalten getheilt. Soviel
uns bekannt, waren in die Enquete drei Anstalts¬
direktoren und vier bezw. fünf Professoren berufen.
Zur Annahme gelangte der Antrag von Prof. D r.
v. Wagner, der dahin ging, dass „die zur Unter¬
suchung beizuziehenden Aerzte nicht Aerzte
der Irrenanstalt, wenigstens nicht derselben
Irrenanstalt, in der die Untersuchung statt¬
findet, sein sollen, aber wirkliche Sachver¬
ständige sein müssen“. Von solchen Sachver¬
ständigen verlangt Prof. v. Wagner eine 4 jährige Aus¬
bildung auf Irrenklinik oder Anstalt. Eine andere
Begründung hierfür als die des verstorbenen Professor
Dr. Schlager w-urde, soweit uns bekannt, nicht ange¬
führt. Auch ist keine Erwähnung, wie es bei den
Irren kl in i ken gelten soll, ob auch die Psychiater
der Klinik von der Begutachtung ihrer Kranken aus¬
geschlossen sein sollen. Es soll somit unverkennbar
ein doppelter Standpunkt gelten: die Anstaltsärzte
sind von der Expertise auszuschliessen, so bestimmt
es auch der Erlass und begründet dies damit, „dass
die Beiziehung der Anstaltsärzte naturgemäss bei Ge¬
sunden und Kranken zur Annahme führe, dass die
Sachverständigen wegen ihrer Beziehungen zur Anstalt
nicht unbefangen seien“, und von der Irrenklinik ist
nirgends die Rede. Haben vielleicht die Psychiater
an den Kliniken keine Beziehung zu ihrer Klinik,
welche den Schein des „Nichtunbefangen seins“,
der Befangenheit über sie legen könnte? Wir glauben,
dass zwischen den Psychiatern an den Kliniken und
ihrer Klinik ebensolche Beziehungen bestehen müssen,
wie zwischen den Anstaltsärztcn und den Irrenanstalten.
Sollte dem aber nicht so sein, so könnte der Grund
dazu nur in Zweifachem liegen: Die Verhältnisse an
den Kliniken müssten anders geartete sein, als die
einer Irrenanstalt; dann verlangen wir: man stelle
die Irrenanstalten auf die gleiche oder eine ähnliche
Rechtsgrundlage wie die Irrenkliniken, damit auch
von uns der Schein der Befangenheit hinweggenommen
werde; oder aber die Psychiater an den Kliniken
müssten wesentlich andere Menschen sein als die
Psychiater an den Irrenanstalten. Wieso dies? Sind
denn nicht schon häufig Anstaltsärzte Professoren der
Klinik geworden ? Haben nicht sehr viele Professoren
der Psychiatrie als Anstaltsärzte ihre Laufbahn be¬
gonnen und als solche auch als psychiatrische Ex¬
perten fungirt? Gewiss. Die Professoren v. Wagner
und Pick, welche die neuen Enquete-Vorschläge ge¬
schaffen haben, werden diesen Beginn ihrer Laufbahn
noch im Gedächtniss haben. Ja, von Prof. Pick ist
uns berichtet worden, dass er seinerzeit als Direktor
in Dobran gegen den dortigen Stadtarzt, welcher sich
für die Expertise in der Anstalt meldete, Stellung ge¬
nommen hat. Nun fragen wir diese Herren, welche
inneren und äusseren Wandlungen muss so ein An¬
staltsarzt, dem infolge seiner Beziehung zur Anstalt
Befangenheit anhaften soll, durchmachen, um dieselbe
auf dem Wege von der Irrenanstalt bis zum akade¬
mischen Katheder abzustreifen? „Es soll einerlei
Recht sein für Jedermann“ sagte unser Justiz¬
minister Dr. v. Kürber.
Nach unseren Ausführungen vermögen wir in der
Expertise durch die Anstaltsärzte keine Gefahr für
den Rechtsschutz der persönlichen Freiheit
zu erkennen. Die Expertise ist ein Gerichts¬
verfahren und schliesst das richterliche Ur-
theil, dem „das aus dem Geiste der Gerech¬
tigkeit fliessende Recht als Richtschnur gilt“,
jedes incorrecte Vorgehen aus. Der Richter ist
durch seinen Studiengang veranlasst, gar häufig Sach¬
verständige zu Rathc zu ziehen. Dass er in seinem
gesetzlich gewährleisteten Rechte zur freien Wahl der
Experten nicht beschränkt werde, liegt im Interesse
einer guten, einwandsfreien Rechtspflege. Je mehr
„der Richter frei nach dem Geiste des Gesetzes zu
entscheiden berufen ist“ und je weniger er ein Automat
der starren Paragraphe sein darf, desto zuverlässiger
muss im gegebenen Falle die Erforschung der Indi¬
vidualität durchgeführt werden. Dass sich hierfür die
Anstaltsärzte als geeignete, „vollkommen befähigte und
erprobte“ Sachverständige bewährt haben, wurde auch
von den Gerichten bisher rückhaltlos, ja lobend an¬
erkannt. Es muss als bedenklich erscheinen, an deren
Stelle wissenschaftlich unzulängliche und bezüglich der
„aus Misstrauen und Bosheit“ fliessenden Anschul¬
digungen keineswegs einwandsfreiere Sachverständige
heranzuziehen, und ein richterliches Urtheil muss als
unsicher bezeichnet werden, wenn seine Voraus¬
setzungen auf schwankendem Boden gegründet sind.
Wenn der Justiz-Minister Dr. v. Körber sagt: „Wer
kein ganzer Richter sein kann, ist besser
keiner“, so sagen wir: „Wer kein ganzer Sach¬
verständiger sein kann, ist besser keiner“.
Die Quellen „des Misstrauens und der Bosheit“,
aus denen gegen die Irrenärzte unbegründete Recri-
minationen erflossen sind, wird auch der neue Erlass
nicht zum Versiegen bringen. Durch ein solch schwäch-
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 347
liches Nachgeben der berufenen Kreise wird jenen
der Schein der Berechtigung amtlich aufgedrückt, der
noch bösere Früchte zeitigen wird und gegen den
wir energisch protestiren müssen.
Wir Psychiater von Beruf werden indessen unge¬
hindert durch juristische Missgriffe dahin streben
müssen, dass die von Director Dr. Frank in seinem
Aufsatze: „Strafrechtspflege und Psychiatrie“ (s. diese
Wochenschrift 1901, No. 37, S. 359) gekennzeichneten
Ziele erreicht werden.
Skizze des gegenwärtigen Standes der Irrenfürsorge in Böhmen
und daraus abzuleitende Forderungen nach Weiterausgestaltung derselben.
Von Dr. Ernst Kalmus , k. k. Polizeiarzt in Prag.
(Schluss.)
Hier sei noch hervorgehoben, dass an massgeben¬
der Stelle, speciell bei den Staatsbehörden, die volle
Einsicht betreffs der bestehenden Uebelstände be¬
steht und der Irrenfürsorge vollste Aufmerksamkeit
geschenkt wird. Der Staat hat zunächst durch Auf¬
nahme der Psychiatrie als obligaten Prüfungsgegenstand
in die neue Rigorosenordnung, für eine bessere und
allgemeinere Ausbildung der Aerzte gesorgt und da¬
durch indirect einen bedeutenden Fortschritt in derlrren-
fürsorge angebahnt. Weiteres fanden im Frühjahre d.
J., wie ich theils aus Zeitungsnotizen, theils aus frdl.
Mittheilungen Prof. Wagners von Jauregg in Wien, er¬
sehen, Berathungen in den Ministerien statt, welche
sich mit der Irrenfürsorge, insbesondere der Frage
der Unterbringung crimineller Geisteskranker, den
Aufnahmsbedingungen in Irrenanstalten, der Entmün¬
digung, der Irrenstatistik, beschäftigen.
Auch die staatlichen Landesbehörden Böhmens
haben schon seit längerer Zeit der Irrenfürsorge
Böhmens ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Schon
im letzten im Drucke erschienenen Sanitätsberichte,
über die Jahre 1896 — 98, führt Hofrath Pelc, der
derzeitige Sanitätsreferent der Statthalterei, bezüglich
der Irrenfürsorge an der Hand der Zahlentabellen
ungefähr folgendes aus:
Diese Verhältnisse (der grosse Ueberbelag in
Prag und Dobran) hängen einerseits mit der immer
mehr angesuchten Hospitalisirung der Kranken, mit
der bessern Evidenz und der grösseren Verbreitung
der Geisteskrankheiten zusammen, andererseits sind
sie darin begründet, dass für die Unterbringung von
Irrensiechen, Alkoholikern und Epileptikern in aus¬
wärtiger Pflege im Lande keine Vorsorge getroffen
ist und diese Kranken, nebst den periodischen
Formen in Irrenanstalten zurückbehalten werden
müssen.
Namentlich auf den psychiatrischen Kliniken war,
wie der Bericht weiter sagt, die Ueberfüllung eine
solche, dass schon in den Jahren 1897 und 1898
die Aufnahme wiederholt sistirt werden musste.
Uebrigens steht durch Uebergang der Sluper Gründe
noch eine Reducirung des Raumes in der Prager
Irrenanstalt bevor. —
Weiteres fordert der Bericht eine weitere Ausge¬
staltung der Irrenfürsorge überhaupt, welche sich
nicht nur auf Schaffung weiterer Belegräume be¬
schränken dürfe, sondern auch für Colonisirung und
familiäre Verpflegung der Geisteskranken zu sorgen
hätte.
Er bespricht dann noch die Verhandlungen, welche
bezüglich der neu zu errichtenden psychiatrischen
Kliniken in Prag schweben. Diese sollen auf dem
Platze der IV. Abtheilung der Prager Irrenanstalt,
(dem sogen, alten Gebärhause) errichtet werden.
Der Bericht giebt der Erwartung Ausdruck, dass dieser
Bau in den nächsten Jahren thatsächlich ausgeführt
und hierdurch einem allseitig empfundenen Mangel
in der Irrenanstalt für die Dauer abgeholfen werden wird.
Auch die autonomen Landesbehörden erkennen
die Unzulänglichkeit der bestehenden Einrichtungen
für Geisteskranke an, wie u. a. die Berathungen der
Budgetkommission des Landtages (Ref. Dr. Zintl)
und die Ausführungen des San.-Referenten Dr. Greger
des Landesausschusses im Juli d. J. beweisen und es
besteht, so weit ich mich informiren konnte, die Ab¬
sicht, an Stelle der Prager Anstalt eine grosse, etwa
2000 Kranke fassende Irrenanstalt zu errichten. Es
dürften hierbei wohl mehr administrative und finan¬
zielle als ärztliche Gründe maassgebend gewesen sein.
Uebrigens verweise ich auf die Ausführungen Star-
linger’s, im Heft Nr. 9 der Psychiatrischen Wochen¬
schrift bezw. die dort citirten Artikel, wonach es den
Anschein hat, als ob auch die Aerzte sich mit den
„grossen“ Anstalten werden abfinden müssen.
Habe ich im Bisherigen nur von den in Irrenan¬
stalten verpflegten bezw. zu verpflegenden Geistes¬
kranken gesprochen, so sei auch noch kurz der ausser-
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348 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32.
halb der Anstalten befindlichen Geisteskranken Er¬
wähnung gethan.
Diese werden, soweit es geht, von den Bezirks¬
hauptmannschaften in Evidenz gehalten u. z. auf
Grund von Ausweisen der Gemeindevorsteher. —
Die Gesammtsummen der in Evidenz befindlichen
schwankten in den letzten Jahren um 5000 Geistes¬
kranke in ganz Böhmen; betrugen im Jahre iqoi
4999, davon 414 in Versorgungsanstalten unterge¬
bracht, während 4585 sich in Privatpflege meist bei
ihren Angehörigen befanden. — Dazu kommen noch
etwa 2000 Cretins.
Es ist wohl selbstverständlich, dass diese Zahlen nicht
den Thatsachen entsprechen und die Zahl der wirk¬
lich vorhandenen Geisteskranken bedeutend grösser
ist. Dies erhellt schon aus dem Volkszählungsresultat
vom Jahre 1890^ das in Böhmen 10368 Irre und
2651 Cretins ergab. Für dieses Jahr betrug das
2,22 ° 00 .
Die psychiatrischen Ergebnisse der Zählung von
1900 liegen leider noch nicht vor. Doch ist die Prozent¬
zahl gewiss noch grösser geworden ; — aber selbst
wenn man nur nach diesem die Zahl nach der Be¬
völkerungsziffer vom Dcccmbcr 1900 berechnet, cr-
giebt das 13899,6 also rund 13900 Geisteskranke
in Böhmen, von denen aber nur 11 693 in Evidenz
waren u. z. 6694 in Anstalten und
4999 nicht in Irrenanstalten verpflegte
11 693.
Es existirt diese Unmöglichkeit der genauen Evi-
denzführung ja nicht nur in Böhmen, sondern ganz
allgemein und ich möchte diesbezüglich Dr. Scholz
zustimmen, der in seiner Brochüre: Irrenfürsorge und
Irrenhilfsvereine, wohl mit Recht behauptet, dass
selbst die tactvollst vorgehende Behörde kaum zu
einer verlässlichen Evidenzliste aller in einer Ge¬
meinde wohnhaften Geisteskranken kommen kann
und dass eher im Wege der Vertrauensmänner von
Irre 11 hilfsvereinen etwas zu erreichen wäre.
Uebrigens beschäftigt sich die schon erwähnte
Enquete im Ministerium auch mit der Frage der
Evidenzhaltung der Geisteskranken und es ist auch
wohl zu hoffen, dass die allmählich besser werdende
psychiatrische’ Ausbildung der Aerzte bald zur rich¬
tigeren Kenntniss der wirklich vorhandenen Geistes¬
kranken und ihrer Zahl führen wird.
Fasse ich das bisher allerdings nur in groben
Zügen skizzirte über die Irrenfürsorgeverhältnisse in
Böhmen zusammen, so ergeben sich folgende Wünsche
und zwar nicht nur irn Interesse der Geisteskranken
selbst, sondern auch ihrer oft so hart mitbetroffenen
Angehörigen, sowie in weiterer Folge auch der ge¬
summten Bevölkerung des Landes:
I. Dem Mangel einer Beobachtungsstation
für Geisteskranke und Irrsinnsverdächtige in Prag,
möge zunächst durch Errichtung selbstständiger Ge¬
bäude für die beiden psychiatrischen Kliniken ehe-
thunlichst Rechnung getragen werden.
Inwieweit hier auch criminelle Geisteskranke Auf¬
nahme finden sollen oder ob nicht für solche eine
eigene Beobachtungsabtheilung etwa in engerem C011-
tacte mit der Polizei- bezw. Strafbehörde errichtet
werden sollte, möge gleichzeitig mit der Feststellung
der Aufnahmsmodalitäten für die psychiatrischen Kli¬
niken in Berathung gezogen werden.
II. Der immer unerträglicher werdenden Ueber-
füllung in der Prager Irrenanstalt möge durch schleu¬
nigste Errichtung einer, eventuell zweier neuer
Irrena n s t a 11 e n in der Nähe von Prag begegnet
werden.
Diese Anstalt, bezw. diese Anstalten müssten zu¬
sammen für mindestens 2000 Kranke Platz bieten,
da eine Verringerung der Plätzezahl in der Prager
Anstalt schon für das Jahr 1004 bevorsteht, in wel¬
chem Jahre die Sluper Gründe in den Besitz des
Staats übergehen und eine weitere Einengung auch
dadurch zu erwarten ist, dass die psychiatrischen
Kliniken auf einem Theile der Gründe der bisherigen
Irrenanstalt (an Stelle des sogenannten „alten Gebär¬
hauses“) errichtet werden sollen. — Vom ärztlichen
Standpunkte scheint die Errichtung zweier Anstalten zu
je 1 < >00 Betten zweckmässiger, als die einer grossen,
ärztlich nicht mehr zu übersehenden Anstalt von
etwa doppeltem Belagraum. Diesem Standpunkte
scheint in der seither stattgehabten Sitzung des Landes¬
ausschusses Rechnung getragen worden zu sein.
III. Mit Erfüllung der sub I und II angeführ¬
ten, wohl allgemein anerkannten Forderungen, welche
den jetzt schon grossen Aufwand für Irrenanstalten
(2800527 Kronen nach dem Voranschläge für 1902)
bedeutend steigern würde, wäre jedoch nur ein
Schritt vorwärts gethan. — Von den meisten Fach¬
leuten wird heute wohl mit Recht behauptet, dass
eine „irgendwie ausreichende Irren Versorgung eines
Landes nicht gewährleistet werden kann, so lange
nicht für Zwecke der AnstaltsVersorgung 2 Plätze
in eigentlichen Irrenanstalten auf 1000 Men¬
schen der Bevölkerung kommen.“ — Für Böhmen
würde das 12 600 Plätze bedeuten; es ergiebt
dies selbst nach Erfüllung der obgenannten Forde¬
rungen noch einen Mangel von über 6000 Plätzen
für Geisteskranke.
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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
IV. Da bei den gegenwärtigen Verhältnissen aus
öffentlichen Mitteln derartige grosse Lasten vom Lande
nicht aufgebracht werden können, wäre es wünschens¬
wert, dass, wie in anderen Ländern, auch in Böh¬
men Irrenhilfsvereine entstünden, welche sich
der nicht in Anstalten unterzubringenden Geistes¬
kranken werkthätig annehmen müssten, aber auch
sonst das Irrenwesen im Lande nach Kräften zu för¬
dern hätten.
V. Was die für specielle Kategorieen
von Geisteskranken bestimmten Anstalten betrifft, so
hat Böhmen nur eine einzige derartige Anstalt: Es
ist die vom St. Anna-Frauenvereine erhaltene Heil-
und Pflegeanstalt für Schwachsinnige auf dem
Hradschin in Prag.
So anerkennenswerth die mehr als 25 Jahre zu¬
rückreichenden Bestrebungen dieses Vereines sind,
der im Jahre 1901 schon 102 Zöglinge (davon 27
auf Landeskosten) verpflegte — so wäre hier wohl
eine ausgiebigere öffentliche Fürsorge wünschens-
werth u. z. wie ich glaube, in dem Sinne, dass man
möglichst viele in eigenen Anstalten unter¬
bringt.
Dieser Modus der Versorgung der Schwachsinnigen
ist, wie u. a. Kraepelin in seinen „psychiatrischen
Aufgaben des Staates“ (pag. 17) hervorhebt, schon
mit Rücksicht auf die dadurch gegebene Verhütung
der Fortpflanzung derartiger Kranker der zweck-
mässigste und eben aus diesem Gesichtspunkte be¬
trachtet , nach den Ausführungen des niederöster¬
reichischen Landesausschussmitgliedes Gerenyi auf dem
letzten (VIII.) Antialkoholcongresse in Wien, durchaus
nicht der theuerste. — Für bildungsfähige Schwach¬
sinnige wären „Hilfsschulen“ zu errichten.
Zwei weitere Arten von Special-Anstalten fehlen
in Böhmen derzeit noch vollständig, trotzdem von
ärztlicher Seite schon wiederholt auf ihre NothWen¬
digkeit hingewiesen wurde:
Ich meine die Anstalten für Epileptiker und
Alkoholiker.
Bezüglich der ersteren hat Prof. A. Pick in
einem Artikel der „Bohemia“, vom 22. October 1901,
sich sehr warm für die Errichtung von Epilep-
tikercolonien eingesetzt.
Bezüglich der Trinkerheilanstalten und
Trinkerasyle wurden im Vorjahre verschiedene
Vorschläge vom Landescomite zur Vorbereitung des
VIII. internationalen Antialkoholcongresses ausge¬
arbeitet.
Wie noth wendig beide Kategorieen von Anstalten
wären, geht wohl schon daraus hervor, dass Prof.
Pick die Zahl der Epileptiker in Böhmen auf 12 bis
15000 schätzt, während durch die Erhebungen im
Vorjahre über 25000 notorische Trinker in
Böhmen sichergestellt wurden.
Ich glaube, durch meine kurze Darstellung ge¬
zeigt zu haben, dass Behörden und Aerzte in Böh¬
men bemüht sind, den grossen Anforderungen der
Irrenfürsorge im weiteren Sinne des Wortes gerecht
zu werden, dass trotz schwieriger Verhältnisse Man¬
ches geleistet wurde, dass aber noch Vieles zu thun
übrig bleibt. Möge wenigstens das Noth wendigste
bald gethan werden.
Litteratur.
1. Bericht über die sanitären Verhältnisse und Ein¬
richtungen des Königreiches Böhmen in den Jahren
1896 — 98, verfasst von Dr. IgnazPelc, k. k.
Hofrath und Landessanitätsreferenten, Prag 1900.
Verlag der k. k. Statthalterei.
2. Derselbe Bericht über das Jahr 1900, (lithographirt,
nicht im Drucke erschienen).
3. Bericht des Landesausschusses des Königr. Böhmen.
I. Bericht über die Königl. böhm. Landesirren¬
anstalten für das Jahr 1897.
4. Jahresbericht des St. Anna-Frauenvereines, Gründers
. und Erhalters der Lehr- und Erziehungsanstalt für
Schwachsinnige (Idioten) in Prag, Hradschin Nr.
57. Prag 1899. Druck von Dr. Ed. Gregr.
5. Daimer. Handbuch der österreichischen Sani¬
tätsgesetze. Leipzig u. Wien, Deuticke. 1896 u.
1898, I. u. II. Theil.
6. Scholz. Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. Halle,
Verlag von Marhold 1902.
7. Fischer. Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Ge¬
biete d. Irrenfürsorge. München, Seitz & Schauer.
8. Kraepelin. Die psychiatrischen Aufgaben des
Staates. Jena. Verlag von Fischer 1900.
9. A. Pick. Ueber die dringend notwendige Für¬
sorge für Epileptische. Bohemia, 22. October 1901.
10. Annales medico-psychologiques. Paris 1885,
pag. 242.
11. G. A. Tuck er. Lunacy in many lands. Sydney,
Charles Potter, Go vernement Printer 1887.
12. Dannemann. Bau, Einrichtung und Organisa¬
tion psychiatrischer Stadtasyle. Halle a. S., Ver¬
lag von Marhold 1901.
13. Landesvoranschlag des Königreiches Böhmen für
das Jahr 1901. (V. Jahressession des Landtages
des Königreiches Böhmen vom Jahre 1895. Druck
III, Nr. 26, Ldtg).
14. Vorläufige Ergebnisse der Volkszählung.
15. Wien. Klin. Wochenschr. 1902. Verein f. Psy¬
chiatrie und Neurologie in Wien. pag. 27 u. 110.
16. Die Irrenfürsorge in Baden von Max Fischer,
Illenau. Psychiatr.-Neurologische Wochenschrift
1902, Nr. 8, 9, 10.
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3,so PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32.
M i t t h e i
— Programm der 70. ordentlichen General-
Versammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am Samstag den 15. November 1902,
Nachmittags 1 l j 2 Uhr in Bonn im Hotel Kley.
1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Aufnahme neuer
Mitglieder. Zur Aufnahme in den Verein haben sich
gemeldet: Dr. Borchert-Coblenz, Dr. Goerlitz-Düssel-
dorf, Dr. Hoffmann-Elberfcld, Dr. Rixen-Andernach,
Dr. Schmidt - Düsseldorf, Kreisarzt. 3. Vorträge:
a) Brosius-Sayn: Die Psychosen der Juden, b) Sauer¬
mann-Bonn : Zur Prognose und Therapie der Trunk¬
sucht. c) Schnitze-Andernach : Casuistischer Beitrag
zur Lehre der Augenmuskellähmung. d ) Thomson-
Bonn: «) Zur circulären Psychose, ß) Ueber Salz-
entziehungskuren. Gemeinschaftliches Mittagessen
4‘/* Uhr:
Pelmann. Oebeke. Umpfenbach.
Auch der preussische Justiz-Minis teria 1 -
Erlass vom 7. Octobcr 02 wird in der Hauptver¬
sammlung zur Besprechung kommen.
— Der preussische Justizministerial-Erlass
vom 7. October 1902.
Die „Nordd. Allg. Zeitung“ schreibt:
„Die Presse hat sich in letzter Zeit mehrfach mit
einer Allgemeinen Verfügung des Justizministers vom
1. Oktober 1902 über die Zuziehung von Sach¬
verständigen im Entmündigungsverfahren
beschäftigt und darin eine Anordnung der Justizver¬
waltung gefunden, dass fortan statt eines erfahrenen
Psychiaters der Kreisarzt als Sachverständiger zuge¬
zogen werden solle. Diese Auffassung ist irrthümlich.
Der Justizministcr hat seinerseits keine Anordnung ge¬
troffen, vielmehr nur auf Anregung des prcussischen
Medicinaibcamtenvercins und nach Benehmen mit der
Medicinalverwaltung die Gerichte auf die Sachlage
hingewiesen, welche durch das am 1. April 1901 in
Kraft getretene Gesetz, betreffend die Dienststellung
des Kreisarztes u. s. w., vom 16. September 1899
gegeben ist. Nach § 633 Abs. 2 der Zivilproccssord-
nung kommt für die Vernehmung von Sachverstän¬
digen im Entmündigungsverfahren der § 404 Abs. 2
desselben Gesetzes zur Anwendung, Hiernach sollen,
wenn für gewisse Arten von Gutachten Sachverstän¬
dige öffentlich bestellt sind, andere Personen nur
dann vom Gerichte gewählt werden, wenn besondere
Umstände es erfordern. Da nach 9 des Gesetzes
v<>m Ib. September 1800 der Kreisarzt der Gerichls-
arzt seines Bezirkes, d. h., wie sich aus der Begründ¬
ung zum Entwürfe des Gesetzes ergiebt, für diesen
öffentlich bestellter ärztlicher Sachverständiger ist, so
ist es eine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht der Ge¬
richte, ihn regelmässig auch im Entmündigungsver-
1 u n g e n.
fahren zuzuziehen. Ob im einzelnen Falle in der
hervorragenden psychiatrischen Befähigung eines an¬
deren Arztes oder in sonstigen Verhältnissen ein „be¬
sonderer Umstand“ zu finden ist, der eine Abweich¬
ung von der gesetzlichen Regel rechtfertigt, unterliegt
lediglich dem Ermessen des Gerichts, welches die All¬
gemeine Verfügung vom 1. October 1902 nicht be¬
schränkt und nicht hat beschränken wollen.“
Wir möchten dazu noch Folgendes bemerken:
§ 404 der C. P.-O. lautet: „Sind für gewisse Arten
v o n G u t a ch t c n Sachverständige öffentlich bestellt,
so sollen andere Personen nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände es erfordern“. Wenn das
Gesetz den Kreisarzt als Gerichtsarzt, d. h. als öffent¬
lich bestellten ärztlichen Sachverständigen bezeichnet,
so bleibt noch immer die Nothwendigkeit der Inter¬
pretation des Ausdrucks „für gewisse Arten von Gut¬
achten“. Nach obiger Auffassung müsste man
darunter die auf sämmtliche medicinischen
Fächer sich erstreckenden Gutachten verstehen. Der
Kreisarzt wäre also für alle medicinischen Angelegen¬
heiten „sachverständig“. Diese Behauptung werden
aber die Kreisärzte selbst nicht aufstellen wollen. Die
einzelnen Zweige der medicinischen Wissenschaft haben
trotz des festen inneren Zusammenhangs eine solche
Ausdehnung erreicht, dass ein Genie dazu gehört,
sie so zu beherrschen, dass Einer in allem vor Gericht
als Sachverständiger gelten kann. Die logische Folge
davon wäre, dass der Kreisarzt auch in seiner Privat¬
praxis — die Kreisärzte sind ja z. Thl. noch auf
Praxis angewiesen, also vom Publikum nicht ganz un¬
abhängig — als Specialarzt für jedes einzelne Fach
der Medicin gilt. Sollte ein solcher Überarzt den
Gesetzgebern vorgeschwebt haben ? Die gesetzliche
Pflicht der Gerichte, den Kreisarzt in allen medi¬
cinischen Angelegenheiten als Sachverständigen zu
wählen, beruht also auf einer utopistischen Construction
verschiedener medicinischer Fähigkeiten und Fertig¬
keiten in einer Person. — Auch die Auffassung der
preussischen Justizverwaltung, falls sie in der Nordd.
Allg. Zeitung hinreichend zum Ausdruck kommt, dass
die Abweichung von der „gesetzlichen Beweisregel“
ins „freie Ermessen“ des Richters gestellt wird, ist
wohl nicht erschöpfend; über dem „freien Ermessen“
steht doch ein höherer Begriff, nämlich die
nicht blos technisch-juristische, sondern allgemein
ethische Verpflichtung, zur Auffindung der Wiihrheit
den sichersten Weg zu wählen. — Alles in Allem
sieht man, dass der erörterte Gegenstand eine weit
über die Frage der Entmündigung hinaus in die
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Rechtsprechung im Allgemeinen hineinreichende Be¬
deutung hat. —
Der „Strassburger Post“ (i. n. 02) wird „zur
Frage der ärztlichen Sachverständigen bei Gericht“
geschrieben:
Ein neuer preussischer Justizministerialerlass (vom
7. October) betreffend das Entmündigungsverfahren,
macht, weil er allgemeine Interessen tangirt, eine
öffentliche Besprechung nöthig. Nach diesem Erlasse
sollen entgegen früheren Bestimmungen als Sachver¬
ständige im Entmündigungsverfahren nicht mehr die
auf dem Gebiete der Irrenheilkunde erfahrensten,
d. h. die Irrenärzte, sondern regelmässig die Gerichts¬
ärzte (Kreisärzte) , bezw. deren Assistenten gewählt
werden. Was für Erwägungen dieser Aenderung zu¬
grunde liegen, entzieht sich unserer Kenntniss. Es
ist aber klar, dass damit der Sache selbst ein grosser
Schaden zugefügt wird. Denn, auch die beste Aus¬
bildung in den so verschiedenartigen Dienstzweigen
beim Kreisärzte vorausgesetzt, in psychiatrischen
Fragen wird er naturgemäss dem Irrenarzte von Beruf
immer nachstehen. Besonders aber auf dem diffizilen
Gebiete der Unterscheidung der Geisteszustände nach
den verschiedenen Abstufungen der Entmündigungs¬
reife (wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Pfleg¬
schaft wegen geistiger Gebrechen) dürften seine Kennt¬
nisse in der Psychiatrie in den meisten Fällen unzu¬
reichend sein. Hier kann nur eine langjährige aus¬
schliessliche Beschäftigung in der Psychiatrie und eine
in täglicher Uebung frisch erhaltene, practische Er¬
fahrung den richtigen Maassstab der Beurtheilung
liefern, ob und in wie fern im einzelnen Falle der
bestehende Geisteszustand die Geschäftsfähigkeit des
Betreffenden alterirt. Die Folgen einer unrichtigen
Entscheidung in dieser Hinsicht sind wichtig genug,
um jede Vorsicht zu rechtfertigen. Darum sollten
denn auch die sachverständigen Feststellungen im
Entmündigungsverfahren durchaus dem Irrenarzte über¬
lassen bleiben. Liegt diese Forderung einerseits im
Interesse der Wahrung der psychiatrischen Berufsehre,
so hat andererseits doch die Oeffentlichkeit, das Publi¬
kum selbst das grösste Interesse daran, dass der
Schutz seiner geisteskranken Mitglieder in civilrecht-
licher Beziehung auf die bestmögliche Weise gewähr¬
leistet wird. Sehr bedenklich scheint uns aber schliess¬
lich die durch den betreffenden Erlass ausgesprochene
Einschränkung der Gerichte in der Wahl der Sach¬
verständigen. Das ist unserer Ansicht nach ein Punkt,
gegen den der Richterstand selbst um seiner Unab¬
hängigkeit im Beweisverfahren willen Grund genug
hätte, energische Gegenvorstellungen zu machen.
Angesichts der Neigung der Bundesregierungen,
preussische Erlasse zu übernehmen, erscheint die
Mahnung berechtigt, dass diese Neuerung in Würdigung
der vorgetragenen Bedenken nirgendwo Nachahmung
finden möge! Soweit darf schliesslich die Absage vom
Partikularismus nicht gehen, dass Neuerungen, auch
wo sie Verschlimmerungen bedeuten, unbedenklich
übertragen werden! Halten wir daran fest, dass in
Fragen der Beurtheilung der Gcistesthütigkeit der
Irrenarzt der erste, gegebene Sachverständige ist.
Dazu bestimmt ihn seine Ausbildung, seine Wirksam¬
keit und Erfahrung, kurz sein Beruf.
Die 33. Versa m m 1 u n g s ü d w e s t d e u t s c h e r
Irrenärzte hat in ihrer Sitzung vom 2. ds. Mts.
in Stuttgart zu der Angelegenheit des Erlasses
folgende Resolution gefasst: Die 33. Ver¬
sammlung südwestdeutscher Irrenärzte bedauert den
Erlass des Königlich Preussischen Justizministeriums
vom 7. Oktober d. J., der anordnet, dass der Gerichts¬
arzt als der für medicinische Angelegenheiten öffentlich
bestellte Sachverständige, erforderlichen Falls dessen
Assistent, zu Entmündigungssachen regelmässig zu
wählen sei. Ohne einer Beurtheilung dieser Verfügung
vom richterlichen Standpunkte aus vorgreifen zu wollen,
müssen die Irrenärzte, die sich bisher als die durch
den Erlass desselben Ministeriums vom 28. November
1899 im Entmündigungsverfahren bevorzugten Sach¬
verständigen betrachten zu dürfen glaubten, weil bei
ihnen doch wohl „auf dem Gebiete der Irrenheilkundc
besondere Erfahrung“ vorausgesetzt werden kann, in
einer solchen durch nichts begründeten Aenderung
eine Zurücksetzung erblicken. Vor allem aber müssen
sie für die ihrer Fürsorge anvertrauten Kranken Ver¬
wahrung dagegen einlegen, dass irgend welche andere
Interessen als die der zu Entmündigenden selbst auf
die Wahl der Sachverständigen von Fanfluss werden.
— Von der psychiatrischen Klinik in Wien.
Der bisherige Vorstand der ersten psychiatrischen
Klinik in der niederöstereichischen Landesirrenanstalt
Professor Dr. Julius Ritter v. Wagner-Jauregg, der be¬
kanntlich an Stelle des in den bleibenden Ruhestand
getretenen Hofrathes Professors Dr. Freiherm v. Krafft-
Ebing zum Ordinarius der zweiten psychiatrischen
Klinik im allgemeinen Krankenhause ernannt worden
war, hat die Leitung dieser Klinik übernommen. Zum
Supplenten und interimistischen Leiter der ersten
psychiatrischen Klinik, an der das Ordinariat erst
nach Fertigstellung der für die medicinische Facultät
bestimmten Neubauten besetzt werden wird, wurde
der Docent Dr. Emil Rai mann ernannt.
— 74. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte zu Karlsbad. 21. bis 2 6.
September. Abth. Neurologie und Psychiatrie.
(Schluss.)
Als bedingt objectiv bezeichnet L. diejenigen
Symptome, welche das Product aus einem experi-
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352 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 32
mentellen Reize und der Angabe des Untersuchten
darstellen. Von solchen Störungen erwähnt Vortr.
die von ihm gefundene nachweisbare Herabsetzung
der Reizschwelle für faradischen Schmerz; auf dem
Gebiete der Motilität die feineren Coordinationsstö-
rungen. Ein Theil der Symptome, die sonst als
hysterisch gedeutet werden, wird vom Vortr. der Neu¬
rasthenie zugewiesen. Für die Lokalisation der ob-
jectiven Symptome zieht Redner die Edinger’sche
Theorie des ungenügenden Ersatzes heran.
21. Marina (Triest): Ueber die Pupillen-
r e a c t i o n bei der Convergenz.
Um die Abhängigkeit der Pupillenreaction von
der Convergenzbewegung zu studiren, hat Vortr. bei
Affen den M. obliquus super, sowohl als auch den
M. rect. extern, an Stelle des abgelüsten M. rect.
intern, transplantirt und anheilen lassen. Es fand
sich, dass nach Verlauf einiger Zeit die Convergenz¬
bewegung von den neuen Muskeln wieder in norma¬
ler Weise ausgeführt wurde, und dass die Pupillen¬
verengerung dabei auch jetzt eintrat. Selbst wenn
er eine Convergenz dadurch erzielte, dass er den
blossgelegten Muskel faradisch reizte oder auch mit
der Pincettc zog, trat die Pupillenreaction ein, war
also dabei unabhängig vom Central-Nervensystem zu
Stande gekommen.
Vortr. schiiesst daraus, dass es eigentlich gar keine
Convergenz-, sondern nur eine Accommodations-Re-
action giebt, die Annahme eines Convergenz-Centrums
ist überflüssig; das Gehirn kennt nur Richtungen und
Bewegungen, keine Muskeln und Nerven.
H. Haenel-Dresden.
— Ein Schulfall verminderter Zurechnungs¬
fähigkeit In Nr. 10 der „Feuerpolizei“, Monatsschrift
für Polizei und Verwaltungsbehörden, findet sich auf
S. 147, 148 ein Artikel, der die Ueberschrift trägt:
Ein systematischer Brandstifter. Dieser
Artikel ist geeignet, das Interesse der Fachgenossen
zu erwecken. Es handelt sich um den 24jährigen
Sattlergehilfen Joh. Ulrich, der am 1. Juli d. J. vor
dem Schwurgericht in Tübingen stand. U. ist un¬
ehelich geboren, zeigte in früher Jugend grossen
Hang zum Stehlen, wurde deshalb in einer
Zwangserziehungsanstalt erzogen und war später ein
tüchtiger Arbeiter, aber „ein verlogener Bursche“.
Mitte Januar 1902 sah er eine grosse Feuersbrunst;
der Anblick machte ihm grosse Freude. „Diese Freude
am Feuer beherrschte ihn so, dass er sich geradezu
willenlos zu Brandstiftungen hinreissen liess; meistens
überfiel ihn der innere Drang Feuer anzulegen, wenn
er angetrunken war“. So brannte er Ende d. J.
eine Scheuer nieder. Im Februar wurde er wiederum
„über seinen inneren Trieb nicht mehr Herr“. Er
„musste“ eine Ziegelei und im März d. J. bez. April
je eine Scheuer in Brand setzen. Im April brannte
er noch eine in der Nähe der Wohnung seiner momen¬
tan abwesenden Geliebten befindliche Scheune an,
wohl weil er durch den Brand die Rückkehr des
Mädchens hervorzurufen hoffte.
Aus den Brandlegungen zog Ulrich keinerlei Vor*
theil. „Die Freude am Feuer allein hat ihn zum Brand¬
stifter gemacht, willenlos ist er unterlegen“, schreibt
die Feuerpolizei noch einmal. Herr Med.-Rat Prof.
Dr. Oesterlen als Sachverständiger erklärte, wie der
betr. Berichterstatter mittheilt, vor dem Schwurgericht,
dass die vom Angeklagten behauptete Sucht Feuer
anzulegen kein krankhafter Trieb sei, und vertrat die
Ansicht, die Lust am Brandlegen entspreche der leb¬
haften Phantasie, dem Uebennuth und dem Leichtsinn
des Thäters, der an keiner krankhaften Störung der
Geistesthätigkeit mit Aufhebung der freien Willensbc-
stimmung leide, aber allerdings in Folge seiner Nervosität,
der Alkohol Wirkung und sexueller Erregung ein seelisch
minderwerthiger Mensch sei.
Hierauf verneinten die Geschworenen die
Frage nach dem Vorhandensein mildernder Um¬
stände und vcrurtheilten Ulrich zu 12 Jahren
Zuchthaus, sowie zu 10 Jahren Ehrverlust.
Ich zweifle nicht daran, dass die meisten der
Fachgenossen mit mir erstaunt sein werden über diese
in einer Universitätsstadt stattgehabte Behandlung
der Sache und mit mir daran zweifeln werden, ob
der Angeklagte mit Recht in dieser Weise für seine
Handlungen verantwortlich gemacht wird. Zum
mindesten ist Ulrich ein Schulfall von verminderter
Zurechnungsfähigkeit. Ohne den betr. Menschen ge¬
nauer zu kennen, wird man nicht mehr behaupten
dürfen und wollen. Natürlich konnte man einen so
gefährlichen Menschen nicht in der Freiheit lassen,
aber ihn ins Zuchthaus auf 12 lange, lange Jahre zu
stecken, das ist doch ganz gewiss unbegreiflich hart
angesichts der von Haus aus bestehenden abnormen
V eranlagung und der offensichtlich pathologischen
Motive zu den ausgeführten Brandstiftungen. Er¬
fahrungsgemäss besteht bei Personen mit solchem
Trieb Rückfallsgefahr. Das Bestreben, Feuer anzu¬
zünden taucht eben immer und immer wieder auf und
überwältigt die Betr. namentlich nach Alkoholgenuss.
Der Trieb ist eben ein Symptom der Degeneration,
also ein krankhaftes Element, für dessen Ent-
äusserung der daran Leidende nicht voll verantwortlich
gemacht werden kann.
Meine Ausführungen fussen auf der eingangs mit¬
geteilten Quelle; ist letztere nicht korrekt, so lesen
wir vielleicht demnächst eine Berichtigung. Ist aber
dort alles richtig angeführt, so möchten doch die be¬
theiligten Königl. Württemberg. Behörden hiermit ge¬
beten sein, dem im hohen Grade als pathologisch
verdächtigen Geisteszustand des zu so ausserordent¬
lich strenger Strafe Vcrurtheilten ihr ernstes Interesse
hochherzig zuzuwenden!
Georg Ilberg (Grossschweidnitz in Sachsen).
Personal nachricht.
— Dr. Alexander Pilcz hat sich als Privat -
docent für Psychiatrie und Neurologie an der Wiener
Universität habilitirt.
Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, K rasch nitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psycbiatriscta^Neurologisohe
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Xj. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzbnrg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz fSchlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.'Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 33. 15 - November. 1902.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: War Mohammed Epileptiker? Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey (S. 353). — Mittheilungen (S. 357).
— Personalnachrichten (S. 360).
War Mohammed Epileptiker?*)
Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey , I. Assistent der Prof. Dr. Schlösser’sehen Augenheilanstalt in München.
r\ie Frage, ob die Seelen- oder Geistesthätigkeit
des Propheten Mohammed, zu dessen Religion
sich über dreihundert Millionen Menschen bekennen,
etwas Abnormes aufzuweisen hatte, beschäftigte die
abendländischen Biographen desselben seit den ältesten
Zeiten. Die Resultate ihrer Forschungen sind ziem¬
lich verschieden, trotzdem alle ausnahmslos dieselben
Quellen benutzten, nämlich: die Biographieen und
die Traditionsschriften muslinischer Schriftsteller.
Während die Einen, wie Gagnier und Sprenger,
von Hypochondrie und Hysterie sprechen, erklären
ihn Andere, wie Noel de Berges und Lombroso für
tollsüchtig oder irrsinnig. Noch Andere, und dies
ist eine ziemlich grosse Anzahl Forscher, von denen
ich unter Andern Theophanes Confessor, Hugh
Brougthon, Waschington Yrrwing, Weil und Arnold
*) Nach dem in der Münch. Orientalischen Gesellschaft
am 22. Mai 1902 gehaltenen Vortrage.
Mühleisen, erwähnen möchte, behaupten: er litt in
seiner Kindheit oder im späteren Alter an der Fall¬
sucht, „Epilepsie“.
Die Angaben dieser letzten Autorengruppe, die
das uns interessirende Thema behandelten, stützen
sich auf laienhafte Argumentation und leiden an
mangelhaften Sach- und Fachkenntnissen. Und wenn
man bedenkt, welche Schwierigkeiten einem Fachmann
die Aufgabe bereitet, die Aufstellung einer Diagnose
unter diesen Verhältnissen zu rechtfertigen, so wird
man leicht begreifen, dass ein Laie eigentlich nicht
in der Lage ist, sich einer solchen Aufgabe zu unter¬
ziehen, ohne die gröbsten Fehler zu begehen.
Es war daher interessant für mich, einer gütigen
Anregung des Herrn Medicinalrathes Professor Dr.
Bumm’s*) Folge leistend, die Frage von Neuem auf-
*) Prof, der Psychiatrie u. Vorstand der psychiatrischen
Universitätsklinik in München.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
354
[Nr. 33 -
zuwerfen und mehr vom medicinischen Standpunkte
aus zu untersuchen.
Der Untersuchungsplan muss in einem solchen
Falle natürlich anders ausgedacht werden, als man es
gewöhnlich thut, da ja der angebliche Patient schon
«eit dreizehn Jahrhunderten nicht mehr unter den
Lebenden sich befindet und man ihn in Folge dessen
nicht fragen oder beobachten oder gar direct unter¬
suchen kann. Hier sind die uns zu Gebote stehen¬
den Mittel und Behelfe beschränkt. Wir sind ge-
nöthigt, uns damit zu begnügen, ihn indirect, durch
Vermittlung dritter Personen — und die sind auch
Laien —, zu befragen, aus diesen anamnestischen
Angaben die Symptome zu ermitteln und so das
Krankheitsbild zu construiren.
Ich verfuhr folgendermaassen: Ich stellte mir
einen Kranken im Geiste vor, dessen Anamnese,
Krankheitsgeschichte, ich aufnehmen soll; ich frug
ihn zuerst über den Gesundheitszustand seiner Eltern,
die Krankheiten, die sie in ihrem Leben durchmach¬
ten, welches Alter sie erreichten und an welcher
Krankheit dieselben starben ; ob er Geschwister ge¬
habt hatte, welches Alter sie erreichten, u. s. w. die
übrigen Fragen. Dann kam er an die Reihe. Diese
und andere Fragen wurden auch ihm gestellt und
ich trachtete aus der vorhandenen Litteratur die Ant¬
wort zu erhalten, d. h. ich studirte die Quellen —
die Biographien und Traditionsschriften, wobei ich
die Fragen nie aus dem Auge verlor, Alles sammelnd
und aufnotirend, was sich irgendwie auf das uns inter-
essirende Thema beziehen kann.
Die Resultate meiner Untersuchung will ich Ihnen
heute gerne, aus begreiflichen Gründen nur in aller
Kürze, mittheilen, da ich eine ausführliche Abhand¬
lung darüber später zu veröffentlichen gedenke.
Von den Grosseltern Mohammed s wissen wir nur,
dass sein Grossvater, namens Abdul-Muttalib, lebens¬
lang als Schirmherr der Kaaba, des Heiligthums der
Araber, fungirte, Handelsgeschäfte mittelst grosser
Karaw r anen mit Syrien trieb und hochbetagt im Alter
von zweiundachtzig Jahren in Mekka starb. Sein
jüngster Sohn, der Vater des Stifters des Islams, war
mit Amina, aus dem in Madyna sesshaften Stamme
der Beni-El Naggar, verheirathet. Abdullah, so hiess
der Vater Mohammeds, erkrankte in der Nähe der
Stadt Madyna, als er von einer Handelsreise nach
der syrischen Stadt Ghazza zurückkehrte, musste dort
zur Pflege bei den Verwandten seiner Frau von der
Karaw'ane zurückgelassen werden, und verschied nach
einmonatlicher Krankheitsdauer im Alter von fünf¬
undzwanzig Jahren; er wurde daselbst begraben.
Amina, die Mutter des Propheten überlebte ihren
Mann und verschied auf der Rückreise nach der
Stadt Makka, nachdem sie ihre Verwandten in Ma¬
dyna besucht und bei ihnen einen Monat verbracht
hatte.
Es scheint, dass die Todesursache der beiden
Letztgenannten, Vater und Mutter Mohammeds, eine
akute, ja höchstwahrscheinlich infectiös-fieberhafte Er¬
krankung gewesen ist, was daraus zu entnehmen,
dass Beide sich die Krankheit in Madyna bezieh¬
ungsweise in der Nähe dieser Stadt geholt haben
und Madyna mit seiner Umgebung damals wegen
ihrer „schlechten, krankmachenden und todbringen¬
den“ Luft unter den Arabern verrufen w*ar. In der
vorhandenen Litteratur findet sich keine einzige An¬
gabe, die darauf -hinweisen könnte, dass die Eltern
oder die Grosseltern Mohammed’s an einer für ihre
Nachkommenschaft erblichen, resp. belastenden Er¬
krankung gelitten hätten; aber auch nichts, was eine
solche Annahme ausschliesst.
Montag, den 12. Rabi-ul-Aw'al des Elephanten-
jahres*) (20. April 570) erblickte Mohammed das
Licht der Welt. Nach den übereinstimmenden An¬
gaben aller arabischen Biographen verlief der Geburts¬
act sehr leicht und ohne jede Schwierigkeit, oder wie
wir uns heute auszudrücken pflegen, ganz normal.
An seinem Körper sind keine Missbildungen beobach¬
tet worden. Einige Tage nach der Geburt wurde
das Kind einem Beduinenweibe, Namens Halima,
w’ie es bei den Bewohnern Mekka’s Sitte war, zur
Pflege gegen Entgeld übergeben. Halima stillte das
Kind an ihrer Brust und entwöhnte es erst, nach¬
dem es zwei Jahre alt w'ar.
Ueber das Gedeihen ihres Pflegekindes erzählt
Halima, dass es sich während dieser Zeit ausser¬
ordentlich gut entwickelte, derart, dass es besonders
stark heranwuchs, wie kein anderer Knabe in seinem
Alter. **) Als er zwei Jahre und einige Monate alt
war, trug ihn Halima zu seiner Mutter zurück, die
über die frühzeitige Zurückgabe des Kindes über¬
rascht w'ar, zumal ja die Pflegemutter kurz vorher
gebeten hatte, das Kind bei sich länger behalten zu
dürfen. Und als sie über den Beweggrund ihres
veränderten Entschlusses befragt wurde, da erzählte
sie folgende Episode:
*) So nannten die Bewohner Makka’s jenes Jahr, in dem
ein abyssinischer Feldherr, welcher einen Elephanten mitführte,
Makka belagert hatte.
**) Abdel-Malik Ibn Hischam, das Leben Mohammed’s
nach Mohammed ibn lshak, herausgegeben von Dr. Ferd.
Wüstenfeld, Band I, erster Theil, Seite 105.
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
355
„Einige Monate nach unserer Ankunft mit ihm
zu Hause und während er mit seinem Milchbruder
die Heerde hinter unseren Zelten bewachte, da kam
sein Milchbruder ganz erschrocken und erzählte mir
und dem Milchvater: »Sehet da, meinen Bruder,
den Koraischiten, nahmen zwei weiss angekleidete
Männer, legten ihn nieder, schlitzten seinen Bauch
auf und fahren fort ihn zu martern und zu peinigen/
Wir, ich und sein Pflegevater, gingen auf der Stelle
zu ihm hin und fanden ihn mit bleichem Gesichte
aufrecht stehend. Wir gesellten uns zu ihm und
frugen: ,Was ist Dir mein Sohn zugestossen? 4 Er
antwortete: ,Zwei Männer mit weissem Gewand kamen
zu mir her, streckten mich nieder, schlitzten mei¬
nen Bauch auf und holten etwas, das mir unbekannt
ist, heraus/
Wir kehrten mit ihm heim. Da sagte mir sein
Vater: ,Du Halima, ich fürchte, dass ihm ein Un¬
glück zugestossen ist, führe ihn zu den Seinigen zurück,
bevor es bekannt wird/ Wir brachten ihn zu seiner
Mutter, welche verwundert sich äusserte: ,Was hat
Dich Pflegemutter jetzt hierher geführt, nachdem Du
für Deinen Säugling und für sein ferneres Verweilen
bei Dir sehr eingenommen warst? 4 Halima sagte
ihr: »Gott hat meinen Sohn gedeihen lassen und ich
that meine Schuldigkeit. Da ich aber von Seite der
Kinder für ihn fürchte, so bringe ich ihn Dir wohl¬
behalten, wie Du cs nur wünschen kannst, zurück/
Anima erwiederte: ,Das kann nicht der Grund sein,
Du musst aufrichtig gegen mich sein und mir die
wahre Ursache angeben/ Halima, die Pflegemutter,
berichtet weiter: und sie liess mich nicht los, bis ich
ihr die volle Wahrheit er öffnete, worauf sie (Anima)
dann frug, ob ich für das Kind vom Satan etwas
fürchte? Und als ich diese Frage bejahte, da sagte
sie: ,Im Gegentheil, bei Gott, der Satan kann keinen
Einfluss über ihn besitzen, denn mein Sohn wird
sicher zu einer ansehnlichen Würde gelangen.“ *)
Ueber dieselbe Episode später befragt, erzählte
Mohammed Folgendes:
„Ich bin bei den Beni Saad ibn Bakr gesäugt
worden. Als ich einmal mit einem meiner Milch¬
brüder hinter unseren Zelten unser Vieh hütete, da
kamen zwei Männer auf uns zu. Sie trugen weisse
Kleider und brachten ein goldenes mit Eis gefülltes
Becken mit. Sie ergriffen mich, schlitzten meinen
Bauch auf, holten mein Herz heraus, schnitten es
auf und zogen einen schwarzen Blutklumpen heraus,
warfen ihn weg und wuschen mit dem Eis mein
Herz und meinen Leib, bis sie dieselben reinigten.“**)
*) Ibn Hischam, Band I, erster Theil, S. 105 und 106.
**) Ibn Hischam, B. I, 2. Theil, S. 106 u. 107.
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Mohammed blieb von nun an bei seiner Mutter
Anima in Mekka, wie der Schlusssatz des stattge¬
habten Gespräches zwischen ihr und seiner Amme
ganz klar und unzweideutig es bestätigt, indem Anima
der Pflegemutter sagte: „lass ihn hier und scheide,
auf dem rechten Pfade wandelnd.“
Als der Knabe sechs Jahre alt war, während wel¬
cher Zeit man in der Litteratur nichts findet, was
sich auf unser Thema beziehen kann, verschied seine
Mutter Anima. Sein Grossvater Abdul-Muttalib nahm
ihn auf. Nach zwei Jahren ereilte der Tod auch
den Grossvater 'und Mohammed, acht Jahre alt,
wurde von seinem rechten Oheim, Namens Abu
Taleb, gemäss der letztwilligen und öfters vor seinem
Tode geäusserten Verfügung des Grossvaters aufge¬
nommen.
Als Knabe, noch nicht dreizehn Jahre alt, be¬
gleitete Mohammed diesen seinen Oheim auf einer
Handelsreise nach Syrien, und es scheint, dass diese,
nach den damaligen Verhältnissen recht beschwer¬
liche Reise ohne jeden Nachtheil für ihn verlaufen
ist. Denn Angaben, welche von Ueberanstrengung,
körperlicher oder geistiger Schwäche, oder von irgend¬
welcher Körperverletzung, wie Knochenbruch oder
Fall auf den Kopf sprächen oder irgendwie andeuten,
sind nirgends aufzufinden. Auch andere, uns inter-
essirende Ereignisse, sind nirgends aufgezeichnet, als
eine Jugenderinnerung Mohammed’s, die er später
erzählte. Dieselbe lautet nach allen Biographen
folgendermaassen: „Ich befand mich einst unter den
Knaben Koraisch’s; wir trugen Steine von einem Ort
zum andern, wie halt die Kinder im Spiele zu thun
pflegen. Wir Alle entblössten unsere Leiber und
warfen die Gewänder derart 11m den Hals herum,
dass wir die Steine darüber trugen. Ich lief hin und
her, als ein L’nsichtbarer mir einen schmerzhaften
Stoss versetzte und darauf sagte: „Lass Dein Gewand
herunter! 44 Ich that es, trug die Steine weiter und
war unter den Kameraden der Einzige, welcher in
sein Gewand gehüllt hin und her ging.“
Im Alter von fünfzehn Jahren nahm Mohammed
an der Schlacht des „Sünder“*) (Harb-El-Fuggar) in Ge¬
sellschaft seiner Oheime Theil. Diejenigen Biographen,
welche diese Schlacht erwähnen, berufen sich auf
eine, wiederum spätere Aeusserung Mohammed’s.
Dieselbe lautet nach Ibn Hischam: „Ich hatte in der
Schlacht die Aufgabe zu erfüllen gehabt, meine Oheime
gegen feindliche Pfeile zu vertheidigen, wenn sie da¬
mit beworfen wurden.“
*) So genannt, weil sie veranlasst wurde durch eine blu¬
tige That in den heiligen Monaten, in welchen die Araber
das Blutvergiessen als die grösste Sünde betrachteten.
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356 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 33.
Bis zum Alter von 20 Jahren enthält die vor¬
handene Litteratur der Biographen Mohammed’s
nichts Besonderes ausser seiner Theilnahme an der
Gründung des Fremdenschutzbündnisses, auf das ich
zurückkommen werde.
In den darauf folgenden vier Jahren leitete Mo¬
hammed die Handelsgeschäfte einer gewissen Chadiga.
Dieselbe lebte zu Makkä als eine ehrbare, wohl¬
habende Wittwe, welche die von ihrem Manne er¬
erbten Handelsgeschäfte auch nach seinem Tode
noch fortführte. Mohammed, im Alter von vierund¬
zwanzig Jahren, verdingte sich der genannten Wittwe
und machte in ihrem Aufträge und Interesse mehrere
Handelsreisen nach verschiedenen Gegenden. So zog
er für sie auf die Messe von Suk Hubascha, das
südwestlich von Mekka, am rothen Meere liegt, wo
abissynische Waare gegen Producte Arabien’s aus¬
getauscht wurde. Auch reiste er nach dem da¬
mals berühmten Ledermarkt, Gurasch genannt, süd¬
lich von Makka gelegen und wahrscheinlich auch
nach Bog-a, der Hauptstadt des Hawaranenlandes,
welche in den allerersten Zeiten eine der Haupt¬
schrannen für die Araber war, von der sie Getreide
nach Mekka gebracht haben sollen.
Chadiga war nicht mehr jung; sie hatte das Alter
von 37 Jahren erreicht; dennoch scheint sie das
menschliche Gefühl nicht verloren zu haben, jenes
Gefühl, welches bei den Evakindem „Herzenswunsch“
genannt wird. Was ihr an jugendlicher Anmuth
fehlte, ersetzten ihre Tugenden, ihre gesellschaftliche
Stellung und vielleicht ihr Reichthum. Mohammed
war ein blühender, vielversprechender junger Mann
von fünfundzwanzig Jahren, aber nicht reich. Was
ihm an Reichthum fehlte, ersetzten seine geachtete
Stellung, sein Ansehen als tugendhafter, gesitteter
Mensch, seine adelige Abstammung und vielleicht
seine Jugend. Chadiga stellte Mohammed einen
Heirathsantrag. Er schlug ein und die Hochzeit
wurde ohne Verzug gefeiert, nachdem Chadiga, die
Braut, die Einwilligung ihres Vaters, auf kluge Weise
erreicht hatte.
Von ihrer Seite war es eine Heirath der Liebe
und Achtung, die sie ihm auch bis an ihr Ende treu
bewahrte. Er erwiederte ihre Zuneigung und lange
nach ihrem Tode pflegte er von ihren Tugenden zu
erzählen und sie öfters als Muster der Frauen zu er¬
wähnen ; bisweilen schlachtete er ein Schaf und ver¬
theilte das Fleisch unter die Armen zu ihrem An¬
denken. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Chadiga
an geistigen Anlagen und Bildung, Seelengüte und
Edelmuth ihre damaligen Landsmänninnen weit über-
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traf. Bal’amy zufolge, soll sie sogar lesen und schrei¬
ben gekonnt haben, was in jener Zeit zu den gröss¬
ten Seltenheiten in Arabien gehörte.
Nach der Heirath verliess Mohammed das Haus
seines Oheims und lebte von nun an mit seiner Frau
in ihrem eigenen Hause. Es stand in dem vor¬
nehmsten Theil der Stadt, etwas nördlich von der
Kaaba, umgeben von den Häusern seiner und seiner
Frau Verwandten, also lauter gute und angenehme
Nachbarn, die in den späteren Jahren, nachdem
Mohammed mit seiner Mission öffentlich auftrat,
recht böse wurden, ihm und seiner Frau Freundschaft
und Verwandtschaft kündigten und sich für seine Tod¬
feinde erklärten.
Mohammed trieb die Handelsgeschäfte weiter und
war in recht guten Verhältnissen bis zum Jahre 612,
in welchem Jahre das Stocken seiner Geschäfte und
beinahe der Ruin seines und seiner Frau Vermögen
eintrat, verursacht durch das Auftreten Mohammeds
und durch die daraus entstandene Verfeindungen und
Verfolgungen seitens der Grössen Mekka’s.
Die Ehe Mohammed’s mit Chadiga war mit sechs
Kindern — zwei Knaben und vier Mädchen — ge¬
segnet. Die Knaben starben in der frühesten Kind¬
heit, der eine kaum ein halbes Jahr, der andere über
ein Jahr alt. Die Mädchen blieben am Leben und
erreichten die IJahre der Reife und verheiratheten
sich alle. Die drei Aeltesten starben im Alter von
33, 24 und 27 Jahren, ohne Erben zu hinterlassen.
Nachkommen blieben nur von der jüngsten Tochter,
Namens Fatimah, welche den Tod ihres Vaters er¬
lebte und im Jahre Ö32 n. Ch. im Alter von 28 Jah¬
ren starb.
Wenn man die vorhandenen Quellen durch¬
mustert, so findet man, trotz des peinlichsten Suchens,
nichts, was irgendwie darauf hin weist oder ausgelegt
werden könnte, dass die Kinder Mohammed’s irgend
welche ererbte Krankheit mit auf die Welt brachten.
Auch enthalten dieselben Quellen keine Angaben,
welche irgendwie dahin gedeutet werden könnten,
dass dieselben Anomalitäten geistiger oder körper¬
licher Art zeigten. Im Gegentheil enthalten die uns
überlieferten Quellen Vieles, was zwar ihre Anlagen
und Konstitution nicht besonders hervorhebt, aber
dieselben nicht herabsetzt. Wenn man die Lebens¬
geschichte der länger am Leben Gebliebenen studirt,
so gelangt man leicht und ohne jeden Zwang zu der
Anschauung, dass sie ganz gewöhnliche, normale
Durchschnittsmenschen waren. Die direkte Todes¬
ursache, die Krankheiten, an denen sie starben, sind
leider nirgends aufgezeichnet. An der Hand vieler
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HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
357
anderer Nebenerzählungen, die sich indirekt auf die
Todesursachen beziehen, lässt sich mit Leichtigkeit
und annehmbarer Genauigkeit ermitteln, dass es
meistens akute, also keine chronischen oder periodi¬
schen Krankheiten waren.
Nachdem ich die Periode im Leben Mohammed’s
vom ersten bis zum achtunddreissigsten Lebensjahre
mit dieser nur das allerwichtigste enthaltenden Skizze
geschildert habe und bevor ich auf die zweite, für
das Thema uns weit mehr interessirende Periode
übergehe, will ich Manches über sein äusseres Aus¬
sehen, seinen Charakter und seine gesellschaftliche
Stellung aus den Quellen citiren:
Aus der Legende über seine Pflegschaft bei der
Amme Halyma ist zu entnehmen, dass nicht nur
keine Hemmung in seinem Wachsthum beobachtet
wurde, sondern dass Mohammed als Kind ganz gut
gedieh, so dass es mit zwei Jahren recht stark heran¬
wuchs wie kein anderer Knabe in seinem Alter. Dass
er als Knabe die Reise nach Syrien mitmachte und
als Jüngling von fünfzehn Jahren an dem Krieg der
„Sünder“ sich betheiligte, bestätigt die Annahme,
dass er kein Schwächling war und wahrscheinlich eine
gute Konstitution besass, die solche Anstrengungen,
welche damals mühsam und recht beschwerlich sein
mussten, ganz gut vertrug. Ausser diesen Bemer¬
kungen enthalten die Quellen verschiedene Angaben,
welche theilweise sein Aeusseres beschreiben und
theilweise sich auf seinen Charakter beziehen. Ich
lasse einige davon hier folgen.
Ibn Hischam, der erste Biograph Mohammed’s sagt:
„Er (Mohammed) wuchs schnell zum Jüngling heran.
Die Vorsehung bewachte, behütete und bewahrte
ihn vor den Sünden der Unwissenheit seiner Aera
— die Zeit vor dem Islam. Im Mannesalter war er
menschlicher, gesitteter und geschätzter, sanftmüthiger
und einsichtsvoller, wahrhaftiger und aufrichtiger,
treuer und zuverlässiger, als seine Altersstammesge¬
nossen.“ „Er war auch ein zuverlässiger Beschützer,
weit davon entfernt, sein Wort zu brechen, schänd¬
liche Thaten oder gottvergessene Handlungen oder
Unsittlichkeiten zu begehenwelche die Mannesehre
besudeln, oder die Keuschheit des Jünglings entweihen,
lauter Vorzüge, die den meisten Zeitgenossen, jungen
und älteren, ganz und gar fehlten. Er wurde von
dem Volke wegen dieser unübertroffenen guten Eigen¬
schaften mit dem Beinamen Al-Amin, der Zuver¬
lässige belegt. *)
An anderer Stelle bei Ein Saad lesen wir Fol¬
gendes : Und als er zum Manne herangewachsen
war, zeichnete er sich vor allen Anderen durch seinen
Edelmuth, durch die Reinheit der Sitten, durch feines
Benehmen und edles Handeln, durch Friedfertigkeit
gegen seine Nachbarn, durch Nächsten- und Wahr¬
heitsliebe aus, und er wurde allgemein Al-Amin,
der Zuverlässige, geheissen, weil er alle guten Eigen¬
schaften in sich vereinigte.“
Eine Thatsache aus der frühen Geschichte Mo¬
hammed’s, welche die gesellschaftliche Stellung und
vielleicht den Charakter dieses Mannes beleuchtet,
mag hier Beachtung finden. Es wird nämlich er¬
wähnt, dass Mohammed mit einigen ritterlichen Män¬
nern von Mekka ein Bündniss schloss zum Schutze
Reisender und Fremder, die etwa in Mekka betrogen,
geschädigt oder misshandelt wurden. Mohammed
erinnerte sich später als alter Mann der Thätigkeit
dieses Bündnisses öfters und pflegte seiner Erzählung
hinzuzufügen: „Wenn heute Jemand kommen würde
und gestützt auf dieses Bündniss meinen Schutz in
Anspruch nimmt, so bin ich bereit ihm denselben
sofort zu gewähren.“
Als Chadiga ihn für die Führung ihrer Geschäfte
erwähltej stand er, wie Ibn Hischam und Andere
angeben, in grossem x\nsehen wegen jener Sittlichkeit,
Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die überall von
ihm gerühmt wurde. (Fortsetzung folgt.)
*) Ibn Hischam, Bd. I, erster Theil, Seite 117.
M i t t h e i
— Aus Ostpreussen. Die von mir in dem
Aufsatze: Die Entwicklung des Irrenwesens in Ost¬
preussen (Psych. Wochenschrift 1899, I., Nr. 19) aus¬
gesprochene Vermuthung, dass sich im Auschluss an
die Pfleglings-Abtheilung (Landarmen- oder Landpflege-
Anstalt) Tapiau eine Irrenpflegeanstalt entwickeln
werde, hat sich schnell verwirklicht. Bereits 1901
war dem Provinziallandtag ein entsprechender Antrag
vorgelegt worden, zu dessen Motivirung Folgendes
ausgeführt wurde:
Die Belegungsfähigkeit der beiden Provinzialirren-
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1 u n g e n.
anstalten Allenberg und Kortau beträgt nach der in
den Jahren 1894 bis 1899 stattgehabten Vergrösse-
rung beider Anstalten in Allenberg 890, in Kortau
1000, zusammen 1890 Kranke. Hierzu tritt die
Irrenabtheilung in Tapiau mit 68 Köpfe, so dass im
ganzen 1958 Kranke, und zwar 948 Männer und
1015 Frauen in diesen drei Anstalten untergebracht
werden können. Unter Hinzurechnung von etwa 50
in Familienpflege untergebrachten Geisteskranken
können somit rund 2000 Kranke in und bei den
genannten Anstalten Aufnahme finden.
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HARVARD UNIVERSITY
35 »
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
LNr. 33 -
Zur möglichsten Entlastung der Irrenanstalten
wurden bereits 1899 59 männliche Geisteskranke
aus diesen in die - neuerbaute Männerabtheilung der
Landpflegeanstalt Tapiau überführt und ausserdem
hier noch 15 idiotische Männer und 11 epileptische
Männer aus Rasten bürg bezw. Carlshof untergebracht.
Die Aufnahme dieser männlichen Kranken hat an¬
geblich zu bemerkenswerthen Unzuträglichkeiten nicht
geführt, da die bei den Neubauten der Männerpfleg-
lingsabtheilungen getroffenen baulichen Anordnungen
es ermöglichen, diese Kranken in besonderen, von
den eigentlichen Pfleglingen gesonderten, Abtheilungen
unterzubringen.
Im Anschluss an diesen Versuch, neue Plätze für
Geisteskranke ohne Aufwendung erheblicher Mittel
zu gewinnen, hat auch in der Frauenpflcglingsabthei-
lung allmählich eine grössere Anzahl geisteskranker
Frauen, welche zwar nicht einer Behandlung in einer
Irrenanstalt, aber w r egen ihres körperlichen und gei¬
stigen Zustandes doch einer Anstaltspflege bedürfen,
Aufnahme gefunden. Inzwischen hat es sich jedoch
als unangängig erwiesen, diese Kranken, wenigstens
der grössten Mehrzahl nach, unter den in der Frauen¬
pfleglingsanstalten vorliegenden baulichen Verhältnissen
und in Rücksicht auf die ganze Art des Anstaltsbe¬
triebes dauernd dort zu belassen. Die Frauenabthei¬
lung ist mit 163 Frauen bis zum äussersten belegt.
Im Hinblick auf die geringe Zahl der in den Irren¬
anstalten noch verfügbaren Plätze erschien es daher
unabweisbar, in eine Prüfung der Frage einzutreten,
in welchem Umfange die Schaffung neuer Plätze für
Geisteskranke zur Zeit überhaupt in Aussicht zu
nehmen ist und in welcher Weise dies am zweckent¬
sprechendsten und unter Aufwendung mög¬
lichst geringer Mittel zu geschehen haben wird.
Der Krankenzuwachs in den Provinzialirrenan-
staltcn in den elf Jahren 1887 97 hat 1090 Kopfe
oder im Durchschnitt jährlich 1)3, in den letzten Jahren
1898—1000 2052 — 1812 = 240 oder 80 jährlich
betragen.
Gegenüber der durchschnittlichen Zunahme in den
vorangegangenen elf Jahren mit je 03 Kranken ist
hiernach eine Abnahme um etwa 15 0 0 eingetreten.
Eine weitere Abnahme des jährlichen Zuwachses
werde in Zukunft auch m i t R ü c k s i c h t auf d i c
Erhöhung des P f 1 e g e g e 1 d e s erwartet werden
können. *) Andererseits werde der Zuwachs an Kranken
jetzt nicht plötzlich aufhören und werde mit den vor¬
handenen Krankenplätzen keinesfalls auszukommen
sein. Es wird daher nach der Ansicht des Provin¬
zialausschusses nicht zu umgehen sein, alsbald für
eine Vermehrung der Plätze zur Unterbrigung von
Geisteskranken Sorge zu tragen, da die im Jahre 1901
begonnene Bauten frühestens zum Winter 1902 3
benutzbar und die in den Anstalten Allenberg und
Kortau noch verfügbaren Plätze schon bis dahin voll¬
ständig besetzt sein werden.
*) Im Jahre 1901 hat der Zuwachs wieder 94, weiterhin
aber bis zum 16. August 1902 (wo der Gesammtkrankenbestand
2250 betrug), also in 7 1 ,, Monaten, nicht weniger als 104
betragen. Anstatt der erwarteten Abnahme ist also eine erhöhte
Zunahme des jährlichen Zuwachses eingetreten.
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Nachdem bei den Anstalten Allenberg und Kortau
je vier Krankengebäude ausgeführt sind, seien beide
Anstalten an der Grenze angelangt, bis zu welcher
eine Vergrösserung durch die Einrichtung einzelner
neuer Gebäude möglich erscheint.
Die für den gesammtenWirthschaftsbetrieb der Anstal¬
ten vorhandenen Einrichtungen,Wirthschaftsgebäude mit
Kochküche, Waschküche, Verwaltungsgebäude, Wasser¬
versorgung, seien schon jetzt im äussersten Maasse in
Anspruch genommen, und es würden bei der Errich¬
tung weiterer Krankengebäude auch kostspielige Er¬
weiterungen und Neubauten für Wirthschaftszwecke
nicht zu umgehen sein. Abgesehen davon erscheine
bei beiden Anstalten die Errichtung weiterer Neubauten
in einer für den gesammten Anstaltsbetrieb annehm¬
baren Verbindung mit den vorhandenen Gebäuden
kaum ausführbar. Es bleiben mithin nur die beiden
Möglichkeiten übrig, entweder eine neue besondere
Anstalt zu bauen, oder die nothwendigen Erweite¬
rungsbauten an eine andere bestehende Provinzialan¬
stalt — und als solche kommt nur die Pfleglingsab¬
theilung in Tapiau in Frage — anzugliedern. Letz¬
teres erscheine insbesondere vom finanziellen Ge¬
sichtspunkte aus als das bei weiterem günstigere.
Grundsätzliche Bedenken lägen gegen die Unter¬
bringung von Geisteskranken im Anschluss an die
Pfleglingsabtheilung in Tapiau nicht vor, sofern für diese
Kranken besondere Gebäude bezw. von den Pfleg¬
lingen getrennte Abtheilungen eingerichtet werden.
Die heilbaren, die gemeingefährlichen und unruhigen
Kranken werden nach wie vor in den Anstalten
Allenberg und Kortau, bezw. in der Irrenabtheilung
Tapiau Aufnahme finden. Die neuen Abtheiluugen
bei der Pfleglingsabtheilung werden dagegen demnächst
im Allgemeinen für unheilbare ruhige und halbruhige,
insbesondere sieche, Kranke zu dienen haben, da
ruhige arbeitsfähige Kranke aus Allenberg und Kortau
mit Rücksicht auf die wirthschaftlichen Verhältnisse
dieser Anstalten nicht in grösserer Zahl abgegeben
werden können und es dort auch besonders an
Plätzen für halbruhige sieche Kranke mangelt. Die
auf eine normale Belegung von 484 Köpfen einge¬
richteten, zur Zeit vorhandenen Bauten der Pfleglings¬
abtheilung in Tapiau, können insgesammt im Höchst¬
fälle 404 Pfleglinge aufnehmen (331 Männer, 103
Frauen). Eine all m ä h 1 i c h e V ergrösserung
der Anstalt durch die Aufnahme von Gei¬
steskranken bis zu einer Gesammtzahl
v o n etwa 1000 K ö p f e n erscheine bei den
vorliegend e 11 V e rh ä 1 1n iss en angä ngig. Es
würde sich sonach für etwa 500 Geisteskranke
Platz gewinnen lassen. Damit würde alsdann die
Zahl der in Provinzialanstalten unterzubringenden
Geisteskranken auf 800 (Allenberg) -f- 1000 (Kortau)
+ 68 (Irrenabtheilung Tapiau) -f- 500 (Irrenpflege¬
abtheilung Tapiau) -f- 42 (Familienpflege) = 2500
gesteigert werden können.
Da die Herstellung der einzelnen neuen Kranken¬
häuser für eine verhältnissmässig grosse Kopfzahl im
vorliegenden Falle angängig und im finanziellen Inter¬
esse liegend erscheine, sei die Unterbringung der Ge¬
sammtzahl von 500 Kranken in vier Gebäuden für
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
359
1902.]
je 125 Köpfe annähernd in die Grösse und Aus¬
stattung des zuletzt erbauten Pfleglingshauses in Aus¬
sicht genommen, von welchen je 2 für die Aufnahme
von geisteskranken Männern und Frauen zu dienen
haben werden.
Ausser Krankengebäuden ward die Erbauung eines
Wirtschaftsgebäudes notwendig, in welchem im
Wesentlichen eine Kochküche mit den zugehörigen
Nebenräumen unterzubringen sein werde.
Es werde ferner erforderlich werden, mindestens
für einen unverheirateten Arzt Wohngelegenheit in der
Anstalt zu schaffen.
Die Baukosten je eines Gebäudes für 125 Köpfe
sind auf 150000 M. berechnet (1040 M. für den
Kopf).
Das erforderliche besondere Kochküchengebäude
ist bei 500 Quadratmeter Grundfläche auf 45 000 M.
Baukosten berechnet.
Für die erforderlichen Nebenanlagen, Wasser¬
versorgung, Wasserableitung, Herstellung von Wegen,
Einrichtung und Einfriedigung von Stationsgärten sind
bei Ausführung der gesammten Anlagen weitere
34 000 M. erforderlich. Hierzu tritt noch die innere
Einrichtung des Kochküchengebäudes mit 15000 M.,
so dass sich die Gesammtkosten der Erweiterungsbauten
für 500 Köpfe — ohne Berücksichtigung etwaiger
Grund erwerbskosten und der Kosten für Inventarbe¬
schaffung — auf 634000 M. t mithin für den Kopf auf
1268 M., stellen werde.
Der Antrag des Provinzialausschusses, in Anschluss
an die bei der Landesarmenanstalt Tapiau befindliche
Pfleglingsabtheilung, Gebäude für (500) unheilbare Gei¬
steskranke zu errichten und zwar zunächst 2 Gebäude für
je 125 Kranke, das Wirtschaftsgebäude und die zuge¬
hörigen Nebenanlagen, wurde vom Provinziallandtag
debattelos angenommen.
Dass damit eine principielle Acnderung in der
provinzialen Irrenversorgung inaugurirt worden ist,
wozu allerdings die Anfänge schon ein Jahr vorher
auf dem Verwaltungswege durch Ueberführung von
unheilbaren Geisteskranken in die Pfleglingsabtheilung
Tapiau gemacht worden sind, scheint dem Provinzial¬
landtag nicht zur Erkenntniss gekommen zu sein,
ebensowenig die schweren Bedenken, die gegen eine
solche, von dem Minister v. Altenstein im Jahre
1832 als verwerflich und von dem Minister Eichhorn
1845 als Rückschritt bezeichnete, Verbindung in
psychiatrischen Kreisen herrschen und welche noch
Ludwig-Heppenheim kurz vorher in seinem Vortrage:
„Die hessischen Provinzialsiechenanstalten und die Gei¬
steskranken“ präcisirt hat, wobei er sich auf das schärfste
gegen die Verquic kung von Siechenanstalten mit der
Verpflegung von Geisteskranken ausgesprochen hat.
Bei der neuen Tapiauer Irrcnpflegeabtheilung, deren
Bau bereits so weit gefördert ist, dass sie wohl Ende
dieses Jahres wird bezogen werden können, fällt noch
besonders schwer ins Gewicht, dass die Leitung der
Pfleglingsabtheilung, in welcher jetzt bereits über 100
Geistcskrankeuntergebra« litsind, und nach Fertigstellung
aller Bauten als« > öo< > Geisteskranke sich befinden werden,
in den Händen eines Laien, des Directors der Korri¬
gendenanstalt Tapiau liegt. Vom 1. April d. J. ist
neben dem bisher einzigen Arzt der Tapiauer An¬
stalten (Oberarzt) 1 jüngerer Assistenzarzt angestellt
worden. Die beiden letzten Gebäude für je 125
Kranke sollton nach Beschluss des Provinziallandtages
1902 auch bald begonnen und bis 1904 fertig gestellt
werden.
Die Fürsorge der Provinz für Epileptische wird
nach einem, vom letzten Provinziallandtag angenom¬
menen Anträge des Provinzialausschusses in derselben
Richtung, wie sie bereits seit 10 Jahren eingeschlagen
worden ist, nämlich durch Verträge mit Privatge¬
nossenschaften,*) erweitert werden. Zur Zeit sind
sämmtliche, der Anstaltspflege bedürftigen Epileptiker,
ohne Unterschied des Glaubens, in der unter Leitung
eines evangelischen Geistlichen stehenden Epileptiker¬
anstalt zu Carlshof untergebracht. Nunmehr wird
auch eine katholische Epileptikeranstalt
errichtet. Der Erzpriester Hinzmann zu Wormditt
steht in Begriff, den seit längerer Zeit erwogenen
Plan zu verwirklichen, in der Diöcese Ermland eine
Heil- und Pflegeanstalt für katholische Epileptiker
ins Leben zu rufen, in welcher die bereits in Carls-
hof befindlichen und die später einzuweisenden Epi¬
leptiker katholischen Glaubens untergebracht werden
sollen. Die neue Anstalt, von der bereits das Frauen¬
haus in Angriff genommen ist, wird auf einem 10
Minuten von der Stadt Wormditt gelegenen Platz er¬
richtet, zu welchem die Stadt ein 8 l / i Morgen grosses
Ackerstück unentgeltlich hergegeben hat. Das Frauen¬
haus, das mindestens für 80 Kranke Platz bieten
soll, sollte bereits im April bezogen werden. Es soll
nunmehr auch der Bau des Männerhauses in Angriff
genommen werden, so dass in 3—4 Jahren die An¬
stalt fertig sein und sämmtlichen katholischen Epilep¬
tikern Ost- und Wcstpreussens Platz bieten wird.
Vorläufig sollen auch Männer im Frauenhause Platz
finden, allerdings unter vollständiger Trennung der
Geschlechter. Die Aufnahme der katholischen Pro¬
vinzialpfleglinge in die neue Anstalt soll unter den¬
selben Bedingungen erfolgen, wie sic bisher in Carls¬
hof geschehen ist. (Schluss folgt.)
*) Diese Angelegenheit spielt in die Politik hinein. Wäre
nicht im ostpreussischen Landtage das conservativ-orthodoxe
und das conservativ-clericaie Element so stark vertreten, so
würde inan nicht dem kirchlichen Unternchmerthum in dieser
Weise die Hand bieten, sondern besser durch Errichtung eigener
Anstalten für Unterbringung der auf dem Wege der öffentlichen
Armenfürsorge zu verpflegenden Kranken Sorge tragen und da¬
durch die gesetzliche Verpflichtung hierzu in einer Weise erfüllen,
die sich gegenüber der Unterbringung dieser Kranken in Privat¬
anstalten, als vom administrativen wie vom ärztlichen Stand¬
punkt einwandfrei bezeichnen darf. Im Interesse der medi¬
zinischen Wissenschaft und ihres Fortschritts fordern wir, dass
man die Krankenhäuser nicht unter Leitung von Laien, sondern
von Aerzten stellt. Der M i 1 i tärv er w a 11 un g fällt es auch nicht
ein, ihre Lazarette von Offizieren, geschweige von Geistlichen
verwalten und leiten zu lassen. Für die ostpreussischen Aerzte
aber ist es angesichts der nächstjährigen Reichstags wählen
wichtig festzustellen, von welchen Parteie sie vorkommenden Falls
(z. B. bei der Krankenkassengesetzgebung und beim Reichs¬
irrengesetz) eine Berücksichtigung ihrer Wissenschaft und
ihres Standes nicht gerade zuversichtlich erhoffen dürfen.
Red.
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360
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 33.
— Die Büste Karl Westphals, die dem lang¬
jährigen Leiter der Irren- und Nervenabtheilung der
Charitee vor der Neuen psychiatrischen Klinik in
Berlin errichtet worden ist, wurde am 8. d. Mts.
feierlich enthüllt.
Referate.
— Archives de Neurologie 1901.
Note relative a l’etude des effets phy-
siologiques de la rachi-coca’inisation et
de la ponction lombaire par A. Pitres et J.
Aba die. Nr. 70, S. 289.
Die Verfasser konnten bei 50 Fällen von Cocaini-
sirung des Rückenmarks folgende- Ergebnisse fest¬
stellen : es wird die Leistungsfähigkeit der hintern
Wurzeln in der Weise beeinflusst, dass sie ganz un¬
regelmässig durch die Cocainwirkung betroffen werden,
die Analgesie tritt ganz allmählich auf, Schmerzem¬
pfindlichkeit, Temperatursinn und Empfindung für
Berührung kommen nacheinander zum Verschwinden,
letztere kann sogar z. Th. erhalten bleiben. Die
Rückkehr dieser Funktionen erfolgt in umgekehrter
Reihenfolge. Das Lagegefühl der Extremitäten bleibt
im Allgemeinen erhalten, ebenso die viscerale Sensi¬
bilität. Die Hautreflexe sind in den analgetischen
Bezirken aufgehoben, kehren ungleich mit der Sensi¬
bilität zurück. Vorher normale Sehnenreflexe werden
gesteigert, während vorher abgeschwächte oder ge¬
steigerte PR verschwinden. Keine ausgesprochenen
Erectionen, kein epileptoides Zittern, keine Störung
der Coordination und der motorischen Kraft. Schweiss-
absonderung bes. in der oberen Körperhälfte. —
Unter 15 Fällen von Lumbalpunktion wurden Stö¬
rungen der Sensibilität nicht gefunden, die Reflexe
waren in nicht gesetzmässiger Weise verändert, sonst
keinerlei Erscheinungen wie bei Cocainisirung, ausser
Kopfschmerz, der zu Unrecht von anderer Seite
nicht der Lumbalpunktion, sondern der Cacainwirkung
zugeschrieben wird.
Delire aigu et uremie par A. Cullere.
Nr. 72, S. 449.
Mittheilung zweier Fälle, die der Verfasser als
acutes Delir in Folge Urämie auffassen zu müssen
glaubt. Das Vorkommen von katatonischen Erschei¬
nungen im 2. Falle veranlasst ihn zu der Bemerkung,
dass katatonische Erscheinungen bei Kranken über
40 Jahren auf die Möglichkeit einer latenten Urämie
hin wiesen.
Contribution a l’etude des stereotypies
par Al. Cahen. Nr. 72, S. 476.
Von den Stereotypien wird folgende Definition
gegeben: ils sont les attitudes, des mouvements, des
actes de la vie de relation ou de la vue vegetative,
qui sont coordonnes, qui, n’avant rien de convulsif,
ont au contraire l’apparence d’aetes intentionnels ou
professionnels, qui se repetent longtemps, frequem-
ment, toujours de la meme facon, qui, au debut, sont
conscients, volontaires et qui deviennent plus tard
automatiques et subconscients par le fait meme de
leur longue duree et de leur repetition. Im An¬
schluss an die allgemeine Eintheilung in akinetische
und parakinetische, werden die einzelnen Erschei¬
nungsformen der Stereotypien besprochen. In typi¬
scher Form finden sie sich bei den systematisirten
Paranoiaformen (delires systematiques), und zwar be¬
dingt durch Wahnideen, verhältnissmässig selten auf
Grund von Verfolgungsideen, hychochondrischen und
mystischen Wahnvorstellungen, sehr oft dagegen durch
Grössenideen veranlasst, am häufigsten bei Abwehr¬
wahn Vorstellungen (idees de defense). Sie entwickeln
sich parallel mit dem Wahn, so dass auf die Phase
der Systematisirung der Wahnvorstellungen, die der
Stereotypien folgt, die schliesslich automatisch werden.
Die andre Ansicht, dass die Stereotypien primär sind
und Wahnideen nur zur Erklärung dran geknüpft
werden, genügt nur für gewisse Fälle, reicht aber
nicht aus. Stereotypien finden sich weiter nicht selten
bei Dementia präcox (die Katatoniefrage wird dabei
nur gestreift), bei secundärer Paranoia, bei secundären
Formen von Demenz mit Wahnbildung, bei nihilisti¬
schen, systematisirten Wahnsinnsformen, bei Paralyse
sehr selten, im Verlauf von manchen Zwangsvorstellungs¬
psychosen (obsessions), bei folie du doute, auch bei den
einfachen Ticerkrankungen (tic d’habitude), sehr selten
bei Erschöpfungszuständen und der psychischen
Desequilibration. Differential - diagnostisch kommen
athetotische Bewegungen, Zittern, tic convulsif, im¬
pulsiver raptus, automatische Bewegungen bei Hysterie
und Epilepsie , tics mentaux in Betracht. Unter be¬
stimmten Voraussetzungen geben die Stereotypien
eine ungünstige Prognose.
Personalnachrichten.
—- An der Universität Bonn hat sich Dr. med.
Fo erst er mit einer Antrittsrede „Ueber die Wand¬
lungen der psychiatrischen Therapie im Laufe des
vorigen Jahrhunderts“ und Dr. med. R. Finkelnburg
mit einer Rede über „Unsere gegenwärtigen Kennt¬
nisse in der Frage der Gehimlokalisation“ habilitirt
— Personalveränderungen an den nassau-
ischen Irrenanstalten.
I. Eichberg:
Geh. Medicinalrath Dr. Schrötter, bisher Director,
trat am 1. X. 02 in den Ruhestand. An seine Stelle
trat als Director der bisherige Oberarzt Dr. A. Bothe.
Oberarzt wurde Dr. K. Schmelzeis, vorher Assistent
in Weilmünster.
II. Weilmünster:
Die durch die Ernennung von Dr. Lantzius-BeniDga
zum Director frei gewordene Stelle des Oberarztes
wurde am 1. X. 02 durch Dr. Resch, bisher Assistent
an der Frankfurter Anstalt, besetzt.
Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. j. lirosler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schirms der Inseratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’scho Puchdruckerei (Gebr. Wnlffl in Halle a S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Quttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. Q. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygaqdt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 34. 22. November. 1902.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Halbseitiges Delirium. Von Prof. Dr. E. Bleuler, Burghölzli-Zürich (S. 361). — War Mohammed Epilep¬
tiker? Von Dr. med. M. L. Moharrem Bey (S. 367). — Leopold Kaplan f (S. 374). — Mittheilungen (S. 374).
Halbseitiges Delirium.
Von Prof. E. Bleuler, Burghölzli-Zürich.
|^er Paralytiker L. lag am Vormittag des 13. IX.
1902 in seinem Bette auf dem Rücken; die linke
Hand hielt er ganz ruhig — meist, aber nicht immer,
unter dem Kopf. Der rechte Arm machte unauf¬
hörlich weitausgreifendc, kräftige, wenn auch etwas
ungeordnet erscheinende Bewegungen, ähnlich wie ein
Delirant mit lebhaftem Beschäftigungsdelir, nur kräf¬
tiger und ohne starken Tremor. Ein Theil dieser
Bewegungen war nicht verständlich, wenn er auch
das Gepräge von Handlungen trug. Andere waren
sehr deutlich: die Hand ergriff Stricke, zog sie aus
der Höhe herab, hackte, wie wenn sie eine Axt oder
ein ähnliches Werkzeug hielte, sie säete etwas (auf
Anfrage, was er thue, antwortete Patient, er säe
Gerste); die Hand machte Greifbewegnngen, oft mit
grosser Kraft — man sah dann dem Patienten die
Anstrengung im Gesichte an —, schleuderte die (ein¬
gebildeten) Sachen fort, oder legte sie an einen ande¬
ren Ort.
Manchmal bekam dabei die Hand die Decke
oder das Kissen zu erfassen und riss es weg. Dann
machte die linke Hand wieder Ordnung, schob das
Kissen zurecht, zog die Decke herauf, einmal wischte
sie auch den durch Suppe nass gewordenen Mund,
alles, während die rechte Hand ungestört weiter
arbeitete.
Einige wenige Male griff die linke Hand auch
nach rechts hinüber und streifte etwa 5 cm über dem
rechten Arm in der Luft, ohne diesen zu berühren,
von der Mitte des rechten Unterarmes bis zur Mitte
des Oberarmes. Gewöhnlich ist der rechte Arm in
diesem Momente relativ ruhig; es scheint in diesen
wenigen Sekunden der linke Arm an dem Delir des
rechten Theil zu nehmen. Gelegentlich treffen sich
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HARVARD UNIVERSITY
362
psychiatrisch-neurologische Wochenschrift.
[Nr. 34.
beide Hände — offenbar zufällig — dann fasst etwa
die Eine die Andere wie einen fremden Gegenstand;
doch hat nur einmal die linke die rechte Hand
längere Zeit festgehalten, während diese sich los zu
reissen suchte.
Am gleichen Vormittag schlief Patient längere
Zeit (schnarchte): während dessen arbeitete der rechte
Arm fort.
Mittags 12 Uhr. Auf Berühren, Stechen,
Streichen der linken Körperseite und Extremitäten ant¬
wortet die linke Hand meist und zwar richtig; es wird
gut lokalisirt. Dann und wann nimmt die rechte
Hand an Abwehrbewegungen der linken theil, meist
macht sie bei Reiz der linken Seite nur ihre Arbeit
energischer; selten macht sie auch Abwehrbewegungen,
die nach Art und Ort ganz unpassend sind, schlägt
z. B. bei Stich in die linke Körperseite nach rechts
in die Luft hinaus.
Beide Beine zeigen — wie schon am Vormittag
— Zuckungen ohne Locomotion, doch kommt das
rechte Bein etwa über den Bettrand hinunter, wird
spontan heraufgezogen oder vom Wärter hinaufgethan.
Auf Stechen und Kitzeln des linken Fusses regel¬
mässig einfaches Zurückziehen; rechts komplicirtere,
aber nicht verständliche Bewegungen, worauf das Bein
ungefähr in seine ursprüngliche Lage zurückkehrt.
Ebenso bei Reiz durch Wasseranspritzen.
Stechen, Kneifen, Bespritzen von Rumpf, Gesicht
und Arm rechts verursachen energische Kampfbe¬
wegungen des rechten Armes mit deutlichem Angriff
(nicht bloss Abwehr). Der Patient scheint gegen ein
Phantom zu seiner rechten Seite zu kämpfen mit
Greifen, Schleudern, Boxen, Faustschlägen. Die rechte
Hand trifft die gereizte Stelle sehr selten und an¬
scheinend nur zufällig.
Der linke Arm nimmt nur ausnahmsweise daran
theil. Bei Reiz rechts am Kopfe greift er etwa auf
die rechte Seite hinüber, aber dann verspätet.
Sich selbst überlassen, kümmert sich die rechte
Seite kaum um die Wirklichkeit. Die rechte Hand
erfasst zwar gelegentlich die Decke, aber offenbar nur
zufällig, da sie überallhin Greifbewegungen macht
Dann ist sie auch im Stande, die Decke in mehreren
Griffen rasch in die Höhe zu ziehen, neben das Bett
zu werfen und Aehnliches.
Die linke Hand hält sich für gewöhnlich ruhig,
reagirt aber immer richtig auf die Wirklichkeit. Sie
zieht das Leintuch vom Gesicht, ordnet das Kissen,
seltener auch die Decke, wenn die rechte Hand die
Dinge in unbequeme Lage gebracht hat. Doch zeigt
sie nicht gerade eine grosse Intelligenz; das unbe¬
quem liegende Kissen wird z. B. häufiger ganz weg¬
gezogen oder fortgeschoben, als unter den Kopf ge¬
legt. Auch sind die Bewegungen nicht immer, aber
meist, etwas tappig oder incoordinirt (paralytisch).
Patient kann in der linken Hand ein Glas halten
und trinken, verschüttet indessen einen Theil des In¬
haltes, aber mehr in Folge der Erschütterungen
durch die beständigen Bewegungen des rechten
Annes, als durch die Incoordination des linken.
Um alle diese Thätigkeit kümmert sich die rechte
Hand gar nichts.
Nachmittags ca. 2 Uhr. Die Trennung der
beiden Seiten zeigt etwas mehr Ausnahmen als vor
2 Stunden, aber immer nur für ganz kurze Hand¬
lungen von wenigen Sekunden.
Der linke Arm kommt etwa der rechten Hand
zu Hülfe, namentlich wenn diese anscheinend Stricke
aus der Luft herunterholt oder vom Kopfe weg zieht.
Gelegentlich wehrt die linke Hand die rechte ab wie
eine fremde, wenn sie stärker nach links herüber
kommt und den Körper berührt, oder sie hält die
Decke oder das Kissen zurück, das die Rechte fort¬
schieben will, aber nie lange.
Die zur Berührung nahe gebrachten Gegenstände
erfasst die rechte Hand nie. Die Linke ergreift gut,
doch ohne etwas damit zu machen, wenn Fat. nicht
besonders dazu aufgefordert wird. (Später fasste auch
die Rechte etwas, warf aber den Gegenstand sofort
wieder weg.)
Ein auf das Gesicht gelegter Hut wird von der
linken Hand jeweilen fortgeschoben, oder fortgelegt,
w-enn auch meist nicht sehr prompt. Durch dieses
Bedecken des Gesichtsfeldes wurde der rechte Arm
in seinen Handlungen nicht gestört.
Beim Versuch, den Patienten auf die Ftisse zu
stellen, macht er incoordinirte Bewegungen mit beiden
Beinen und kann sich nicht aufrecht halten. Es
schien, wie w f enn das linke Bein nach links, das
rechte nach rechts gehen wollte.
Dieser Zustand blieb den ganzen Nachmittag;
nur ist zu bemerken, dass Patient einmal weinte,
ohne über den Grund Auskunft zu geben. Die Ar¬
beitsbewegungen des rechten Armes setzten keinen
Augenblick aus.
Am späteren Nachmittag gab Patient auf Auffor¬
derung durch Worte oder Geberden regelmässig die
linke Hand, die rechte nie. Einmal, als ich gerade
ins Zimmer getreten war, begrüsste mich die linke
Hand sehr lebhaft und während sie meine Hand
schüttelte, klopfte mir die rechte des Patienten freund¬
lich auf die Brust. Das Experiment mit dem Hut
wurde noch oft wiederholt mit dem gleichen Erfolg
wie früher. Einmal setzte die linke Hand, einer kurz
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
363
vorher gegebenen mündlichen Aufforderung ent¬
sprechend, den Hut auf den Kopf. Da dies im Liegen
des Patienten nicht leicht ging, — der Kopf hob
sich im richtigen Moment, aber nicht genug — so
kam die rechte Hand mit einem kleinen Schubbs zu
Hülfe, um dann sofort ihre sonstige Thätigkeit wieder
fortzusetzen.
Abends kurz vor dem gleich zu schildernden An¬
fälle hatten die beiden Hände einander etwas mehr
unterstützt als vorher, namentlich beim Stricke aus
der Luft holen. Hierbei gutes Zusammenarbeiten,
wenn auch nur während wenigen Sekunden, so dass
eine stärkere Coordinationsstörung oder choreatische
Bewegung mit Sicherheit ausgeschlossen war.
Bei Reizung der rechten Seite nahm die linke
etwa im Sinne der Handlung der rechten Seite theil.
Sie griff und wehrte dann nicht nach der gereizten
Stelle, sondern nach der von der rechten Hand an¬
gegriffenen oder vertheidigten. Sie nahm anschei¬
nend von der rechten nicht nur eine falsche Lokali¬
sation, sondern eine deliröse Auslegung an. Immer
aber bildete das Zusammenarbeiten beider Arme nur
eine ganz vorübergehende Ausnahme; die beobachte¬
ten Ausnahmen sind alle hier erwähnt.
Abends zwischen 8 und 9 Uhr bekam Patient
plötzlich einen Anfall mit verschiedener Reaction auf
beiden Seiten, ohne dass die eine Seite einmal in
die Thätigkeit der anderen eingegriffen hätte (wohl
verschiedene Hallucinationen beiderseits). Patient
fing ganz plötzlich an mit dem rechten Arme sehr
energisch dreinzuschlagen, die Geberden zu machen,
wie wenn er Thiere (etwa von der Grösse von Mäu¬
sen und Ratten) erhaschte und sic fortschleuderte.
Dann kämpfte er mit einem Mann in der Luft, dem
er (mit Worten) drohte, den Schnurrbart auszureissen.
Etwa 30 Mal machte er — oft unterbrochen durch
andere Kampfbewegungen — eine Geberde, w r ie
wenn er mit grosser Kraft und drohender Bewegung
etwas ausreissen und dann fortwerfen würde. „Gelt,
Dir luib ich den Schnurrbart ausgerissen“, sagte er
dann mehrmals, zuletzt sagte er statt „ausgerissen“
einmal „abgeschnitten“, doch hat er immer nur die
Bewegung des Ausreissens gemacht.
Genau gleichzeitig mit der stärkeren Kampfbe¬
wegung rechts, fing er an, wie wild mit der linken
Hand etwas vom Kopfe abzuwehren, wie wenn ein
Wespenschwarm sich darauf niederliesse.
Die beiden Thätigkeiten (rechts Kampf mit Thieren
und dem Mann, links Abwehr eines offenbar haupt¬
sächlich gefühlten Feindes am Kopfe (Wespen?)
wurden nie confundirt.
Nach ca. 5 Minuten drehte sich Patient (liegend)
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in Verfolgung der rechtseitigen Hallucinationen nach
rechts um seine Achse. Er wäre aus dem Bett ge¬
fallen, wenn man ihn nicht gehalten hätte. Schliess¬
lich kam er mit unserer Unterstützung aus dem Bett.
Hierbei keine deutliche richtige (unterstützende) Be¬
wegung mit der linken Hand. Die rechte setzte den
Kampf derweilen fort. Einmal fest auf dem Boden
strebte ganz deutlich das rechte Bein nach rechts,
das linke nach links in unsicheren kleinen Schritten,
so dass Patient die Beine sehr weit spreizte und ge¬
halten werden musste. Dann bekam das rechte Bein
die Oberhand und zog das linke nach, und Patient
fing an in einem ziemlich grossen Kreis nach rechts
herumzugehen, das Gesicht peripher und etwas nach
rechts gedreht, den Rücken nach der Innenseite des
Kreises, beständig mit der rechten Hand nach einem
Feinde greifend. Die linke war unthätig. Das linke
Bein wurde immer nachgezogen. Schliesslich stiess
Patient an ein Bett und kam zu Falle. Auf dem
Boden machte er auf allen Vieren halb Uhrzeiger-,
halb Man ege-Be wegungen, den Kopf voraus oder
etwas radiär gerichtet. Schliesslich kletterte Patient
(ungeschickt) mit unserer Hülfe ins Bett, verlangte,
dass man ihn „herunterhole“, sprach einmal vom Bett,
so dass man merkte, dass er wusste, was er wollte,
und wurde schliesslich ins Bett gelegt. Daselbst be¬
ruhigte er sich rasch ganz, nahm rechts die frühere
Thätigkeit wieder auf. Dauer des ganzen Anfalls
vielleicht 10 Minuten. Später lag Patient längere
Zeit auf der linken Seite; die linke Hand unter der
linken Wange, mit der rechten arbeitete er. Hierbei
kam der Kopf gegen den linken Bettrand. Vor 10
Uhr lag er auf dem Rücken, die linke Hand auf der
Brust, die rechte arbeitete. Auch leichte Reize der
linken Hand wurden nur träge beantwortet, Reize
der rechten Seite zwei Mal mit einer Bewegung, die
anscheinend richtige Lokalisation und Auslegung
voraussetzte.
Bald nach 10 Uhr sehr starke Beschäftigung
rechts und zwar nun auch mit dem Bein, offenbar in
Coordination mit den Armbewegungen. Die Be¬
wegung wurde so stark, dass Patient zum Schutze
gegen Contusion 2 gr Chloral bekommen musste,
worauf er die ganze Nacht schlief. Nur einmal,
gegen morgen, wieder kurz dauernde Bewegung bei¬
der rechten Extremitäten, ohne dass Patient die Augen
geöffnet hätte.
Während seines Delirs, d. h. während des ganzen
Tages hatte Patient auf Anreden wenigstens mit
Drehung des Kopfes und des Blickes geantwortet.
Er verstand sicher einfache Aufforderungen, wenn er
ihnen auch nicht immer folgte. Er gab z. B. die
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3 r >4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34.
linke Hand. Die Aufforderung die Zunge zu zeigen,
verstand er am Mittag, kam ihr aber nicht nach
und wurde schliesslich, als man insistirte, zornig. Er
schrie mehrmals, er habe keine Zunge mehr, und
brüllte nachher auch „nein“ auf die Frage: Wie
heissen Sie?
Abends 4 Uhr zeigte Patient unter anderem die
Zunge auf Geheiss. Daneben war nun eine gewisse
Perseveration in den sprachlichen Aeusserungen
deutlich.
Hielt man die linke Hand, so blieb er ruhig;
hielt man die rechte, so wurde er zornig und lärmte.
Spontane deliriöse Aeusserungen. z. B. „Zehntausend“.
Er nannte auch den Namen seines Hcimathsortes
und ähnliches.
Pupillen gleich, mittelweit, auf Licht nicht
reagirend. Die Augen waren meist halb geschlossen
und wie der Kopf nach rechts gedreht. Auf Anrede
von der linken Seite drehte er indess beides gut nach
links. Auch passive Bewegungen in dieser Richtung
fanden meist keinen wesentlichen Widerstand. Das
rechte Auge war leicht zugekniffen (offenbar activ,
nicht blosse Ptosis), doch so, dass Pat. noch damit
sah. Annähcm eines brennenden Streichholzes von
links bewirkte Augenzwinkern. Prüfung rechts war
nicht möglich, theils wegen der Stellung der Augen
und des Kopfes, theils weil Patient auf alle Versuche,
das Lid zu heben oder überhaupt von der reihten
Seite auf ihn einzuwirken, mit heftigen Bewegungen
des rechten Armes und schliesslich auch des Kopfes
reagirte.
Desswegen war auch ein Unterschied zwischen
Auffassung durch linkes und rechtes Ohr nicht zu
prüfen.
Geruch und Geschmack natürlich nicht zu
prüfen.
Die bis jetzt und im Folgenden geschil¬
derte einseitige Reaction auf die Aussen-
weit bezog sich also fast nur auf das Tast¬
gefühl. Doch nahm das Gesicht jedenfalls theil
und auf Anrede wurde viel häufiger eine nicht deliriöse
Action in Wort oder Handlung (oder dann gar keine)
erhalten als eine deliriöse. Spontane Aeusserungen
des Patienten waren meist deliriös und unverständlich.
Die Unterlippe war ein wenig nach rechts ver¬
zogen. Das Mienenspiel war beweglich: zornig bei
Reiz rechts, gleichgültiger bei Reiz links.
Patient lag den ganzen Tag meist etwas schief,
mit dem oberen Theil des Körpers nach rechts ge¬
wandt; erst in der Nacht einmal schief nach links
(siehe oben).
Aus der Krankengeschichte sind noch folgende
Details erwähnenswerth.
L. geb. 26. X. 51. Fuhrmann und Händler. Wahr¬
scheinlich keine Heredität. Bis im Herbst 1900 gesund. Dann
Schlaganfall ohne Bewusstseinsverlust; 2 Tage dauernde Läh¬
mung rechts. Anscheinend vollständige Erholung. Herbst 1901
zwei Anfälle: bewusstlos, nicht gelähmt, einen Tag lang sprachlos.
Nachher verwirrt, „stotterte“, kannte die Umgebung nicht; aus
dem Spital, wohin er gebracht worden, sprang er in der Nacht
durch das Fenster, lief heim mit den Kleidern eines andern
Kranken. Seither hat er unregelmässig gearbeitet und viel ge¬
trunken. Im Juli 1902 mähte er die Wiesen ganz unregel¬
mässig, nur stellenweise ab, liess Geschirr und Kleider liegen,
riss den Nachbarn Gemüse aus, schlug Obst herunter, melkte
alle Augenblicke die gleiche Kuh, schimpfte unmotivirt mit
den Kindern, machte mit einem anderen Blödsinnigen Verträge
über Hausverkäufe u. s. w., lief nachts immer mit einem Licht
im Hause herum, sah schliesslich Mäuse und Ratten.
Den 19. VIII. 02 wurde L. ins Burghölzli gebracht, wo
er sich die ersten Wochen nicht veränderle.
Narben in der Schenkelgcgend, nach seiner Angabe von
einer Geschlechtskrankheit herrührend. ( Alkoholische) Telangi-
ectasien an Nase und Wange. Reflectorische Pupillenstarre,
Pupillen gleich. Patellarreflexe verstärkt, Silbenstolpern, starker
Tremor. — Augenschluss begleitet er mit krampfhaften Con-
tractionen aller Gesichtsmuskeln. Statt einfacher Bewegungen
der Arme und Beine tritt der ganze Körper in Aktion.
Oertlich orientirt. Kommt in die Anstalt, weil er
zeitweise verrückt sei; er wolle alles töten. Als er aus dem
Spital lief, sei es ihm gewesen, wie wenn ihm jemand nach¬
springe. In seiner Verrücktheit sei er einmal über das ganze
Meer gerannt.
Zeitlich vollständig desorient ir t.
Wechselnde Grössenideen. Vermögen von 2 Millionen.
Er ist 4 Ctr. schwer gewesen. In 14 Tagen hat er 35 Pfund
zugenommen. Er ist auf dem Mond gewesen. Euphorisch.
Leichtes Umspringen des Affectes. Schlechte Auffassung.
Verlässt etwa das Bett, um Holz zu führen, findet kein
Holz, verschiebt dann seine Arbeit auf morgen und geht wieder
ins Bett. Auch sonst motorisch oft stark erregt.
Anfangs IX. schlechter; man musste ihm das Essen ein¬
geben , weil er zu viel verschüttete, oft den Mund mit dem
Löffel nicht fand. Immerhin schreibt er seinen Namen, so
dass man ihn erkennen kann; doch macht er die Worte nicht
fertig.
Einmal vorübergehend deprimirt. Er hat einigemal Chloral
und Hyoscin mit Morphium bekommen wegen starker moto¬
rischer Aufregung.
Am 12. IX. vormittags war er sehr aufgeregt, dann spon¬
taner Schlaf. Nach dem Erwachen sass Patient im Bett,
konnte nicht reden, kaum schlucken, den Löffel nicht halten.
Die rechten Extremitäten bewegungslos, leisteten passiver Be¬
wegung einigen Widerstand. Aufgefordert zu schreiben, nimmt
er den Bleistift in die linke Hand, schreibt drei einander ähn¬
liche Schnörkel, spiegelschriftähnlich, doch unverständlich.
Anderen gesprochenen Aufforderungen kommt er nicht nach.
Auf Anrufen seines Namens reagirt er mit „ja“. Gelegentlich
äussert er Bruchstücke anderer Worte, die perseverirend wieder¬
holt werden. Er giebt die linke Hand, wenn man es durch
Zeichen verlangt.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 365
Wird ärgerlich, dass man ihm während der Untersuchung
das Essen wegstellt, holt es mit der linken Hand.
Auf starke Reize leichte chronische Zuckungen in beiden
Beinen. Kopf fast immer nach rechts gewendet; auf Anrufen
kann er ihn auch nach links drehen. Das rechte Auge etwas
zugekniffen. Sieht — ob mit dem ganzen Gesichtsfeld, ist
nicht zu prüfen.
Bemühungen, ihn mit der rechten Hand essen zu lassen,
haben perseverirende Klopfbewegungen zur Folge.
Auf Nadelstiche links reagirt Pat. prompt durch abwehren
mit der linken Hand und zurückziehen des gestochenen Glie¬
des. Rechts zieht er das gestochene Glied nur spät und wenig
zurück, macht etwas verspätete unpassende Abwehrbewegungen
mit der linken Hand, die schliesslich zu einer perseverirenden
Bewegung werden, wie wenn er Kaffee mahlte. Auf Kitzeln
der Fusssohlen wird das linke Bein prompt zurückgezogen.
Nachmittags Schlaf. Abends Temperatur 38,5.
13. IX. 02. In der Nacht zwei Mal Erbrechen. Später
traten zuckende Bewegungen in der rechten Zehe auf, dann im
Knie, dann im Arm. Nach und nach wurden die Bewegungen
im Letzteren ausgiebiger. Am Morgen sagte er auf alle Fragen
und Aufforderungen ja, ohne letztere auszuführen. Bemüht
sich auf Aufforderung durch Gesten, die rechte herumfuchtelnde
Hand zu reichen. Wird Patient mit seinem Namen gerufen,
dreht er den Kopf prompt nach dem Untersucher. Er folgt
sonst Aufforderungen nicht.
Es folgt nun der oben beschriebene Zustand.
Nachheriges Verhalten. 14. IX. 02. Für gewöhn¬
lich nicht mehr delirirend. Konnte, wenn auch sehr unge¬
schickt , morgens selbst essen. Beiderseits Coordinationsstö-
rungen, merkte es, wenn er die linke Hand ins Leintuch ver¬
wickelte, während er rechts unbekümmert darum die Hand
zu geben versuchte. Patient erlaubte die Prüfungen der Tri-
cepsreflexe links ohne Widerstand, rechts sträubt er sich stark.
Hört rechts hinten oben klopfen. Echolalie. Perseveration.
Ueber den Anfall ist nichts herauszubringen,
er ist offenbar vergessen.
Abends mit der Hand unverständliche Bewegungen, durch
die die Decke verschoben wird; letztere wird mit der linken
Hand immer wieder heraufgezogen.
15. IX. 02. Macht mit der rechten Hand noch viel un-
nöthige, ataktisch erscheinende Bewegungen. Giebt die rechte
wie die linke, spricht undeutlich, aber noch verständlich. Eu¬
phorie.
Liest abends Geld mit der rechten Hand von der Decke
ab und reicht es dem Arzt. Aufgefordert, es mit der Linken
zu geben, sucht er einen Moment mit der Linken, braucht
dann die Ausrede: cs sei im Kasten, man solle es holen. Giebt
mit der rechten Hand dem Wärter (eingebildetes) Geld, damit
er für 5 Fr. Wein hole.
Oertlich einigermaassen orientirt. Sehr starke Persevera¬
tion im reden. Schreibt mit der rechten Hand unverständ¬
liches Strichgeschlinge. Nimmt nachher, ohne den Irrthum zu
merken, mit der rechten Hand den Finger des Arztes und
macht damit Schreibbewegungen, wie wenn der Finger ein
Schreibstift wäre.
Bei geschlossenen Augen erkennt er mit der linken Hand
Gegenstände, führt ein Stück Brod zum Munde, isst es u. s. w.
Giebt aber viele falsche Antworten in Folge der Perserveration.
Mit der rechten Hand erkennt er weniger gut (gar nicht?).
Er hält z. B. eine Streichholzschachtel für eine Kelle und rührt
damit in entsprechender Weise herum.
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Er wird durch Stiche aufgeregt, flucht „aber nicht wegen
des Stechens, sondern wegen des beständigen Redens“. Geht
zum Nachtstuhl, steckt aber zuerst den Fuss in den Topf.
17. IX. 02. Euphorie. Beiderseits gleiches Verhalten in
Bezug auf Sensibilität und Motilität. Grössenwahn, Confabu-
lation, motorische Erregung. (Patient zeigt von nun an das
Bild des gewöhnlichen erregten Paralytikers.)
24. IX. 02. Macht sich in den letzten Tagen beständig
mit der Decke zu schaffen, uncoordinirte Bewegungen beider¬
seits, aber rechts meist etwas lebhafter als links. Sonst kein
Unterschied zwischen links und rechts. — Psychisch unklar
erregter Paralytiker.
Im vorliegenden Falle haben wir es natürlich mit
etwas principiell anderem zu thun, als mit blossen
einseitigen Hallucinationen, auf welche eine einheit¬
liche Psyche antwortet.
Rechte und linke Extremitäten unseres Patienten
zeigten einen ganzen Tag lang ein total verschiedenes
Verhalten: Der linke Arm reagirte richtig
auf die Aussen weit, d. h. so wie dieser Pa¬
ralytiker im gewöhnlichen Dauerzustände
reagirte. Der rechte Arm markirte eine*
Beschäftigung, die mit den wirklichen Ver¬
hältnissen keinen Zusammenhang hatte
und reagirte auf die Reize von aussen
inadäquat genau wie ein D e 1 i r i re n d e r.
Dass ein Delirium wirklich vorhanden war, daran
kann man nicht zweifeln, nachdem der Patient selber
sich mehrmals im Sinne des Delirs geäussert hat.
Vorübergehend delirirten einmalbeide
Körperhälften, aber in ganz verschiede¬
nem Sinne. Sprachliche Aeusserungen über den
Inhalt des Delirs kennen wir aus dieser Zeit aller¬
dings nur von rechts, aber die Handlungen beider
Seiten waren so absolut verschieden und vollständig
getrennt — wollten doch die functionell so eng ver¬
bundenen Beine nach verschiedener Richtung gehen
— wie wenn 2 Personen vorhanden gewesen wären.
Einmal schlief Patient, während der rechte Arm
weiter arbeitete.
So interessant der Fall ist, so unbefriedigend ist
er vorläufig. Der Zustand des Patienten, das Delir
selbst, erlaubte eine genaue Untersuchung nicht.
Die Amnesie, die Confabulation, die Perseveration,
der ganze paralytische Blödsinn machte eine Katam-
nese und damit ein Eindringen in die psychischen
Verhältnisse unmöglich.
Was wir Neues daraus ersehen, ist,
dass beide Hirnhälften g 1 ei ehzei tig unab¬
hängig von einander die Eindrücke der
Aussenwelt verschieden verwerthen und
entsprechende kompliz irte Handlungen
ausführen können.
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366 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34.
Die rechte Seite des Patienten war beständig in
typischem Beschäftigungsdelir begriffen, die linke er¬
fasste und behandelte die Umgebung richtig. Mei¬
stens verliefen die beiden Aktionen vollständig ge¬
trennt, und dann und wann, für ein kurzes Hand¬
lungsrudiment, riss die eine Hälfte die andere mit
sich und wurde die Thätigkeit der activeren, deliri-
renden Hälfte häufiger der anderen Seite mitgetheilt,
als umgekehrt.
Alle Muskeln am Kopfe (Augen, Mimik etc.),
sowie die Beweger des Kopfes waren im Dienste
beider Hälften. War der Patient sich selbst über¬
lassen, so waren sie meist von der rechten Seite in
Besitz genommen. Erlangte die Wirklichkeit durch
Anreden grösseren Einfluss, oder wurde die linke
Seite gereizt, so reagirten Blick, Miene, Sprache, im
Sinne der Wirklichkeit, um nachher rasch wieder von
der deliriösen Gchirnthätigkcit in Anspruch genommen
zu werden.
Es sei besonders darauf aufmerksam
gemacht, dass die nicht d e 1 i r i r c n d e Seite
(die rechte Hirn hälfte) auch ein wenig,
wenn auch sei te n, über die Sprache ver¬
fügte.
Wie sich das „Bewusstsein“, die Psyche, dabei
verhielt, bleibt dunkel. Durch die sprachlichen Acussc-
rungen liess sich mit der Sicherheit, womit man über¬
haupt bei anderen Menschen etwas über das Be¬
wusststein konstatiren kann, feststellen, dass eine
Psyche im Sinne des Delirs und eine zweite, etwas
paralytisch unklare, aber nicht delirirende Psyche
nacheinander, d. h. miteinander abwechselnd,
vorhanden waren. Die Betrachtung des Patienten
machte ein gleichzeitiges Vorhandensein beider
Bew'usstseinskomplexe äusserst wahrscheinlich. Zu be¬
weisen war dies natürlich nicht.
Da w r ir von den Gehirnfunktionen noch fast nichts
wissen, ist es sehr leicht, sich eine Vorstellung von
diesem Mechanismus halbseitiger Delirien zu bilden,
ohne mit bekannten Thatsachen in Widerspruch zu
gerathen.
Wir müssen uns natürlich denken, dass während
des Bestehens der Anomalie jede Hirnhälfte für sich
arbeitete, dass die Einwirkungen der einen Hemi¬
sphäre auf die andere für gewöhnlich aufgehoben
und dass nur dann und wann bei einer intensiveren
Action die Thätigkeit der einen Hemisphäre die an¬
dere influirte.
Wir wissen, dass eine Hirnhälfte genügt, um eine
psychische Persönlichkeit zu erhalten. Einer aufge¬
regten Katatonika z. B. wurde durch eine Embolie
in die Basalarterien die rechte Hemisphäre so zer¬
stört, dass es ein Jahr später bei der Section unmög¬
lich war, in dem sie ersetzenden, schwappenden
Piasack Himtheile zu erkennen. Die Kranke war
natürlich links vollständig gelähmt gewesen, hatte
aber psychisch keine Veränderung gezeigt Sie sang
kurz nach dem Insult eine ganze Nacht durch mit
lauter Stimme eine Menge Lieder, schimpfte und
fluchte wie früher u. s. w. — Ein normales Kind
bekam eine Lähmung der rechten Seite, die dann in
der Entwicklung ziemlich stark zurückblieb (Rumpf
und Extremitäten). Patient wurde aber Hausirer und
brachte sich Jahrzehnte lang durch, bis er wegen
Alkoholismus in Rheinau versorgt werden musste.
Nach seinem Tode war die 1 . Hemisphäre enorm ge¬
schrumpft und in ihren Elementen in einem Zustand,
der eine wesentliche Antheilnahine an den psychischen
Funktionen unwahrscheinlich machte.
Wenn nun die Funktion einer einzelnen Hemi¬
sphäre einen Menschen repräsentiren kann, sobald
die andere zerstört ist, so ist es auch möglich, dass
jede Hemisphäre gleichzeitig einen anderen
Thätigkeitscomplex besitze, von denen jeder eine
Persönlichkeit repräsentirt, wenn die funktio¬
nelle Verbindung beider Hemisphären
unterbrochen ist.
Die Möglichkeit, das ein Schädel zwei Personen
enthalte, ist also nicht auszuschliessen, wenn sie auch
noch nicht direkt bewiesen ist. Unser Fall fordert
aber auf, mit ihr zu rechnen. Liesse sich z. B. in
Licpmann’s hochwichtigem Falle von einseitiger
Apraxie das Verhalten des Patienten, der rechts
apraktisch war, aber dennoch nur mit dieser Seite
auf die Aussemvelt reagirte und seine Fehler gar
nicht merkte, am einfachsten so erklären, dass die
apractische Hirnhälfte für gewöhnlich zwar nicht
allein arbeitete, aber die Führung übernahm, dass
diese jedoch an die andere nicht apraktische, aber
weniger erregbare Seite abgegeben werden musste,
wenn äussere Hindernisse sich ihrer Thätigkeit wider¬
setzten ? Das Ich des Patienten wäre bei dieser An¬
nahme in wichtigen Coraponenten ein anderes bei
den apractischen Handlungen als bei den linksseitigen
normalen.
Ueberlasscn wir indess die weitere Verwerthung
des Falles der Zukunft. Er braucht noch vielseitiger
Ergänzungen durch neue ähnliche Beobachtungen,
bevor er sich als Baustein im Fundament einer
Theorie wird verwerthen lassen.
Nachschrift: Bis zum 15. XI. 1902 hat die Verblödung
des Patienten langsam zugenommen. Die r. Seite blieb meist
thätiger als die 1., beschäftigte sich z. B. sehr viel mit unge-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
367
1902.]
ordnetem Heraufziehen der Decke, wobei die 1 . Hand dann und
wann zur Hülfe zugezogen wurde. — Vereinzelte Handlungen
wurden mit der r. Hand unrichtig ausgeführt, ob im Sinne der
Apraxie oder einer deliriösen Auffassung, lässt sich nicht ent¬
scheiden. Z. B. zerknitterte Patient einmal eine in die r. Hand
gegebene Zeitung und versteckte sie sorgfältig unter der Decke,
während er unmittelbar nachher auftragsgemäss zu lesen anfing.
als ihm die Zeitung in die 1 . Hand gegeben wurde. — Manch¬
mal reagirte die r. Hand gar nicht auf äussere Reize oder Auf¬
forderungen, z. B. wenn die Handfläche mit Gegenständen be¬
rührt wurde, die hätten angefasst werden sollen. — Vorüber¬
gehend bestand mehrmals totale oder partielle Astereognosie
rechts; links fehlte dieses Symptom oder war viel weniger aus¬
gesprochen als rechts.
- • m -
War Mohammed Epileptiker?
Von Dr. med. AI. L. Moharrem Bey , I. Assistent der Prof. Dr. Schlösser'sehen Augenheilanstalt in München.
(Schluss.)
An anderer Stelle erzählt Ibn Ishak: „Da Chadiga
gehört hatte, dass Mohammed so wahrheitsliebend, treu
und tugendhaft sei, schickte sie zu ihm und Hess ihm
anbieten, mit ihren Waaren als Geschäftsführer nach
Scham zu gehen und versprach, ihn besser zu entlohnen,
als sie einen andern Agent bezahlen würde. Er unter¬
nahm, von ihrem Sclaven Moysara begleitet, die Reise
nach Scham, . . . verkaufte die mitgenommenen
Waaren und machte neue Einkäufe. Dann trat er
wieder in Gesellschaft Moysara’s mit der Karawane
die Rückreise an. Als sie in Mekka bei Chadiga an-
gekommen waren, verkaufte sie die Waaren, die er
mitgebracht hatte, und machte zweimal so viel Profit
als gewöhnlich.“ *)
Der Heirathsantrag, den Chadiga ihm gestellt hatte,
soll auch mit ähnlichen Ausdrücken eingeleitet worden
sein. Er lautet: „Mein Vetter, sagte sie, ich begehre
Dich wegen Deiner Verwandtschaft zu mir, wegen
des Ansehens, das Du in Deinem Stamme geniesst,
wegen der Reinheit Deiner Sitten und der Wahr¬
haftigkeit Deiner Sprache.“
Auch die Einwilligung der vier Koraischstämme,
dass Mohammed**) als Schiedsrichter fungieren solle,
da sie beim Wiederbau der Kaaba nicht einig werden
konnten, welchen Stammesrepräsentanten die Auf¬
stellung des schwarzen Steines***) übertragen werden
sollte, und die freudige Aufnahme seines Schieds¬
spruches bestätigt das, was Chadiga an ihm gepriesen
hatte. Ueber dieses Vorkommniss wird wie folgt bei
allen Biographen berichtet: „Vier Tage lang blieben
die Koraischiten entzweit und rathlos. Der Streit
drohte zu Thätlichkeiten zu führen, wenn nicht Abu-
Uinaya, der damals der Aelteste des ganzen Stammes
war, ihnen folgendes vorschlug: „Ihr Koraischiten,
sagte er, bestellt den Ersteintretenden in dieses Heilig¬
thum als Schiedsrichter in der strittigen Frage und
♦) Ibn Hischam S. 119 u. Ibn Saad fol. 29 u. 24.
**) Er war damals schon 35 Jahre alt.
***) Ein Stein, den die Araber vor und nach dem Islam
als heilige Reliquie betrachteten.
unterzieht euch seinem Urtheil. Sie nahmen den
Vorschlag an. Der Ersteintretende war Mohammed.
Als sie ihn sahen, riefen sie alle aus einer Kehle:
„Der ist ja der Amin, der Zuverlässige — wir ver¬
trauen ihm die Entscheidung an und befolgen seinen
Schiedsspruch“. Als er sich ihnen näherte und sie
ihn über den Sachverhalt unterrichteten, sagte er ohne
Zögern: „Schafft mir ein Gewand herbei“. Sie thaten
es. Dann nahm er den Stein, legte ihn mit eigener
Hand darauf und sagte: Jeder Stammesvertreter soll
an einer Ecke halten und alle sollen ihn gleichzeitig
in die Höhe heben/ Sie thaten es. Und als sie die
für den Stein bestimmte Stelle erreichten, schob ihn
Mohammed mit eigener Hand hin und es wurde darauf
gebaut. Die Koraischiten nannten ihn immer, bevor
die göttliche Offenbarung auf ihn herabkam, al-Amin,
der Zuverlässige.“*) Noch eine Ueberlieferung will
ich mittheilen, die sein Aeusseres etwas genauer be¬
schreibt und manche seiner Characterzüge schildert.
Dieselbe lautet nach Ibn Hischam**) wie folgt: „Die
characteristischen Eigenschaften des Gesandten Gottes
sind nach der von Ibrahim ibn Mohammed ibn Ali,
ibn Abi Taleb, dem Omar, dem Sclaven Guffra’s ge¬
machten Aussage, dass Ali ihn, den Propheten, wie
folgt zu schildern pflegte: ,Er war von mittlerem
Wuchs, nicht zu gross und nicht zu klein, gedrungen,
hat kurzes, krauses nicht schlichtes Haar, nicht fett¬
leibig oder behäbig. Sein Gesicht ist schön rund und
voll, aber nicht gedunsen oder fleischig. Seine Haut¬
farbe ist matt weiss. Die Augen waren gross, dunkel
und mit langen, zierlichen Wimpern versehen. Der
Hals ist schön rund und zart und die stark und
kräftig gebaute Brust trägt schwaches seidenes Haar.
Die Handfläche und die Flusssohle sind weich und
fein. Seine Gangart war leicht, geschickt und elastisch.
Wenn er sich umschaute, so drehte er sich ganz um.
*) Ibn Hischan Band 1 erster Theil, S. 122 u. 123 u.
Ismael Abulfeda de vita Moharnmedis Cap. VI, Pag. 13 u. 15
u. Andere.
**) Seite 266 u. 267.
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368
Keiner übertraf ihn an Freigebigkeit und Wohlthätigkeit,
an Kühnheit und Muth. Er war immer wahrhaftig
und aufrichtig, ehrlich und rechtschaffen, freimüthig
und treu und im höchsten Grade gewissenhaft. Er
hatte nie gegen ein Versprechen, jemanden in
Schutz zu nehmen, verstossen. Er hatte ein sanftes
Gemüth und ein gutes Herz und war in seinem Um¬
gänge edel und grossmüthig. Demjenigen, der ihn
nicht kannte, flüsste er Respekt und Ehrfurcht ein,
wenn man ihn aber kennen lernte und mit ihm ver¬
kehrte, so gewann man ihn schnell recht lieb.“ Es
lassen sich noch mehrere andere Legenden und Ueber-
lieferungen citiren, die von seiner Milde und Güte,
Nüchternheit und Bedächtigkeit, Leutseligkeit und
Schlagfertigkeit, Gastfreiheit und Freigebigkeit, Opfer¬
willigkeit und Wohlthätigkeit u. s. w. sprechen, auf
die aber wegen der kurzbemessenen Zeit verzichtet
werden muss.
Und nun wende ich mich zu der für das Thema
weitaus wichtigeren zweiten Periode des Lebens
Mohammeds, jener Periode, die mit seinem Auftreten
als Gottesgesandter beginnt und mit seinem Ableben
endigt.
Er war schon 40 oder 41 Jahre alt, als er die
ersten Offenbarungen wahrnahm, die seine Botschaft
an gekündigt haben sollen.
Ueber den Beginn seiner Mission erzählt Aischa,
seine zweite Frau, dass Mohammed seiner Zeit niemals
etwas träumte, was sich nicht auffallend bewahrheitet
hätte, und fügt dazu, dass Gott ihm die Zurückge¬
zogenheit derart beliebt machte, dass er die Einsamkeit
allem andern vorzog. *) Und über den Anfang der
Offenbarungen und das Herabsteigen Gabriels (Gibrils)
erzählt Ibn Hischam nach der von Obeid dem
Wahb ibn Kaisan gemachten Mittheilung,* dass Mo¬
hammed die Gewohnheit hatte, jährlich einen Monat
im Berge Hira **) zu verbringen, wobei er immer vor¬
beiziehenden Armen allerlei Nahrungsmittel schenkte
und fortbetete bis zum Monate Ramadan des Jahres
seiner Sendung, in welchem Gott ihn begnadete und
sich der Menschheit erbarmte und ihm Gabriel herab¬
sandte, worüber Mohammed selbst sich folgender-
massen äusserte: Währenddem ich schlief, kam er
(Gabriel) mit einer beschriebenen Tafel aus Seide
*) Ibn Hischam, I. Theil Band r. S. 151, — Ibn Saad
fol. 37; — Muslim, Bd. r S. 112; Buchari Band 1 Seite 3;
— Ismael Abulfeda Cap. VII, pag. 14, Tabary S. 86.
**) Heute unter dem Namen Gabal-Emur bekannt, und
etwa 2 km von Mekka entfernt gelegen. Vide al Mischkat
von Abd-Elhack Bd. 4 S. 555. Unter diesem Namen findet
man ihn auch in Sossan’s Panorama von Mekka; table l’Em-
pire Ottomane.
[Nr. 34 -
und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: „Ich kann nicht
lesen“, worauf er mich damit derart presste, dass ich
es für den Tod hielt. Dann liess er mich los und
sagte: „Lies!“ Ich erwiderte: „Ich kann doch nicht
lesen“, worauf er mich damit derart presste, dass ich
es für den Tod hielt. Dann liess er mich frei und
sagte von Neuem: „Lies!“ Ich sagte ihm diesmal:
„Was soll ich denn lesen?“ Ich sagte dies nur des¬
wegen, um mich dadurch von ihm zu befreien und
damit er das nicht wiederhole, was er mir vorhin
angethan hatte. Da sagte er aber: „Lies im Namen
des Herrn, der den Menschen durch die Schrift lehrte,
was er nicht wusste.“ Der Ueberlieferer theilt mit,
dass Mohammed weiter erzählte: Ich las es, wo¬
nach Gabriel seine Aufgabe vollendet hatte und sich
entfernte. Ich erwachte dann aus dem Schlafe mit
dem Gefühle, als ob die Worte in meinem Herzen
eingeschrieben seien. Ich trat dann heraus und ging
bis ich die Mitte des Berges erreichte, dann hörte
ich eine Stimme vom Himmel rufen: ,Mohammed,
Du bist der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel.*
Ich stand still und schaute zu ihm ohne mich von
der Stelle zu rühren und versuchte mein Gesicht nach
den verschiedenen Richtungen des Himmels zu wenden.
Ich konnte aber nirgends hinblicken, ohne ihn in der
gleichen Gestalt wie zuvor zu Gesicht zu bekommen.
Ich that keinen Schritt vorwärts und keinen zurück,
bis Chadiga ihre Leute mich zu suchen schickte.
Diese erreichten die Höhen Mckka’s und kehrten
wieder zurück ohne mich zu finden, während ich
noch immer auf demselben Fleck wachstand. Dann
verliess er (Gabriel) mich und ich kehrte zu den
Meinigen zurück. Ich kam zu Chadiga und setzte
mich dicht neben sie. Sie frug: „Wo warst Du
Abul-Kacin ? *) Bei Gott, ich schickte nach Dir meine
Leute, die bis zu den Anhöhen Mekka’s gingen und
erfolglos zurückkehrten“. Da erzählte ich was ich
erlebte, worauf sie sagte: „Freue Dich ob der Bot¬
schaft, Sohn meines Oheims, und bleibe fest“.**)
Chadiga soll nach der Angabe Ibn Ischak noch
Folgendes mitgetheilt haben ***): „Vermagst Du, mein
Vetter“, hat Chadiga Mohammed gefragt, „mich von
der Ankunft Deines Genossen (des Engels) zu unter¬
richten in dem Augenblicke seines Erscheinens“. Mo¬
hammed bejahte es, worauf sie sagte: „Also, wenn
*) Abu heisst Vater und Kacim ist der Name des ersten
Sohn’s Mohammed’s.
**) Ibn Hischam S. 152 u. 153, Ibn Schayba S. 12, Mus¬
lim Bd. 1 S. II2, Tabary, S. 86, Ibn Ischak bei Tabary S.
91, Ibn Abi Schayba S. 14, Bochari cairenser Ausgabe 1312
d. Iligra Bd. 1 S. 3 u. Baghwoy, Tafsir 74, 1.
***) Ibn Hischam Bd. 1 R. 154 u. Icaba noce Chadiga
aus abu Noaym’s Dalayil al Nobusvah.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 369
er ankommt, theilst Du es mir gleich mit“. Als Gabriel
ihm wie gewöhnlich erschien, rief Mohammed: „O,
Chadiga, da ist er gekommen!“ Sie erwiederte:
„stehe auf, mein Vetter, und setzte Dich auf mein
linkes Bein nieder“. Er stand auf und setzte sich
hin. Sie frug ihn, ob er den Engel sehe. Er bejahte
es, worauf sie ihm sagte: „Aendere Deinen Sitz und
komme auf die rechte Seite“. Er that es, und nach¬
dem sie auf die Anfrage, ob er ihn noch sehe, die¬
selbe bejahende Antwort erhielt, da sagte sie: „lasse
Dich jetzt auf meinen Schooss nieder“. Er Hess sich
darauf nieder, und noch einmal erwiederte er ihre
Frage mit der Antwort, dass er ihn noch sehe. Da
cntblösste Chadiga ihre Anne und legte ihr Kopftuch
ab*), während Mohammed noch auf ihrem Schooss
blieb, und fragte: Siehst Du ihn noch? Er verneinte
es, worauf sie sagte: „Sei festen Sinnes und muthig,
Sohn meines Oheims, und freue Dich darüber“**).
Bei Bei-dowi finden wir folgende Legende, die
zu den ersten Offenbarungen gehört, welche Mohammed
selbst erzählt haben soll. Dieselbe lautet: Als ich
einmal promenierte, hörte ich eine Stimme vom
Himmel rufen. Ich richtete meinen Blick aufwärts
und sah jenen Engel, der mich in Hira aufgesucht
hatte. Er sass auf einem Thron zwischen Himmel und
Erde. Ich erschrak bei dessen Anblick, kehrte zitternd
zu den Meinigen zurück und bat: „Wickelt mich ein,
wickelt mich ein“ ***).
Es scheint, dass Mohammed nach diesen ersten
Offenbarungen dessen sich nicht bewusst war, was
eigentlich mit ihm vorging und sogar einige Zeit
in grossem Zweifel über die Bedeutung solcher Ge¬
sichts- und Gehörswahrnehmung blieb, bis seine
Umgebung, seine Frau Chadiga und ihr Anver¬
wandter Waraka, ihn darüber aufgeklärt hatten.
Diese zwei Personen, besonders Waraka, der Christ
sein soll und die hl. Schrift lesen konnte, haben ihm
nicht nur die Sorge und das Bekümmern iss verscheucht,
welche Mohammed von den Folgen dieser ihm un¬
bekannten Wahrnehmungen fürchtete, sondern sie
brachten ihm die Ueberzeugung bei, dass es nur die
in den alten Schriften verheissene göttliche Botschaft
sein kann und es auch ist. Ich führe die getreue
Uebersctzung dieser Traditionen hier an, ohne dieselben
•) Nach einer andern Tradition soll diese Stelle lauten:
Chadiga hat ihn zwischen ihr Ilernd und ihren Leib geschoben.
**) Mit dieser Manipulation wollte Chadiga diesen An¬
kömmling prüfen. Die Araber glaubten nämlich, dass die
Satane das Unästhcthische lieben und die Engel als reine und
keusche Kreaturen Unästhethisches vermeiden und fortfliegen.
***) Dieselbe Legende finden wir auch bei Ibn Hischam,
Buchari, Muslin und Ibn Saad.
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abzukürzen oder etwa Wiederholungen zu meiden,
da dadurch der zusammenhängende Sinn irgendwie
geschädigt wird und verloren geht.
Thabari hat die folgende, ziemlich ausführlich auf¬
gezeichnete Legende uns übermittelt; dieselbe lautet:*)
„Der Prophet pflegte jedes Jahr einen Monat im
Berge Hira mit religiösen Andachten zuzubringen.
Hira war einer der Plätze, in denen die Koraischiten
das Thahannoth zu verrichten pflegten. „Thahannoth“
bedeutet „sich heiligen“. Der Prophet brachte also
jährlich einen ganzen Monat daselbst zu, und speiste
die Armen, die vorüberkamen. Wenn er zurück¬
kehrte, nach Verlauf des Monats, ging er sieben Mal
um die Kaaba herum, bevor er sich nach Hause
begab. Als der Monat heranrückte, in dem Gott
beschlossen hatte seine Wunder an ihm zu thun, d. h.
der Ramadhan des Jahres, in dem er seine Sendung
erhielt, ging er mit seiner Familie seiner Gewohnheit
gemäss nach Hira. In der Nacht, in welcher ihn
Gott begnadete und sich der Menschheit erbarmte,
kam der Engel Gabriel zu ihm. Mohammed erzählt
das Weitere mit folgenden Worten: Er kam zu mir,
währenddem ich schlief und brachte eine beschriebene
Tafel aus Seide und sagte: „Lies!“ Ich antwortete:
„Ich kann nicht lesen.“ Er drückte mich damit derart,
bis ich glaubte, es sei aus mit mir. Dann Hess er
mich los und sagte: ,Lies!‘ Ich erwiderte: „Ich
kann nicht lesen.“ Er drückte mich nochmals da¬
mit derart, bis ich glaubte, es sei aus mit mir. Dann
Hess er mich wieder los und sagte: „Lies!“ Ich ant¬
wortete: „Was soll ich denn lesen.“ Ich gab diese
Antwort blos um dem zu entkommen, was er mir
vorher angethan hatte. Er sprach aber: „Lies“, im
Namen deines Herrn, welcher erschaffen hat etc. Ich
las es. Nun hatte er vollendet und verliess mich.
Ich erwachte aus dem Schlafe, mit dem Gefühl, wie
wenn es in meinem Herzen eingestrichen wäre. Ich
hasste nichts mehr in der Welt als Dichter und Be¬
sessene und konnte ihren Anblick nicht ertragen. Ich
sagte daher zu Chadiga: Der, von welchem man es
nicht gedacht hätte, ist entweder ein Dichter oder
von einem Ginn**) beherrscht. Damit meinte er sich
selbst. Sage es ja den Koraischiten nicht. Ich gehe
auf die Spitze eines Berges hinauf und stürze mich
hinab. Ich bringe mich halt um’s Leben, um Ruhe
zu finden. Um dieses Vorhaben auszuführen, ging
ich bis auf die Mitte des Berges. Dort angelangt,
hörte ich aber eine Stimme vom Himmel rufen:
„O, Mohammed, du bist der Gesandte Gottes und ich
*) S. 91 Thabari folgt der im Werke Ibn Ishak’s nach
dem Texte Salama’s überlieferten Legende.
**) Dem Begriffe Genius gleichbedeutend.
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370 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34
bin Gabriel.“ Ich stand still und schaute ihn an.
Dies hielt mich von meinem Vorhaben ab. Ich ging
weder vorwärts noch rückwärts. Dann sah ich mich
am ganzen Horizonte um und wo ich immer hinblickte,
sah ich ihn in derselben Gestalt. Ich blieb stille
stehen, ohne einen Schritt vorwärts oder rückwärts
zu thun, bis Chadiga Leute nachschickte mich zu
suchen. Sie gingen nach Makka und kamen dann
nach Hira zurück, während ich noch am selben Platze
stand.
Endlich verschwand der Engel und ich kehrte zu
den Meinigen zurück. Ich setzte mich Chadiga auf
den Schooss und schmiegte mich fest an sie. Sie frug:
„Wo warst Du Abul Ka»;im gewesen. Ich habe meine
Leute Dich zu suchen geschickt. Sie sind bis nach
Makka gekommen, und haben Dich nicht gefunden.“
Ich sagte zu ihr: „Der von dem man geglaubt hätte
ist entweder ein Poet oder vom Ginn besessen.“ Sie
sprach: „Gott ist mein Schutz, Abul Ka(;im. Gott
wird Dir so etwas nie wiederfahren lassen, denn Du
sprichst die Wahrheit, beobachtest Treue, hast reine
Sitten, und hältst mit Deinen Verwandten. Was kann
Dich auf diesen Gedanken gebracht haben, hast Du
vielleicht etwas Besonderes gesehen.“ Ich antwortete:
„Ja“ und erzählte ihr, was ich gesehen habe. Sie
sprach: „Freue Dich, mein Vetter, und sei guten Muth’s.
Er, in dessen Hand das Leben Chadigas ruht, ist mein
Zeuge, dass Du der Prophet dieses Volkes sein wirst.“
Dann stand sie auf, kleidete sich an und ging zu
ihrem Vetter Waraka. Dieser Waraka hatte sich zum
Christenthum bekehrt und konnte die Bibel lesen und
hatte die Christen öfters angehört. Sie erzählte ihm,
was ihrem Manne geschah und Waraka rief gleich
aus: „Heilig! Heilig! Wenn das, was Du mir sagst
wahr ist, so kommt zu ihm der grösste Engel, der
zu Moses gekommen ist und er wird der Prophet
dieses Volkes sein. Theile ihm das mit und sage
ihm, er möge standhaft bleiben.“ Chadiga kehrte zum
Propheten zurück und verkündigte ihm, was Waraka
gesagt hatte. Sie beschwichtigte zum Theil seine
Aufregung.
Als die Zeit, die er (Mohammed) zu Hira zu ver¬
bringen pflegte, verlaufen ist, kehrte er nach Makka
zurück und seiner Gewohnheit gemäss ging er um die
Kaaba herum, wo er dem Waraka zufällig begegnete.
Auf die Anfrage des Letzteren erzählte ihm Mohammed,
was er gehört und gesehen hatte, worauf Waraka sagte:
„Ich schwöre bei dem, in dessen Hand das Leben
Warakas steht, Gott hat Dich zum Propheten dieses
Volkes ausgewählt und der grösste Engel ist zu Dir
herabgekommen, jener Engel, der einst zu Moses
herabkam. Man wird Dich einen Lügner heissen, man
wird Dich verfolgen, man wird Dich vertreiben und
man wird Dich bekämpfen. O, dass ich bis auf jenen
Tag leben möchte, ich würde Dir Beihilfe leisten.
Darauf küsste er ihn auf die Stirn. Der Prophet ging
nach Hause, und die Versicherung Waraka’s war ein
grosser Trost für ihn und verminderte seine Beklommen¬
heit.“
Eine zweite Tradition lautet: Der Prophet sagte:
„O Chadiga, ich sehe ein Licht und höre eine Stimme,
ich fürchte, ich bin ein Kaliin.“*) Chadiga antwortete:
„Gott wird Dir das nicht wiederfahren lassen, denn
Du hältst es mit Deinen Verwandten, sagpä die Wahr¬
heit und beobachtest Treue.“**)
Eine dritte Tradition lautet: Der Prophet sagte:
„O Chadiga, ich höre eine Stimme und sehe ein Licht,
ich fürchte, dass Wahnsinn in mir ist.“ Chadiga sagte:
„Gott wird Dir das nicht wiederfahren lassen, Sohn
Abdul-lalvs.“ Dann ging sic zu Waraka und erzählte
es ihm. Waraka sagte: „Du hast recht, (er ist nicht
wahnsinnig) dies ist ein Emgel, wie der Engel des
Moses. Wenn er seinen Ruf als Prophet erhält und
ich bin noch am Leben, so will ich ihm helfen und
an seine Botschaft glauben.“ ***)
Eine Vierte lautet: „Nachdem die Offenbarung
auf ihn, während seines Aufenthaltes auf dem Berge
Hira herabkam, verstrichen mehrere Tage ohne dass
Gabriel ihm wieder erschien und er war so sehr traurig,
dass er bisweilen den Berg Thabir und bisweilen den
Berg Hira bestieg, um sich hinabzustürzen. Als er
in diesem Zustand war, und nach einem dieser Berge
ging, vernahm er eine Stimme vom Himmel. Er blieb
stehen, denn er war von der Wucht der Stimme er¬
griffen und erhob sein Angesicht und siehe da, Gabriel
sass auf einem Thron zwischen Himmel und Erde
und rief aus: „<), Mohammed, Du bist in Wahrheit
der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel“. Der
Prophet kehrte dann zurück. Gott hatte sein Herz
erfreut und ihn mit Muth erfüllt, darauf erfolgte Offen¬
barung auf Offenbarung.“ +)
Und eine Fünfte lautet: „Während der Prophet
in diesem Zustande war, und sich in Aggad (unweit
von Mekka) befand, sah er einen Engel, der mit einem
E'usse über den andern gelegt am Himinelshorizont
sass und lief: „O Mohammed, o Mohammed, ich bin
Gabriel. 1 * Der Prophet erschrak und so oft er gegen
Himmel sah, erblickte er den Engel. Er eilte zu
Chadiga und erzählte ihr dies Vorkommniss und sagte:
„Nichts ist mir so verhasst, als diese Abgötter und
*) Bedeutet „Weissager.“
**) Ibn Saad. fol. 37.
***) lbn Saad, fol. 37.
f) lbn Saad, fol. 37.
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1902J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Weissager! Ich fürchte, dass ich am Ende selbst
ein Weissager bin.“ Sie erwiederte: „Ach, sage dies
nicht, Gott wird Dir solches nicht wiederfahren lassen,
Sohn meines Oheims. Du hältst es mit deinen Ver¬
wandten, sprichst die Wahrheit, beobachtest Treue,
und hast einen edlen Character. Dann begab sie
sich zu Waraka. Dies war das erste Mal, dass sie
in dieser Angelegenheit zu ihm ging und erzählte
ihm, was sie vom Propheten gehört hatte. Waraka
sagte: „Dein Mann spricht die Wahrheit; dies ist der
Anfang eines Prophetenthums und er erhält den Besuch
des grössten Engels. Sage ihm, er soll guten Mutlies
sein. 4 '*)
Die sechste dieser Traditionen lautet: Der Prophet
sägte zu Chadiga: „Wenn ich allein bin, höre ich
rufen, ich fürchte, dass es mit mir nicht richtig sei.“ Sie
antwortete: „Gott ist unsere Zuflucht, er wird Dir solches
nicht wiederfahren lassen, denn Du beobachtest Treue,
hältst es mit Deinen Verwandten, und sprichst die
Wahrheit.“ Als Abu Bakr darauf kam, erzählte sie es ihm
und sagte: „Geh mit Mohammed zu Waraka.“ Als
Mohammed nach Hause zurückkam, nahm ihn Abu
Bakr bei der Hand und sie gingen mit einander zu
Waraka. Mohammed erzählte ihm, dass, wenn er
allein sei, er hinter sich rufen höre: „O, Mohammed,
o, Mohammed“ und dass er, wenn er es höre, davon¬
laufe. Waraka sagte: „Thue das nicht mehr, sondern
warte und höre, was die Stimme Dir sagt, und er¬
zähle es mir.“ Als er wieder allein war, hörte er
rufen: „O Mohammed“ sprich: „Im Namen Allah’s,
des Milden, des Barmherzigen, das Lob sei Gott, dem
Herrn der Welten etc.“, die erste Sura des Korans.
Mohammed kam zu Waraka und erzählte es ihm;
Waraka sagte: „Freue Dich, freue Dich, ich bezeuge,
dass Du derjenige bist, den der Sohn der Maria die
Gewähr verheissen hat, worauf Du Dich stützest, ent¬
spricht dem Namus**) des Moses.“***)
Ueber eine Fahrt von Mekka nach Jerusalem, die
Mohammed in einer Nacht gemacht haben soll, wird
Folgendes nach der Mittheilung Mohammeds selbst
überliefert: „Währenddem ich im Iligrt) schlief,
kam Gabriel zu mir und stiess mich mit seinem Fusse
an, worauf ich mich aufrichtete; aber da ich Nichts
vor mir sah, kehrte ich zu meinem Lager zurück.
Er kam zum zweiten Male und stiess mich wieder
mit seinem Fusse an. Ich richtete mich auf und als
*) Nach Wackidi, bei Ibn Saad, fol. 37.
**) Das Wort,,Namus*‘ stellen die Ausleger der Traditionen
dem Begriff Engel gleichbedeutend hin.
***) Oyun alathr. S. 4 u. L,aba unter Warka.
y) Eine Stelle in der Nordseite der Kaaba, des Heilig¬
thums der Araber.
ich wiederum Nichts sah, kehrte ich zu meinem Lager
zurück. Er kam zum dritten Male zu mir und stiess
mich mit dem Fusse an. Ich richtete mich wiederum
auf, worauf er mich beim Arme nahm. Ich stand
auf und ging mit ihm zum Thor des Heiligthums
hinaus, wo ein weisses Thier, ein Mittelding zwischen
Esel und Maulesel stand. Es hatte an seinem Schenkel
zwei Flügel, mit denen es an seinen Füssen scharrte,
und seine Vorderfüssc hätten gereicht, soweit sein Auge
sieht.*) Gabriel hob mich darauf und ging mit mir, ohne
mich zu verlassen, und ich verliess ihn auch nicht.“
Nach der Uebcrlicferung Kithadah’s erzählt Ibn lshak,
dass Mohammed noch Folgendes hinzugefügt haben
soll: Als ich mich ihm, dem Tliiere näherte, um es
zu besteigen, wurde es störrig. Da legte Gabriel die
Hand auf seine Mähne und sagte: „O Burak**)
schämst du dich nicht, das zu thun. Bei Gott, es
hat dich kein Diener Gottes vor Mohammed geritten,
den er mehr begnadet hatte!“ Es schämte sich derart,
dass es wie in Schweiss gebadet dastand, und ich
es besteigen konnte.
Der Traditionist fährt weiter: „Der Gesandte Gottes
und Gabriel gingen weiter, bis sie die heilige Stätte
von Jerusalem erreichten. ErfMohammed) fand dort
Ibrahim (Abraham), Mu^a (Moses), Ai(,a (Jesus) und
eine Anzahl anderer Propheten versammelt. Der Ge¬
sandte Gottes stellte sich vor ihre Reihen und betete
mit ihnen. Nun wurden zwei Gefässc gebracht, in dem
einen befand sich Wein und in dem anderen Milch.
Der Gesandte Gottes nahm das Gefäss mit der Milch,
trank daraus und Hess das mit dem Wein unberührt.
Da sprach Gabriel zu ihm: „Geführt sollst Du werden
auf dem rechten Heilsweg zum Wohle und Heile
der Schöpfung und begnadet Dein Volk, der Wein
aber wird euch verboten werden.“***)
Befragt über die Art und Weise, wie die Offen¬
barung zu ihm komme, antwortete Mohammed wie
folgt: „Bald kommt sie wie ein Glockengeklingel, und
dies ist für mich das am schwersten zu Ertragende.
Dann trennt er sich, meint Gabriel, nachdem ich den
Inhalt (dessen, was er überbrachte.,) aufnahm, d. h.
mir ins Gedächtniss eingeprägt habe. Bald erscheint
er in Mannesgestalt, redet mich an und ich präge mir,
was er sagt, ein.“ Aisrha, die Ueberlieferin dieser
Tradition, fügte hinzu: „Ich habe ihn gesehen, wie
auf ihn in sehr kalten Tagen die Offenbarung herab-
*) Eine arabische Redewendung, welche bedeutet, dass das
Thier bei jedem Schritt die Grenze seines Horizontes erreichen
kann.
**) So soll das Thier geheissen haben.
***) Ibn Hischam Bd. I, Th. 1 S. 264 und Buchari Bd. TI.
S. 198 der Caireser Ausgabe' 1312 d. H.
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37J
kam, und beobachtete, dass nachdem sie vollendet
war, seine Stirne von Schweiss tropfte.“*)
Mohammed verfiel während einer solchen Offen¬
barung in einen Zustand, den ich vorderhand nicht
Anfall nennen möchte, um den Thatsachen nicht
vorzugreifen. Dieser Zustand überkam ihn, wenn er
allein und wenn er in Gesellschaft Anderer war.
Dieser Zustand war mehr an gewisse äussere Um¬
stände, als an bestimmte Perioden geknüpft. Dieser
Zustand wurde an ihm öfters an einem und demselben
Tage beobachtet; es vergingen aber Tage, ja sogar
Wochen, in denen er davon nicht befallen wurde.
Immer stellte sich dieser Zustand ein, w r enn eine
Frage gelöst, eine Entscheidung gefällt oder eine
Maassregel getroffen werden sollte.
Während diesem Zustand wiederholten sich
immer die gleichen Erscheinungen, wie aus fol¬
genden Citaten ersichtlich, die Einzigen, die ich in
den umfangreichen Quellen der Traditionisten fand,
und von denen ich nur den Th eil der Legenden an¬
führe, welcher für unser Thema eine Bedeutung hat.
Dieselben lauten :
1. „Während er noch mitten unter uns sass, geschah
es, dass vor unseren Augen, seine Sinne, von Gott
wie schon oft, umnebelt wurden. Man bedeckte ihn
mit einem Gewand und schob ihm ein ledernes
Kissen unter das Haupt. Bald darauf erwachte er
wieder, richtete sich selber auf, wischte sich die
schweisstriefencle Stirn ab und sagte: (folgt die Offen¬
barung.)“**)
2. „Es überkam ihn die göttliche Offenbarung wie
gewöhnlich, wobei er durch die Wucht der Offenbarung
vom Schweiss triefte. Als der Zustand gewichen war,
hub er sogleich lächelnd zu sprechen an: (folgt die
Offenbarung.)“ ***)
3. „Es wurde ihm offenbart in einem Augenblicke,
als ich zufällig neben ihm sass und mein Bein unter
dem seinigen lag. Sein Bein lastete auf mir derart,
„dass ich eine Quetschung fürchtete. Bald erwachte
er und sagte sofort: (folgt die Offenbarung.)“!)
Mohammed starb im Alter von 63 Jahren nach
kurzer Krankheitsdauer, etw'a 5—6 Wochen. Man
kann mit ziemlicher Sicherheit die Annahme aufstellen
und auch begründen, dass es eine fieberhafte mit
Kopfschmerzen verbundene Erkrankung gewesen war,
während welcher er, bis kurz vor dem Eintritte des
Todes, das Bewusstsein bewahrte. Wir lesen nämlich
*) Buchari Bd. I. S. 3 und 129.
**) Ibn Hischam, Bd. 1, Th. 2, S. 735. Bucharie Bd. 2,
S. 65.
***) Buchari, Bd. II., S. 65.
f) Buchari, Bd. II., S. 88.
[Nr. 34.
bei Ibn Hischam, *) dass Mohammed während seiner
Krankheit mit verbundenem Kopfe gesehen wurde,
dass er sich mit kalten Übcrgiessungen behandelte,
dass er sich nach jedem kalten Bade kräftiger und
wohler fühlte, dass er sogar nach einer solchen kalten
Uebergiessung von 7 Ledersehläuchen **) kalten Wassers,
welche einige Tage vor seinem Tode stattfand, der¬
art gestärkt und gekräftigt wurde, dass er aufstand,
in die Moschee mit Unterstützung ging, die Kanzel
allein bestieg und eine lange Predigt hielt. Wir
finden aber auch in allen Traditionsschriften, welche
die Sprüche Mohammeds uns übermittelten, dass er
immer das kalte Wasser gegen das Fieber empfahl,
indem er bei ähnlichen Anlässen zu sagen pflegte: „Das
Fieber ist höllisches Feuer, löschet es mit dem Wasser.“
Welcher Art diese fieberhafte Erkrankung gewesen
sein mag, lässt sich leider nicht genau feststellen. Es
können jedenfalls hier nur jene akuten Krankheiten
in Betracht gezogen werden, bei denen das Bewusst¬
sein nicht stark in Mitleidschaft gezogen wird und
denen andere Erscheinungen, wie Hautausschläge,
(Exantheme), Bluthusten oder Durchfall fehlen. Ich
bin persönlich geneigt diese fieberhafte Erkrankung
in die Kategorien derjenigen Infectionskrankheiten
hinzustellen, die in Tropen und Subtropen endemisch
auftreten und die man Tropen lieber und Sumpffieber
zu nennen pflegt, zumal ja Madyna, der langjährige
Wohnort Mohammeds als Stätte solcher endemischer
Erkrankungen berüchtigt und damals auch von Sümpfen
zeitweilig umgeben war.
Soviel über das Leben Mohammeds. Es ist zwar
in knappester Form geschildert worden, enthält aber
fast alles, was in der umfangreichen Traditions- und
Biographie-Litteratur sich auf unser Thema be¬
ziehen kann. Und bevor ich zum Schluss schreite,
will ich das Wesentliche über die Krankheit Epilepsie
ins Gedüchtniss zurück rufen.
Man pflegt eine traumatische und eine angebome
Epilepsie zu unterscheiden. Das Wesen dieser Krank¬
heit äussert sich in den sogenannten epileptischen
Anfällen. Ein solcher Anfall setzt urplötzlich ein,
ohne dass der Kranke durch ihm bewusste Vorboten
an den nahen Eintritt des x\nfalles gemahnt, oder
irgendwie auf denselben aufmerksam gemacht w'ird.
Die aufmerksame Umgebung des Epileptikers kann
die Prodrome des Anfalles, welche in Verworrenheit,
Zerstreutheit und mässiger Veränderung des Gesichts¬
ausdruckes bestehen, trotz der Kürze ihrer Dauer,
*) Bd. I, Th. 2, S. 105 und folg.
**) Ein Lederschlauch würde nach dem heutigen Maass
etwa 20—25 Liter messen.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 373
beobachten. Der Anfall selbst zeichnet sich dadurch Verfall in einen anscheinend bewusstlosen Zustand;
aus, dass der betreffende Epileptiker, der vielleicht also Momente, die die heutige Wissenschaft als anor-
vorher sass, und irgendwelche Arbeit verrichtete, auf male Erscheinungen, Symptome, anspricht und welche
einmal bewusstlos umfällt, sich krampfhaft niederstreckt nicht nur bei Epilepsie, sondern auch bei einer
und von Zeit zu Zeit Krämpfe aufweist. Nach ver- grossen 'Anzahl anderer Erkrankungen beobachtet
schieden langer Dauer beginnen die erstarrten Mus- werden, aber nicht die wesentlichen Merkmale der
kein zu erschlaffen und nach und nach stellt sich das Epilepsie bilden.
Bewusstsein wieder ein, so dass er zuerst auf starke, Bei Mohammed sahen die ausschlaggebenden
dann auf minderstarke Laute reagirt; aber er kann Merkmale des anfallweisen Zustandes ganz anders
sich noch nicht allein aufrichten. Getragen oder aus. Er wusste nach dem Erwachen aus diesem Zu¬
kräftig gestützt, wird er auf ein Lager gebettet, auf stände genau zu erzählen, was er erlebt hat; ja die
welchem er dann das sogenannte postepileptische Worte, die er gehört, sind in seinem Gedächtnisse
Stadium durchmacht. In diesem Stadium beobachtet ebenso gegenwärtig gewesen, wie jene Gestalten, die
man regelmässig eine deutliche, tiefe und lang an- er gesehen hat.
dauernde Benommenheit, Beschädigung der Verstan- Wenn noch aus dem spätem Leben Mohammed’s
desthätigkeit und Bewusstseinstrübung. Diesen Er- ausdrücklich erwähnt wird, dass der Ausdruck seiner
scheinungen folgen dann Verworrenheit, Zerfahrenheit glühenden Augen ein so bedeutender und energischer
und Umherschweifen des Blickes. Manche Epilep- gewesen sei, dass er auf seine Umgebung den tiefsten
tiker werden von einer ängstlichen und zornigen Er- Eindruck gemacht habe, dass er stets im Stande ge-
regung ergriffen, erheben sich mit der Miene der wesen sei, sich vollständig zu beherrschen, dass sein
Ueberraschung und Scham, um auf ihren Beinen zu Erinnerungsvermögen nie gelitten hat, dass seine
wanken. Andere dagegen scheinen eine grosse Mü- Seelen- und Geistesthätigkeit immer die gleiche blieb,
digkeit nicht zu verspüren, richten sich sicher, aber dass seine körperliche und sittliche Energie keine
langsam auf und fangen an fort und fort zu gähnen, Schwankung und Schwäche zeigten, dass endlich die
wie wenn sie aus einem langen, tiefen Schlafe er- Todesursache in gar keiner Beziehung zu diesen Zu¬
wacht wären. Keiner dieser Kranken hat die Er- ständen steht, so stimmt dies wirklich in keiner Weise
innerung seines Zustandes, wie sicher keiner auch mit den Beschreibungen zusammen, welche erfahrene
eine Empfindung desselben gehabt hat. Sie verlieren Aerzte von der Epilepsie und den Folgen derselben
alle jene Erinnerung an das, was während der An- auf die Kranken machen. Auch die somatischen
fälle mit ihnen vorgefallen ist; ja, nach heftigen An- Erscheinungen, die sich nach den eigentümlichen
fällen verschwindet nicht selten das ganze Gedacht- Anfällen, welche er erlitt, einstellten, wie z. B. diese
niss. In anfallsfrcicn Zeiten weisen die Epileptiker Art von Frostanfällen, welche ihn zu der Bitte, ihn
oft entweder eine gesteigerte oder eine herabgesetzte zuzudecken, nötigten, berechtigen doch augen-
Gemüthsreizbarkeit auf. Als die gewöhnlichste, fast scheinlich durchaus nicht zu der zuerst von byzanti-
ausnahmslos eintretende Folge dieser Krankheit wird nischen Schriftstellern, wie z. B. Theophones Con-
immer angegeben, dass die Gesichtszüge solcher fessor*) u. A. in die Welt lanzirte und durch spätere
Kranken gröber werden, dass die Epileptiker ganz Schriften zu Missionszwecken**) verbreitete Ansicht,
habituell in ihrem Blicke etwas Unsicheres bekommen, dass Mohammed Epileptiker gewesen sei.
dass bei ihnen die sittliche und geistige Energie lang- Und falls es mir gestattet ist, hier am Schlüsse
sam, aber fortschreitend aufhört, dass die körperlichen eine kurz zusammengefasste Antwort auf die Frage:
Kräfte successive schwinden und dass sie im Anfall War Mohammed Epileptiker? zu geben, so würde
endlich ihr Leben aushauchen. dieselbe dahin lauten: Zweifellos weist uns die, von
_ den Traditionisten und Biographen überlieferte Lebens¬
beschreibung Mohammed’s Erscheinungen auf, weiche
Wenn wir nun jetzt das uns über Mohammed einzeln betrachtet, bei gewöhnlichen normalen Durch -
Ueberlieferte in einen Rahmen zusammengefasst be- schnittsmenschen nicht vorzukommen pflegen; als
trachten und dasselbe mit dem Krankheitsbilde der Ganzes aber lassen sich dieselben in den Rahmen
Epilepsie vergleichen, so finden wir, dass beide Bilder des Krankheitsbildes der Epilepsie nicht zusammen¬
sich gar nicht decken. Wir finden zwar, dass das fügen und folglich sind wir nicht berechtigt den Mann
Leben Mohammed’s Momente aufweist, wie das für einen Epileptiker zu erklären.
Glöckcliengeklinge, das Hören von Stimmen und das *) B buhte zwischen 750 und 8!7 in Byzanz.
Sehen von Gestalten und andere Dinge, und den **) Wie Mühleisen Arnold, Dr. Gorman u. a.
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HARVARD UNIVER_ßlTY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. .34
Leopold
m 20. September 1002 verstarb im Hamburger
Krankenhaus zu Eppendorf Leopold Kaplan
im jugendlichen Alter von 30 Jahren, tief betrauert
von allen, die ihm im Leben nahe gestanden haben.
Ein liebenswürdiger Mensch, ein warmherziger Arzt,
ein strebsamer Jünger der medicinisehen und spceiell
der psychiatrischen Wissenschaft, ist mit ihm ins Grab
gegangen.
Geboren zu St »rau N.-L. am 23. Octobcr 1S71
bestand er im Alter von 24 Jahren das Staatsexamen
in Erlangen. Nach ^jähriger Thätigkeit an der
Nervenpoliklinik des Herrn Professor Dr. Mendel
trat er am 9. September 1893 als Volontärarzt an
der Irrenanstalt Herzberge ein und rückte dort all¬
mählich zum 1. Assistenzarzt auf. Anfang dieses
Jahres fing er an zu kränkeln; er schien sich erholt
zu haben, doch auf einem S<munerurlaub erkrankte
er von neuem, um an einer schnell sich entwickeln¬
den acuten Miliartuberkulose zu Grunde zu gehen.
In der Anstalt Herzberge hatte Kaplan eine
Thätigkeit gefunden, welche seinen Neigungen und
Bestrebungen entsprach. Neben der ärztlichen Thä¬
tigkeit hatte er hier Gelegenheit wissenschaftlich zu
arbeiten und seine Kenntnisse auf den verschieden¬
sten Gebieten, insbesondere auch in der Chemie,
und die ihm angeborene technische Gcwandheit zu
verwerthen. In der That bewies er in seinen klini¬
schen Arbeiten eine scharfe Beobachtungsgabe und
ein kritisches Urtheil, während er auf mikroskopischem
Gebiete speciell eine innige Vertrautheit mit der ge¬
summten Färbetechnik zeigte. Diese Beschäftigung
führte ihn dazu neue Färbemethoden anzugeben und
sich an der Construction eines neuen Mikrotoms zu
betheiligen. Auch den practischcn Fragen der Irren -
pflcge trat er näher. Er interessirte sich für die
Ausbildung des Wartepersonals und unterstützte seinen
von ihm sehr verehrten Chef, Herrn Geheimrath Pro¬
fessor Dr. Modi beim Unterricht des Personals.
Endlich sei noch erwähnt, dass er dieser Wochen¬
schrift seit Jahren ein treuer Mitarbeiter war, indem
M i t t h e i
— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 10. November
1002. Vor der Tagesordnung widmet der Vorsitzende
Herr Jollv dem verstorbenen Ehrenmilglicde der
Gesellschaft R u d o 1 ph V i r c h o w, s< »wie den versh>r-
benen Mitgliedern W ul ff e r t und K a p 1 a n, einen
warmempfundenen Nachruf.
Tagesordnung:
1. Herr S. Kalischer.. Vorstellung eines 14j..
Kaplan.
er die Berichte über die Sitzungen des Berliner psy¬
chiatrischen Vereins regelmässig erstattete.
Die von Kaplan publicirten Arbeiten sind fol¬
gende: ,,L T eber functionelle psychische Erscheinungen
bei einem Falle von Hirntumor. Psych. Verein am
26. VI. 07.“ — Lebet Trauma und Paralyse. Eben¬
da am 18. XII. 97. — Kopftrauma und Psychosen.
Ebenda am 18. III. 99. — Juliusburger und K. :
Anatomischer Befund bei einseitiger Oculomotorius¬
lähmung im Verlaufe von progressiver Paralyse. (Neu¬
rologisches Centralblatt 1800.) — K. und Finkeiburg:
Beiträge zur Kenntniss des sogenannten ventralen
Abducenzkerns. (Arcli. für Psych. und Nerv. 1900.)
— K. und Meyer: 2 Fälle organischer Psychosen
auf Grundlage von hereditärer Lues. Psych. Verein
i(). XII. 90. — Mönkemöllcr und K.: Eine neue
Methode der Fixirung von Fussspuren zum Studium
des Ganges. Ebenda. — K. und Finkeiburg: Ana¬
tomischer Befund bei traumatischer Psychose mit
Bulhärerschcinungen. (Zugleich Beitrag zur Kennt¬
niss des hinteren Längsbündels.) Monatsschrift für
Psvch. und Neurol. 1900. — Axencylinderfärbung.
Neurologisches Centralblatt 1901. — Methoden zur
Färbung des Nervensystems-: I. Neuiokeratinfärbung.
II. Axencylinderfärbung. Vortrag auf der Jahresver¬
sammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte in
Berlin am 22. und 23. April 1901. Ebenda. —
Nci venfärbung (Neurokeratin, Markscheide, Axen-
cylinder). Ein Beitrag zur Kenntniss des Nerven¬
systems. Arcli. f. Psych. und Ncrvenk. 1901. —
Der Unterricht des Pflegepersonals. — Die Kranken¬
pflege 01 02/9
Nach so fruchtbarer Thätigkeit war man berech¬
tigt mehr als gewöhnliche Erwartungen an die Per¬
sönlichkeit Kaplans zu knüpfen. Anders hat es das
Schicksal gefügt. Dem arbeitsfreudigen Manne war
eine frühe Ruhe bcschiedcn.
Möge ihm die Erde leicht sein!
*) Die Vollständigkeit der Liste ist nicht absolut sicher.
1 u n g e n.
seit der Kindheit an einer eigenthümlichen Gangstörung
leidenden Mädchens. Der Gang ist schwerfällig,
watschelnd und hat sich in den letzten Jahren ver¬
schlimmert. Vor 1 Jahre zweimal tetanischc Krämpfe
in den Annen, jetzt hin und wieder Krampf beim
Sc hreiben. Es besteht Schwäche der Lendcnmuskeln
und Hüftbeugcr, fast völliges Fehlen der Patellarreflexe,
von Tetaniesymptomen Faeialisphänomen, gesteigerte
mechanische und elektrische Erregbarkeit, Trous-
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iqo2.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 375
se au’sch es Phänomen. Die Tetanie war demnach
bis vor kurzem latent, hatte aber schon vorher die
erwähnte Muskelschwäche und Gehstörung erzeugt.
Vortr. verweist auf verwandte frühere Beobachtungen
J. Hoffmann’s und geht weiter auf die bei Tetanie
beobachteten Muskelstörungen ein; Vortr. hat Tetanie
bei Kindern in Berlin aus dein Material der Naumann-
schen Poliklinik relativ oft beobachten können, während
sie bei Erwachsenen daselbst recht selten ist. Jenseits
des Alters von 4 Jahren sah er Tetanie fast nie, und
die Annahme, dass die Tetanie der Säuglinge in das
spätere Alter hinein chronisch-recidivirenden Character
gewinnt, muss sehr zweifelhaft angesehen werden.
Den Begriff der symptomatischen Tetanie möchte
Vortr. eingeschränkt wissen, es handelt sich hier meist
um zufällige Complicationen oder symptomatologisch
ähnliche Krampfzustände, für deren Beurtheilung das
elektrische Verhalten massgebend bleiben muss. Meist
ist die Tetanie der Ausdruck einer infectiösen bezw.
toxischen Allgeincinerkrankung.
Discussion: Herr Jap ha ergänzt die Mittheil¬
ungen des Vortr. über das Vorkommen und die Häufig¬
keit der Tetanie und verweist besonders auf den Einfluss
der Ernährung auf ihr Zustandekommen.
Herr T. Cohn fragt nach Aenderungon des
Zuckungsablaufes und der Zuckungsformel und ver¬
weist auf die Untersuchungen Man lös.
Herr Kali scher bemerkt, dass er Manns Be¬
obachtungen mit bestätigen konnte.
2. Herr Bernhardt stellt einen 39J, vor 23 J.
schon einmal demonstrirten Kranken (Berl. klin.
Wochenschr. 1880 No. 23) vor, der im 13. Jahre
nach Masern und einer Darmerkrankung eine links¬
seitige Hemiplexie bekam. Mit Wiederkehr der will¬
kürlichen Beweglichkeit, die jetzt als normal kräftig
und ausgiebig bezeichnet werden kann, Auftreten von
rythmischen Zuckungen im linken Arm, die nur im
Schlaf verschwänden, bei intendirten Bewegungen sehr
störend wärken und nur selten Ruhepausen machen.
Im übrigen völlig normaler Befund. Linker Vorder¬
arm etwas voluminöser als rechter.
An der Discussion betheiligen sich die Herren
Schuster, Rothmann, Oppenheim, Remak, Jollv und
der Vortr.
3. Herr Jacobsohn (für Herrn Dr. Taniguchi) de-
monstrirt mikroskopische Präparate von dem Gehirn
einer 14]. Japanerin, die an Distomum pulmonale
gelitten hat. Klinisch bestanden während des 2 l ; A J.
dauernden Leidens Jackson’sche Anfälle links, Kopf¬
schmerzen, Schwindel, Ohrensausen links, allmählich
zunehmende linksseitige Hemiparese mit erst chorei¬
formen, dann athetotischen Bewegungsstörungen
der Extremitäten, Reflexe links gesteigert. Bei
der Obduction fanden sich in der rechten Hemi¬
sphäre des Gehirns massenhaft Cysten an den ver¬
schiedensten Stellen des Hirns, meist im Marklager
gelegen. Vortr. demonstrirt die Einzelheiten der
Structur dieser cystischen Bildungen, die er für durch
embolischc Processe thrombosirte und dann entzündlich
veränderte Gefässe hält; in ihnen sind massenhaft
Parasiteneier nachweisbar. Elastische Fasern waren
nicht mit Sicherheit nachweisbar. Vortr. hält die Mög¬
lichkeit, dass es sich um parasitäre Bildungen handelt,
da Vergleichsobjekte in der Litteratur nicht vor¬
liegen, nicht für amgeschlossen.
Discussion: Herr Oppenheim neigt mehr
der letzterwähnten Möglichkeit zu, zumal er ähnliche
Beobachtungen bei Cysticerken gemacht hat.
Herr Henneberg hat ähnliche Bilder bei alten
Abscessen gesehen und fragt, ob elastische Fasern
nachgewiesen worden sind.
Herr Jacobsohn hält den Vorrednern gegen¬
über an seiner Ansicht fest, da er ähnliche Gefäss-
veränderungen bei Ziegler gesellen hat und da in
anderen anatomisch untersuchten Fällen mit Aus¬
nahme eines einzigen Falles stets nur Eier, nie der
Parasit selbst, gefunden wurden. Elastische Fasern
konnten mit Sicherheit nicht nachgewiesen werden.
Dr. Martin Bloch (Berlin).
— Aus Ostpreussen. (Schluss.)
Unter den Motiven der diesbezüglichen Vorlage
war übrigens betont, dass durch diese Neueinrichtung
sowohl den Wünschen des Vorstandes von Carlshof
entsprochen werde, weil trotz aller Bemühungen cs
nicht ausbleibe, dass leicht erregbare Pfleglinge unter*
einander, um ihres Bekenntnisses wällen, in Reibungen
gerathen, (hauptsächlich wohl eine Folge des spezifisch
kirchlichen Geistes, welcher in Cailshof herrscht), als
den Wünschen der Provinzialverwaltung resp. dem
Platzmangel und dem neuerdings wieder hervorgetre¬
tenen Bedürfniss nach Vermehrung der Provinzial-
pflegestcllen entgegengckoinmen w T erdc. Die zuletzt
i. J. 1900, laut Beschluss des Provinziallandtages, auf
500 vermehrten Pflegestellen zu Carlshof (auch in der
Idiotenanstalt Rastenburg sind die Provinzialstellen
um 100, von 270 auf 370, vermehrt w’orden) genügen
nicht mehr, um die aus dem Gesetz vom 11. Juli
1891 bestehende Verpflichtung zur Gewährung von
Anstaltspflege zu ei füllen. Die Zahl der hülfsbe-
dürftigen und der Anstaltspflege bedürftigen Epilep¬
tiker ist noch stetig im Zunehmen begriffen, so dass
wiederum über 20 Epileptiker wegen Raummangels
als Anwärter auf frei werdende Stellen haben vorge¬
merkt werden müssen. Unter diesen Umständen ist
auch der Antrag des Provinzialausschusses, die Pro¬
vinzialstellen um weitere 20, also auf insgesammt
520 Stellen zu vermehren, genehmigt worden. Bei
dieser ausserordentlich hohen Zahl von Provinzial¬
pfleglingen in Carlshof, (wozu noch die in der nahe
gelegenen Idiotenanstalt untergebrachten ca. 300 Pro¬
vinzialpfleglinge kommen), wird wohl die Provinz die
Uebernahme dieser Anstalten in eigene Verwaltung
nicht umgehen können. Der Ausweg, den eine andere
Provinz bei einer ähnlichen Anstalt ergriffen, indem
sie einen ihrer Anstaltsärzte zum Oberarzt derselben
bestellte, um die Gewähr einer auf der Höhe der
Zeit stehenden Behandlung ihrer Pfleglinge zu haben,
ist gänzlich verfehlt und liegt weder im Interesse
der Provinzialverwaltung, noch der Provinzial-Irren-
ärzte, sondern nur im Interesse der kirchlichen Privat¬
anstalten. Letzteren ist natürlich ein beamteter Arzt
sicherer als ein Privatarzt. Ja es könnten die
kirchlichen Anstalten durch Versetzung eines Pro¬
vinzialarztes an dieselben in den Augen des Publikums
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376 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 34
den Eindruck einer Normalanstalt d. h. einer unter
Verwaltung und Leitung eines Facharztes stehenden
Anstalt erwecken; einer s< >lchcn staatlichen Anstalt
sind sie natürlich in keiner Beziehung ebenbürtig.
Die Provinzialärzte aber, welche an eine solche Anstalt
versetzt werden, gerathen in eine unerquickliche Zwitter¬
stellung und in ein Doppclbeamtcnthuin, das man ihnen
unmöglich zumuthen kann. — Als Arzt der Worm-
ditter Epileptikeranstalt ist ein praktischer ArztderStadt
ausersehen, welcher sich den „erforderlichen Befähi¬
gungsnachweis“ durch einen vierteljährigen Studien¬
aufenthalt in der Irrenanstalt Kortau erworben hat.
Eine solche vierteljährige *) Vorbildung wird also für
genügend erachtet, um einen Psychiater herzustellcn,
der die ärztliche Leitung einer Epileptikeranstalt
übernehmen kann.
Die mit der Epileptikeranstalt Carlshof resp. mit
der daselbst befindlichen Arbeiterkolonie verbundene
Trinkerheilanstalt, welche im Jahre 1889 von
dem Verein zur Begründung einer Trinkerheilanstalt
in Ostpreussen daselbst, auf Grund eines Abkommens
mit dem Vorstand, mit 10 Plätzen begründet wurde,
soll nun auch wesentlich erweitert werden. Es haben
in den Jahren 1890 — 09 zusammen 54 Personen
Aufnahme gefunden, welche nach dem Bericht des
Vorstandes grösstentheils geheilt oder gebessert ihren
Familien zurückgegeben werden konnten. Für ihr
Fortkommen und für den Nachweis geeigneter Stellen
wurde, wo es noth that, nach Möglichkeit gesorgt.
Doch war die Benutzung der Anstalt bis 1899 eine
verhältnissmässig geringe. Die Einführung des bürger¬
lichen Gesetzbuchs zeigte sehr bald ihre Wirkung in
vermehrter Anmeldung von Trinkern, namentlich auch
von entmündigten. So wurden i. J. i<>oo bereits 13
und im Jahre 1901 18 Männer (aus einer Mittel¬
stadt allein 6) der Trinkerheilanstalt überwiesen.
Diesem vermehrten Andrange genügten die bisher
miethsweise von der Anstalt Carlshof beschafften
Räume nicht mehr, und es ergab sich hieraus die
Nothw'endigkeit, ein eigenes Gebäude für die Trinker
zu errichten. Dasselbe soll 40 Plätze enthalten und
sofort in Angriff genommen werden. Die Baukosten
(rund 32000 M.) werden zum grossen Theil durch
Sammlungen und durch die bereits bewilligte Kirchen¬
kollekte gedeckt werden. Den Fehlbetrag hofft die
Vereinsleitung durch Mitgliederbeiträge und weitere
Kollekten nach und nach zu decken, weshalb sich
der Verein, an dessen Spitze der Landeshauptmann
steht, an die öffentliche Mildthätigkeit wendet. Be¬
merkenswerth ist, dass die erste und noth wendigste
Bedingung für eine erfolgreiche Trinkerbehandlung,
die Alkoholabstinenz an Haupt und Gliedern, in der
Anstalt Carlshof fehlt. —
Während in Ostpreussen die Gründung eines
Hilfsvereins für Geisteskranke, wie in manchen andern
Landcstheilen Deutschlands, bei der mangelnden
Initiative der Directorcn noch immer ein frommer
*) Meines Wissens ist Herr Dr. Hankein mit der ärztlichen
Leitung in Wormditt betraut. Derselbe war 1895 96 ein Jahr
und 1901 wiederum ca. ein halbes Jahr in Uchtspringe als Arzt
thätig und ist daher besonders in der Behandlung der Epilep¬
tiker ausgebildet. Alt.
Wunsch ist, dessen baldige Erfüllung im Interesse
des gesammten Irrenwesens dringend noth thut, ist
in Königsberg in Folge eines Vortrags des Herrn
Dr. Hallervorden im Handwerkerverein über Hilfs¬
schulen (Königsberg besitzt bereits 2 Hilfsschulen,
eine 3. soll demnächst errichtet werden) ein Ver¬
ein zur Fürsorge für Schwachsinnige im
Januar d. J. gegründet worden, welcher zunächst be¬
sonders die aus den Hilfsschulen entlassenen Schwach¬
sinnigen im Auge hat. Es ist dies der erste der¬
artige Verein in Deutschland, dem hoffentlich bald
andere folgen werden. Aus den Statuten sei hervor¬
gehoben :
§ 1. Zweck des Vereins ist, im Anschluss an die
Thätigkeit der Hilfsschule für die Schwachsinnigen jede
mögliche geistige und leibliche Fürsorge zu treffen:
zunächst für die aus der Hilfsschule entlassenen,
sodann aber für die noch schulpflichtigen Zög¬
linge,
und endlich für sonstige Schwachsinnige, nament¬
lich jugendlichen Alters.
Damit verbindet sich der fernere Zweck, über den
Werth und die Bedeutung der Hilfsschulen Aufklä¬
rung zu verbreiten und die ihr im Publikum ent¬
gegenstehenden Vorurtheile zu bekämpfen.
§ 2. Die Fürsorge für die schulentlassenen Kna¬
ben und Mädchen der Hilfsschule hat u. A. zu be¬
stehen:
a) in der Ausbildung der Kinder zu einem prak¬
tischen Beruf, wozu wiithscluiftlich tüchtige, sittlich
einwandfreie Lehrmeister, Dienstherrschaften, Pfleger
aufgesucht werden,
b) in der fortgesetzten Erziehung und Ueberwach-
ung der Kinder,
c) in der Gewährung von Beistand in Nothlagen,
sowie in der Gewährung von Schutz gegen die Ge¬
fahren der krankhaften Veranlagung und gegen die
des öffentlichen Lebens (Verwahrlosung, akute Seelen¬
störungen, Alkoholismus, Prostitution, Ausbeutung,
Conflictc mit Behörden),
d) in der Unterbringung der dessen bedürftigen
Kinder in passende Pflegestellen, je nach der Lage
des Falls, Privat- oder Anstaltspflege.
§ 3. Die Fürsorge für die noch schulpflichtigen
Schwachsinnigen soll u. A. bestehen:
a) in der möglichst frühen Ueberw-eisung an die
Hilfsschule,
b) in der Ermöglichung einer besseren Pflege der
Zöglinge zur Unterstützung der Schulzwecke, beson¬
ders in der Einrichtung eines Kinderheims (Tages¬
aufenthalt mit Beköstigung) und einer Ferienpflege.
§ 4. Als Organ der Fürsorge werden vom Ver¬
ein Fürsorger und Fürsorgerinnen bestellt, welche den
Pflegling überwachen und die Umgebung desselben,
Eltern, Pfleger, Prinzipale u. s. w\ zu belehren haben.
Vorsitzender des aus 16 Personen bestehenden
Vorstandes ist Dr. Hallervorden, ausserdem sind der
Schularzt der Hilfsschulen und der Unterzeichnete,
sowie der Stadtschulrath und die meisten Lehrer und
Lehrerinnen der Hilfsschulen Mitglieder des Vor¬
standes. Hoppe.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. 13resler, Kraschmtz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerci (Gebr. Woiff) in Halle a S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzbiatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herautgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Quttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schultse, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraachnitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 35, ~ 29. November. _ 1902,
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Bu< hhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltigc Petitzcile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermassigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Sachverständige in Entmündigungssachen (S. 377). —Zur forensischen Psychiatrie (S. 379). — Entgegnung
auf die Ein wände des Herrn Professor Mendel. Von Dr. Weygandt-Würzburg (S. 380). — Mittheilungen (S. 383). —
Bibliographie (S. 389). — Referate (S. 391).
Sachverständige in Entmündigungssachen.
| rosses Aufsehen in der (Öffentlichkeit, namentlich
in den Kreisen der Irrenärzte, hat eine all¬
gemeine Verfügung des preussischen Justiz-
ininisters vom I. Oktober 1902 (J. M. Bl. S. 246)
gemacht, die folgenden Wortlaut hat:
„Der § 14 der Allgemeinen Verfügung vom
28. November 189t) (J. M. B. 388) erhält fol¬
gende Fassung:
2. als Sachverständiger ist gemäss $ 653
Abs. 2 in Verbindung mit § 404 Abs. 2 der
Civilprocessordnung regelmässig der Gerichtsarzt
(§ () des Gesetzes, betreffend die Dienststellung
des Kreisarztes vom 16. September 1899 —
Gcsetz-Samml. S. 172 —), als der für medici-
nische Angelegenheiten öffentlich bestellte Sach¬
verständige, erforderlichenfalls sein Assistent
(>? 5 des angeführten Gesetzes), zuzuziehen.
Andere Personen sollen nach dem angeführten
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$ 404 Abs. 2 als Sachverständige nur dann
gewählt werden, wenn besondere Umstände es
erfordern.“
Diese Verfügung ist vielfach dahin aufgefasst worden,
dass die Irrenärzte als Sachverständige in Entmün¬
digungssachen ausgeschaltct werden sollen und dass
der Justizminister den Gerichten nach dieser Richtung
hin eine bindende Anweisung erthcilt habe. Dass
letzteres nicht beabsichtigt sein kann, liegt für jeden
Juristen auf der Hand. Denn nach § 1 des Rcichs-
Gcrichtsvcrfassungsgesetzes wird die richterliche Gewalt
durch unabhängige, nur demGesetzeunterworfenc
Gerichte ausgeübt. Für den Richter sind also bei
der Rechtsprechung — und dazu gehören auch die
Entscheidungen in Entmündigungssachen — Anweis¬
ungen höherer Behörden nicht bindend, er ist nur
durch das Gesetz beschränkt. Die Allgemeine Ver¬
fügung des Justizministers kann hiernach nicht den
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3/8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35.
Zweck gehabt haben, den Entmündigungsrichter durch
Verwaltungsvorschriften irgendwie zu binden. Dass
dies thatsächlich auch nicht beabsichtigt ist, lehrt ein
Blick auf die durch die neuere Verfügung abgeänderte
allgemeine Verfügung vom 28. November 1899.
Dort heisst es am Anfänge des § 14: „Bei den Er¬
mittelungen in Entmündigungssachen wird den Amts¬
gerichten die Beachtung nachstehender Punkte em¬
pfohlen“. Es folgen nun 5 Punkte, darunter No. 2:
„Die Wahl der Sachverständigen ist in erster Linie
auf solche Personen zu richten, welche auf dem Gebiete
der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Erfahrung
besitzen. Sind solche Personen nicht zu erreichen,
so ist die Wahl, wenn möglich, auf einen Kieis-
physikus (Kreisarzt) oder wenigstens auf einen zu
diesem Amte geprüften Arzt zu richten.“
Diese Gesichtspunkte werden den Amtsgerichten
nur empfohlen. Hiernach enthält auch die neue
Verfügung keine unbedingt bindende Anweisung.
Es wirkt auf den ersten Blick befremdend, dass der
Justizminister die alte Verfügung durch eine andere
ersetzt hat, die die Kreisärzte als die in erster Linie
in Betracht kommenden Sachverständigen bezeichnet.
Er beruft dies darauf, dass am 1. April 1901 das Kreis¬
arztgesetz in Kraft getreten ist und dass durch dieses
Gesetz die Kreisärzte als Gerichtsärzte ihres Amtsbezirks
bestellt sind. Dadurch sind die Kreisärzte für alle
medicinisehen Angelegenheiten als Sachverständige
„öffentlich bestellt“, und müssen deshalb nach § 404
Abs. 2 der Civilprocessordnung von den Gerichten
in erster Linie berücksichtigt werden. Andere Per¬
sonen dürfen als mcdicinische Sachverständige nur
dann gewählt werden, wenn besondere Umstände
es erfordern. Die allgemeine Verfügung vom 1.
Oktober IQ02 sagt also nichts anderes, als durch das
den Richter unbedingt bindende Gesetz bereits an¬
geordnet ist.
Dies ist die formelle Seite der Sache. Wie steht
es nun mit der Ausführung des Gesetzes ? Sind die
Irrenärzte wirklich ausgeschaltet? Ich glaube, nein!
Es ist gewiss eine wichtige und verantwortungs¬
volle Thätigkcit, über Entmündigungsanträge zu ent¬
scheiden. In den allermeisten Fällen ist die Sachlage
aber so einfach, dass es eines grossen und kostspieligen
Apparates nicht bedarf, ja dass vielleicht die Ver¬
nehmung eines Sachverständigen überhaupt entbehrt
werden könnte. Wenn nun die Civilprocessordnung
(§ 055) anordnet, dass das Gericht stets einen oder
mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des
zu Entmündigenden zu hören hat, so kann sic nicht
bezweckt haben, den Richter zu veranlassen, regel¬
mässig Special-Irrenärzte zu vernehmen. Dies würde
unausführbar sein und die Irrenärzte übermässig be¬
lasten. Die Vernehmung anderer Aerztc genügt in
den meisten Fällen. Dadurch nun, dass der zuständige
Kreisarzt regelmässig zu hören ist, wird diesem Ge¬
legenheit geboten, sich in der Irrenheilkunde fortzu¬
bilden, und dadurch wird er auch zur Erstattung von
Gutachten in schwierigeren Fällen befähigt. Die Special-
Irrenärzte sind aber keineswegs ausgeschaltet. Hier¬
gegen sprechen zwei Bestimmungen des Gesetzes.
Zuerst der § 404 Absatz 2 der Civilprocessordnung,
wonach solche Aerzte gewählt werden können, wenn
besondere Umstände es erfordern, und dann
der § 655 a. a, O., wonach einer oder mehrere
Sachverständige zu hören sind. Besondere Um¬
stände im Sinne des § 404 liegen z. B. vor, wenn
der Kreisarzt im einzelnen Falle dem Richter nicht
geeignet erscheint. Mehrere Sachverständige sind
in allen nicht ganz einfachen Fällen zu hören ; und
da in der Regel nur ein Kreisarzt in Frage kommt,
so wird der zweite und folgende Sachverständige
naturgemäss ein Special-Irrenarzt sein müssen. Das
Gesetz ist also dehnbar genug, und bietet dem Ent¬
mündigungsrichter alle Handhabe, um die Irrenheil¬
kunde zu der ihr gebührenden Geltung zu bringen.
Das Gesagte gilt zunächst nur für das Verfahren
vor den Amtsgerichten. Hat ein Amtsgericht, ohne
die psychiatrische Wissenschaft zu ihrem Recht ge¬
langen zu lassen, entschieden, so wird das Versäumte
stets in dem Verfahren vor dem Land- und Ober¬
landesgerichte nachgeholt werden können. Wenn
auch für diese Gerichte dieselben Vorschriften wie
für die Amtsgerichte gelten, namentlich auch die Be¬
stimmungen über den Sachverständigenbeweis, so be¬
steht dort doch erfahrungsgemäß die Neigung, neben
den vom Amtsgericht vernommenen Sachverständigen
auch andere zu vernehmen, und diese anderen können
regelmässig nur Männer der psychiatrischen Wissen¬
schaft sein.
Ich glaube also, die Allgemeine Verfügung vom
1. Oktober 1002 giebt ebenso wenig wie die gesetz¬
lichen Bestimmungen zu Besorgnissen Anlass. Es
kommt alles darauf an, dass die Gerichte die be¬
stellenden Vorschriften verständig handhaben und dass
sie namentlich stets die Bedeutung der Ii renheilkunde
und ihre Special-Vertreter im Auge haben. Dass
diese Bedeutung in Richter- und anderen Laienkreisen
mehr und mehr erkannt wird, ist eine der schönsten
Aufgaben dieser Wochenschrift.
Landrichter Dr. Buethke in Berlin.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 379
Zur forensischen Psychiatrie.
Sehr geehrter Herr Redacteur!
Tn Nr. 29 dieser Wochenschrift streifte in einem
* Artikel: „Ueber die Berechtigung der forensischen
Psychiatrie“ Herr Dr. Wevgandt die Frage, ob die
Irrenarzte bei der Beantwortung der Fragen des § 51
des D. Str. G. B. auch die nach dem Ausschluss der
freien Willensbestimmung beantworten sollen.
Ich habe durchaus nicht die Absicht, die so viel¬
fach discutirte Controverse von Neuem hier wieder
aufzurollen, und sehe mich nur deswegen veranlasst,
das Wort zu ergreifen, weil Herr Wevgandt eine
Reihe von Behauptungen aufstellt, welche den histo¬
rischen Thatsaschen wie der augenblicklichen Lage
der Frage nicht entsprechen.
1. Herr Wevgandt irrt, wenn er meint, dass
die Ansicht, wonach der Irrenarzt sich nur über die
erste Hälfte des $ 51 auszusprechen habe, ursprüng¬
lich von mir vertreten sei. Hatte er meinen Aufsatz,
welchen er citirt, gelesen, dann würde er gefunden
haben, dass ich darauf aufmerksam machte, dass die
wissenschaftliche Deputation des Preuss. Ministeriums
für geistliche u. s. w. Angelegenheiten in gleichem
Sinne wie ich ohne dass ich vorgegangen war im Jahre
1886 einGutachtenWestphals aus dem Jahre 1883 citirte.
Hatte er dieses dann nachgelesen, zur Begründung
dieser Behauptung, so würde ihm die Stelle im West-
phaIschen Gutachten nicht entgangen sein, an welcher
es heisst: „Denn cs unterliegt, wie das General-Audi-
toriat ganz übereinstimmend mit uns bemerkt, die
Fra^c, ob eine saehverständigerseits anerkannte krank¬
hafte Störung der Gcistesthätigkeit, in dem Momente
der Thatbcgehung in so hohem Grade existent ge¬
wesen sei, dass durch dieselbe die freie Willensbe¬
stimmung des T haters ausgeschlossen würde, als
Thatfrage lediglich der freien Beurtheilung des Spruch-
gerichts.“
Herr Wevgandt wird mir demnach zugeben
müssen, dass er mir mit ITnrecht die Khre vindiiirl hat,
der Urheber der von ihm perhorreseirten Anschauung
zu sein.
2. Herr Wevgandt irrt, wenn er meint, dass im
Gegensatz zu mir Herr Jolly der Ansicht ist, „dass
der" 1 Arzt moralisch verpflichtet ist, mit allen Mitteln
zur Urtheilsbildimg mitzuwirken, mithin auch die
Fragt' nach der freien Wi 11 e n s b e st i m m u n g
zu beantworten hat.
Würde Herr Wevgandt die Vierteljahrsschrift für
gerichtliche Mcdicin lesen, so würde er sich längst
überzeugt haben, dass Herr Jolly als Referent der
wissenschaftlichen Deputation ebesowenig wie ich, die
Frage nach der freien Willensbestimmung beantwortet,
( cf.%. B. Obergutachten in Viertelj. f. ger. Mcdicin
i8()0, p. 1) und mit den hinzugefügten Werten „im
Sinne des § 51“ nur einen gewissen erheblichen
Grad der krankhaften Störung der Gcistesthätigkeit
bezeichnet, da wohl nach der übereinstimmenden
Ansicht Aller nicht jede krankhafte Störung der Gei-
stesthätigkeit straflrci macht.
3. Herr Weygandt irrt, wenn er meint, dass auf
civilrechtlichem Gebiet die Sache völlig klar wäre, dass
die Entscheidung, ob „Geisteskrankheit“ oder „Geistes¬
schwäche“, wesentlich dem Arzte zufiele. Wenn
Herr Weygandt die Entscheidung des Reichsgerichts
vom 13. Februar 1902 lesen wird, dürfte er doch
Bedenken haben, ob seine Ansicht „so gut wie all¬
gemein zugestanden“ sei. Denn das Reichsgericht
sagt: „diese Entscheidung (ob Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche) ist daher, mangels hierüber fest¬
stehender medicinischer Begriffe, keine psychiatrische,
sondern eine überwiegend ^tatsächliche, weiche der
Richter trifft, und die nur zum Theil auf dem ärzt¬
lichen Gutachten, das den Stoff zu seinen Schlüssen
liefert, beruht.“
Herr Wevgandt dürfte sich in seiner forensischen
Thätigkeit aber bald überzeugen, dass die Autorität
des Reichsgerichts für den berufenen Richter grösser
ist als die Ansicht des Sachverständigen.
Herrn Wevgandt ist voll und ganz darin beizu¬
stimmen, dass die Psychiatric der Gesetzgebung
gegenüber, soweit dieselbe psychiatrische Dinge be¬
trifft, nicht die Hände in den Schoss legen darf. Sie
hat die Mängel der geltenden Gesetze klar zu legen
und dafür thätig zu sein, dass bessere, angemessenere
Bestimmungen getroffen werden. Diese Pflicht hat sie
auch in den letzten vierzig Jahren in Deutschland nicht
versäumt. Die Versuche aber, die bestehenden
Gesetze im concrcten Falle in dem Sinne umzu¬
deuten, wie ihn der hinzugezogene Sachverständige
will, d. h. sich in juristische Deutungen und Aus¬
legungen zu mischen, sind durchaus zu verwerfen.
Wer eine grössere forensische Erfahrung hat, weiss,
wie durch solche Versuche nicht bl»>ss das Ansehen
des Sachverständigen, sondern auch das seiner Wissen¬
schaft gefährdet wird.
ln Bezug auf den § 31 ist wohl fast ausnahms¬
los anerkannt, dass sein' letzter Relativsatz zum Min¬
desten eine sehr unglückliche Fassung hat. Statt
dass die Psychiater sich unter sich befehden, ob die
Frage nach der freien Willensbestimmung zu beant¬
worten sei oiler nicht, schiene es mir augenblicklich,
wo eine Revision des Strafgesetzbuches in Aussicht
genommen ist, opportuner, sich geeint an die be¬
treffenden Behörden mit dein Verlangen zu wenden, dass
der Ausdruck: „die freie Willensbestimmung“ bei der
Revision geopfert werde* Für die freie Willensbe-
stimmung jetzt einzutreten, heisst einem von den aller-
verschiedenstcn Seiten ausgesprochenen Wunsche nach
Abänderung des $ 31 entgegentreten.
Dass es ohne dieselbe, bloss mit Bewusstlosigkeit
und Geisteskrankheit, bei der Frage über die Zurech¬
nungsfähigkeit geht, beweist das Beispiel von Frank¬
reich (seit beinahe 100 Jahren), Belgien, Norwegen,
der Schweiz und, last not least, der Türkei.
Mit collegialcr Hochachtung
Ihr ergebener
Berlin, den 23* October 1902. Mendel.
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3 8o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35.
Entgegnung auf die Elinwände des Herrn Professor Mendel.
Von Dr. Weygandt-^ iirzburg.
G egen einige Nebenpunkte meiner Ausführungen
in Nr. 29 dieser Wochenschrift hat Herr Pro¬
fessor Mendel eine Reihe von Einwänden er¬
hoben. So sehr ich die Ehre eines Angriffs von Seiten
eines Meisters der Forensischen Psychiatrie zu würdigen
weiss, so kann das Motiv meiner lebhaften Hoch¬
achtung mir doch nicht eine Prüfung der vorgebrachten
Gründe ersparen. Ich schicke voraus, dass ich mich
durchaus eins mit Herrn Professor Mendel in dem
Wunsch fühle, es möchte hier die so vielfach be¬
handelte Kontroverse des § 51 in all ihren Einzel¬
heiten nicht wieder von neuem aufleben.
Der erste der 3 Einwände, die unter dem Leit¬
motiv des Irrens gegen mich erhoben worden, betrifft
die Zweitheilung des § 51 in eine psychiatrische und
eine juristische Aufgabe. Ich gebe zu, dass meine
Aeusserung, ursprünglich habe Herr Professor
Mendel diese Ansicht vertreten, missverstanden werden
kann. Treffender hätte ich hauptsächlich gesagt.
Dass ich jene Aeusserung indes nicht rein historisch auf¬
gefasst wissen wollte, ergiebt sich ja schon daraus, dass
ich ausser auf den Aufsatz Prof. Mendels im Jahr¬
gang 1886 der Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin
auch noch auf die Motive zum Strafgesetzbuch aus
dem Jahre 1870 hingewiesen hatte. Thatsächlich
findet sich als namhaftester Repräsentant der An¬
schauung, dass der Relativsatz des $ 51 nicht vom
Arzt zu beantworten sei, an mehreren Stellen heute
noch Herr Professor Mendel citirt, so bei Gramer,
Gerichtliche Psychiatrie, und Aschaffenburg in
H och es Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie.
Ich bekenne mich gern schuldig, mich bei der
angegriffenen Stelle auf mein Gedächtniss und einen
Blick in die Ausführungen Aschaffenburgs in Hoches
Handbuch verlassen zu haben, wo ja S. 16 die Haupt¬
sätze aus Mendels Vortrag vom Jahre 1886 wörtlich
angeführt sind, statt dass ich mich erst noch in die
ganze Polemik über diese Frage zwischen Prof. Mendel
und Schäfer in den Bänden 42, 44, 45 und 46 der
Vierteljahrsschrift vertieft habe; eine Unterlassungs¬
sünde, die vielleicht auf mildernde Umstände hoffen
darf, da es sich ja nur um einen- nebensächlichen
Punkt meines Aufsatzes handelte.
Ob ich mit dem Sinn meiner Ausführungen im
Unrecht bin, bitte ich den Leser nach Lektüre fol¬
gender Citate zu beantworten:
a) Westphals „Superarbitrium der k. wissenschaft¬
lichen Deputation für das Medicinalwesen über den
wegen unerlaubter Entfernung im wiederholten Rückfall
angeklagten Musketier J. M. der 1. Comp. 1. Nass.
Inf.-Regts. Nr. 87“ im 39. Band der Vierteijahrsschrift,
1883, sagte: „Denn es unterliegt, wie das General-
Auditoriat ganz übereinstimmend mit uns bemerkt, die
Frage, ob eine sachverständigerscits anerkannte krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit, in dem Moment
der Thatbegehung in so hohem Grad*) existent ge¬
wesen sei, dass durch dieselbe die freie Willensbestim¬
mung des Thäters ausgeschlossen wurde, als Thatfrage
lediglich der freien Beurtheilung des Spruchgerichts“.
Wie der Richter den Grad einer wissenschaftlich
nachgewiesenen krankhaften Störung der Geistesthätig¬
keit feststellen soll, ohne auf psychiatrisches Gebiet
überzugreifen, sagt das Superarbitrium leider nicht.
b) Als Antwort auf Schäfers Arbeit „Der Ge¬
richtsarzt und die freie Willensbestimmung, nebst einem
Falle von Raub, ausgeführt von einer Hystero-epilep-
tischen“, im Band 42 der Vierteljahrsschrift, 1885,
veröffentlichte Prof. Mendel den Aufsatz „Der ärzt¬
liche Sachverständige und die freie Willensbestimmung
des § 51 des Deutschen Strafgesetzbuchs (nach einem
Vortrag im Verein der deutschen Irrenärzte in Baden-
Baden am 17. September 1885) in der Vierteljahrs¬
schrift, Band 44, 1886. Darin heisst es u. a. S. 116:
„Die freie Willensbestimmung ist kein medicinischer
Begriff, der Arzt ist als Sachverständiger nicht in der
Lage, über Bestehen oder Ausschluss derselben Aus¬
kunft zu geben !“ S. 118 : „Ich möchte aber bei dieser
Gelegenheit noch darauf aufmerksam machen, dass
Ausdrücke, wie „geisteskrank im Sinne des
Gesetzes“*) oder „verminderte Zurechnungsfähig¬
keit“, welche in den oben erwähnten Gutachten ge¬
braucht worden sind, durchaus zu verwerfen
sind“*).
c) Am 17. Sept. 1887 hielt Jolly auf der Jahres¬
sitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte zu Frank¬
furt a. M. unter der Zustimmung von Arndt, Meschede,
Obersteiner, Pclman und Spanier den Vortrag: „Ueber
geminderte Zurechnungsfähigkeit“, vergl. Allgemeine
Zeitschrift f. Psychiatrie Band 44, S. 461. Hier heisst
es mit Bezug auf die Kontroverse Schäfer-Mendel,
S. 462: „Ich will gleich erwähnen, dass ich in Ueber-
einstimmung mit Schäfer durchaus der Meinung bin,
dass der ärztliche Sachverständige, wenn er berufen
wird, ein Gutachten über die nach § 51 des deut¬
schen Strafgesetzbuches zu beurtheilenden Fälle abzu¬
geben, das Recht und die Pflicht habe, nicht nur
über das Vorhandensein oder Fehlen von Geistes¬
krankheit, sondern auch — trotz der UnZweckmässig¬
keit und Schiefheit des Ausdrucks — über die freie
WillensbeStimmung des Thäters sich aus-
zus preclien“ *). Es wird dann weiter auseinander¬
gesetzt, dass eine Ueberlassung des Relativsatzes an
den Richter praktisch nicht durchführbar ist. Da nicht
jeder beliebige Grad von geistiger Abnormität genüge,
um eine verdiente Strafe abzuhalten, müsse also noch
etwas anderes festgestellt und durch das ärztliche
Gutachten für den Richter errsichtlich gemacht werden,
das ist eine gewisse Erheblichkeit, ein ge¬
wisser Grad von Krankheit. Weiter heisst es:
„In diesem Sinne wird die Frage nach dem Ausschluss
freier Willensbcstimmung an den Arzt gerichtet und
in diesem Sinne scheint mir kein Bedenken zu be¬
stehen, sie zu beantworten.“
d) Das von Mendel angeführte „Obergutachten
der königl. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal-
*) Von mir gesperrt.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 381
wesen betreffend Zurechnungsfähigkeit einer Brand¬
stifterin“ (erster Referent: Jolly, zweiter Referent:
Skrzeczka) in der Viertcljahrsschrift III, Band
17, 1899, schlicsst mit dem Satz: „Ihr ganzer Geistes¬
zustand aber, durch welchen sie eben zu solchen sinn¬
losen impulsiven Handlungen veranlasst wurde, war,
wie ausgeführt wurde, auch ausserhalb der Anfälle
seit Jahren ein durchaus krankhafter, und es kann
nach alledem keinem Zweifel unterliegen, dass die
B. sich zur Zeit der .Begehung der Brandstiftung in
einem Zustand krankhafter Störung der Geistesthätig-
keit im Sinne des § 51 des Strafgesetzbuches*)
befunden hat“.
Ich sehe keinen Widerspruch zwischen c) und d),
wohl aber scheint mir die jetzige Stellung der Depu¬
tation (d) nichts weniger als identisch mit der vom Jahr
1883 (a) und den mehrfach citirten Ausführungen
Prof. Mendels (b), wonach die Gradbestimmung der
Geistesstörung als Sache des Richters, und ein Aus¬
druck wie „geisteskrank im Sinne des Gesetzes“ als
durchaus verwerflich bezeichnet wurde.
e) Zum Schluss sei noch ohne Kommentar eine
Stelle aus Mendels „Leitfaden der Psychiatrie“ ange¬
führt. S. 237 heisst es:
„Die Darlegung des psychologischen Zusammen¬
hangs zwischen Krankheit und Handlung giebt dem
Richter hinreichend Material, um selbständig die Frage
nach dem Ausschluss der freien Willensbestimmung
zu beantworten, wie cs die Motive zum § 51 verlangen.
„Die wissenschaftliche Deputation des Ministeriums
der Medicinalangclegenheiten beantwortet die Frage
nach dem Ausschluss der freien Willensbestimmung,
welche keine ärztliche ist, principiell nicht, fügt aber,
da der Ausdruck krankhafte Störung der Geistesthätig-
keit zu unbestimmt ist, diesem ein „im Sinne des
$ 51“ hinzu. Ich selbst verfahre in der gleichen
Weise. Im Uebrigcn beantworten die meisten Sach¬
verständigen diese Frage, obwohl sie darin i'iberein-
stimmen, dass die Fragestellung zu ändern resp. die
Frage nach der freien Willensbestimmung bei einer
Revision des Strafgesetzbuchs wegzufallen habe.“
Dem 3. Ein wand Herrn Professor Mendels gegen¬
über bemerke ich, dass es mir nicht darauf ankam,
zu betonen, dass die Entscheidung, ob „Geisteskrank¬
heit“ oder „Geistesschwäche“, wesentlich dem Arzt
zuficle. Ich habe vielmehr die Deutung der beiden
Ausdrücke all nicht dem ärztlichen Sprachgebrauch
(Geistesschwäche = Imbccillität, Geisteskrankheit =
erworbener Psychose) entsprechend im Auge gehabt:
„Dass eine rein klinische Auffassung der Begriffe
„Geisteskrankheit“ und „Geistesschwäche“ im $ ö des
B. G. B. völlig fehl ginge, ist so gut wie allgemein
zugestanden“. Es ist damit dasselbe ausgesagt, was
Herr Prof. Mendel in seinem Leitfaden S. 239 be¬
merkt : „Der Begriff der Geistesschwäche ist vom
Gesetzgeber nicht definirt worden, mit dem psychia¬
trischen Begriff ist er nicht zu identificiren“**).
Hier muss ich mir nun selbst einen Einwand hin-
|i( htlich meines „so gut wie allgemein“ machen. In
einem Aufsatz „Ueber das Verhältniss zwischen richter-
*) Von mir gesperrt.
**) Von mir gesperrt.
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licher Entmündigung und polizeilicher Unschädlich¬
machung von partiell Verrückten mit Verfolgungswahn“
sucht Prof. Ri eg er*) doch die Begriffe Geistes¬
schwäche und Geisteskrankheit des § 6 mit den psy¬
chiatrischen Begriffen zu identificiren. Zahlreich werden
die Anhänger dieser Auffassung auf keinen Fall sein.
Die Reichsgerichtsentscheidung vom 13. Februar
1902 wird den Schwierigkeiten, die der § 6 Abs. 1 gesetzt
hat, nur in höchst unvollkommener Weise gerecht.
Die Entscheidung des Richters soll danach nur zum
T h e i 1 auf dem ärztlichen Gutachten beruhen, das
den Stoff zu den Schlüssen des Richters liefert Da
es sich stets darum handelt, ob die geistigen Fähigkeiten
des Rubrikaten den Voraussetzungen der die Folgen
der Entmündigung wegen Geistesschwäche normirenden
B. G. B.-Paragraphen §§ 112, 113 u. s. w. entsprechen,
ist nicht zu ersehen, wie der Richter hinsichtlich der
in Frage stehenden geistigen Fähigkeiten sich eine
Schlussfolgerung erlauben kann, die nicht von sach¬
verständiger Seite fundirt ist. Etw'aiger Stoff, den die
durch C. P. O. § 653 A. 1 S. 2 vorgesehenen Be¬
weismittel bieten, ist werthlos, wenn er nicht in irren¬
ärztliche Beleuchtung gerückt ist In praxi wird
der Richter trotz allen Infallibiiitätsglaubens, den er
etwa den Reichsgerichtsentscheidungen entgegenzu¬
bringen pflegt, bald sehen, dass er mit einer nur
theilweisen Begründung seiner Schlüsse durch den
ärztlicherseits gebotenen Stoff nicht auskommt Treffend
betont die „Gutachtliche Aeusserung der königl. wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen betreffs
Begutachtung im Entmündigungsverfahren nach § 6
des bürgerlichen Gesetzbuchs“**):
„Es handelt sich also in dem Schlusssatz eines
Entmündigungsgutachtens nicht um die Stellung einer
ärztlichen Diagnose, sondern um die Folgerung, welche
aus der vorher zu stellenden ärztlichen Diagnose
und aus der Feststellung des Grades der Krankheit
in Bezug auf die Ausdrücke „Geisteskrankheit“ oder
„Geistesschwäche“ im Sinne des B. G. B. zu ziehen ist.
Diese Folgerung kann dann am einfachsten in un¬
mittelbarem Anschluss an § 6 B. G. B. so lauten:
„Der N. N. vermag in Folge von Geisteskrankheit
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen, bezw. der
N. N. vermag in Folge von Geistesschwäche seine
Angelegenheiten nicht zu besorgen.“
„Es steht aber nichts im Wege, diesen Bezeichnungen
noch ausdrücklich die Worte „im Sinne des bürger¬
lichen Gesetzbuchs“ hinzuzufügen, da in dieser Weise
mit aller Sicherheit die Möglichkeit ausgeschlossen
wird, dass die beiden Ausdrücke etwa im Sinne der
ärztlichen Wissenschaft und nicht im Sinne des bürger¬
lichen Gesetzbuchs gemeint sein könnten.“
Hinsichtlich der Unterscheidung der Kompetenzen
möchte ich noch folgende Erwägungen anstellen. Die
vielfach versuchte Grenzsetzung zwischen Begriffen,
die nur den Arzt, und solchen, die nur den Juristen
angingen, ist nicht allgemein durchführbar. Nehmen
wir an, es sei die Willensbestimmung zunächst ein
*) Aerztl. Sachverständigen-Zeitung 1902, Nr. 18 und 19.
**) Vierteljahrsschrift f. ger. Medicin. III. Folge, Band
27, 1902, Heft 4, Seite 413.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
382 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35
juristischer Begriff, obwohl sich sehr darüber streiten
lässt, denn genau genommen ist sie ein psychologischer
oder vielmehr ein vulgärpsychologischcr Begriff, ja in
Oesterreich haben die Motive zu dem dortigen § 56
sie gerade für den Arzt reservirt, während dort nur
die Zurechnungsfähigkeit als rein juristischer Begriff
bezeichnet ist. Es würde sich nun im Fall des § 51
u. s. w. um einen Syllogismus handeln, bei dem die Con-
clusio der juristischen Begriffssphäre angehört, während
eine oder beide Prämissen der ärztlichen entstammen.
Ob nun der Jurist oder der Arzt den Schluss zieht,
der Betreffende muss dabei unabwendbar auf das
Gebiet des Anderen übergreifen. Es geht dabei zu,
wie wenn zwei Leute von verschiedener Muttersprache
sich miteinander unterhalten wollen; ohne dass min¬
destens der eine die fremde Sprache gelernt hat, ist
eine Verständigung nicht möglich. Auf unsern Fall
angewandt, fragt es sich nur, welche der beiden
Sprachen leichter zu erlernen und allgemeiner ver¬
ständlich ist, die medizinische oder die juristische.
Nun gehört cs zum Wesen der Sprache des Gesetzes,
dass sie um so besser ist, je allgemeiner sie ver¬
standen werden kann. Auch das Laienelement in der
Rechtsprechung, die Schöffen und Geschworenen, hat
ja mit den fraglichen Begriffen wie Willensbestimmung,
Zurechnungsfähigkeit u. s. w. oft genug zu lluin. Die
Begriffswelt der Psychiatrie wird aber auch bei aller
Bemühung des Gutachters um eine verständliche Aus¬
drucksweise doch immer nur dem ganz verständlich
sein, der mit den entsprechenden technischen Kennt¬
nissen ausgerüstet ist. Auf Grund dieser Verhältnisse
erscheint cs naturgemässer, dass der Arzt die Ueber-
setzung aus dem Aerztlichen in das Juristische vor¬
nimmt, als dass es der Jurist besorgt, dem ja schliess¬
lich die Erhebung der Schlussfolgerung zum rechts¬
kräftigen Urtheil doch Vorbehalten bleibt. Auf dem
Gebiet der Unfallgesetzgebung ist es längst allgemeiner
Brauch, dass der Arzt die Schlüsse seines Gutachtens
auf nichtärztliche Begriffe wie Erwerbsfähigkeit aus-
delmt.
Mit ganzem Herzen stimme ich Herrn Professor
Mendel bei, dass die „freie Willensbestimmung“ bei
der Revision des Strafgesetzbuchs geopfert werden
möge. Dass es im Ausland vielfach ohne sie geht,
lässt sich ja aus Asel taffen burgs klarer Zusammen¬
stellung bequem ersehen; in der Schweiz bestehen
freilich zur Zeit noch manche kantonalen Verschie¬
denheiten. Bedauerlich ist nur, dass die „freie Willens¬
bestimmung“ doch noch ihren Einzug in das neue
B. G. B. gehalten hat, trotzdem man vor 3 bis 3 Jahren
hinsichtlich der Beurteilung jener Verhältnisse doch
auch schon so weit war wie heute. Bis die Revi¬
sion durchgeführt ist, wird noch eine beträchtliche
Reihe von Jahren vergehen; solange haben wir uns
mit dem Begriff auf die relativ beste Art abzu¬
finden, wofür ja auch die Juristen selbst, so v. Liszt*)
mit seiner „regelmässigen Bestimmbarkeit durch Vor¬
stellungen“ entsprechende Anweisungen gegeben haben.
Dass die Psychiatrie in den letzten 40 Jahren sich
um sachverständige Einwirkung auf die Gesetzgebung
*) Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 10. A., S. 147.
eifrig bemüht hat, wird niemand bestreiten, vor allem
die Verdienste meines hochverehrten Herrn Gegners
sind ja allgemein gewürdigt. Es stellt zu hoffen, dass
die Bemühungen auch bei der bevorstehenden Revi¬
sion des Strafgesetzbuchs in durchgreifender Weise
zur Geltung kommen und nicht von vornherein durch
Bedenken, die juristischer sind als die der Juristen
selbst, eingeschränkt werden. Durch unsere Resigna¬
tion und übertriebene Vorsicht ist den Juristen nichts
gedient. Manchmal fühlt man sich versucht zu fragen,
ob die Begriffe der Rücksicht oder Bescheidenheit
der juristischen Sphäre zugänglich sind. Man sehe nur
einmal die Erörterungen des Amtsgerichtsraths Hahn*)
in Berlin an, der zur Illustration seiner Ansichten, die
in ihren Konsequenzen die Entmündigung wegen
Geistesschwäche völlig annulliren, frischweg einen durch¬
aus unmöglichen Fall von Dementia senilis construirt,
in dem die Krankheit sich in einem völligen Zurück¬
sinken auf die Stufe eines Siebenjährigen äussern soll.
Was auf der anderen Seite die Juristen gelegentlich
den Zeugen für eine Competenz beimessen, zeigt z.
B. ein Oberlandsgerichtsbeschluss aus B. vom 12. V.
1809, der die Vernehmung von 3 Landleuten als
Zeugen darüber anordnet, „dass G. K. nur deshalb
im Jahr 1877 (geistig) erkrankte, weil er mit seiner
Frau nicht auskommen konnte, indem dieselbe ihm
gegenüber unverträglich und unsolid war.“
Die Momente, die das Ansehen des Sachver¬
ständigen und seiner Wissenschaft gefährden, liegen
auf ganz anderem Gebiet; in Frankreich, wo sich der
Sachverständige Ausdrücke wie „irresponsable“ er¬
lauben darf, oder in der Schweiz, wo z. B. im Kan¬
ton Thurgau zur Kuratelverhängung wegen Geistes¬
krankheit das ärztliche Gutachten den Ausschlag giebt
und ein Prozessual verfahren, eine Verhandlung mit
dem Kranken vor dem Richter oder Waisen amt über¬
haupt nicht stattfindet, ist es darum um das Ansehen
der Psychiater gewiss nicht schlimmer bestellt als bei uns.
Vor allem bleibt für die Revision zu wünschen,
dass auch dem Begriff der „verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit“ der gebührende Platz angewiesen wird, mit
dem sich auch jiiristischeiseits sehr wohl auskommen
lässt, wie das Beispiel nicht nur der Gesetze mehrerer
Auslandsstaaten, sondern auch einer ganzen Reihe
von deutschen Strafgesetzbüchern vor 1870, bez. 1860
beweist, so von Baden (§ 153), Bayern (Art. 08),
Braunschweig ($ öo), Hannover (Art. 94), Hessen
(Alt. 114), Nassau (Art. 113), Oldenburg (Art. I 10),
Sachsen (Art. 88), Sachsen-Altenburg (Art. Ö4), Würt¬
temberg (Art. 98) und den thüringischen Landen
(Art. 50).
Wenn ich somit auch nicht alle Einwände des
Herrn Professor Mendel imbesehen zu aeceptiren in
der Lage war, freut es mich doch ausserordentlich,
aus seinen Schlussausführungen erkennen zu dürfen,
dass er den Grundanscliauungen meiner Betrachtungen
über die Berechtigung der forensischen Psychiatrie
seine Zustimmung nicht versagt hat.
*) Zur Unterscheidung zwischen Geisteskrankheit und
Geistesschwäche im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuchs, io der
Zeitschrift für Medicinalbeanrte 1900, Heft 23.
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Original fram
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 383
M i t t h e i
— VIII. Versammlung mitteldeutscher Psy-
chiater und Neurologen in Dresden, 25. und 26.
October 1901. Anwesend etwa 70 Theilnehmer. I.
Sitzung: Vors. Herr Prof. Hitzig.
1. Herr Bruns (Hannover). Ueber die Ver¬
schiedenheiten der Prognose zwischen Plexus- und
Nervenstamm-Lähmungen der oberen Extremität (ver¬
öffentlicht in No. 22 des Neurolog. Centralbl.).
Discussion:
Herr Adolf Schmidt und Herr O. Förster
führen Fälle eigener Erfahrung an, die die schlechtere
Prognose der Plexus-Lähmungen bestätigen und auch
die Möglichkeit einer Betheiligung des Rückenmarks
erweisen.
Herr Hitzig hält bei der guten Prognose der
Radialis-Drucklähmungen die relativ geschützte Lage
dieses Nerven für wichtig und erinnert auch an die
Bedeutung physiologischer Verhältnisse (lawinenartiges
Anschwellen des Reizes oberhalb der Läsionsstelle).
Herr Haenel: Auch die von .Viannag neuer¬
dings festgestellte Topographie des Querschnitts peri¬
pherer Nerven, die Lage der einzelnen Faserarten
in denselben spielt ohne Frage bei der Vcrtheilung
und der Reihenfolge der Heilung peripherer Nerven¬
lähmungen eine Rolle.
Herr Bruns: Schlusswort.
2. Herr Aschaffen bürg (Halle a. S.). Beitrag
zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrechen.
Vortr. demonstrirte an der Hand zweier Tafeln
nach einer französischen und deutschen Statistik die
eigenthümliche Vcrtheilung der Siltlichkeitsveibrechen
auf die einzelnen Monate des [ahres, wobei der Höhe¬
punkt im Juni und Juli erreicht wird. Diese Perio-
dieität ist auf allen Gebieten des Geschlechtslebens
nachweisbar, um so ausgeprägter, je weiter sich die
Bethätigung desselben vom Normalen entfernt: am
geringsten bei den ehelichen Coneeptionen, am deut¬
lichsten bei der Unzucht an Kindern. — Seit 1 1 / 2 J.
hat Vortr. sämmtliche in das Strafgefängnis zu Halle a.S.
eingelieferten Sittlichkeitsverbrcchcr einer psychiatrischen
Beobachtung unterworfen. Es waren das 95; für ganz
gesund hielt er von diesen nur 20; von den wegen
Unzucht und Nothzucht Verurtheilten 80 waren 20,
denen Vortr. den Schutz des | 57 zugebilligt hätte,
und 18 , bei denen die Zurechnungsfähigkeit einge¬
schränkt erschien. Die einzelnen in Betracht k< mimenden
Geistesstörungen waren, in der Reihenfolge ihrer Häufig¬
keit: Imbeeillität (37), Epilepsie (8), senile Demenz
(8), Neurasthenie (.3), Dementia praecox (1), Ilvsterie
(1}, Gefangenenwahnsinn (1); in einem Falle erfolgte
ferner 8 Tage nach der Einlieferung Suicid, ohne
dass der Gefangene irgendwie auffällig gewesen wäre.
Von den Senilen, die ihre Unzuchthandlungen sämtlich
an Kindern begangen hatten, standen 7 im Durch¬
schnittsalter von 71 Jahren; alle waren zum 1. Male
bestraft. Bei Keinem war die geistige Gesundheit
angezweifelt worden. — Einige der Verurtheilten hatten
überhaupt nie normalen Geschlechtsverkehr gehabt.
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1 u n g e n.
Die grosse Zahl der psychisch Abnormen zeigt, wie
nothwendig es ist, in allen Fällen von Sittlichkeits-
Verbrechen eine psychiatrische Begutachtung zu ver¬
anlassen; in den vorliegenden Fällen war dies nur
zweimal mit dem Erfolge der Exculpirung geschehen.
Eine mildere, d. h. kürzere Strafe ist bei all den wegen
Schwachsinns, Epilepsie, Hysterie etc. Minderwerthigen
im Interesse der allgemeinen Sicherheit nicht angebracht.
D iscussion:
Herr Moeli vermisst die Erwähnung der Exhi¬
bitionisten; bei diesen mag oft als Motiv die Erregung
des Schamgefühls bei der angegriffenen Person als
sexuelles Moment wirksam sein.
Herr Ganser findet, dass die Mehrzahl der ex-
hibitionistischen Handlungen entweder im Alkohol¬
rausch oder von Epileptikern begangen werden.
Herr Hitzig fragt nach dem Grunde der auf¬
fallenden Uebereinstimmung der Curven aus der
deutschen und französischen Statistik.
Herr Aschaffenburg: Die Jahrestemperatur ist
an den Schwankungen der Geschlechtsthätigkcit allein
gewiss nicht schuld. Die Exhibitionisten sind durch
ein Versehen nicht mit in die Statistik aufgenommen;
in Heidelberg waren es meist Epileptiker. — Ueber
die Motive zu ihren unsittlichen Handlungen konnten
die wenigsten der Gefangenen klare Auskunft geben.
3. Herr Förster (Breslau): Die Grundlagen der
methodischen Uebungstherapie von Bewegungsstö¬
rungen.
Vortr. giebt einen Auszug aus seinem jüngst er¬
schienenen Buche, der sich zum kurzen Referat nicht
eignet. Er vertritt die Sensibilitäts-Theorie der Aaxie,
nimmt aber 3 über einander gelagerte Coordinations-
Systeme, das spinale, cerebellare und cerebrale an,
aus deren verschiedener Betheiligung an den Läsionen
die einzelnen Arten der Coordinationsstörung ent¬
wickelt werden.
Discussion:
Herr B insw a nger hält es nic ht für ausgeschlossen,
dass die Analysen des Vortr. auch auf functionelle
Störungen anwendbar sind (hysterische Lähmungen).
4. Herr Beim ecke (Dresden): Aus meiner psy¬
chiatrischen Thätigkeit am Dresdner Garnisonlazareth.
Von den der Aufsicht des Vortr. unterstellten
Kranken waren der Zahl nach Schwachsinn, psycho¬
pathische, namentlich Angstzustande auf degenerativer
Basis und epileptische Geistesstörung am zahlreichsten.
Alcoholismus war, besonders auch unter den Unter-
officiren, selten. — Vortr. giebt dann ausführlich die
Krankengeschichte dreier Leute mit Wandertrieb
(Poriamanie) wieder ; zwei von denselben waren erblich
belastet, bei keinem bestand echte Epilepsie mit Krampf¬
anfällen. Allen gemeinsam war die erhaltene Erin¬
nerung, die sich zum Tlieil auf die kleinsten Einzel¬
heiten während ihres Wanderzustandes erstreckte, das
nur im Zustande grösster Ermüdung für kurze Zeit
unterbrochene Umherschweifen, das Unbezwingliche
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HARVARD UNIVERSiTY
384 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35.
und völlig Dominirende des Wandertriebes, das keine
vernünftige Ueberlegung aufkommen Hess.
Di scussion:
Herr Ilberg begrüsst die Einrichtung der psy¬
chiatrischen Beobachtungsstation am Garnisonlazareth
als einen Fortschritt. Der Alcoholismus, wenn auch
unter den Mannschaften selten, spielt im Officiercorps
leider noch eine recht erhebliche Rolle. Fälle von
Dementia praecox, die während, wenn auch nicht in¬
folge der Dienstzeit zum Ausbruche kamen, hat er
ziemlich häufig gesehen.
Herr Bruns fragt nach der Verbreitung der
Hysterie, besonders der traumatischen in der Armee.
Herr Bennecke: Hysterie ist im Heere verhält-
nissmässig häufig; eine Anhäufung von psychopathischen
Elementen in den Festungsgefängnissen, wie sie Herr
Ilberg fürchtet, dürfte bei dem heutigen Betrieb kaum
mehr Vorkommen.
II. Sitzung. Vorsitz: Herr Prof. Binswanger.
5. Herr Haenel (Dresden): Gedanken zur Neu¬
ronfrage.
Vortr. giebt eine Gegenüberstellung der That-
sachen, die in alter und neuester Zeit für und gegen
die Neuronentheorie angeführt worden sind. Für die¬
selbe spricht das anatomische Bild im Go lg i-Prä¬
parat, die H i s’sche Darstellung der Embryogenese der
Nervenfaser, viele Thatsachen der Pathologie, bes.
die secundäre Degeneration; gegen dieselbe sprechen
die continuirlichen Neurofibrillen, die alten und neuen
Beobachtungen einer multicellulären Entstehung des
Axencylinders, alle transneuralen trophischen Störungen,
manche Beobachtungen an Missgeburten. Die Phy¬
siologie hat sowohl mit der Neuronen- als mit der
Fibrillenlehre Schwierigkeiten; dieselben werden wie
die anderen erleichtert, wenn man statt der anato¬
mischen eine functionirende Einheit annimmt unter
der Hinzufügung, dass die anatomische Integrität an
das Vorhandensein der physiologischen Reize ge¬
bunden ist. Das „Neuron“ hätte man sich dann als
ein Organ vorzustellen, dessen Einheitlichkeit erst mit
und nach Massgabe der Funktion entstanden, nicht
von vorn herein gegeben wäre. Der Streit um die
Frage nach der functionellen Allein- oder Oberherrschaft
der Zelle oder der Fibrillen u. s. w. würde bis zu
einem gewissen Grade hinfällig: Fibrille mit Pigroid
wird natürlich andere Eigenschaften aufweisen als
Fibrille mit Interfibrillärsubstanz oder Fibrille mit
Fibrille. — Wir können sagen: Der Begriff des Neuron
als einer anatomischen, embryologischen, pathologischen
und trophischen Cellulär-Einheit ist heute nicht mehr
aufrecht zu erhalten. Setzt man an seine Stelle die
Einheit nach Art eines Organs, so entspricht
diese Vorstellung den heutigen histologischen und ent¬
wicklungsgeschichtlichen Anschauungen, erklärt die
Thatsachen der Pathologie ebenso gut und lässt die
physiologischen Verhältnisse verständlicher erscheinen.
Vortr. schlägt deshalb für das morphologische und
physiologische Bauelement des Nervensystems den
Namen eines Ergon vor.
Discussion:
Herr Binswanger hält die Vorstellung einer
Organeinheit für werthvoll zur Erklärung mancher
pathologisch anatomischer Eigentümlichkeiten; beson¬
ders denkt er dabei an die „Partialschädigungen“
der Zelle bei Paralyse. Er glaubt übrigens, dass eine
ähnliche Anschauung wie die des Vortr. schon vor
Jahren einmal von Merkel ausgesprochen wurde.
Herr Hoppe: Schon Henscn vertrat gegen IIis
die multicelluläre Entstehung des Axencylinders.
Herr Haenel (Schlusswort).
6. Herr Böhmig (Dresden). Hysterische Un¬
fallserkrankungen bei Telephonistinnen.
Vortr. hat eine Anzahl Telephonistinnen behandelt,
die durch einen Blitzschlag in die Leitung oder durch
einen starken Inductionsschlag getroffen worden waren.
Einzelne Fälle waren deshalb interessant, weil die
Verletzten sehr bald — nach 3 — 70 Stunden — zur
Untersuchung kamen und sofort das Bild der Unfalls¬
neurose boten, andere deshalb, weil sie schon vorher
wegen anderer Störungen in Behandlung des Vortr.
standen und so constatirt werden konnte, dass kein
Symptom der späteren Neurose schon bestanden
hatte. Die Form und Schwere der Fälle war sehr
verschieden; organische Veränderungen traten trotz
jahrelangen Bestehens nie ein.
Discussion:
Herr Bruns hat unter den Symptomen der Blitz¬
schlag-Neurosen ausser hysterischen auch organische
beobachtet, so z. B. einmal eine ausgesprochene ein¬
seitige Trigeminus-Neuralgie mit trophischen Stö¬
rungen (Ausfall der Zähne etc.).
Herr Binswanger weist auf die Seltenheit der¬
artiger Fälle in der Litteratur hin; er hat bei seinen
Fällen mehrfach grobe Simulation entdeckt.
Herr Hitzig findet einen Unterschied zwischen
gewöhnlichem Blitzschläge und Telephontrauma darin,
dass bei letzterem die Betroffenen gelegentlich völlig
unvermuthet von einem entfernten Gewitter her den
Schlag erhalten, ein vorangehender, ungünstig wir¬
kender Angstaffect also ausgeschlossen ist. Die Prog¬
nose war in seinen Fällen im Gegensatz zu denen
des Vortr. meist schlecht.
Herr Böhmig hat auch solche Fälle wie Herr
Hitzig beobachtet, wo die Dresdner Telephonistin
z. B. von einem in Chemnitz niedergehenden Gewitter
verletzt wurde; da die Mädchen den Hörer am Kopfe
befestigt tragen, sind sie unter Umständen auch dem
ausgesetzt, dass sie mehrere Schläge rasch hinter ein¬
ander erhalten, ohne dass sie ausweichen können.
7. Herr Strohmaver (Jena). Uebcr die Be¬
ziehungen zwischen Epilepsie und Migräne.
In Anbetracht des Umstandes, dass es eine symp¬
tomatische Migräne bei Epilepsie giebt, soll man sich
hüten, ohne weiteres von Ucbergängcn zwischen beiden
Krankheiten zu sprechen; trotz ihrer Aehnlichkeit in
manchen Punkten trennt sie doch entscheidend der
Umstand, dass die Migräne auch nach jahrelangem
Bestehen und trotz grösster Intensität nie in Schwachsinn
übergeht. Beide, Migräne und Epilepsie kommen ge¬
legentlich als gleichwerthige Erkrankungen bei ein-
und demselben Individuum vor, doch hat sich kein
einwandfreier Fall finden lassen, der als echter Ueber-
gang der einen in die andere anzusprechen gewesen
wäre. Wo ein solcher vorzuliegen schien, war die
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1002.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 38.5
Migräne entweder nur ein Symptom der epileptischen
Grunderkrankung, oder diese trat als etwas Neues
zur Migräne hinzu. Bei der Mitigation der Epilepsie
zur Migräne wird das Verhältnis in der Regel so
sein, dass die Epilepsie als solche weiter besteht und
nur Migränetypus angenommen hat. Gelegentlich ist
überhaupt die Entscheidung, ob Migräne oder Epi¬
lepsie vorliegt, nicht sicher zu fällen.
8. Herr Pierson (Lindenhof). Ucber Entmün¬
digung wegen Geistesschwäche.
Ein Pat. war 1804 wegen Geisteskrankheit nach
den Bestimmungen des B. G. B. für Sachsen ent¬
mündigt worden; er beantragte 1901 die Umwand¬
lung in eine Entmündigung wegen Geistesschwäche,
da er sich zu verheirathen wünschte. Das gerichtsärzt¬
liche, sowie das (.Ibergutachten des Landes-Medicinal-
Collegiums sprach sich gegen diesen Antrag aus, wo¬
rauf das Gericht beschloss, eine juristische Autorität
an der Landes-Universität um ihr Gutachten zu er¬
suchen. Der betreffende Jurist sprach sich in dem
in extenso verlesenen Gutachten für die Umwandlung
der Entmündigung in eine solche wegen Geistes¬
schwäche aus, mit der Begründung, dass dadurch
dem Kranken nur die Geschäftsfähigkeit eines Kindes
von 7 Jahren zugesprochen wurde, die er im wesent¬
lichen auch schon vorher besessen hatte. Das Ge¬
richt beschloss auch demgemäss. Vortr. spricht als
seine persönliche Ansicht aus, dass auch er im vor¬
liegenden wie in ähnlichen Fällen die Gewährung
dieser immerhin sehr beschränkten Geschäftsfähigkeit
für unbedenklich halte, dieselbe sei meist genügend,
um zu verhindern, dass die Patienten sich und andere
geschäftlich schädigten.
Discussion:
Herr Weber bedauert als Referent des Landes*
Medicinal-Collegiums, dass nach dem juristischen nicht
der psychiatrisc he Gutachter noch einmal gehört werde.
Missverständnisse hätten dadurch vermieden werden
können.
Herr Pierson: (Schlusswort!
(). Herr Ganser (Dresden). Zur Lehre vom
hysterischen Dämmerzustände.
Der Symptomencomplex, den Vortr. zuerst 1897
beschrieben hat, ist in seiner Eigenart und forensischen
Bedeutung seither allseitig anerkannt worden. Vortr.
beschreibt an der Hand eines skizzirten Krankheits¬
falles die wichtigsten Symptome, besonders das der
„unsinnigen Antworten* 4 und der Bewusstseinsstörung,
die nicht in einer Einengung, sondern in einer Trübung
mit nachfolgender Amnesie besteht, sowie die körper¬
lichen Begleiterscheinungen (Sensibilitätsstörungen,
Stigmata, Stirn-Kopfschmerz). — Vortr. wendet sich
sodann gegen die Anschauungen Nissl's, wonach der
Symptomencomplex nichts als eine besondere Form
des katatonischen Negativismus sei und der in jedem
Fall den Nachweis des hysterischen Characters im
Sinne Kracpelins fordert. Auch Vortr. hat Fälle
von Katatonie beobachtet, bei denen vorübergehend
das beschriebene Symptom auftrat; er deutet sie als
Fälle von Katatonie bei Personen mit hyster. Anlage
resp. katatonischer Erkrankung bei entwickelter Hy¬
sterie.
10. Herr Seifert (Dresden). Ueber einen Fall
von Unfallhysterie mit cutaner und sensorischer Anä¬
sthesie.
Demonstration eines Kranken, der vor 10 Jahren
eine Gehirnerschütterung erlitten hatte und im An¬
schluss daran hysterisch wurde. 2 Monate nach dem
Unfall erwachte er aus einem 2 tägigen Dämmerzu¬
stände mit einer completten sensiblen und sensor.
l.-seitigen Hemianästhesie, die bis heute unverändert
besteht, zeitweise noch von anderen hysterischen
Symptomen (Mutismus, Blutbrechen, doppelseitiger
Taubheit) begleitet war. Links besteht auch Verlust
der Lage- und Bewegungsempfindung. Während er
bei offenen Augen mit beiden Händen ungestört alle
Bewegungen ausführt, hört 1 . sofort jede Bewegung
auf, sobald man ihm das r. nicht amauroischc Auge
verschliesst. Ebenso hört er bei Verschluss des r.
Ohres mitten im Satze zu reden auf. Nach Verschluss
von Auge und Ohr sinkt Pat. nach wenigen Secunden
um und verfällt in einen schlafähnlichen Zustand. —
Vortr. bezeichnet das ganze als eine Erkrankung des
Bewusstseins und entwickelt hieraus die Genese der
einzelnen Symptome.
11. Herr Stegmann (Dresden): Ueber Suggestiv¬
behandlung von Trinkern.
Vortr. hat seit 1899 im Ganzen 28 Trinker in
Behandlung mit hypnotischer Suggestion genommen.
5 davon entzogen sich in der ersten Woche der Be¬
handlung, 7 verfielen nachträglich wieder dem Trünke,
iö sind z Zt. noch völlig enthaltsam, eine Anzahl
von den letzteren erlitt allerdings in der Zwischenzeit
Rückfälle; 9 leben z. T. seit über 2 Jahren völlig
enthaltsam. Die in das Stadtirrenhaus aufgenommenen
Kranken wurden zunächst in der Anstalt einige Wochen,
z. T. mehrere Monate lang intensiv mit Wach- und
Schlafsuggeslion behandelt, nach der Entlassung noch
längere Zeit regelmässig in die Anstalt bestellt. Es
wurde verlangt und meist auch erreicht, dass die
Kranken sich in den Guttemplerorden aufnehmen
liessen. - - Schwere psychische Degeneration trübt
die Prognose, dagegen schliesst lange Dauer des Al-
koholisrnus die Heilung nicht aus, macht nur längeren
Anstaltsaufenthalt erforderlich.
II. H aen el-Dresden.
— Bericht über die 70. ordentliche General¬
versammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am Samstag den 15. November 1902
in Bonn.
1. Geschäftliche Mittheilungen.
Nach einer Zeitungsnotiz hatte der Bundesrath der
Resolution des Reichstags zugestimmt, nach welcher die
verbündeten Regierungen ersucht werden, baldigst einen
Gesetz e ntw u rf vorzulegen, welcher die Grundsätze
feststellt, wodurch die Aufenthaltsverhältnisse und die
Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten sowie
die Entlassung aus denselben reichsgesetzlich ge¬
regelt werden. Deshalb hatte Schul tze in der
vorigen Sitzung am 7. Juni 1902 angeregt, der Verein
möge zu den hierbei zu berücksichtigenden Gesichts¬
punkten Stellungnehmen, sowie ein Referatübernommen.
Da er aber inzwischen von zuständiger Seite erfahren
hatte, dass in der nächsten Zeit sich der Reichstag
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386
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35.
mit dieser Frage noch nicht beschäftigen werde, hatte
er von der Erstattung eines Referats abgesehen.
Er begründete aber kurz einen von den Anwesenden
angenommenen Antrag, der dahin geht, dass der
Psychiatrische Verein der Rheinprovinz den Verein
der deutschen Irrenärzte bittet, zu gegebener Zeit
vorstellig zu werden, dass letzterem der eventuelle
Entwurf eines Irrengesetzes zur Kenntnissnahme vor¬
gelegt werden möge.
Thomsen sprach hierauf zu dem bekannten
J ustizmin ist er ial-Erlass vom I. X. Formal sei
er ja aus dem Kreisarztgesetz und der Civilprozess-
ordnungzu erklären. Indess dürften die lang dauernde
psychiatrische Thätigkeit des Anstaltsarztes, seine ein¬
gehende Bekanntschaft mit dem zu Entmündigenden
und die Wichtigkeit der bei der Entmündigung zu
lösenden Fragen „besondere Umstände“ sein, welche
die Zuziehung der Anstaltsärzte nach wie vor recht¬
fertigten. Die Verordnung sehe er, rein sachlich be¬
trachtet, als eine Verschlechterung des Verfahrens an
vom Standpunkte der Kranken und der Anstaltsürztc.
Es fehle dem Kreizarzt vielfach die nothwendige Sach¬
kenntnis, die praktische Erfahrung und vor allem
die anhaltende, continuierliche Beobachtung des zu
Entmündigenden. Mancher Anstaltsarzt werde nur
die Person des zu Entmündigenden zur Verfügung
stellen, und dann könnte das Gutachten nur zu leicht
unvollkommen werden ; und wenn dann nach Ablehnung
der Entmündigung die Entlassung des Kranken erfolgen
müsse, so sei damit dessen Interessen wenig gedient.
Die neue Verordnung sei in den Augen des Publikums
thatsüchlich ein Misstrauensvotum gegen die Irrenärzte,
und so werde indirect das Misstrauen gegen diese
weiter gefördert. Er schlage daher vor, die Ange¬
legenheit dem Verein deutscher Irrenärzte zur even¬
tuellen weiteren Veranlassung zu unterbreiten.
Ungar wies demgegenüber darauf hin, dass die
frühere Verfügung von 1800 ein Misstrauensvotum
gegen die Mcdicinal - Beamten und von diesen
schwerstens empfunden sei; sie omtrastire mit der
Processordnung. Eine einfache Aufhebung dieser An¬
ordnung von 99 würde sich vielleicht mehr empfohlen
haben.
Es gebe ja sicher Medicinalbeamte, die nicht die
genügende Sachkenntnis hätten; aber auch manche
Anstaltsärzte seien nicht zuverlässig. In Strafsachen
überlasse man dem beamteten Arzte die Begutachtung,
ebenso bei der Aufnahme in Privatirrenanstalten;
warum nicht auch hier, wo die Sachlage oft einfacher
und eine längere Beobachtung möglich sei? Even¬
tuell könne eine längere Ausbildung in einer Irren¬
anstalt als nothwendige Vorbildung vom Kreisärzte
verlangt werden.
Die Gerichtsärzte hätten zudem grade auf diesem
Gebiete eine erhöhte Thätigkeit, und ihre Zahl werde
noch vermehrt.
Die Anstaltsärzte der Privatirrenanstalten könnten
in Entmündigungssachen nicht immer eineft so ob-
jectiven Standpunkt einnehmen, wie es oft nothwendig
sei; es müsse eine Voreingenommenheit bestehen,
schon mit Rücksicht auf den Zwang der Entlassung
nach Ablehnung oder Aufhebung der Entmündigung;
und das Publikum verlange einen neutralen, unpartei¬
ischen Begutachter.
Bei den öffentlichen Anstalten lägen die Verhält¬
nisse meist anders.
Um das von der Anstalt gesammelte Material
verwerthen zu können, könne der Kreisarzt durch
den Richter das Krankenjournal einfordern oder die
Vernehmung des Anstaltsarztcs beantragen.
Oebeke weist darauf hin, dass die Krankenge¬
schichte manches enthalte, was unbedingt geheim ge¬
halten werden müsse. Der Justizminister könne jetzt
nichts mehr machen, und er habe auch kaum anders
handeln können; er habe auch einen etwaigen Vor¬
schlag, die Directoren der öffentlichen Anstalten als
Gutachter neben den Kreisärzten zuzulassen, aus rein
juristischen Gründen ablehnen müssen. Wir hätten
uns früher bei der Berathung über das Kreisarztgesetz
wehren sollen! Aber Keiner, auch das Justizmini¬
sterium selber, hätte dessen weittragende Bedeutung
zu überschauen vermoc ht, und ohne die Anregung des
Preussischcn Mcdicinal-Beamten-'Vereins wäre es wohl
beim alten geblieben. Auch er schlage vor, die An¬
gelegenheit vertrauensvoll dem Verein deutscher Irren¬
ärzte zu übergeben, wenngleich es sich hierbei nur
um Preussische Verhältnisse handele.
Die Versammlung stimmt dem Anträge Thomsen’s
bei und übergiebt die Angelegenheit dem Verein
deutsc her Irrenärzte.
2. Vorträge:
a) Brosius-Sayn: Die Psychosen der Juden.
Vortragender giebt eine kurze Uebcrsicht über die
einschlägige, nicht umfangreiche Litteratur, begründet
die Berechtigung, über das Thema zu schreiben und
die Psychosen der Juden einer gesonderten Betrachtung
zu unterziehen-, und hebt hervor, dass die Juden
mehr erkranken als die Christen, dass das männliche
Geschlecht überwiegt, und dass die Prognose der
Geistesstörungen bei den Juden sehr ungünstig sei;
in erster Linie handelt es sich bei ihnen um Paranoia,
dann kommt progressive Paralyse.
b) Sauermann - Bonn: Zur Prognose und The¬
rapie der Trunksucht (erscheint in extenso in dieser
Zeitschrift).
c) Sc h u 1 1ze - An d erna ch : Casuistischer Beitrag
zur Lehre der Augenmuskellähmung.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 387
Der 45 jährige, bisher ganz gesunde Arbeiter erlitt
einen Bruch des rechten Scheitelbeins; darnach einen
Tag bewusstlos mit starkem Erbrechen und erheblicher
Verengerung der linken Pupille. Bald darauf Lähmung
der inneren Augenmuskeln linkerseits; Klagen über
Kopfschmerz, Schwindel, Gedächtnissschwüche, In¬
toleranz gegen Alkohol, Charakterveränderung und
Schlaflosigkeit. Die Begutachtung in der Bonner
Anstalt betonte seine volle Erwerbsunfähigkeit, die
auf den Unfall zurückzuführen sei. Einige Zeit später
zunehmend stumpfer, theilnahmsloser; wegen Gemein¬
gefährlichkeit einer Irrenanstalt überwiesen; hier lallende
Sprache; Aufhebung der Reflexe; Tod 3 1 / 2 Jahre
nach dem Unfall. Keine Section.
Sch. bespricht kurz die Lehre von der Ophthal-
moplegia interna mit besonderer Berücksichtigung der
Localisation der Affection und deren Aetiologie und
führt das Leiden in diesem Falle auf das Trauma
zurück.
d) Thomsen-Bonn:
«) Ueber Salzentziehungskuren.
Toulouse und Richet empfahlen 189p gegen Epi¬
lepsie möglichst salzarme Kost mit gleichzeitiger Brom¬
darreichung.
Vortragender sah gute Erfolge in einem Falle
von Epilepsie, soweit sich das heute, 6 Wochen nach
Beginn der Kur, sagen lässt.
Rathsam erschien ihm ein Versuch der Methode
bei anderen Neurosen, gegen die ebenfalls Brom
angewandt wird. Er wendete es an bei drei Hyste¬
rischen, war aber mit dem Erfolg wenig zufrieden;
einmal traten schwere hysterische Delirien auf, die
völlig dem delirium tremens glichen. In allen Fällen
setzte hier innerhalb drei Wochen, wiewohl die tägliche
Bromdosis nur 4 gr. betrug, eine erhebliche Brom¬
vergiftung ein (Benommenheit, Schlafsucht, taumelnder
Gang, lallende Sprache, Gedächtnisschwäche).
Das Brom habe so intensiv, ja verblüffend gewirkt,
und die Durchführung der Diät sei trotz der lang¬
weiligen und indifferenten Nahrung so gut möglich,
dass er rathen möchte, die Methode nicht ohne weiteres
aufzugeben, sondern weitere Versuche mit Vorsicht
anzustellen.
Steiner-Köln konnte ähnliches bei einem Post¬
beamten beobachten, der früher ungestraft jahrelang
10 gr. Brom nehmen durfte; jetzt wurde er bei einer
Dosis von 6 gr. pro die 6—7 Wochen nach Ein¬
leitung der Kur schwach, hinfällig, konnte nicht denken,
nicht schreiben, so dass zur alten Diät wieder gegriffen
werden musste.
Zacher-A h rwei ler sah gute Erfolge bei 3
Fällen von Epilepsie; in allen nahm die Zahl der
Anfälle ab.
ß) Zur circulären Psychose.
Unter Vorzeigung sehr instructiver Curvcn hebt
Th. hervor, dass beim manisch-depressiven Irresein
die einzelnen Anfälle recht lange, ö, 8 Jahre dauern
können; innerhalb eines solchen Anfalles sei dann
die Diagnose recht schwer zu stellen.
In anderen Fällen sah Th. die Anfälle, die bisher
sich fast gesetzmässig wiederholt hatten, Jahre lang
ausbleiben.
Pelman empfiehlt aus eigener Erfahrung die
Anlegung von Curven bei manisch-depressiven Psy¬
chosen und berichtet über einen von ihm während
4 Jahren beobachteten Kranken, der jeden Tag regel¬
mässig mit seiner Manie und Depression wechselte.
Ernst Schultze.
Berichtigung.
Die Redaktion der Psychiatrisch-Neurologischen
Wochenschrift ersuche ich um gefällige Aufnahme
nachstehender Berichtigung zu dem letzten Passus
des in Nr. 33 unter Mittheilungen gebrachten Artikels
„Aus Ostpreussen“.
Das Frauenhaus der Anstalt für katholische Epi¬
leptische in Wormditt, welche den Namen „Heilstätte
St. Andreasberg“ erhalten hat, ist nicht erst in An¬
griff genommen, sondern bereits am 14. April d. J.
mit 63 Kranken belegt worden*)- Von einer Ab¬
sicht, im Frauenhause auch Männer unterzubringen,
ist hierorts nichts bekannt. Die Ueberführung der
männlichen Epileptischen katholischer Konfession aus
Karlshof nach Wormditt und die Neuaufnahme männ¬
licher Kranker in die hiesige Heilstätte wird erst nach
Fertigstellung des Männerhauses erfolgen, mit dessen
Bau im nächsten Frühjahr begonnen werden wird.
Zu dem Schlussartikel „Aus Ostpreusen“ in Nr. 34
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift bitte
ich Sie, folgende Berichtigung aufzunehmen.
Herr Hoppe befindet sich im Irrthum, wenn er
behauptet, ich hätte mir den „erforderlichen Befähig¬
ungsnachweis“ für die ärztliche Leitung der hiesigen
Anstalt für Epileptische durch einen vierteljährigen
Studienaufenthalt in Kortau erworben. Wie schon
mein früherer Chef, Herr Direktor Alt, berichtigend
hervorgehoben hat, bin ich etwa 1 1 / 2 Jahre in Ucht-
springe als Arzt thätig gewesen. Ausserdem habe ich
mich noch vor Uebernahme der ärztlichen Leitung
der hiesigen Anstalt die ersten 3 Monate d. J. in
Kortau als Volontärarzt aufgehalten, wo mir mit Rück¬
sicht auf meine in Uchtspringe erhaltene Ausbildung
die selbständige Führung einer grösseren Abtheilung
anvertraut war. Der Gewährsmann des Herrn Hoppe
scheint doch hiernach kein besonderes Anrecht auf
Vertrauen beanspruchen zu dürfen.
Hochachtungsvoll und ergebenst
Dr. H a n k e 1 n ,
leitender Arzt der Heilstätte St. Andreasberg.
— Satzungen des Vereines bayerischer Psychiater.
(Nach den Beschlüssen vom 28. Juli 1902.)
§ r -
Der „Verein bayerischer Psychiater“ bezweckt die
Pflege und Förderung der theoretischen und practischen
Psychiatric mit besonderer Berücksichtigung der öffent¬
lichen Fürsorge für psychisch Kranke. Er hat seinen
Sitz in München.
S 2.
Zur Erreichung dieses Zweckes dienen vorzugs¬
weise jährliche Zusammenkünfte an einem von der
vorhergehenden Versammlung zu wählenden Ort und
Termin.
*) Bern. ( 1 . Red.: die Mitth. in Nr. 33 „Ans Ostpreussen“
ist schon in den ersten Monaten dieses Jahres an die Red. ein-
gesamlt worden.
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388 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35.
Stimmberechtigt bei den Versammlungen sind die
anwesenden Mitglieder.
Nichtmitgliedcr sind als Thcilnclimcr oder spcdcll
geladene Gäste zulässig, aber nicht stimmberechtigt.
§ 3 -
Mitglied des Vereins kann jeder in Bayern wohnende
approbirte Arzt werden, der sieh berufsmässig mit
Psychiatrie beschäftigt und sich bei dem Vorstände
zum Beitritt anmeldet.
Als Ablehnungs- und Aussehliessungsgründe gelten
lediglich die durch allerhöchste Verordnung für die
ärztlichen Bezirksvercine normirten.
§ 4 *
Die Mitglieder sind verpflichtet, die Zwecke des
Vereines durch Leistung und Anregung wissenschaft¬
licher Arbeiten und Uebernahme von Referaten zu
fördern und einen von der Versammlung festzusetzenden
Jahresbeitrag zu leisten.
§ 5 .
Die Mitgliedschaft erlischt durch schriftlich er¬
klärten Austritt, beim Wegzug aus dem Vereinsgebiet,
bei Verweigerung der Beitragsleistung und durch
Ausschliessung gemäss § 3, Abs. 2.
§ 6 .
Zur Besorgung der Geschäfte wird alljährlich in
der ersten Versammlung ein Vorsitzender, ein Schrift¬
führer und für jeden ein Stellvertreter gewählt
Der Vorsitzende verwahrt die Vereinsacten; er
bereitet die Versammlungen vor, leitet sie nach der
von ihm festgesetzten Tagesordnung und vollzieht die
Aufnahme der Mitglieder.
Der Schriftführer besorgt die Korrespondenz und
das Rechnungswesen, hält die Mitgliederliste evident
und führt das Protokoll bei den Versammlungen.
S 7 -
Bei der Jahresversammlung wird aus den an¬
wesenden Mitgliedern zur sofortigen Prüfung der
Rechnung ein Revisor gewählt und von der Vorstand¬
schaft ein weiterer Schriftführer zur Beihilfe bei der
Aufnahme des Sitzungsprotokolls kooptirt.
Die Vortragenden und die bei der Diskussion Be¬
teiligten haben den Schriftführern alsbald ein kurzes
Resume ihrer Aeusserungen mitzutheilen.
§ 8 -
Das von den Schriftführern festgestellte, von dem
Vorsitzenden genehmigte officielle Versammlungs¬
protokoll wird in der „Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie“ veröffentlicht.
Vorsitzender und Schriftführer haben zu jeder
Versammlung die Einladung "zwei Monate vorher und
das Programm vierzehn Tage vorher an die Mitglieder
zu versenden und in der ,,Psychiatrisch-neurologischen
Wochenschrift“ und in der „Münchener Medicinischen
Wochenschrift zu veröffentlichen.
§ 9 *
Abänderungen der Satzungen müssen mindestens
vier Wochen vor Zusammenkunft der Versammlung
schriftlich beantragt, durch das Programm den Mit¬
gliedern bekannt gegeben und können nur von drei
Vierteilen der anwesenden Mitglieder beschlossen werden.
§ 10.
Die Auflösung des Vereines erfolgt, wenn drei
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Vierteile der Vereinsmitglieder ihr schriftliches Votum
hieftir abgegeben haben.
Der vorhandene Kassa-Activ-Rest fällt alsdann an
den Verein deutscher Irrenärzte.
— Zum Reichsirrengesetz. Die Königl.
Württcmbcrgische Regierung hat erklärt, dass sic gegen
die Erlassung eines Reichsirrengesetzes nichts cinzu-
wenden habe, im Gcgentheil die Erlassung eines
solchen b e f ii r w o r t e , wenn es auch wahrscheinlich
gr< >ssc Schwierigkeiten bieten werde. Auch in Preussen
geht man jetzt in mediasres; die preussischeii Minister
des Innern, der Justiz und der Medicin haben die
Behörden veranlasst, sich über die Nothwendigkeit
eines Irrengesetzes zu äussern und bejahenden Falles
geeignetes Material beizubringen. Es wird mit dieser
Maassnahme der Weg betreten, den der Verein deut¬
scher Irrenärzte schon vorher, im April 1902, durch
Gründung einer statistischen Kommission, damit Ma¬
terial auch für strafrechtliche Fragen suchend, einge¬
schlagen hat. Es ist bemerkenswert!!, dass die Kgl. Würt-
temb. Regierung ohne solche voraufgegangene Sammlung
von Material, also offenbar prinzipiell, ein Reichsirren¬
gesetz befürwortet; es ist um so bemerkenswerther,
als der Württcmbergischc Staat das öffentliche Irren¬
wesen in eigener, einheitlicher Verwaltung („Königliche“
Heil-und Pflegeanstalten) und, wie die jährlichen Berichte
des Kgl. Württemberg. Landes - Medicinaleollegiums
„über die im Kgr. Württemberg bestehenden Staats¬
und Privatanstalten für Geisteskranke, Schwachsinnige
und Epileptische“ zeigen, aufs zweckmäßigste und
übersichtlichste geordnet hat, wenn leider auch dort
man sich von Benützung privater oder genossenschaft¬
licher Anstalten zur Erfüllung der Aufgaben der staat¬
lichen Irrenfürsorge bisher noch nicht ganz losmachen
konnte.
Ob ein Reichsirrengesetz zu Stande kommt, wird
von der Stellung abhängen, welche die einzelnen Re¬
gierungen im Bundesrath dazu einnehmen. I11 letz¬
terem werden nun auch die Stimmen gezählt, nicht
gewogen, aber es ist klar, dass bei einer Reform des
Irrenwesens die Ansicht derjenigen Regierungen ganz
besonders maassgebend ist, welche seit Alters die
öffentliche Irrenfürsorge in ihrem eigenen, also in
direktem Ressort führen und daher deren Bedürf¬
nisse nicht aus den hauptsächlich statistischen Berichten
von Selbstverwaltungen mittelbar staatlichen Charakters,
sondern unmittelbar kennen gelernt haben, wie
z. B. Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen etc.
Es besteht kein Zweifel, dass das Material, wel¬
ches man in Preussen sammelt, nicht nur nicht gegen
die Nothwendigkeit des Reichsirrengesetzes sprechen,
sondern dasselbe speciell für das nicht einheitlich ge¬
regelte preussisehe Irrenwesen als besonders dringlich
erweisen wird.
Auf Eins sei hier aufmerksam gemacht; es scheint,
als wollte man wirklich die gesetzliche Regelung des
Irrenwesens nur auf die Aufnahme-, Aufenthalts- und
Entlassungsverhältnisse Geisteskranker in und aus An¬
stalten ausdehnen. Das wäre zu wenig. Eine an¬
nähernde Uebersieht über das, was weiter in ein
Reichsfürsorgegesetz für Gehirnkranke gehört, gewährt
eine alle Anerkennung verdienende, kürzlich ergangene
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 389
Verfügung des Regierungspräsidenten in Lüneburg
über die Ueberwachung von Geisteskranken, die sich
nicht in Irrenanstalten befinden, — welche die fol¬
genden Bestimmungen enthält:
„1. Die Kreisärzte werden ersucht, bei den Orts¬
besichtigungen oder anderen sich bietenden Gelegen¬
heiten durch Erkundigung bei den Gemeindevor¬
ständen, Geistlichen, Lehrern u. s. w. festzustellen, ob
in der betreffenden Gemeinde Geisteskranke, Idioten
u. s. w. ausserhalb von ausschliesslich zur Aufnahme
solcher Kranker bestimmten Anstalten und zwar a) in
allgemeinen Krankenhäusern, Siechenhäusern, Armen¬
häusern und ähnlichen Anstalten, b) in fremden Fa¬
milien gegen Entgelt, c) in der eigenen Familie unter¬
gebracht sind. Ueber die ermittelten Kranken ist ein
Verzeichniss anzulegen und auf dem Laufenden zu
erhalten. Kranke, welche von einer öffentlichen Irren¬
anstalt in Familienpflege untergebracht sind, sind in
das Verzeichniss nicht aufzunehmen. 2. Alle in das
Verzeichniss aufgenommenen Kranken sind in geeig¬
neter Weise zu überwachen und nach Bedarf zu be¬
suchen. Sofern dazu besondere Dienstreisen erforder¬
lich sein sollten, ist zu denselben meine Genehmig¬
ung einzuholen. Bei den Besuchen ist festzustellen,
ob /die Art der Unterbringung, Behandlung und Ver¬
pflegung mit Rücksicht auf den Character der Krank¬
heit und die sonstigen Verhältnisse als zweckentsprehend
anzusehen ist, eventuell, ob im Interesse des Kranken
oder im öffentlichen Interesse die Aufnahme in eine
geeignete Anstalt erforderlich erscheint. Bei den unter
1 c genannten Kranken kann von einem Besuche von
vornherein abgesehen werden, sofern dies nach Lage
der Verhältnisse zweckmässig erscheint. Dass bei
allen derartigen Besuchen besonders vorsichtig und
taktvoll verfahren wird, setze ich voraus. 3. Von
wahrgenommenen Missständen, welche der Abhilfe
bedürfen, insbesondere von der etwa sich ergebenden
Nothwendigkeit, einen Kranken in einer Anstalt unter¬
zubringen, ist der zuständigen Polizeibehörde zur
weiteren Veranlassung Mittheilung zu machen. 4.
Ueber jeden Besuch ist in dem Verzeichn iss ein ent¬
sprechender Vermerk zu machen. Die gemachten
Wahrnehmungen sind im Jahresbericht zu berücksich¬
tigen. Zugleich ersuche ich die Kreisärzte, soweit
sich ihnen bei ihrer Mitwirkung bei der Aufnahme
Geisteskranker in die öffentlichen und Privat-Irren-
anstalten Gelegenheit dazu bietet, im Interesse der
Kranken darauf hinzuwirken, dass diese Aufnahmen
thunlichst beschleunigt werden.“ In dem Verzeich¬
nisse werden ausser dem Nationale des Kranken
und seinem Aufenthaltsorte vermerkt: die Anstalt,
wo der Kranke untergebracht ist oder der Name
seines Pflegers, die Höhe des Pflegcgeldes, Form und
Dauer der Krankheit, ob der Kranke heilbar, unruhig
oder gemeingefährlich ist, ob der Kranke ärztlich be¬
handelt wird, in welcher Art und von welchem Arzt,
welcher Art die Unterbringung, Verpflegung und Be¬
schäftigung des Kranken ist, ob der Kranke entmündigt
ist. —
Vermisst wird in obiger Verfügung eine Vor¬
schrift, die in verschiedenen Irrengesetzen des Aus¬
landes besteht, nämlich dass irgend Jemandem die
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Pflicht auferlegt wird, von der geistigen Erkrankung
einer Person rechtzeitig oder binnen einer gewissen
Zeit (z. B. im holländischen Gesetz 48 Stunden) der¬
jenigen Behörde Anzeige zu machen, welche für die
Einsetzung einer vorläufigen Vormundschaft oder ge¬
richtlichen Pflegschaft zur Wahrung der Vermögens¬
und sonstigen Angelegenheiten des Kranken Sorge
zu tragen hat.
Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und
Verwandtes. 3. Quartal 1902.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
Rapport van de Commissie van Prae-Advies omtrent
de vraag, op welke wijze in eventueele moeilij-
kheden beij de plaatsing van gevaarlijke krank-
zinnigen kan worden voorzien. Psychiatrische en
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Reitsema: Een geval van aangeboren, abnorm gropte
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Spitzka, E. S.: Political assassins, are they all insaiie?
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Schütze: Einige Mittheilungen aus der gerichtlichen
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Schütze: Beiträge zur Lehre des Sachbeweises, ins¬
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Näcke: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropo¬
logischen Forschung im Jahre 1901. Ibidem, p. 141.
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Siefert: Der Fall Fischer. Ibidem, p. 160.
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Laurent und Nagour: Occultismus und Liebe.
Uebersetzt v. Dr. Berndt. Berlin, Bar leid. M. 7,50.
Dühren: Das Geschlechtsleben in England mit be¬
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3 Bände, a 10 M.
Naskissos: Der neue Weither, eine hellenische
Passionsgeschichte. Verlag von M. Spohr, Leipzig.
(I lomosexuelle Bekenntnisse.)
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Alombert-Goget: L’internement des alienes crimi-
ncls. Lyon, Prudhomme, 1902. 207 S.
Schönbrod: Uebcr einen Fall von Phocomelie etc.
Diss., Bonn ic/oi.
Schubmehl: Ueber Dermoide des Mundbodens etc.
Diss., Freiburg 1901.
Zöllner: Ueber Störungen der Nahrungstriebe.
Diss., Frei bürg 1901.
H. Gross: Psychopathischer Aberglaube. Archiv f.
Kriminalanthropol. etc., c». Bd., 4. II., p. 253.
v. Oe feie: Strafrechtliches aus dem alten Oriente.
Ibidem, p. 283.
Cacic: Kroatische Wörter im „Vocabulare der
Gaunersprache“ des Gross’schen Handbuchs für
Untersuchungsrichter. Ibidem, p. 208.
Rösing: Freispruch oder Sonderhaft. Ibidem, p. 311.
Näckc: (iedanken eines Mediciners über die Todes¬
strafe. Ibidem, p. 3 10.
Sicfcrt: Rechtswidrigkeit bei der Erpressung. Ibidem,
P- .0 7 -
v. Josch: Ein Fall von Kindesmord. Ibidem, p. 332.
Schncickert: Die Beschaffung von Vergleichungs-
material zum Zwecke der gerichtlichen Hand¬
schriften vergleiclumg. Ibidem, p. 344.
Paul: Zum Wesen des Strafregisters. Ibidem, p. 350.
Richter: Ueberflüssige Sectionen. Ibidem, p. 333.
Mariani: La criminalita potenziale e le ossessione
omicidc. Archivio di psichiatria etc., 1902, p. 345.
Portigliotti: La pazzia morale in Giovanni delle
Bande Nere. Ibidem, p. 333.
Portigliotti: U11 grande monomane: Fra Girolamo
Savonarola (Schluss), lindem, p. 383.
P 11 g 1 i a : Unioni criminale semplid e responsabilita
jienale (Fortsetzung). Ibidem p. 403.
Lasclii: II „reato“ cli scioper«» (Ende). Ibidem, p. 420.
Lombroso: Suggestione criminali in alcoolisla pare-
sico. Ibidem, p. 434.
Bert in i: II contomo facciale e sue anomalic negli
epilettid, nei paranoici e negli idioti. Ibid., p. 43b.
Audenino: loi caso di pazzia morale. Ibid., p. 4O3.
Neri: Inversione e perversione sessuale complessa.
Ibidem, p. 471.
Neri: Pefvertito necro filiare pederasta etc. Ibidem,
P- 472 .
Ingegneros: Valor de la psicopatologia en la an-
tn»pulogia ( riminale. Archivio de criminalogia etc.
Buenos Aires, 1002, |an.
Regnault: La femine a 2 nez et le polyzoisme
teratologique. Bullet et Memoires de la Sodete
d’anthropol. de Paris, fase. 4.
Ferrero: Se le alterazioni del sistema nervoso cen¬
trale siano primitive o secundarie alle mostruosita
per difetto. Archivio per le scienze mediche.
Vol. XXV, p. 3.
Gualino: L’uomo Giust'ppe Mazzini. Rivista mo-
derna politica etc., 1002, Roma. (Scluss folgt.)
Referate.
— Archives de Neurologie 1901.
I la 11 u c i n a t io n s ps vcho-motriccs dans
1 a p a r a 1 y sic gen e r a 1 e p a r A. M a r i e et J. B.
Buvat. Nr. 07. S. 1.
Original from
HARVARD UN1VERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Hallucinationen auf dem Gebiete der Bewegungs-
Vorstellungen, also besonders der Sprache und der
Schrift, sind im Ganzen bei Paralytikern selten, sie
werden namentlich in den Remissionen beobachtet.
Es werden 3 einschlägige Fälle mitgetheilt.
Du sens genital etudie chez les meines
malades aux trois periodes de laparalvsie
generale p a r M a ra n d o n d e M o 111 y e 1 . Nr.
67, S. 14.
Im Anschluss an eine fiühcre Arbeit theilt Ver¬
fasser die Ergebnisse seiner Beobachtungen über den
Geschlcchtstrieb bei 108 männlichen Paralytikern in
den verschiedenen Stadien der Erkrankung mit. In
95 % konnten Feststellungen gemacht werden, in
93,8% fanden sich Aenderungcn. Niemals war
sexuelle Perversion im Zusammenhang mit der Er¬
krankung selbst zu beobachten. Abschwächung des
Geschlcchtstriebes war 4 mal häufiger als Erhöhung
und zwar trat sie entgegen der geltenden Ansicht
ungleich häufiger in dem Prodromalstadium auf als
die Vermehrung des Geschlechtstriebes. Selbst in
den weitgehendsten Remissionen zeigte sich der Gc-
schlechtstrieb in einem Verhältnis* von 86 : 100 be¬
fallen, auch hier überwog bei weitem die Absc hwäch¬
ung. Bei den dementen Formen und in den Ruhe¬
perioden findet man noch am meisten eine Erhöhung,
die nur noch in den expansiven Zuständen häufiger
ist. Normale Verhältnisse oder veistärkten Geschlechts¬
trieb findet man bei Fällen bis zum Alter von 40
Jahren, von da ab tritt eine schnell fortschreitende
Verminderung ein. Je geringer die begleitenden
motorischen Störungen sind, desto häufiger findet
sich ein normales Verhalten der Geschlechtsfunktionen.
Aetiologisch kommt in erster Linie Alkoholismus in
Betracht. Das frühzeitige und ausgesprochene Auf¬
treten der Störrungen kann im Prodromalstadium der
Paralyse die Diagnose wesentlich stützen.
Considerations statistiques sur lc Service
„d’observations gvnecologiques* 1 de Fasile
public de Ville-Evrard en iHoq par Lucien
Pique et Feburc. Nr. 68, S. 81.
Unter Anführung der Thatsarhe, dass unter 400
bis 450 Kranken nur 60 Kranke gynäkologisch unter¬
sucht werden konnten, werden die Mängel der be¬
stehenden Vorschriften, durch welche eine Unter¬
suchung und Behandlung in so hohem Grade einge¬
schränkt wird, hervorgehoben und Abänderungen
für dringend erfoidcrlich erklärt. Unter den 00
Kranken waren nur 2 frei von gynäkologischen Allec-
tionen. Die; Verfasser betonen, dass für die Chirur¬
gie; bei den Geisteskranken noch ein weites Feld
übrig ist, und dass Maassregeln, die c hirurgische Be¬
handlung zum Wohl der Krankem zu erleichtern, in
hohem Grade wünschenswerth erscheinen.
Sur un cas d’amnesie continue, conse-
cutif ä uiic ten tat ive de suicide par Pox vdc
de rarbonc par Trudle et I* e 11 t. Nr. 68,
S. So.
Bei einem 54jährigen Mann trat im Anschluss
an eine, in selbstmörderischer Absicht unternommene
Kohlenoxydgasvergiftung, nac h 2 tägigem Coina ein
Zustand von Depression mit Apathie und Hemmung
auf, der weiterhin eine Besserung erfuhr. Es bestand
ausserdem eine völlige Amnesie für den Selbstmord¬
versuch und die Vorbereitungen dazu, eine retrograde
Amnesie wechselnder Natur für die Vorgänge, die
sich in den Wochen vor dem Selbstmordversuch zu¬
getragen hatten, sowie eine Gedächtnisschwäche
(Störungen weitgehendster Art in der Denkfähigkeit),
die von Dauer blieb. Anderweitige psychische Stö¬
rungen, insbesondere auf intellektuellem Gebiete, sollen
nicht vorhanden gewesen sein. Das Vorkommen
einer derartigen Gedächtnisschwäche bei Hysterie,
Alkoholismus (Korsakoff), Selbstmordversuch durch
Erhängen, infectiösen Erkrankungen, Traumen etc.,
wird wörtlich und als Erklärung die Janet’sche Hypo¬
these, dass es sich um einen Verlust der persönlichen
Perception oder der psychologischen Verarbeitung der
Eindrücke handelt, geltend gemacht.
Anatomie cerebrale et Psychologie par
Jules Sonry. Nr. 67, S. 28. Nr. 68, S. 97.
Eingehendes kritisches Referat über die Gehirn¬
anatomie und ihre Beziehungen zur Psychologie, im
Anschluss an die Arbeiten von Edinger u. a. Die
Ansichten, welche der Verfasser über das Bewusst¬
sein und dessen Zustände in ihrer Entwicklung in der
Thierruhe vorbiingt, weichen in mancher Hinsicht
von der Edingcr’schen Auffassung ab. Zu einem
kurzen Referat sind die Ausführungen nic ht geeignet.
Hysterie juvenile chez une fillette de
doucc ans — Hcmi-ancsthesie sensitive-
scnsorielle gauche comp lote. Neuf crises
d’a mau rose double absolue. Perversion
de la vision bin ocu laire: discussion par R.
Cr uchet. Nr. 69, S. 177.
12 jähriges Mädchen mit vollständiger linksseitiger
sensitiv-sensorieller Anästhesie, besonders linksseitiger
Taubheit, Hemiparese links, leichter rechtsseitiger
Hemihypcrästhesie, doppelseitiger Amaurose, die an¬
fallsweise auftrat. Auf dem linken Auge halbe Seh¬
schärfe', Ac'commoclationskrampf, beiderseits Einschrän¬
kung des Gesichtsfeldes, Dyschromatopsie, Störung
des binoculären Sehaktes (vision monoculaire alter-
nante, siinultanee). Die Amaurose trat in regel¬
mässigen monatlichen Intervallen auf, beginnend mit
dem Eintritt der ersten Menstruation und dauerte 5
bis 10 Tage. Unter Berücksichtigung der in der
Litteratur niedergelegten Fälle, werden im Anschluss
daran die verschiedenen Formen der hysterischen
Amaurose sowie die Störungen des binoc ulären Seh¬
aktes festgcstellt. Den Schluss bildet der Versuch,
diese Krankheitserscheinungen durch Annahme einer
Affection der monoeulärcn Centren zu erklären.
Rec herche sur les troublcs psychologiques
consecutifs a des hallucinations provoquees
par N. Vaschide et A. Vulpas. Nr. öq, S. 208.
Von Iugend auf imbecilles Mädchen, das früher
an hysterischen Krämpfen, gefolgt von deliranlcn
Zuständen, später an heftigen motorischen Erregungs¬
zuständen, Schlafsucht, Stuporanfällen litt, bot zu¬
letzt als Aequivalent Zustände von hallucinatorisc her
Verwirrtheit, ausgesprochenes Ilalluciniren von schreck¬
haften Situationen mit entsprechender motorischer
Reaction. Erinnerung in der anfallsfreicn Zeit er-
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392 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 35
halten, lebhaftes Krankheitsgefühl, keine anderweitige
Störung. Besserling durch Hypnose. Im hypnoti¬
schen Schlaf konnten nur die dabei zuweilen auf-
Iretenden Hallucinationen posthypnotisch suggerirt
werden. Es war so möglich, die verschiedenen
Phasen von einfacher Hallucinose bis zur ausge¬
sprochenen hallucinatorischen Verwirrtheit mit Er¬
regung zu beobachten. Die Hallucinationen als ur¬
sächliche Symptome führten in mittlerer Stärke auf¬
tretend zunächst einen Zustand von Gedankenab¬
lenkung, Zerstreutheit (Distraction) herbei, aus der
sich dann bei grösserer Intensität der Hallucinationen
die Verwirrtheit entwickelte. Der normale Zustand
wurde allmählich dadurch wdeder hergestcllt, dass die
äusseren Sinneseindrücke wieder Zutritt gewannen
und die Distraction zum Schwanden brachten, wäh¬
rend zugleich die Aufhellung des Bewusstseins eine zu¬
nehmende Orientirung ermöglichte.
L’influence de 1’ a 1 c o o 1 et du t ab a c s u r
le travail par Ch. F cre. Nr. 71, S. 3Ö9 u. Nr.
7 -’> S. 463.
Auf Grund von Experimenten mit dem Mosso-
schen Ergographen konnte festgcstellt werden, dass
die Geschmacks'Wirkung des Alkohols eine vorüber¬
gehende Excitation, ausgesprochener noch in der
Periode der Ueberregbarkeit der Ermüdung bedinge.
Diese Erregbarkeit scheine auf die Reizung der sen¬
siblen Organe, besonders des Geschmacksorgans zu¬
rückgeführt werden zu müssen. Das Hinabschlucken
des Alkohols, welches nur als automatischer, durch
das Streben nach Anregung bedingter Akt anzusehen
sei, wäre nach dieser Richtung hin ganz unnütz und
führe nur zur Intoxication. Rauchtabak rufe nur
eine ganz flüchtige Erregung hervor, die in der Er¬
müdung noch deutlicher zum Ausdruck käme. Die
geringe Dauer der Excitation bedinge die Wieder¬
holung und schliesslich die Gewohnheit, die zu einem
Bedürfniss würde, dessen Befriedigung zu einer un¬
mittelbaren Beschränkung der Energie führe, ganz ab¬
gesehen von der Intoxicationsgelegenheit.
Le mutisme h y s t e r i q u c dans L h i s t o i r e
par K. Leroy. Nr. 72, S. 506.
Mittheilung von interessanten Fällen von Stumm¬
heit, selbst intermittirenden Charakters, und Taub¬
stummheit aus den Schriftstellern des 17. und 18.
Jahrhunderts. Das Auftreten und der Character der
Störungen im Verein mit der Art der sich anschliessen¬
den Heilung lässt die hysterische Grundlage unver¬
kennbar zu Tage treten.
Riebeth (Eberswalde).
— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. u. psych.
gcr. Mcdicin. 59. Bd. 2. u. 3. Heft.
Nitsche-Frankfurt a. M. Ueber Gedächt¬
nisstörung in zw r ei Fällen von organischer
G e h i rn k ra n k h ei t.
Bei einem 52 jährigen Paralytiker und einem
38jährigen an Himlues Erkrankten wurde Herabsetz¬
ung der Aufmerksamkeit, der Merkfähigkeit und des
Reproductionsvennögens festgesetzt. Der Paralytiker
bot diese 3 Störungen in mehr gleichmässiger Weise,
bei dem anderen Pat. w r ar die Merkfähigkeit in her¬
vorragender Weise herabgesetzt. Von den verschie¬
denen Wahrnehmungen behielten beide Pat. diejenigen
des Gesichtsssinnes noch am besten.
Bei Anwendung der Rauschburg'schen Methode
ergaben sich bei dem Paralytiker infolge der Ermüdung
noch ungünstigere Resultate.
Ru d ol ph-H ei 1 br on n a. N. Ueber eine
Form von Zwangshandlung nebst ausführ¬
licher Fa m i 1 i e n - K r a n k h e i tsg esc h i ch t e.
Verf. beobachtete bei einem Schüler, dass er
beim Berühren eines Gegenstandes letzteren nachein¬
ander und wiederholt an genau der gleichen Stelle
mit symmetrischen Körpertheilen berührte, wobei die
Anzahl der Berührungen von der geraden Zahl be¬
herrscht zu sein schien.
Die gleiche Erscheinung boten 2 aus einer sehr
schwer belasteten Familie stammende Geschwister.
Die Tochter hatte die „Eigentümlichkeit“, alle Gegen¬
stände, die sie berührt hatte, wiederholt berühren zu
müssen mit dem „folternden Gedanken“, dass im Unter¬
lassungsfälle ihr oder der Familie etwas Schlimmes zu-
stossen würde. Der Sohn musste alle Gegenstände,
die er berührt hatte, ebenso mit der anderen Hand,
dem anderen Fuss etc. wiederholt nach Maassgabe der
geraden Zahl berühren. Dabei habe ihn immer die
Zwangsbefürchtung gefoltert, dass sein Vater im Unter¬
lassungsfälle sterben würde. Beide Geschwister litten
an hvster. Irresein. Das Symptom nennt Verf. Hapto-
manie.
— Richtigstellung. Die durch ihre Kürze
missverständliche Notiz in Nr. 31 wegen der An¬
wendung desneuen Justiz-Min.-Erlasses vom i.Oct.
iqo2 auf die Insassen der öffentlichen Anstalten ist
dahin richtig zu stellen, dass nach dem neuen Erlass
der Richter zu prüfen haben wird, ob besondere
Umstände vorliegen. Wenn er solche in der An¬
staltsbehandlung eines Kranken und der daraus sich
ergebenden Möglichkeit, die Anstaltsärzte als Sach¬
verständige zu hören, erkennt, kann er dementsprechend
verfahren, da er überhaupt in der Auswahl der Sach¬
verständigen nicht beschränkt ist. Siemens.
Mehrfachen Anregungen gemäss wird beabsichtigt,
Sonderabzüge einer Sammlung möglichst aller der¬
jenigen Artikel herzustellcn, welche eine Erörterung
des preuss. Justizministcrial-Erlasses vom 1. Oktober
1902 enthalten. Interessenten werden daher gebeten,
Bestellungen und etwaige sonstige Wünsche bis spä¬
testens 7. Decbr. er. an den Unterzeichneten Verlag
gelangen zu lassen.
Carl M a rhcdd, Verlagsbuchhandlung,
Halle a. S.
Für den redactiouellcn Tlicil verantwortlich : Übcraizt Dr. J . iiresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe*. — Verlag von Car! M&rhold in Halle a. S
Hevnemann’sche P.uchdruckerci (Gebr. WolfT) in Halle a S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 36. 6 . December. 1902.
Die Psychiatrisch-Neurolo gische W ochensc h r i f t erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesiern, tu richten.
Inhalt. Originale: Ueber hysterisches Irresein, Von Oberarzt Dr. Eduard Hess (Stephansfeld i. E ) (S. 393). — Mittheilungen
(S. 398). — Referate (S. 403). — Bibliographie (S. 403). — Personalnachrichten (S. 404). — Erwiderung. Von Dr.
Hoppe (S. 404).
Ueber hysterisches Irresein.
Vortrag, gehalten in der 33. Versammlung der südwestdeutschen Irrenärzte zu Stuttgart am 2. Novbr. 1902.
Von Oberarzt Dr. Eduard Hess (Stephansfcld i. E.).
M. H.
egenüber der älteren, ziemlich allgemein gütigen
Anschauung über die hysterischen Geistesstö¬
rungen, die ich als bekannt voraussetze — die neueste
Darstellung, die mir zugänglich war, ist die von
Fürstner in dem Ley d e n - K 1 em per er’schen
Sammelwerk „Deutsche Klinik am Eingänge des
zwanzigsten Jahrhunderts“, ausserdem verweise ich auf
das Kapitel „Hysterie“ in Hoche’s „Handbuch der
gerichtlichen Psychiatrie“ —, fasst Kraepelin den
Begriff „Hysterisches Irresein“ wesentlich enger, ihm
ist das „Hysterische Irresein“ eine ganz bestimmte,
circumscripte Krankheit, und als practisch wichtigste
Folge aus dieser Lehre ergiebt sich, dass, wenn sie
richtig ist, mit der Anschauung gebrochen werden
muss, es könnten hysterische Symptome auch bei
andern Psychosen Vorkommen, oder es könnten auf
dem Boden der Hysterie anderweitige Psychosen,
wie etwa eine Hystero-Melancholie oder eine hyste¬
rische Paranoia, sich entwickeln.
Kraepelin’s Auffassung, die eine noth wendige
Konsequenz seiner klinischen Betrachtungsweise ist,
und in dem betreffenden Abschnitt seines Lehrbuchs
(1899) deutlich zu Tage tritt, hat, so weit ich die
Litteratur überblicke, bis vor einem Jahre keine grosse
Aufmerksamkeit erregt, vielleicht, weil Kraepelin
darauf verzichtet hat, die Merkmale, die seine Lehre
von der allgemeinen Anschauung unterscheiden, mit
besonderer Schärfe und Ausführlichkeit hervorzuheben.
Das ist nun vorigen Herbst von Nissl geschehen
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394 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36 .
in dem bekannten Vortrag*) auf unserer Karlsruher
Versammlung. Die Erörterungen, die sieh in der
Versammlung [Fürstner, Gaupp, Friedmann**)]
und in der Presse [Ra ecke***), Wer nick ef)] da¬
ran angeschlossen haben, waren grösstentheils theo¬
retischer und methodologischer Natur, und ich beab¬
sichtige nicht, sie hier fortzusetzen, sondern ich möchte
nur einen kurzen Beitrag zur Lösung der Frage aus
dem practischen Anstaltsbetrieb geben.
Nach Nissi waren von sämmtlichen in die Hei¬
delberger Irrenklinik aufgenommenen Frauen nur
1,5% an hysterischen Psychosen erkrankt, dagegen
waren sogenannte hysterische Symptome bei einfachen
Seelenstörungen eine relativ häufige Erscheinung
(14,4 °/ 0 )* Für die zuletzt genannte Kategorie habe
ich keine Zahlen festgestellt, ich glaube aber, wenn
ich nach dem allgemeinen Eindruck uriheilen darf,
dass der Prozentsatz in Stephansfeld eher höher als
niedriger ist; für die hysterischen Psychosen sui
generis dagegen bleibt die Prozentzahl der Stephans¬
felder Fälle, wie Sie gleich hören werden, hinter der
in Heidelberg gewonnenen noch etwas zurück.
Ich möchte hier ausdrücklich bemerken, dass ich
nicht etwa durch Nis sl’s Zahlen unwillkürlich be¬
einflusst worden bin, denn meine Zahlen sind grössten -
theils viel älteren Datums, und meine Hysteriediag¬
nosen stammen zumeist aus der Zeit vor X iss Ts
Vortrag. Ich verweise darauf, dass ich schon im
Jahre 1898 auf unserer Versammlung zu Heidelberg
in einem Vortrage ft) gelegentlich erwähnt habe, dass
unter den seit Jahren in Stephansfeld aufgenommenen
Kranken gar keine Form — abgesehen von den
Raritäten — so selten vorkam wie hysterisches Irre¬
sein.
Meine statistische Berechnung erstreckt sich auf
die Aufnahmen, die in der Zeit vom 1. April 1897
bis 30. September dieses Jahres stattfanden; es waren
dies 882 Männer und 847 Frauen, insgesammt 1729
Zugänge. Davon litten 1 Mann und 11 Frauen, im
Ganzen demnach 12 Personen, meiner Ansicht nach
an hysterischem Irresein; in Prozenten bei den Män¬
nern 0,11, bei den Frauen 1,2.9,, unter allen Auf¬
nahmen 0,69 hysterische Psychosen. Nissi fand,
um es zu wiederholen, bei den Frauen der Heidel¬
berger Klinik 1,5% Hysterische, also 0,2 mehr als
ich in Stephansfeld.
*) Centralblatt für Neivenheilkunde und Psychiatrie, 25.
Jahrgang, Nr. I.
**) Allgem. Zeitschrift für Psychiatric, Bd. 59.
***) Neurologisches Ccntralblatl 1902, Nr. 7.
-[-) Monatsschrift für Psychiatric und Neurologie 1902,
Bd. t2.
ff) Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 55, S. 703.
Bei Stellung der Diagnose „hysterisches Irresein“
habe ich mich im Wesentlichen an die Beschreibung
K r a e p e 1 i n ’s gehalten. Es erübrigt sich, hier näher
darauf einzugehen, denn meine Fälle von „hyste¬
rischem Irresein“ sind alle der Art, dass sie als solche
ohne weiteres von jedem Anhänger der älteren An¬
schauung sicher anerkannt werden. Der Schwer¬
punkt der ganzen Frage liegt ja auch nicht hier,
sondern bei jenen Kranken, bei denen man nach
der älteren Lehre das Vorhandensein hysterischer
Symptome oder Zustände annehmen kann oder muss,
die aber nach Kraepelin und Nissi nichts mit
dem „hysterischen Irresein“ zu thun haben. Am ein¬
fachsten wäre die Sache natürlich zu erläutern durch
Vorstellung solcher Kranken oder, da mir dies hier
unmöglich ist, durch die ausführliche Mittheilung
ihrer Krankheitsgeschichten; in dem engen Rahmen
eines kurzen Vortrags geht aber dies nicht an, und
ich bin gezwungen, auf eine von mir beabsichtigte
spätere Veröffentlichung über das Thema zu ver¬
weisen. Nur die wichtigsten Punkte möchte ich kurz
besprechen ; ich nehme dabei auch Bezug auf hier¬
her gehörige Fälle aus früherer Zeit, die in der
Statistik nicht berücksichtigt wurden.
Man pflegt sich von sogenannten hysterischen
Symptomen, die eben bei allen einfachen Seelen¬
störungen auftreten können, in der Diagnose nicht
beeinflussen zu lassen, wenn sie nur in geringer Zahl
und andrerseits Erscheinungen vorhanden sind, aus
denen man das Bestehen einer ganz bestimmten
nichthysterischen Psychose nachweisen kann. Anders
liegt die Sache, wenn die vermeintlich hysterischen
Symptome sich in grosser Menge zeigen, sodass sie
dem Krankheitsbild ein eigenes Gepräge zu geben
scheinen. Dies ist der Fall bei der sogen. Hvstero-
Melanrholie. Nach meiner Beobachtung nun, schei¬
nen alle diese Hystero-Melancholicn Melancholien
des Rückbildungs alters zu sein, und wenn man
die Kranken, die an dieser wohl bekannten Form
der Seclenstörung leiden, genau untersucht, wird man
fast bei keinem wenigstens einzelne sogen, hyste¬
rische Symptome vermissen, wie hypochondrische
Beschwerden, Uebertreibung, Verstellung, Hyper¬
ästhesien und Parästhesien, Globus und Clavus, Ovarie,
Krämpfe, jähen Stimmungswechsel u. dgl. Dabei han¬
delt cs sich in der Regel um Personen, bei denen
vor der Erkrankung alles fehlte, was auf Hysterie
oder hysterisches Temperament hätte schliessen lassen.
Wenn nun aber diese hvstcricähnlichen
Symptome stete Begleiter der Rückbil-
d u n g s me 1 an c h ol i e sind, so liegt meines
Erachtens nicht der geringste Grund vor,
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
iQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
sie irgendwie mit dem hysterischen Irre¬
sein in Beziehung zu bringen, es sind eben
Symptome der Rückbildungsmelancholie.
Eine andere Psychosengruppe, bei der, besonders
im Beginn der Erkrankung, die sogenannten hyste¬
rischen Symptome oft in überreicher Menge Vor¬
kommen, ist die Dementia praecox. Ich möchte
hier anstatt allgemeiner Ausführungen mich auf die
Erwähnung einiger sehr lehrreicher Fälle beschränken.
Es waren weibliche Patienten, bei denen wir mit
gutem Recht die Diagnose ,,Hysterisches Irresein“
stellen zu können glaubten, bei einer davon, die vor¬
her in der Strassburger psychiatrischen Klinik behan¬
delt worden war, in Uebereinstimmung mit der
Diagnose der Klinik. In verhältnissmässig kurzer
Zeit aber trat unerwarteter Weise bei diesen Kranken
tiefe und dauernde Verblödung ein. Dürfen wir nun
annehmen, dass hier ursprünglich eine Hysterie be¬
stand , die unrnerklich in Dementia praecox über¬
ging ? Es hatten doch zweifellos die An-
fangssymptome, wenn sie noch so sehr
nach Hysterie aussahen, mit der Hysterie
t hatsächlich gar nichts zu t h u n , sondern
es waren die Symptome eines beginnen¬
den Verblödungsprozesses, und es wäre viel¬
leicht möglich gewesen, dies von vorneherein zu er¬
kennen. Man sieht an diesen Fällen auch, wie
praktisch wichtig in Hinsicht auf die
Prognose es ist, sich durch sogenannte
hysterische Sym p tome nicht irrefüh r en zu
lassen.
Die viel besprochene und umstrittene sogenannte
„Hysteroepilepsie“ hat uns diagnostisch wohl manche
Schwierigkeiten gemacht, aber wir konnten die sehr
wenigen zweifelhaften Fälle schliesslich doch in ein¬
deutiger Weise aufklären; auf Einzelheiten einzu¬
gehen würde zu weit führen.
Die von Ganser*), R a e c k e **) und anderen
beschriebenen „hysterischen Dämmer- und Stupor¬
zustände“ habe ich nie beobachten können, obwohl
wir an Zugängen aus Untersuchungs- und Strafhaft
durchaus keinen Mangel haben.
Der einzige männliche Hysteriker, den ich in
meiner Statistik erwähnte, war ein Strafgefangener,
bei dem die Psychose im Anschluss an ein Trauma,
das er bei der Arbeit im Zuchthaus erlitten, zum
Ausbruch gekommen war; er bot das gewohnte Bild
des hysterischen Irreseins.
Die Abgrenzung des „hysterischen Irreseins“ im
engeren Sinne von wahrscheinlich anderartigen Psy-
*) Archiv für Psychiatrie, Bd. 30.
**) Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 58.
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chosen mit gehäuften hysterieähnlichen Zügen ist oft
sehr schwierig, und bei mehreren Fällen musste ich
die Diagnose in der Schwebe lassen. Eine unserer
Kranken z. B., die an ausgesprochenen Anfällen des
manisch-depressiven Irreseins leidet, bietet nicht allein
in den Zeiten der Anfälle, sondern auch in ihren
„gesunden“ Tagen deutlich die Züge des „hysterischen
Characters“. Hier spielt das nivellirende Moment der Ent¬
artung eine gewisse Rolle. Aber davon abgesehen
ist die reinliche Scheidung zwischen „hysterischem
Irresein“ im engeren Sinne Kra epelin’s und hyste¬
rieähnlichen Symptomen im Allgemeinen noch ein ver¬
hältnissmässig neues Unternehmen, das vielleicht noch
mancherlei Modifikationen erleiden wird. Um unter
den Kranken einer Anstalt eine gewisse wissenschaft¬
liche Ordnung herzuslellen, empfiehlt es sich jeden¬
falls, den Begriff der „Hysterie“ möglichst eng zu
fassen. Vielleicht wäre eine Einigung und eine
Klärung der Sache eher zu erzielen, wenn wir das un¬
sinnige Wort „hysterisch“ nicht hätten. Der viel
engere Begriff „psychogen“ (Sommer*) sagt mehr
aus, als wir thatsächlich beweisen können, und eignet
sich deshalb wohl nicht recht zum Ersatz. Es scheint
mir ein ähnliches Verhältnis« vorzuliegen wie zwischen
Katatonie und katatonen Symptomen; die Katatonie
ist eine Krankheit sui generis, katatone Symptome
können bei Paralyse, bei Rückbildungspsychosen und
sonst auftreten; indem wir die betreffenden Symp¬
tome ihrer Aehnlichkeit mit Symptomen der Kata¬
tonie wegen als „katatone“ bezeichnen, sagen wir
durchaus nicht, dass sie mit dem katatonischen Irre¬
sein wesensgleich seien. Ebenso können wir viel¬
leicht nach altem Brauch das Wort „hysterisch“ in
der allgemeineren Bedeutung weiter benützen und
z. B. von „hysterischen“ Symptomen bei Rück¬
bildungsmelancholie sprechen, wir müssen uns dabei
nur stets bewusst sein, dass diese Symptome mit dem
eigentlichen „hysterischen Irresein“, abgesehen von
der äusseren Aehnliehheit, in keiner Weise verwandt
sind.
Zum Schlüsse noch einiges zur Aetiologie und
Therapie der Hysterie — hier „Hysterie“ im weite¬
sten Sinne des Wortes genommen; nicht eigene Ent¬
deckungen, sondern ein kurzes Referat über Beiträge
von gynäkologischer Seite. Auf der 74. Versamm¬
lung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Karls¬
bad im September ds. Js. hat Winternitz-Stutt¬
gart über „Behandlungsmethoden bei Retroflexio uteri
unter besonderer Berücksichtigung der subjektiven
Beschwerden“-**) gesprochen; er mahnt zur vorsich-
*) Diagnostik ddr Geisteskrankheiten.
**) Berliner klinische Wochenschrift, 20. October 1902.
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
396 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36.
tigen Beurtheilung der Klagen und Beschwerden bei
Retroflexio Uteri besonders in den Fällen, in denen
es sich um ledige oder verheirathete Nulliparen han¬
delt. Das gewöhnliche ist, heisst es in dem Vortrag,
dass diese Kranken schon von mehreren Aerzten
untersucht *und behandelt worden sind und daher
meist mit der fertigen Diagnose zum Spezialisten
kommen: sie klagen über Kreuz- und Rücken¬
schmerzen, die in die Beine oder gegen die obere
Körperhälfte ausstrahlen, ausserdem hört man eine
grosse Anzahl von Beschwerden aller Art, die man
nur als nervöse oder hysterische bezeichnen kann.
Solche Kranken sind dadurch, dass ihnen die falsche
Lage ihrer Gebärmutter mitgetheilt wurde, und dass
sie schon eine Zeit lang behandelt worden sind, auf
ihren Unterleib aufmerksam gemacht worden und
halten sich daher für unterleibslcidend. Bei der
Untersuchung findet man einen kleinen retroflektirten
Uterus, den man unmöglich für alle Klagen und Be¬
schwerden verantwortlich machen kann, zumal da jede
Komplikation fehlt. Früher hat man geglaubt, durch
Einlegen eines Pessars oder durch einen operativen
Eingriff (Ventro-Vagino-Fixation, Alexander-Adams)
diese Kranken heilen zu können, aber die Erfahrung
hat gelehrt, dass hierdurch kein Erfolg erzielt wird.
Während einerseits trotz normaler Lage des Uterus
die alten Beschwerden noch vorhanden sind, ist an¬
dererseits bei manchen Kranken eine deutliche sub-
jective Besserung zu konstatiren, obgleich bei der
localen Untersuchung der Uterus wieder in Retro-
flexionsstellung gefunden wird. Es können daher die
Klagen und Beschwerden nicht ihre Ursache in der
bestehenden Lageveränderung haben. Es war also
nur der psychische Eindruck der Behandlung, welcher
eine Besserung erzielte, die aber leider gewöhnlich
nur kurze Zeit anhält. Es tritt demnach in der weit¬
aus grössten Zahl aller dieser Fälle die Neurasthenie
resp. Hysterie bei der Wahl der Behandlungsart in
den Vordergrund. Das beste für solche Kranken wäre,
wenn sie überhaupt nicht untersucht und damit auch
nicht auf eine Lageanomalie, die ohne Bedeutung
ist, aufmerksam gemacht worden wären. Eine lokale
gynäkologische Behandlung ist daher bei den Kranken
dieser Art nicht angezeigt, sie wirkt sogar schädlich und
verschlimmernd auf den ganzen Zustand. Am zweck-
raässigsten wäre es, wenn dieselben aus der Behand¬
lung des Frauenarztes in die eines inneren Medici-
ners übergehen würden, um die Aufmerksamkeit von
der belanglosen Unterleibsafl'ection abzulenken. Auch
die operative Behandlung, welcher Art sie auch sein
möge, ist hier zu verwerfen.
Aehnlich wie Winternitz äussert sich A. Theil-
h a b e r *) in seiner Arbeit: „Der Zusammenhang von
Nervenerkrankungen mit Störungen in den weiblichen Ge¬
schlechtsorganen“. Er betont die Seltenheit der eigent¬
lichen Reflexneurosen, und eine grosse Zahl ver¬
schiedener Genitalleiden (Anschwellung des Cervix,
Risse desselben, Ulcerationen der Portio, Flexionen
und Versionen, Pelviperitonitis u. s. w.), die im Laufe
der Zeit als Hauptursache der Reflexneurosen, speziell
der Hysterie erklärt wurden, hat sich in diesem Sinne
nicht bewährt und ist rasch wieder vergessen worden.
Theilhaber steht auf dem Standpunkt, dass speziell
die Retroflexio uteri non gravidi gar keine, auch
keine nervösen Symptome macht, und dass die
sämmtlichen Störungen, die als Folgeerscheinungen
dieser Anomalie ausgesprochen worden sind, auf
Komplikationen beruhen. Speziell aus den Wunder¬
heilungen hysterischer Symptome durch Aufrichtung
des Uterus oder andere lokale therapeutische Maass¬
nahmen könne man gar keine ätiologischen Schlüsse
ziehen.
Entgegen diesen, wohl von allen Psychiatern ge-
theilten Anschauungen hält W. A. Freund, der
frühere Strassburger Gynäkologe, an der reflekto¬
rischen Natur der Hysterie fest, und in einem gleich¬
falls in Karlsbad gehaltenen Vortrag: „Zur patholo¬
gischen Anatomie der Parametritis chronica atrophi¬
cans“ **) berichtet er über das anatomische Verhalten
des nach seiner Ansicht für die Reflexneurosen ver¬
antwortlichen Ganglienapparats. Schon vor der Karls¬
bader Versammlung hat der gleiche Autor in der
Berliner „Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäko¬
logie“***) über „Hysterie“ gesprochen, leider konnte
ich mir über den Vortrag selbst keinen Bericht ver¬
schaffen, wohl aber über die daran angeschlossene
Discussion. In dieser vertrat Olshausen den
Standpunkt, von Hysterie dürfe man nur reden, wo
eine Psychose bestehe, Neurosen allein machten keine
Hysterie aus, Hyperemesis gravidarum z. B. habe
mit Hysterie nichts zu thun, es gebe Hysterie genug
ohne Anomalie an den Genitalorganen. Jaquet
schlug vor, Psychiater und Gynäkologen sollten sich
zusammenthun, um über Hysterie zu arbeiten; er
habe vor 25 Jahren die auf der Westphal’schen
Station in der Charite liegenden Kranken auf Frauen¬
leiden untersucht. Ausser manchem anderen Inter¬
essanten, z. B. der häufigen Komplikation von mangel¬
hafter Entwicklung des Gehirns mit Aplasie der
*) Halle, Marhold, 1902. Referat von Haenel im Neurol.
Centalblatt 1902, Nr. 19.
**) Berliner klinische Wochenschrift, 13. October 1902.
***) Sitzung vom 13. Juni 1902. Berliner klinische Wochen¬
schrift, 29. September 1902.
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Original fram
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
397
Genitalien, sei als häufigstes Frauenleiden bei Hyste¬
rischen die chronische Peri- und Parametritis gefun¬
den worden. Jaquet will aber nicht ohne weiteres
behaupten, dass sie die häufigste Ursache der Hysterie
überhaupt sei. Die Gynäkologen sollten keine Ope¬
ration nur wegen der Hysterie ausführen, aber es
dürften auch nicht die Nervenärzte die gynäkologische
Behandlung einer unterleibskranken Frau nur aus
Rücksicht auf die Hysterie zurückweisen. Macken¬
rodt erklärte: „Krankheitsbilder, die als hysterische
bezeichnet werden, entstehen im Anschluss an ge¬
wisse, vor dem Entstehen der Krankheit festgestellte
Veränderungen im Becken. Kranke mit hysterischen
Psychosen sollten vor der Internirung von sachver¬
ständigen Gynäkologen untersucht werden. Der Sen¬
sibilität der Frau entsprechend können Psychosen in
Folge localer Veränderungen sich leichter entwickeln
als beim Manne. Die localen Symptome im Becken
drehen sich anfänglich hauptsächlich um den Schmerz.
Wird dieser ausgeschaltet, so können die Reflex¬
erscheinungen und die Psychose verhütet bezw. hinaus¬
geschoben werden. Die Gynäkologen haben die Ver¬
pflichtung, darauf zu dringen, dass nicht Frauen in
Irrenanstalten behandelt werden, denen durch gynä¬
kologische Behandlung noch eine gewisse Hilfe ge¬
bracht werden kann.“
Einen grossen Schritt weiter als Mackenrodt,
der wenigstens am Thore der Irrenanstalt Halt macht,
geht B. S. Schultze*) in seinem Anfsatz „Gynä¬
kologie in Irrenhäusern“. Schultze hat schon in
einer früheren Arbeit (1880) den seiner Meinung
nach nicht seltenen Zusammenhang zwischen weib¬
lichen Genitalleiden und Psychosen betont und die
Forderung aufgestellt, dass an jeder Irrenanstalt
einer der Assistenten ein fertiger Gynäkologe sein
sollte. Nach einer Arbeit von Hobbs (Buffalo med.
Journ. 1902) über die Resultate einer sechsjährigen
systematischen gynäkologischen Behandlung von Gei¬
steskranken fand sich bei 1000 Untersuchten 253
mal ejn Genitalleiden, das einer operativen Behand¬
lung zugänglich war. Von diesen 253 Operirten
starben 5, 100 wurden als von der Psychose genesen,
59 als gebessert entlassen. In den 10 Jahren vor
der Einführung der gynäkologischen Untersuchung
betrug das Verhältniss der als geheilt und gebessert
*) Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, XV,
1902. Referat von Haenel im Neurol. Centralblatt 1902, Nr. 14.
entlassenen Männer zu der Zahl der Aufgenommenen
35,23 °/ 0 , das der Frauen 37,5 °/ 0 . In der fünfjäh¬
rigen Periode nach der Einführung der operativen
Therapie stieg die Zahl der weiblichen Entlassenen
auf 52,7 °/ 0 , während die der Männer 35 °/ 0 blieb.
Die Zunahme der Heilerfolge bei den Frauen ver¬
hielt sich also etwa wie 100: 140, ist also sehr be¬
trächtlich. Auch die Dauerhaftigkeit der so erzielten
Erfolge liess nichts zu wünschen übrig, indem die
Zahl der rückfällig erkrankten Frauen gegen früher
sich nicht veränderte (19 °/ 0 ). Auf Grund dieser
Zahlen wiederholt nun Schultze mit Nachdruck
seine früher ausgesprochene Forderung.
Ich hoffe, dass diese Zusammenstellung neuester
gynäkologischer Anschauungen Ihnen nicht unwill¬
kommen war, und enthalte mich jeden Kommentars
dazu, obw’ohl ich von vielen kranken Frauen erzählen
könnte, die unnütz operirt wurden, ja, die sogar die
Entstehung ihrer Psychose bestimmt auf die Ope¬
ration zurückführen, ein Glaube, den ich natürlich
nicht theile. Den Frauen, die die Natur angeblich
in so vielen Stücken hintangesetzt und schlechter ausge¬
stattet hat als die Männer, kann man dazu gratuliren,
dass sie wenigstens, wenn sie geisteskrank werden, nach
der amerikanischen Statistik eine viel bessere Prognose
haben als die Männer, die nun mal nicht im glücklichen
Besitz eines retroflektirten Uterus oder einer chronischen
Parametritis sein können. Dagegen, dass ein Arzt
einer Irrenanstalt gynäkologisch vorgebildet ist, ist
selbstverständlich nicht das geringste einzuwenden; in
erster Linie muss er aber Psychiater sein. Für viel
nothwendiger als den Gynäkologen halte ich übrigens
vorerst den Zahnarzt.
Trotz der Erfahrung der letzten Jahrzehnte und
obwohl z. B. der Chirurg, der in der chirurgischen
Behandlung Geisteskranker wohl die grösste Erfahrung
hat und sicher nicht operationsscheu ist, Lu eien
P i c q u e, der Chirurgien - en - chef der sämmtlichen
Irrenanstalten des Seinedepartements, ausdrücklich
vor der Operation Hysterischer warnt*), scheint der
Satz Kraepelins**), dass die Messerfreudigkeit
auf der ganzen Linie bedeutend nachgelassen habe,
den thatsächlichen Verhältnissen leider nicht mehr
ganz zu entsprechen.
*) P. und Jules Dagonet: Chirurgie des altends Paris,
1901, Masson & Cie.
**) Psychiatrie, 1899.
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Gck >gle
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308 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36.
Mittheilungen.
— Für den IX. Internationalen Kongress
gegen den Alkoholismus, der vom 14.—19. April
1903 in Bremen tagt, ist das vorläufige Programm
soeben festgestellt worden:
1. Alkoholismus und Tuberkulose. Ref.: Dr. Legrain,
Paris.
2. Der Alkohol im Lebensprocess der Rasse. Referent:
I)r. med. Alfr. Plötz.
3. Die moderne Kultur und der Kampf gegen den
Alkoholismus. Referent: Dr.J. Bergman, Stockholm.
4. Der Alkohol als Genussmittel. Referenten: a) Prof.
Fracnkel, Halle a. S.: Was ist der Missbrauch
geistiger Getränke ? b) Prof. Forcl, Morgcs : Der
Mensch und die Narcose.
5. Die Rolle des Alkohols im Budget der Kulturvölker.
Referenten: a) Dr. H. Blocher, Basel: Im Arbeiter¬
haushalt. b) unbestimmt: im Staatshaushalt.
6. Die Entmündigung wegen Trunksucht. Referenten:
a) Prof. Dr. jur. Endemann, Halle a. S. b) Prof.
Dr. med. Cramer, Göttingen.
7. Die Gasthausreform. Referenten: a) Fitger, Goten¬
burg: Das Gotenburger System in Skandinavien.
b) Bently, London: Die alkoholfreien Wirthschaften
in England, c) Freiherr D. von Diergaidt, Mojawola:
Die Gasthausreform in England lind Deutschland.
8. Alkoholismus und Bier. Referent: unbestimmt.
9. Vcreinsthätigkeit. Referenten: a) Dr. von Strauss
v. Torney, Senatspräsident, Berlin : Grundsätze und
Erfahrungen des Deutschen Vereins gegen den
Missbrauch geistiger Getränke, b) Dr. med. Lidström,
Upsala: Die Organisation der Abstinenzvereine.
10. Die Bekämpfung des Alkoholismus in der Marine.
Referenten: unbestimmt.
11. Erziehung und Schule im Kampf gegen den
Alkoholismus. Referent: Ant. Don, Rotterdam,
12. Aufgaben der Frau im Kampfe gegen den Alko¬
holismus. Referenten: a) Lady Henry Somerset,
London oder Lady Battcrsea, London.
Auf dem letzten Kongress gegen den Alkoholismus
in Wien 1901 war die österreichische Psychiatrie
stark vertreten. Auch die Betheiligung reichs-
deutscher Psychiater wird diesmal voraussichtlich eine
ganz besonders rege sein. Freilich wird das nächste
Frühjahr gar viele tüchtige Kongresskräfte, die lauten
wie die stummen, nach dem Süden, nach Madrid
ziehen, wo vom 23.—30. April 1903 der internationale
medizinische Kongress tagt. Das „deutsche Reichs-
Comite“ forderte bereits in seinem Aufrufe die deutschen
Collcgen zu reger Theilnahme auf. Vortrüge sind bei dem
Schriftführer Prof. Dr. Posner, Berlin, S. W. Anhalts¬
strasse 7 oder bei Dr. A. Fernandez Caro, Madrid,
Faculte de Medccine, anzumelden. Auskünfte mate¬
rieller Natur ertheilt C arl Stangen’s Reise-Bureau,
Berlin W., Friedrichstr. 72, das als officielles Verkehrs¬
und Auskunftsbureau des deutschen Reichscomites
fungirt. Eine Reihe französischer Bahnen, die spanische
Nordbahn und mehrere italienische Dampfschitlgesell-
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schäften stellten beieits 50 ° 0 Ermässigung der Fahr¬
preise in Aussicht.
— Oberbayerische Kreisirrenanstalten. Im
Landrath von Oberbayern kam eine vom Landrath
Glöckle eingebrachte Interpellation an die Kreis¬
regierung über die Gesundheitsverhältnisse, beziehungs¬
weise vorgekommenen Typhusfälle in der Irrenanstalt
Gabersee zur Besprechung, Landrath v. Brunner
constatirt, dass die vorgekommenen Typhusfälle in
der Hauptsache auf die schlechte Qualität des Wassers
zurückzuführen seien. Der Landrathsausschuss, der
die Kreisregierung von den Vorkommnissen in Gaber-
sce rechtzeitig in Kenntniss setzte, habe sich mit der
Sache gründlich beschäftigt, und die Verbesserung der
Wasserverhältnisse angebahnt; irgend ein Grund
zu Vertuschungen liege nicht vor. Regierungsrath
Hausladcn constatirt in Beantwortung der Interpellation,
dass zur Bekämpfung der Typhuskalamität in Gaber¬
see alles geschehen sei, und geschehen werde, was
nach dem Gutachten der Aerzte als sachdienlich er¬
scheine. Landrath Glöckle erklärt, er halte seine
Interpellation für ausreichend beantwortet und spricht
die Hoffnung aus, dass die Projecte für Besserung der
sanitären Verhältnisse in Gabersee bald zur Aus¬
führung gelangen. Landrath End res spricht den Wunsch
aus, es möge die für die Irrenanstalt Eglfing genehmigte
Summe von 7 900000 Mark nicht überschritten werden.
Der Bau sollte möglichst beschleunigt werden, damit
die Ueberführung der Kranken aus der Münchener
Anstalt baldigst erfolgen und der Verkauf der letzteren
stattfinden könne. Regierungsrath Hausladen theilt
mit, es sei in Aussicht genommen, dass der Bau Ende
1904 vollendet sein werde, sudass zu Anfang 1905
die Anstalt Eglfing bezogen werden kann. Eventuell
könnte eine theilweise Ueberführung der Kranken
nach Eglfing schon im Mai 1904 stattfinden.
(Fränk. Ztg.)
— Die neue westphälischeProvinzial-Irrenan-
stalt kommt mit dem eigentlichen Anstaltsgebäude
auf Suttroper, mit den Wirtschaftsgebäuden auf War-
steiner Gebiet zu liegen. Da nach dem Pavillon-
system gebaut wird, so werden ungefähr dreissig Ge¬
bäude erforderlich sein, zu deren Errichtung u. a.
25 Millionen Stück Ziegelsteine zur Verwendung
kommen. Der eigentliche Bau wird erst im Frühjahr
1903 beginnen, doch soll mit den Planirungs- und
sonstigen Arbeiten schon recht bald der Anfang ge¬
macht werden.
Camberg. Es soll hier eine 3. Irrenanstalt
für den Reg.-Bez. Wiesbaden errichtet werden.
— Breslau. Die mustcrgiltigcn neuen Univer¬
sitätskliniken ergänzend, erbaut der Staat in der ver¬
längerten Auenstr. in Breslau eine staatliche Irren¬
anstalt.
— Fürsorge f tir d ie G eistes kranken in Hessen.
Das Kuratorium des Hilfsv. für die Geisteskranken in
Original frum
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1902.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Hessen bringt in seinem letzten Jahresbericht (1901/02)
zur allgemeinen Kenntnis, dass der Hilfsverein neben
der ihm obliegenden Fürsorge für die Geisteskranken
von nun an auch für gering bemittelte und unbe-
mittelteNervöse(N eurastheniker, Hysterische, Hypo¬
chonder u. s. w.) und für geistesgesunde erwachsene
Epileptische helfend eintreten will, und zwar in der
Weise, dass er das im einzelnen Fall angezeigte Kur¬
verfahren ermöglicht und die hierzu erforderlichen
Geldmittel zur Verfügung stellt. Während dem wohl¬
habenden Nervenleidenden die erforderlichen Heil¬
mittel überall und im reichsten Maasse geboten sind,
und während die Invalidenversicherungs-Anstalt Gross¬
herzogthum Hessen den nervös erschöpften versiche¬
rungspflichtigen Arbeiter dem Sanatorium in Linden-
fels zuführt und auf Grund der seither erzielten gün¬
stigen Erfolge sich entschlossen hat, gerade diesen
Kranken fortan eine ganz besondere Fürsorge zu theil
werden zu lassen, fehlt alle und jede sachgemässe
Hilfe jenen zahlreichen gering bemittelten und unbe¬
mittelten Nervösen, für die keine Krankenkasse, keine
Berufsgenossenschaft, keine In validen versicherungs-
Anstalt eintritt, also den bedürftigen Nervösen des
sogenannten Mittelstandes und der gebildeten Stände,
dem mittleren und niederen Beamten, dem Lehrer,
dem kleinen Kaufmann und Handwerker, kurz allen
denen, die nur zu oft ihre Kräfte in den Anstrengungen
des Berufes und in quälender Sorge um ihre Familie
aufreiben und, immer das drohende Elend vor Augen,
im Kampfe um die Existenz sich verbluten, bis sie
zuletzt in bitterer Not, nicht selten durch eigene Hand
oder in unheilbarer Geistesstörung, ihr Leben bc-
schliessen, einzig und allein deshalb, weil sie ausser
Stande waren, die zu ihrer Erholung und Wiederher¬
stellung erforderlichen Geldmittel zu erschwingen. Der
Hilfsverein für die Geisteskranken, der seinen Sitz in
Heppenheim und Hofheim hat, will die Anregung
dazu geben, dass dieser schreiende sociale Missstand
verschwindet. Das Kuratorium des Vereins hat ver¬
suchsweise und für das Jahr 1902/03 den Verwaltungen
der drei Kassen des Vereins zu dem angegebenen
Zweck einen Credit von zusammen 9000 Mk. eröffnet.
Vorerst sollen und können nur solche wirtschaftlich
bedürftige Nervenleidcnde Berücksichtigung finden,
die nach ärztlichem Ermessen als heilbar oder doch
in erheblichem Grade besserungsfähig erscheinen. Der
Verein, der, wie bekannt, auch die Angehörigen von
der Anstalt übergebenen Geisteskranken und geheilte,
resp. wieder entlassene Geisteskranke aus seinen Mitteln
unterstützt und in dieser Hinsicht schon viel Gutes
gethan hat, ist nun auf die ausgiebige Betheiligung
der privaten Wühltätigkeit angewiesen, falls die edlen
Bemühungen, denen er dient, von schönen Erfolgen
gekrönt sein sollen. Durch seine Vertrauensmänner,
die er fast in allen Gemeinden des Landes hat, sucht
er vor allem dazu beizutragen, dass die Irrenanstalten
Heppenheim und Hofheim in ihren Einrichtungen
und ihrem Betrieb der Wahrnehmung und der Kennt-
nissnahme des Volkes immer näher gebracht werden.
Zu diesem Zwecke fand am 20. v. Mts. in der Irren¬
anstalt zu Heppenheim eine Konferenz der Verwaltung
des Hilfsvereins mit 12 Vertrauensmännern der Provinz
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Starkenburg statt, bei welcher Herr Oberarzt Dr. Kratz
einen sehr lehrreichen Vortrag über das äussere und
innere Leben der Anstalt zu Heppenheim hielt, welche
gegenwärtig etwa 500 Geisteskranke beherbergt. Hier¬
auf fand unter Führung der Herren Aerzte Dr. Bieber¬
bach und Dr. Kratz eine Besichtigung der Irrenanstalt
in allen ihren Theilen statt, wobei die Vertrauens¬
männer reichlich Gelegenheit hatten, sich von der vor¬
züglichen Verwaltung der Anstalt und der guten Ver¬
pflegung der Kranken, die sich dort fast alle wohler
fühlen als anderswo, zu überzeugen.
— Die Processkosten bei einer Ehe¬
scheidung wegen Geisteskrankheit Wer hat
bei Scheidung der Ehe wegen Geisteskrankheit die
Processkosten zu tragen ? Jüngst hat das Landgericht
II Berlin die Ehe der Parteien wegen Geisteskrankheit
des Beklagten getrennt und die Kosten des Verfahrens
dem gesunden Kläger auferlegt. Die Entscheidung
wegen der Kostentragung giebt, wie Dr. jur. Fritz
Poech in der „Deutschen Juristenztg.“ schreibt, Anlass
zu Bedenken. Die Scheidung der Ehe erfolgt auch
im Falle von Geisteskrankheit nur auf Grund richter¬
lichen Urtheils. Doch entbehrt das die Scheidung
aussprechende Erkenntniss, entgegen der allgemeinen
Regel, der Schuldfeststellung selbst dann, wenn die
Geisteskrankheit durch Verschulden eines der Ehe¬
gatten, z. B. durch übermässigen Genuss von Alkohol
oder von anderen Giften herbeigeführt worden ist.
Der die Scheidung veranlassende Ehegatte wird aber
in Ansehung des Unterhaltsanspruches und der Theilung
des gütergemeinschaftlichen Gesamtgutes wie ein allein
für schuldig erklärter Ehegatte behandelt. Es wird
behauptet, von einem „Unterliegen“ der geisteskranken
Partei im Scheidungsprocesse könne nicht die Rede
sein; es müsse daher auch § 91 Z.-P.-O. ausser Be¬
tracht bleiben. Der Kläger, welcher die Fesseln der
Ehe mit einer geisteskranken Person abstreife, thue
dies nur zu seinem Gunsten, deshalb müsse er auch
die Kosten des Verfahrens tragen. Dieser Einwand
erscheint nicht stichhaltig. Da jede Scheidung einen
Rechtsstreit zur Voraussetzung hat, ein solcher aber,
wenn es zum Urtheil kommt, mit einem, wenn auch
nur theilweisen Siege einer Partei und einer Nieder¬
lage der anderen endigt, so muss stets ein Unter¬
liegender vorhanden sein. Auf alle Fälle ist dies nicht
der mit seinem Begehren durchdringende Kläger,
folglich also der andere Ehegatte. Dem oben ange¬
führten Urtheilc kann daher nicht beigestiramt werden,
sondern es hat bei Scheidung der Ehe wegen
Geisteskrankheit der unterliegende kranke Ehegatte
die Kosten des Verfahrens zu tragen.
— Ueber geminderte Zurechnungsfähigkeit
schreibt die Köln. Zeitung vom r. XI.: Das Schwur¬
gericht zu Oldenburg hat den Mörder des Oberamts-
richters Becker zu 12 Jahren Zuchthaus verurtheilt,
trotzdem einer der ärztlichen Sachverständigen, Dr.
Engelken, in dessen Heilanstalt der Angeklagte sich
im Jahre 1897 befunden hatte, den Angeklagten für
unheilbar geisteskrank erklärt hatte. Es ist sehr wahr¬
scheinlich, dass im Anschluss an diesen Vorgang von
neuem- die auf dem letzten Aerztetag besprochene
Frage der Stellung des ärztlichen Sachverständigen
Original frnm
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400 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36.
zum Richter erörtert werden wird. Dabei muss aber
von vornherein festgestellt werden, dass sämmtliche
übrigen vernommenen Sachverständigen, die den An¬
geklagten zum Theil schon seit Jahren kannten, sich
für die Bejahung der Frage der Zurechnungsfähigkeit
ausgesprochen haben, und dass einer von ihnen, der
Leiter einer Irrenanstalt, Obermedicinalrath Dr. Hem-
kels, nach dieser Richtung sein Gutachten in der
mündlichen Hauptverhandlung abgeändert hat. Also
selbst wenn, wie vielfach von ärztlicher Seite gefor¬
dert wird, die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht
mehr vom Gerichte, sondern von einem Collegium
ärztlicher Sachverständiger entschieden werden würde,
so würde sie im vorliegenden Falle schwerlich anders
entschieden worden sein. Trotzdem hat diese Ge¬
richtsverhandlung wieder einmal so recht deutlich die
Aufmerksamkeit auf eine Lücke unseres Strafgesetz¬
buchs gelenkt, deren Beseitigung den Streit zwischen
Juristen und Aerzten über die Zurechnungsfähigkeit
vielleicht ganz beseitigen, jedenfalls erheblich mildem
würde. Denn wenn auch die meisten Sachverständigen
es für ausgeschlossen erklärten, dass der Angeklagte
geisteskrank sei, und in einem Zustande von Bewusst¬
losigkeit gehandelt habe, so haben sie doch alle aus¬
gesagt, dass bei dem Angeklagten ein Zustand hoch¬
gradiger Erregung Vorgelegen habe, der einer gewissen
geistigen Abnormität entsprungen sei — und eine
Trübung des Geisteszustandes im Gefolge gehabt habe.
Daher haben alle ärztlichen Sachverständigen sich
dahin ausgesprochen, dass die That eine gewisse mil¬
dere Beurtheilung erheische. Daraus folgt, dass nach
der Ansicht aller ärztlichen Sachverständigen bei dem
Angeklagten derjenige Zustand vorlag, den einzelne
moderne Strafgesetzbücher, vor allem das italienische,
als einen Zustand „geminderter Zurechnungsßihigkeit“
ausdrücklich anerkennen und bei dessen Vorliegen
das Gesetz in einem bestimmtem, mildem Strafver¬
fahren anzuwenden ist. Unser Strafrecht kennt den
Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit nicht,
trotzdem schon wiederholt von juristischer wie ärzt¬
licher Seite auf seine Anerkennung gedrungen worden
ist. Der soeben in Oldenburg abgeurtheilte Fall ist
ein sozusagen klassischer Fall für den Begriff der ge¬
minderten Zurechnungsfähigkeit. Der Angeklagte ist
geistig nicht ganz normal, aber nicht derartig abnorm,
dass seine geistige Willensfreiheit gänzlich ausgeschlossen
wäre. Auch dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung
würde die Einführung dieses Begriffs durchaus ent¬
sprechen. Denn nach der jetzigen Lage wird einer¬
seits mancher Angeklagte ganz freigesprochen, trotzdem
er nicht unzurechnungsfähig, sondern nur gemindert
zurechnungsfähig ist. Anderseits tragen die Gerichte
diesem Zustande häufig nicht so sehr Rechnung, wie
es mit Rücksicht auf die Minderung der Zurechnungs¬
fähigkeit geschehen muss, und verhängen sie oft zu
schwere Strafen, da ihnen eine besondere Grenze für
die Fälle der geminderten Zurechnungsfähigkeit hin¬
sichtlich des Strafmaasses nicht gegeben ist. Wenn
die geminderte Zurechnungsfähigkeit erst gesetzlich
anerkannt ist, dann werden sich die Gutachten der
ärztlichen Sachverständigen vermuthlich nicht mehr
so schroff gegenüberstehen, wie es heute in so vielen
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Fällen geschieht. Denn dann ist eben zwischen der
Bejahung und Verneinung der Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit eine gewisse Vermittlung hergestellt, auf die
sich die Sachverständigen oft einigen werden. Frei¬
lich wird es dann auch noch Fälle geben, in denen
der eine Sachverständige eine Unzurechnungsfähigkeit,
der andere bloss eine geminderte Zurechnungsfähigkeit
erblickt Aber das wird bleiben, solange wir über¬
haupt die Willensfreiheit als Grund von Schuld und
Strafe ansehen. —
Ueber dasselbe Thema äusserte sich Director Dr.
Delbrück, bei der diesjährigen Sitzung der crimina-
listischen Vereinigung in Bremen Dr. Delbrück be¬
tonte, dass es eine Menge Uebergänge zwischen geistiger
Krankheit und Gesundheit giebt, die sich weder mit
der „Zurechnungsfähigkeit“ noch mit der „Unzurech¬
nungsfähigkeit“ decken; sie sollten vielmehr Berück¬
sichtigung im Gesetz finden in einer Zwischenstufe
einer „verminderten Zurechnungsfähigkeit“. Eine solche
findet sich in vielen ausserdeutschen und älteren
deutschen Landesgesetzgebungen. Für das Reichs¬
strafgesetzbuch wird sie seit lange von den Irrenärzten
gefordert. Die Frage sollte aber jetzt verknüpft werden
mit den verschiedenen Projecten zur Versorgung der
gemeingefährlichen vermindert Zurechnungsfähigen.
Solche Projecte sind die Anstalten für geisteskranke
Verbrecher, für Minderwerthige, für unheilbare Alko¬
holiker, (die von den Trinkerheilanstalten zu trennen
sind) und die „Strafabsonderungshäuser“. An Hand
verschiedener Beispiele führt Ref. aus, dass alle dieser
Projecte im Grunde auf dasselbe hinauslaufen. Man
sollte sich über Character und Organisation diese
Zwischenanstalten verständigen; dann würde man sich
eher über die verminderte Zurechnungsfähigkeit einigen.
Namentlich würden die Juristen einer derartigen Be¬
handlung des Problems mehr Entgegenkommen be¬
weisen. Nöthig wäre ein Meinungsaustausch zwischen
Juristen und Irrenärzten, Theoretikern und Practikem.
Die berufene Organisation hierfür wäre deshalb gerade
die internationale criminalistische Vereinigung, die sich
aus Vertretern der verschiedenen Berufsarten zusam¬
mensetzt.
— Die grosse Königlich Sächsische Landes-Heil-
und Pflege-Anstalt für Epileptische in Hochweitz¬
schen, deren Direktion bisher aus einem Verwaltungs¬
beamten, dem 1. Anstaltsarzte und dem Anstalts¬
pfarrer gebildet wurde, ist am 1. Oktober d. J. unter
ärztliche Direction (Medicinalrath Dr. Böhme)
gestellt worden. Man muss es lobend hervorheben,
dass die Kgl. Sächs. Regierung diese Aenderung vor¬
genommen hat und in der Auflassung, dass eine solche
Anstalt unter eine einheitliche ärztliche Leitung
gehört, mit gutem Beispiel vorangeht, angesichts des
in letzter Zeit wieder mehr sich breit machenden
genossenschaftlichen Unternehmerthums, bei welchem
die Vertretung des genossenschaftlichen Pflege¬
personals und somit gewissermassen dieses selbst
Herr in der Anstalt ist, anstatt des Arztes, der also
eigentlich Beamter des Pflegepersonals ist! Welchen
Respect man in gewissen Kreisen vor solchen Ge¬
nossenschaften haben mag, kann man daraus schliessen,
dass eine Regierungs - Besuchscommission bei der
Original from
HARVARD UN1VERSITY
1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
401
Revision einer Anstalt, in der neben genossenschaft¬
lichem Personal auch weltliches angestellt ist, die Vor¬
legung der Personalacten des nichtgenossenschaftlichen
Pflegepersonals verlangte, von der Einsicht in die¬
jenigen desj genossenschaftlichen jedoch Abstand
nahm, was natürlich nicht das richtige Verfahren ist.
— 33- Versammlung südwestdeutscher Irren¬
ärzte in Stuttgart am 1. und 2. November 1902.
Die Versammlung, welche 100 Theilnehmer aus ganz
Südwestdeutschland zählte, war die bestbesuchte, welche
der Verein je abgehalten hat. Das „Med. Corre-
spondenzblatt des Württemberg, ärztl. Landesvereins“
hatte sich mit einer psychiatrischen Nr. (vom 1. Novbr.
1902) eingestellt, an deren Spitze ein kurzer, aber
herzlicher Gruss die Gäste in Stuttgart bewillkommnete
und die Aufsätze von Med.-Rath Kreuser: Geschicht¬
licher Ueberbliek über die Entwicklung des Irrenwesens
in Würtemberg, von Med.-Rath Dietz: der heutige
Stand der Irrenfiirsorge in Württemberg und die neue
Irrenanstalt Weinsberg, San.-Rath Wildermuth: die
Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württemberg,
Dr. Wiedenmann: die Privat-Irrenanstalt Rotten¬
münster bei Rottweil (mit 1 Abb. und 6 Plänen),
San.-Rath Fauser: die Irrenabtheilung des Bürger¬
hospitals in Stuttgart (mit 2 Abbildungen), einen
Nekrolog Zellers, mit dem Bildniss des Verstorbenen,
Mittheilungen und schliesslich das nicht weniger als
22 Vorträge aufweisende Programm brachte. Sanitäts¬
rath Dr. Wildermuth- Stuttgart begrüsste die Er¬
schienenen , worauf Prof. Dr. Fürstner - Strassburg
mit der Leitung der Verhandlungen betraut wurde.
Dieser gedachte zunächst des verewigten Obermedi-
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cinalraths Dr. v. Zeller, zu dessen Ehrung sich die
Anwesenden von ihren Sitzen erhoben, und verlas
sodann ein Begrüssungsschreiben des Oberbürger¬
meisters Gauss.
Die Reihe der Vorträge wurde eröffnet durch
San.-Rath Dr. Wildermuth und Dr. Neu mann,
die im Auftrag der Versammlung ein Referat und Kor¬
referat über die Gründung von Volksheilstätten für
unbemittelte Nervenkranke zu erstatten hatten.
Wildermuth besprach die allgemeinen Ge¬
sichtspunkte, die bei dieser Frage in Betracht
kommen:
Bei der Umgrenzung der Krankheitsformen,
die sich zur Aufnahme eignen, hat man sich
zunächst an die Erfahrungen zu halten, die man in
den bisherigen offenen Nervensanatorien gemacht hat.
Eng ist die Grenze zu zeichnen gegen die Psy¬
chosen. Die Hoffnung die Walter und O. Müller
im Anfang der 70er Jahre ausgesprochen haben, in
den offenen Anstalten leicht zugängliche Asyle für
initiale und leichte Formen zu erhalten, hat sich nicht
bewährt, man hat dort mit den „Lei chtvers timmten“
recht üble Erfahrungen gemacht.
In Betracht können für die geplanten Anstalten
von psychischen Störungen kommen:
Leichtere Formen von psychischer
Schwäche und von Zwangsvorstellungen,
insbesonders die grosse Gruppe der jugendlichen
Degenerirten. Die „enfants perdus neuro-
pathiques“, deren klinische Stellung verschieden ist,
die aber das Gemeinsame haben, moralisch und in¬
tellektuell defekt und unfähig zu sein, sich selbst
einen Beruf zu schaffen. Die Aufnahme recon-
va lescenter Geisteskranker ist nicht von
vornherein abzulehnen. Am besten wird die Ent¬
scheidung über die Aufnahme von Psychosen nach
der Formulirung H eck e rs entschieden: die Kranken
müssen freiwillig, mit dem Wunsch sich ärztlich be¬
handeln zu lassen eintreten, sie müssen Krankheits¬
bewusstsein und Krankheitseinsicht haben, sie müssen
Herr ihrer Handlung und im Stande sein, den ärzt¬
lichen Anordnungen zu folgen, sie sollen keiner be¬
sonderen Ueberwachung bedürfen, ihrer Umgebung
nicht als abnorm auffallen oder lästig werden.
Auszuschliessen sind irgendwie ausgesprochene
epileptische Zustände (Ref. bezeichnet es als ein
Missverständniss, dass er mehrmals als ein Vertreter
der Ansicht citirt wurde, Epileptische und Nerven¬
kranke, wie sie hier in Betracht kommen, gemeinsam
verpflegen zu können).
Fällen von organischen Erkrankungen des
Nervensystems soll auch, wenn sie unheilbar sind,
aus humanen Gründen wenigstens vorübergehend Auf¬
nahme gewährt werden. In Betracht kommen: Tabes,
multiple Sclerose, Myelitiden, Neuritiden und ihre Folge¬
zustände und ähnliche Zustände.
Das Hauptcontingent werden natürlich die sog.
functionellen Neurosen: Neurasthenie, Hysterie,
Hypochondrie stellen; Unfallneurosen, die in
jeder Krankenanstalt Unheil anrichten, sind, soweit
thunlich, auszuschliessen, jedenfalls nur in kleiner Zahl
und vorübergehend aufzunehmen.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
402 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36
Alcoholisten in leichterer Form können aufge¬
nommen werden. Potatoren im Stadium der Ent¬
ziehung und notorische Säufer nicht. Die Anstalt
darf nicht den Charakter einer Trinkerheilstätte be¬
kommen. Ausserdem sollen Erholungsbedürftige
verschiedener Art, Anämische, Chlorotische,
Reconvalescenten, leichte Fälle von Herz¬
krankheiten aufgenommen werden können. Diese
Art Kranker, wie die organisch Nervenleidenden
würden die ärztliche Arbeit interessanter und dank¬
barer machen.
Die Einrichtung und der Betrieb der Anstalt
wäre im Wesentlichen nach den von Möbius erstmals
scharf präcisirten, in neuester Zeit von Eschle ent¬
wickelten Grundsätzen als Arbeitsanatorium einzu¬
richten. Dabei dürfen die Einwände, wie sie nament¬
lich Rieger gegen die Verwendung der Arbeit als
hauptsächliches Heilmittel ausgesprochen hat, nicht
unberücksichtigt bleiben: Ein grosser Theil det Nerven¬
kranken, die die jetzt bestehenden offenen Anstalten
aufsuchen, ist in erster Linie ruhebedürftig. Körperliche
Beschäftigung kann gelegentlich, namentlich als Ueber-
gang ins Berufsleben in Betracht kommen. Derartige
Pat. werden auch in billigen Anstalten nicht lange
bleiben, um nicht in ihrer Berufstellung Schaden zu
leiden. Für einen grossen Theil von ihnen ist ein
mehrere Monate übersteigender zusammenhängender
Anstaltsaufenthalt gar nicht wünschenswerth. Immer¬
hin wird sich unter den Hysterischen und Hypo¬
chondern eine grössere Anzahl finden, die sich zur
Arbeit eignet. Ob es möglich sein werde, solche
Kranke auf die Dauer zu einem nützlichen Berufs¬
leben auch ausserhalb der Anstalt zu erziehen, muss
die Erfahrung zeigen. Ein wesentliches Conti n-
gent zu den Arbeitskräften, zum Theil wohl zum
Stamm der Arbeiter, werden die jugendlichen Dege-
nerirten stellen (Grohmann).
Der Ökonom. Werth der von den Kranken ge¬
leisteten Arbeit muss im Budget der Volksheil¬
stätten recht nieder angeschlagen werden. Vielfach
wird bei dieser Frage übersehen, dass ernsthaft be¬
triebene landwirtschaftliche Arbeit sehr schwere Ar¬
beit ist, an die sich der Erwachsene, der sie nicht
von Jugend auf getrieben hat, nur schwer ge¬
wöhnt. Praktisch dürfte man nicht selten auf direkte
Arbeitsverweigerung des Patienten namentlich aus un¬
gebildeten Kreisen stossen.
Trotz einzelner Bedenken ist der Gedanke von
Möbius richtig. Der Kern der neuen Heilstätten
muss ein Arbeitsanatorium sein. Daraus er¬
geben sich die Hauptzüge der neuen Anstalten von
selbst:
Im Mittelpunkt landwirtschaftlicher Betrieb, daran
sich anschliessend Werkstätten verschiedener Art, ferner
Abtheilungen für Pflegebedürftige. Einfache, alkohol¬
freie Verpflegung, ärztliche Direktion mit den nöthigen
Einrichtungen für hydropathische, mechanische, elek¬
trische Behandlung.
Getrennte Anstalten für männliche und weibliche
Kranke wären wünschenswert, praktisch lässt es sich
aber nicht durchführen.
Können die Volksheilstätten im Anschluss
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an schon bestehende Institute errichtet wer¬
de n ?
Der Anschluss au Irren-Anstalten ist abzulehnen.
Bei den im Publikum herrschenden Ansichten ist ein
solcher Anschluss nicht möglich. Ref. weist dies in
einem in dieser Richtung gemachten Versuch nach,
der gänzlich misslungen ist.
Es wäre aber notwendig und wünschenswert,
dass gleichzeitig mit der Errichtung von Volks¬
heilstätten für Nervenkranke, für leichte und ini¬
tiale Formen und Psychosen, die sich weder für
offene noch für geschlossene Anstalten, wie sie jetzt
bestehen, eignen, gesorgt würde in der Weise, wie
das Ludwig früher, in jüngster Zeit Schüle ausge¬
führt hat. Diese Art der Fürsorge hat von den Irren¬
anstalten auszugehen.
Auch die Erhol un gsheime der Krankenkassen
und Versieherungs-Anstalten, die Universitäts¬
kliniken und Spitäler anderer Art sind für den
vorliegenden Zweck nicht geeignet. Es muss etwas
Neues, Selbständiges geschaffen werden.
Wer soll diese Anstalten errichten!
Ref. hält in Württemberg'wenigstens eine Gründung
durch den Staat für ausgeschlossen, auch die Ver¬
sicherungs-Anstalten und Berufsgenossen¬
schaften werden sich an der Gründung nicht wesent¬
lich betheiligen.
Unterstützung seitens des Staates und der ge¬
nannten Organisationen ist wohl nicht ausgeschlossen.
Würde man in diese Anstalten reconvalesccnte Geistes¬
kranke aufnehmen, so wäre auch von den entsprech¬
enden Hilfsvereinen Unterstützung zu erwarten.
Im Wesentlichen wird man bei dem Unternehmen
auf die P r i va t w o h 11 h ä t i gk e i t angewiesen sein.
Um eine Zersplitterung zu vermeiden, stellt W.
den Antrag, sich in Südwestdeutschland an das Unter¬
nehmen anzuschliessen, das Möbius in die Wege ge¬
leitet hat. Möbius wall, wie bekannt, im Verein mit
Schweizer Aerzten ein Arbeitsanatorium im Thurgau
errichten.
Als Namen für die Anstalten schlägt W.: „Volks¬
heilstätten“ vor.
Das Correferat von Dr. Neu mann (Karlsruhe)
wird demnächst als Original in dieser Zeitschrift er¬
scheinen.
Nach ausführlicher Erörterung des Gehörten ge¬
langte eine Resolution zur Annahme, in welcher die
Errichtung von Volksheilstätten als wünschenswerth
bezeichnet wird. Ferner wurde eine Commission ge¬
wählt, deren Aufgabe cs ist, diese Angelegenheit zu
fördern und nach Verlauf von zwei Jahren dem Verein
Bericht über ihre Arbeit zu erstatten. —
Dr. Smith von Marbach a. Bodensee sprach
über das Thema: Haben wir besondere An¬
stalten zur Behandlung des Alkoholismus
nothwendig oder gehört diese Behandlung mit zu
den Aufgaben der Nervenheil- und Pflegeanstalten?
Redner rügt die moraltheologische Auffassung des
Alkoholismus, die sich noch in ärztlichen Kreisen
durch die Bezeichnungen „Säufer“ kennzeichnet, und
wamt vor der Gründung von „Trinkerheilanstalten“.
Es würde durch diese Bezeichnung von vornherein
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
den Insassen eine sociale Schädigung zugefügt. Nervöse,
herzkranke „Trinker“ gehören in Heilanstalten für
Herz- und Nervenkranke, die Degenerirten, die meist
auch in der Abstinenz mit ihren Trinkleistungen zu
renommiren pflegen, können einstweilen in abstinent
geführten Pflegeanstalten untergebracht werden. Der
Staat sollte nach dem Vorgang der Schweiz einen
Theil der durch den Alkoholismus gewonnenen Steuer¬
eingänge zur Bekämpfung des Alkoholismus verwenden.
(Schluss folgt.)
Referate.
— Die Bedeutung der Vererbung für die
Pathologie. Von Dr. Dietrich, Priv.-Doc. u. I. Ass.
a. path. Institut Tübingen. Verlag von Franz Pietzker,
Tübingen 1902. Pr. 1 M.
Nach Besprechung der wichtigsten über Vererbung
anfgestellten Theorien schliesst sich Verf. Weissmanns
Lehre von der Continuität des Krimplasmas an, aus
welcher der zwingende Schluss folgt, dass erworbene
Eigenschaften nicht vererbt werden können. Die Be¬
weise der Gegner Weissmanns werden widerlegt und
das Auftreten vererbbarer Eigenschaften oder patho¬
logischer Veränderungen erklärt durch die Variabilität
des Keimplasmas, die Amphimixis und die Panmijrie.
Von der echten Vererbung im Sinne Weissmanns
sind zu trennen die Vererbung erworbener Immunität
und die erbliche Uebertragung von Infectionskrank-
heiten. Erstere geschieht auf placentarem Wege
(Pseudoheredität), letztere durch die Placenta oder von
den Keimzellen direkt (conceptionelle oder germinative
Infection). Speciell in Betreff der Tuberculosc vertritt
Verf. die von der herrschenden Meinung abweichende
Ansicht, dass an Stelle des vagen Begriffs einer erb¬
lichen Disposition, welche unter eine echte Vererbung
fallen würde, die congenitale Infection zu setzen ist.
— Ueber die Behandlung der Geistes¬
kranken. Von C. Pelman-Bonn. Das acute
hallucinatorische Irresein (Amentia). Von A.
Hoche-Strassburg i. E. Ueber Dementia praecox.
Von A. Hoche-Strassburg i. E.
Obige 3 Abhandlungen bilden in dem von Urban
& Schw arzenberg verlegten, grossen Werke „die deutsche
Klinik am Eingänge des 20. Jahrhunderts in acade-
mischcn Vorlesungen“ die 45. Lieferung. Wie nicht
anders zu erwarten, sind aus der Feder der beiden
rühmlichst bekannten Autoren Arbeiten hervorgegangen,
die sich durch grosse Klarheit, gewandte Diction und
fesselnde Schilderung auszeichnen.
Aus der ersten Vorlesung verdient Erwähnung,
dass Verf. den Alkohol nur aus der Behandlung der
Neurastheniker und aus der Kinderpraxis ganz entfernt
haben will, dagegen bei Psychosen, namentlich acuten,
sehr empfiehlt. In der zweiten Vorlesung w'ird be¬
tont, dass auch für die etwa nur stunden- oder tage¬
lang andauernden Remissionen, sowie für die dem
Ausbruch des acuten Zustandes unmittelbar voraus¬
gehende Zeit die Voraussetzungen des § 51 erfüllt
sind. In der dritten Vorlesung wird am Schluss noch
403
besonders auf die Wichtigkeit der Kenntniss der De¬
mentia praecox für die Militär- und Gerichtsärzte hin¬
gewiesen. Arnemann-Gross-Schw r eidnitz.
Bibliographie über Kriminal-Anthropologie und
Verwandtes. 3. Quartal 1902.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
(Schluss.)
Fioretti: Genio e follia. Napoli 1902.
Gurli: Le nostre carceri e i nostri riforrnatori. Pro¬
posta di urgenti riforme al Regolamento carcerario.
Cavani: Se csista un mancinismo vasomotorio.
Bolletino della Societa medica chirurg. di Mo¬
dena 1901.
Niceforo: La sociologie criminelle. Le<;on faite a
l’Universite de Lausanne. Lausanne 1902.
Paulucci de’ Calboli: La tratta delle ragazze
italiane. Nuova Antologia, aprile 1902.
Sergi: Intorno al fenomeno geniale. Rivista popo-
lare, 1902.
Squillace: Le dottrine sociologiche. Roma 1902.
Sainton: Un cas d’eunuchisme familial. Nouuelle
Iconographie de la Salpetriere, 1902, Nr. 3.
Millaut: Castration criminelle et maniaque (etude
historique et medicolegale). These de Paris, 1902.
Lamelle: Hemimelie et degenerescence mentale.
Bulletin de la Socicte de Medecine mentale de
Belgique, 1902, Nr. 105.
Mora es: La teoria Lombrosiana del delinquente.
Archivio de Criminalogia, 1902, Nr. 6.
Ingegnieros: Las teorias de Lombroso ante la
critica. Ibidem.
Pasenti: La caratteristica de la criminalidad modema.
Ibidem.
Breard: Homicidio en legitima defensa. Ibidem.
Veyga: Invertido sexual imitando la mujer honeta.
Ibidem.
Sofer: Ueber Vermischung und Entmischung der
Rassen. Politisch-anthropol. Revue, 1902, Nr. 6.
Lombroso: Puberty and genius (Fortsetzung). The
Alien ist and Neurologist, 1902, Bd. 23, Nr. 3.
Spitzka: A question of figures (Fortsetzung). Ibidem.
Kirnan: Dipsomania ending in paranoia. Ibidem.
Hughes: A neuro-psychologists plea for Byron.
Ibidem.
Müller, Josef: Das sexuelle Leben der Naturvölker.
2. Aufl., Leipzig 1902, Grieben (Femau). 71 S.
Müller, Josef: Das sexuelle Leben der alten Cultur-
völker. Leipzig 1902, Grieben (Fernau). 143 S.
Botti: La delinquenza femminile ä Napoli. Rivista
mensile di psich. for. etc., 1902, Nr. 8.
Saporito: Sulla delinquenza militare (Fortsetzung).
Ibidem.
Moll: Sexuelle Zwischenstufen. Die Zukunft, 1902,
Nr. 50.
Binet-Sangle: Les rcligieuses de Port-Royal (suite).
Arch. d’anthropologie criminelle etc., 1902, p. 517.
Locard: Le XVII. siede medico-judiciairc. These
de Lyon, 1902.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
404 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 36.
Paola Lombroso: I segni rivelatori della perso-
nalitä. Torino, Bocca, 1902.
Marotta: L’amore e la gelosia nei sessi. Asti 1900.
Albertotti e Bellini: Nuove note antropologiche
e cliniche intorno all* idiota microcefalo. E. Egidio
etc. Annali di freniatria etc. 1902, p. 274.
Personalnachrichten.
— Der Direktor der städtischen Krankenanstalt in
Königsberg, Professor Dr. med. Franz Meschede,
ist in seiner Eigenschaft als Direktor der städtischen
Krankenanstalt beim Magistrat um seine Pensionirung
eingekommen. Meschede, welcher im Jahre 1873
als Direktor der genannten Anstalt nach Königsberg
berufen wurde, wird im nächsten Jahre eine dreissig-
jährige Dienstzeit vollenden. — Der Professor der
Psychiatrie an der Leipziger Universität, Dr. Paul
F 1 echsig, wurde aus Anlass des hundertjährigen Be¬
stehens der Universität Dorpat zum Ehrenmitglied
dieser Universität ernannt.
Erwiderung nebst einigen anderen nach¬
träglichen Bemerkungen.
Die Angabe, dass in dem Frauenhause zu Worm-
ditt zunächst auch Männer aufgenommen werden
sollten, war den Verhandlungen des letzten Ost-
preussischen Provincial-Landtags entnommen
worden, die Absicht muss also bestanden haben. Was
die in Anmerkung gesetzte Berichtigung zu meinen
Ausführungen in Nr. 34 bezüglich der Vorbildung des
Wormditter Arztes betrifft, so bedaure ich, von der¬
selben nicht früher Kenntniss erhalten zu haben; es
hätte dann der Schein vermieden werden können, als
wollte ich die Persönlichkeit des betr. Coilegen, dessen
Namen ich nicht in die Debatte gezogen habe, kriti-
siren, während sich meine Ausführungen nur gegen
das System richten. — Ich überlasse es der Beur-
theilung der Fachcollegen, welches Maass der Vor¬
bildung sie für die Einrichtung und Leitung einer
Epileptiker-Anstalt für nöthig erachten. Die preuss.
Ministerial-Anweisung vom 26. März 1901 schreibt
vor: „In der Regel ist für die Leitung einer grösseren
oder einer heilbare Kranke aufnehmenden Anstalt
eine etwa zweijährige Thätigkeit dieser Art erforder¬
lich. Je nach dem Bestände und Wechsel der Kranken
und wenn die Anstalt ausschliesslich unheilbare Kranke
aufnimmt, kann die Dauer der Ausbildung auf etwa
ein Jahr herabgesetzt werden.“ Welche Vorbildung
für die Einrichtung einer solchen Anstalt nöthig
ist, darüber schreibt die Verfügung nichts. Jedenfalls
würde eine 2 jährige Anstaltsthätigkeit nirgends als
einigermaassen ausreichend für die Einrichtung und
Leitung einer öffentlichen Anstalt erachtet werden.
Und wenn die oslpreuss. Prov.-Verwaltung für ihre
Epileptiker eine eigene Anstalt gebaut hätte — was
wohl alle provincialbeamteten Aerzte und gewiss auch
die andern Prov.-Verwaltungen für das Richtige halten
— so hätte sie, entweder aus dem eignen Bereich
oder demjenigen anderer öffentlicher Verwaltungen,
Aerzte anstellen können, die 6, 8 Jahre und noch
länger dem Staate treu gedient haben und bei prak¬
tischer und wissenschaftlicher Erprobtheit und Erfah¬
rung als Oberärzte oder selbst noch als Assistenzärzte
auf eine selbständige Stellung warten.
Dies trifft übrigens mutatis mutandis auch für die
übrigen Anstaltsbeamten der Provinz Ostpreussen zu.
Zum Schluss will ich noch bezüglich der Trinker¬
anstalt zu Carlshof auf Wunsch des Leiters derselben,
des Herrn Pfarrer Dembowski, gern klar stellen, dass
der nach dessen Ansicht zu Missdeutungen Anlass
gebende Satz: „Bemerkenswerth ist, dass die erste
und nothwendigste Bedingung für eine erfolgreiche
Trinkerbehandlung, die Alkoholabstinenz an Haupt
und Gliedern, in der Anstalt Carlshof fehlt“, natürlich
nicht dahin zu verstehen ist, dass die Abstinenz auch
bei den Kranken selbst fehlt. Dieselben bekommen
selbstverständlich keine Alkoholika und auch der
Hausvater, der mit ihnen zusammen im Trinkerhause
wohnt, lebt abstinent. Bios die Abstinenz an Haupt
und Gliedern fehlt, sie fehlt bei dem Direktor der
Anstalten, beim leitenden Arzt, welcher speciell Arzt
der Trinkeranstalt ist, bei den übrigen Aerzten, die
ihn wohl gelegentlich zu vertreten haben, bei den
übrigen an der Carlshofer Anstalt angestellten Pfarrern,
welche sicher auch dienstlich mit den Trinkern in
Berührung kommen, bei den Verwaltungs- und niederen
Beamten und bei den Diakonen und Diakonissinnen
der Anstalten (bei den letzteren vereinzelte Aus¬
nahmen). Die Aerzte und wohl auch die übrigen
höheren Beamten bekommen ex officio zu ihrer Kost
täglich eine Flasche Bier aus der Anstaltsküchc ge¬
liefert, die Diakonen und Diakonissinnen eine Flasche
Braunbicr oder Limonade nach Belieben. Auch die
Epileptiker bekommen gelegentlich bei Festen Braun¬
bier. Aus der Oekonomie können die Beamten so
viel Bier beziehen als ihnen beliebt. Also kurz und
gut, auf dem gesammten Gebiet der Carlshofer
Anstalten mit Ausnahme des zu ihnen gehören¬
den und mit ihnen organisch verbundenen Trinker¬
hauses heirscht nicht die Abstinenz, sondern wird
der Genuss geistiger Getränke autorisirt, während in
einer mustergiltigcn Anstalt die zu heilenden
Trinker durch das Beispiel der gesammten enthalt¬
samen Umgebung zur Enthaltsamkeit erzogen werden
müssen. Völlige Enthaltsamkeit von allen
geistigen Getränken für alle Angestellten
der Anstalt in und ausser dem Hause ist, wie
auch auf der ersten Conferenz der Vorstände deut¬
scher Trinkerheilanstalten zu Dresden am 26. Sep¬
tember 1900 allgemein betont wurde, die erste Be¬
dingung der Anstaltsbehandlung. Mit dieser Auffassung
glaube ich mich in voller Uebereinstimmung mit den
Resultaten der Wissenschaft, mit der Gesammtheit
der Irrenärzte und mit der erdrückenden Majorität
aller derer zu befinden, die sich mit der Trinkerbe¬
handlung ernstlich beschäftigen. Hoppe.
Für den redactioncllcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Rres ler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische
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Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte»
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ij. Eidinger,
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Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
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Nr. 37. 13. December. 1902.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), *u richten.
Inhalt. Originale: Die Erfolge der Epilepsie-Behandlung nach Toulouse-Richet. Von Dr. Koloman Pandy, B.-Gyula (Ungarn)
(S. 405). — Mittheilungen (S. 411). — Referate (S. 419).
Die Erfolge der Epilepsie-Behandlung nach Toulouse-Richet.
Von Dr. Koloman Pandy, Primararzt der Irrenabtheilung des allg. Krankenhauses zu B.-Gyula (Ungarn).
T m verflossenen Jahre haben meine Secundärärzte
Dr. Halmi und Dr. Bagarus mit der Me¬
thode Toulouse-Richet, die man anders auch
oligochloröse Bromtherapie der Epilepsie nennen kann,
Versuche gemacht. Ich habe diese Versuche ebenso
wie die litterarische Entwickelung der Frage mit
grossem Interesse verfolgt und halte es demnach, mit
Rücksicht auf die Wichtigkeit der Frage, für noth-
wendig, die ganze Sache kritisch darzustellen.
Toulouse und Rieh et haben in der Sitzung
vom 20. November 1899 der „academie des Scien¬
ces“ berichtet, dass, wenn man das Kochsalz in der
Nahrung der Epileptischen vermindert, die Wirkung
der Bromsalze sich bei diesen Kranken in gesteiger¬
tem Maasse bewährt. Sie haben auf diese Weise
bei 20 früher mit der alten Brommethode behandel¬
ten Kranken 81 °/ 0 Besserungen erzielt, bez. die An-
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fälle der Kranken haben sich auf 92 °/ 0 , die Schwin¬
del aber auf 70% gemindert. Die Aufregungszu¬
stände haben sich nicht geändert.
Ueber diese Versuche hat meines Wissens —
ausser den Autoren zu allererst Näcke referirt. Er
selbst hat zwar das Verfahren nicht angewendet, war
aber mit den in Paris persönlich gesehenen Erfolgen
so sehr befriedigt, dass er im Neur. Ctbl. vom 15.
Juli 1900 das „neue“ und „geniale“ Verfahren über¬
aus lobt und unter Anderem folgendes sagt: „Die
Methode ist also eine sehr einfache und hat trotz¬
dem bisher Erfolge aufzuweisen, wie kaum eine
andere.“
Vier Wochen nach Erscheinen dieses Artikels hat
Rumpf (Neur. Ctbl. 1900, Nr. 16) ebenfalls nur
theoretisch das Thema behandelt. Er ist weniger
entzückt als Näcke und sieht das Hauptverdienst
Original fram
HARVARD UNIVERSiTY
406 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37.
Toulouse und Rieh et’s darin, dass diese für
eine sorgfältigere Behandlung der Epilepsie einge¬
treten sind. Er betrachtet auch dieses Verfahren
nicht so sehr als „neu“, und factisch finde ich selbst
in den klassischen Zeilen , welche E s q u i r o 1 über
Epilepsie im Jahre 1815 geschrieben, die „salaisons“
schon verboten; und doch glaube ich, dass die im
Wege der Chlorentzichung erzielte Steigerung der
Bromwirkung — eben behufs therapischer Zwecke —
der Originalgedanke der genannten französischen Au¬
toren ist. Rumpf bestreitet auch die Erklärung des
neuen Heilverfahrens, weil — nach seiner Meinung
— von einer Ersetzung von Chlor durch Brom im
Organismus keine Rede sein kann. Wir werden in¬
dessen sehen, dass diese Behauptung R uinpf's
nicht stichhaltig ist. Ich kann aus Rumpf’s Be¬
merkungen nicht verstehen, weshalb die Epileptischen
„Birnen“ nicht essen sollen, ebenso finde ich bei
Delasiauve nicht begründet*) weshalb die Epi¬
leptischen frische Hülsenfrüchte, erquickendes Obst
und gedörrte Zwetschken gemessen sollen.
Die Mittheilungen Näcke’s und Rum pf ’s ver-
anlassten auch mich die oligochloröse Bromtherapie
an dem zu meiner Verfügung stehenden grossen Ma¬
teriale durch meine Secundärärzte erproben zu lassen.
Dieselben haben über die erzielten Erfolge schon
referirt, — auf deren Würdigung komme ich noch
zurück. —
Während bei uns die einleitenden Beobachtungen
schon im Gange waren, sind über diesen Gegenstand
zwei neuere Mittheilungen erschienen. Die eine
schrieb H e 1 m s t ä d t **), aus A 1 1 ’ s sehr vorteil¬
haft bekannter Anstalt in Uchtspringc; die andere
stammt vom R e zs ö B älin t, welche am 28. April
1901 erschien,***) aber schon eine Woche früher
im königlichen Aerztevereine zu Budapest eingehend
besprochen wurde. Es war überraschend, dass die
Versuche dieser zwei Verfasser, welche beinahe zu r
selben Zeit veröffentlicht wurden, zu ga nz entgegen¬
gesetzten Resultaten führten. — H elmstädt, welcher
18 Kranke 15 Wochen hindurch nach Toulouse-
Richet behandelte, hat in jedem Falle, also ioo°/ 0
Vermehrung der Anfälle erfahren; eine Ver¬
minderung der Anfälle konnte er unabhängig von
der chlorösen oder uligochlorösen Diät nur durch die
Erhöhung der Bromdosen erzielen. H elmstädt
schreibt die Erfolge Toulouse-Richet’s nur der
strengen Diät zu, in welcher die Entziehung des
*) cit. bei Läufer: L’hypochloruration. These de Paris
1901.
**) Psych. Woch. 1901.
***) Orvosi Hetilap, 1901 (ungarisch).
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Kochsalzes keine Rolle spielt, .anderestheils erinnert
er daran, dass die französischen Verfasser nebst ihrer
Diät ziemlich grosse Bromdosen verabreicht haben.
Von Interesse ist in seinem Artikel auch das, dass
man in der Alt’schen Anstalt mit Verabreichung von
Kochsalz ebenfalls im Stande war die Zahl der epi¬
leptischen Anfälle zu vermindern, sogar mit hypoder-
matischer Einspiitzung von Kochsalz einen Status
cpilcpticus zu unterdrücken. Eine französische Studie,
welche H elmstädt citirt, scheint ihm auffallend
Recht zu geben. Fleury nämlich verordnete die Cur
Toulouse-Richct mit Kochsalz, was zumindest
eine contradictio in adjecto bedeutet, und doch ge¬
langte er zu eben solchen guten Erfolgen, wie
Toulouse und R i c h e C F 1 e u r y hält die Erklä¬
rung der Toulouse-Richet’schen Cur für inexact
und schreibt den guten Erfolg nur der leicht ver¬
daulichen Diät zu.
Bai int war meines Wissens der Zweite, welcher
auf Grund einer grösseren Anzahl von Fällen über
diese Frage in der Litteratur berichtet hat. Bai int
hat bei 28 Kranken 80% Besserung erfahren, und
somit das Heilverfahren als besonders werthvoll be¬
funden. Bei der Vorlesung Bai int’s im königl.
Aerztevereine zu Budapest erfuhren wir zugleich, dass
bei uns auch Andere mit der Toulouse-Richet-
schen Cur Versuche machten und zwar mit verschie¬
denem Glücke. —
Donath hat in einem Falle guten Erfolg erzielt,
in einem anderen wieder hat die Methode nichts ge¬
nutzt. Unter acht Kranken Hudovernig’s haben
6 lieber die epileptischen Anfälle als die 3 Tage hin¬
durch genossene, jedoch wenig Aussicht bietende,
kochsalzarme Kost gewählt. Bei 2 Kranken war das
Verfahren nutzlos und so hat auch Hudovernig
im Wesentlichen solche Erfolge erzielt, wie Heim¬
st ä d t.
Jendrassik hatte bei dieser Gelegenheit noch
keine eigene Erfahiungen, doch lohnt es sich auf
einige seiner Bemerkungen zu refiectiren. Jendrassik
scheint etwas skeptisch zu sein, weil er aus den bis¬
herigen Erfolgen nicht ersieht, wie weit man mit
der Cur fortfahren muss, und wie weit man kann, und
befürchtet, dass der epileptische Organismus sich auch
diesem Heilverfahren angewöhnen wird. Etwas zwei¬
deutig scheint seine folgende Bemerkung: „Die sehr
schönen Daten des Vortragenden (Balint’s) haben den
gegenwärtigen Stand der Behandlung der Epilepsie
jedenfalls mit einer werthvollen Sache bereichert,
hauptsächlich weil er den Kranken eine essbare (sic!)
Kost verabreicht“. Dies klingt ähnlich wie Fleury’s
obenerwähnter Satz, und es scheint auch nicht ganz
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
407
1902.]
unbegründet zu sein, denn, wie schon erwähnt,
während die Kranken Hudovernig’s lieber die
epileptischen Anfälle als die ungesalzene Kost wählen,
und die Kranken Halrai’s und Bagarus’ nach
vier Wochen ebenfalls nicht mehr zur oligochlorösen
Diät (bestehend aus Milch, Eiern und ungesalzenem
Brote) zu bewegen waren, haben ganz im Gegen-
theile die Kranken Bälint’s die erwähnte Diät
besser als die gewöhnliche Spitalskost gefunden, in¬
dem sie die Fortsetzung bezüglich die Wiederein¬
stellung der neuen Diät wünschten.
Im Herbste 1901 erschien eine Mittheilung von
Garbini*) über dieselbe Frage. Dieser Verfasser
hat mit der Cur T oulouse-Ri chet 73 % Besse¬
rungen erfahren, jedoch ist die Häufigkeit der An¬
fälle mit 65% auch so gesunken, wenn er die Diät
ohne Verabreichung von Brom durchgeführt hatte.
Demgemäss bleibt also der Nettowerth der oligochlo¬
rösen Bromtherapie nur 8 °/ 0 .
Interessant sind übrigens auch die Versuche
W i s t o c k i ’s,**) welcher im Jahre 1898 ohne die Ent¬
ziehung von Kochsalz methodisch durchzuführen, mit
einer mit Brom combinirten, oder nur reinen Milch-
cur schöne Erfolge erzielt hat, nur ist es bedauerlich,
dass auch diese Erfolge ebenso vergänglich waren,
wie sämmtliche Erfolge der Publicationen über die
Heilung der Epilepsie.
Schloss (Ybbs)***) ist zu Ende des vergangenen
Jahres ebenfalls zu keinem besonderen Resultate ge¬
langt. Die Anfälle vermindern sich zwar unter der
Zeit der oligochlorösen Bromtherapie, aber die Kran¬
ken wurden sehr schwach und auch ihr Körperge¬
wicht nahm ab.
Am Ende erwähne ich noch die unlängst in Nr.
1 des Neurol. Centralblattes erschienene Arbeit von
Schäfer. (3 Kranke per 6 Wochen). Dieser Ver¬
fasser theilt gänzlich die Ansicht Balint’s über den
Werth der neuen Cur. Schade, dass er auch davon
nicht berichtet, ob er nach Einstellung dieser Me¬
thode dieselbe neuerdings begonnen und wie lange
hernach und mit welchen Erfolgen fortgesetzt hatte?
Nur kurz will ich berühren, dass To ul ouse und
Meunier in der „Revue de Psychiatrie“ des vorigen
Jahrgangs (1901) eine Beobachtung mittheilten, nach
welcher unter der Wirkung der neuen Cur sogar epi¬
leptische (?) Delirien aufgehört haben. Dieser Fall
verliert viel von seinem Werthe, wenn man berück¬
sichtigt, dass nach den Verfassern es sich um eine mit
*) Rivista meusile di neuropathologia, 1901.
**) ref. im Neurol.-Centralblatt.
***) ref. im Orvosi Hetilap.
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konvulsivischer Hysterie komplicirle Epilepsie sich ge¬
handelt hat.
H a 1 m i und B a g a r u s fassen die Resultate
ihrer Arbeit darin zusammen, dass die Toulouse-
Richet’sche Cur die Epilepsie weder heilt, noch
bessert. Wohl gelangt die Wirkung des Brom bei
künstlicher Entziehung des Chlor besser zur Ent¬
faltung, doch ist diese starke Wirkung mit der Ge¬
fahr einer verschieden schweren Bromvergiftung ver¬
bunden und somit kann die Methode nicht nur nicht
empfohlen werden, sondern ist dieselbe entschieden
gefährlich.
Läufer erwähnt (Rev. de Psych. 1901), dass
nach Ri cli et die Bromwirkung sich während der
Cur Toulouse-Ri chet durchschnittlich verfünf¬
facht und schon Toulouse macht darauf aufmerk¬
sam, dass sogar 4 gr Brom Intoxicationserscheinungen
verursachen können. Nach Läufer hat Buchheim
schon im J. 1875 ausgesprochen, dass nach Aufnahme
von J und Br im Magen sich Br H und J H
bilden; Rieh et hat sich 25 Jahre vordem mit der
Frage der Cl-Substitution beschäftigt, und Külz hat
im J. 1886 thatsächlich nachgewiesen, dass J und
Br in der Salzsäure des Magens an Stelle des CI
treten. Aus den Untersuchungen Nenckis und
Schoumov-Siamanovszkys hat sich ergeben, dass
diese Substitution nicht nur in den Magensäften, son¬
dern in sä mm fliehen Geweben vor sich geht, was
Lau den hei mer im J. 1897 mit neueren Daten
bekräftigte. Diese Verfasser haben schon die oligo-
chlorösc Diät in Betracht gezogen, ohne indessen an
die therapischc Vcrwertluing derselben zu denken.
Auch die Studien Fessel’s und Läufers be¬
weisen die Substitution. Der letztere macht auch
darauf aufmerksam, dass wir in Folge der ausser¬
ordentlich starken Wirkung des Brom auf den oligo¬
chlorösen Organismus bei der Verabreichung oder
Entziehung von Brom vorsichtig sein müssen. Läufer
hat auch das constatirt, dass die Phosphate während
der oligochlorösen Therapie in grösserem Maasse zu¬
rückgehalten werden, und hält es für möglich, dass
auch dieser Umstand die günstige Wirkung der neuen
Heilmethode befördert. Bekanntlich hat Fleury
bei Epileptischen mit subcutaner Einspritzung von
Natrium phosphoricum gute Erfolge erzielt.
Nachdem ich all’ das, was wir von der Art und
Weise der Wirkung der Bromtherapie wissen, kurzge¬
fasst dargestellt habe, will ich noch erwähnen , dass
schon Toulouse und Rieh et es anempfohlen
haben, dieses oligochloröse Verfahren mit anderen
Mitteln besonders auch mit Jod zu versuchen. —
Ferenczy erwähnt dies ebenfalls in der auf den
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
408
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37.
erwähnten Vortrag Bälint’s erfolgten Diskussion, und
thatsächlich hat einige Monate später M. Weisz*)
practischer Arzt in Gyöngyös, in einem entsprechen¬
den Falle den Versuch auch gemacht. Er hat ge¬
funden, dass die oligochlorösc Jodtherapie wenigstens
in dem „einen“ Falle nicht nur die bestandene Jod-
idiosyncrasie aufhüren liess, sondern dass sie sich
auch antiluctisch bewährt. Er hatte auch eine grosse
Beständigkeit des Erfolges erwartet.
Leider ist Seil ei**) auf ungünstigere Resultate
gelangt; er hat nämlich bei 30 Kranken erfahren,
dass Jod gegen Lues auch bei oligochloröser Diät
nicht stärker wirkt, bezw. man muss die kleineren
Dosen längere Zeit hindurch verabreichen, um das¬
selbe Resultat erzielen zu können. Dies stimmt so¬
mit mit den auf Brom bezüglichen Erfahrungen
Helmstädt’s überein; zweitens gestaltete sich die
Jod-Idiosyncrasie nicht im Geringsten günstiger, wie
bei der gewöhnlichen Diät.
Hasenfcld’s***) Versuche beziehen sich darauf,
wie die Kranken das mit Jod gesalzene Brot, das
Jodopan (ad formam Bromopan, kochsalzfreies
mit Brom gesalzenes Brot, Balint) vertragen. Die
Fälle jedoch, die chronische Arteriosclerosc, die Atro-
phia granularis renum, welche Gegenstand dieser
Untersuchungen waren, dürften auch diese Form der
Jodtherapie nur ordinationis und solatii causa indi-
cirt haben.
Auf Grund alldessen können wir nun zur Be¬
sprechung des Werthes der Bromtherapie übergehen.
Es erleidet keinen Zweifel und wie ich sehe, in
Diesem stimmen sämmtliche Autoren überein, dass
auch die oligochloröse Bromtherapie die Epilepsie
nicht heilt, sondern nur die Heftigkeit und die Wie¬
derholung der Anfälle mildert, beziehungsweise jene
längere — kürzere Zeit aufhören lässt.
So betrachten auch wir im Folgenden die Tou¬
louse-Rieh et’sche Cur nur als ein antisypmto-
matisches und nicht als ein spezifisches Mittel der
Epilepsie.
Aus den V ersuchen Buch heim’s, K i'i 1 z ’s,
Nencki’s und Schouinov-Simanowszky’s, Lau-
denheimer’s und Laufcr’s ersehe ich es gegen¬
über der Meinung Rumpf’s als erwiesen, dass Brom
in den oligochlorüsen Organismus an Stelle des Chlor
tritt, sogar den Chlor aus dem Organismus verdrängt.
Die Untersuchungen Toulouse und Richet,
Balint (?), Garbin i (?), Toulouse u. Meunier,
*) Orvosi Hetilap, 1901, ungarisch.
**) Orvosok lapja, 1902 (ungarisch).
***) Monatsschrift für pract. Dermatologie, 1902.
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Schloss, Schäfer (?), so auch Ha 1 mi und Ba-
garus beweisen, dass Brom auf den oliogochlorösen
Organismus viel intensiver als gewöhnlich wirkt. Jene
Behauptung Rieh et’s, dass die Bromwirkung fünf¬
fach grösser sei, kann ich nicht einmal mit annähern¬
dem Werthe acceptiren, weil die individuell sich ver¬
ändernde physische und chemische Reaclion des
Organismus in Bezug auf die Entziehung von Chlor
und in dieser Weise gegebenen Brom jede derartige
Berechnung illusorisch macht.
Helmstädt ist der einzige, welcher auf Grund einer
grösseren Anzahl von Versuchen behauptet, dass die
stärkere Wirkung des Brom bei oligochloröser Diät
ausbleibt, sogar dass die Anfälle sich während dieser
Zeit noch steigern. Ich kann mir dies nicht anders
erklären, als dass Helmstädt, zur Entfachung einer
genügenden Wirkung wenig Brom gegeben, beziehent¬
lich von der Zahl der Anfälle abgesehen, den übrigen
Veränderungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Auch unter den Fällen H a 1 m i ’s und Bagarus’
hat sich bei Einzelnen die Zahl der Anfälle vermehrt,
doch war die Bromwirkung auf das psychische Ver¬
halten der Kranken immer wahrnehmbar.
Nachdem die stärkere Wirkung des Brom bei
kochsalzarmer Diät bewiesen erscheint, muss noch
die Frage entschieden werden: ob man diese künst¬
lich erhöhte Bromwirkung bei der Behandlung der
Epilepsie ausnützen kann oder nicht?
Toulouse und Richet, Balint, Garbini,
Toulouse und Meunier, Schäfer sind dieser Mei¬
nung, wogegen Helmstädt, Hudovernig, Halmi
und Bagarus, und, so scheint es, auch Schloss
entgegengesetzter Ansicht sind.
Wir dürfen auch bei dieser neuen Therapie der
Epilepsie nicht ausser Acht lassen, dass man die Zahl
der Anfälle schon seit uralter Zeit auf sehr verschie¬
dene Weise, manchmal mit kaum glaublichen Kunst¬
griffen vermindern konnte. So nimmt auch eine aus
dem Jahre 1564 herrührende ungarische Medicinal-
vorschrift die Diät in Anspruch und zwar in einer
ziemlich kuriosen Weise : „9 Raupen von der Hagerose
mit Wermuth gut einkochen und zudecken, hievon gieb
des Morgens 7 und des Abends 6 Löffel ein; ausser¬
dem soll der Patient wieder Brot, noch Sonstiges, was
aus Mehl gebacken wird, gemessen.“
Wie wir sehen ist diese Therapie beinahe das
Entgegengesetzte von der mit 340 Jahren später an¬
empfohlenen Brodtherapie Balint’s und doch
scheint es mir nicht unmöglich zu sein, dass ein
geschickter Arzt bei entsprechenden Patienten mit
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 409
beiden Methoden dieselben Erfolge erzielen könnte.
Interessant ist es auch, dass Borgetti im J. 1857
mehr als 5 seiner epileptischen Kranken mit dem
Decoctum der Hollunderrinde heilte, — und in einer
länger als 18 monatlichen Beobachtungszeit das Ver¬
schwinden der Anfälle verzeichnet hat; solchen 18-
monatlichen Stillstand der Anfälle haben meines
Wissens keine Publicationen über die neueste Epilepsie -
curmethoden erwähnt.
Abgesehen von den geschichtlichen Daten erwies
sich das Brom als das beste pharmacodynamische
Mittel zur Behandlung der Epilepsie, natürlich indi¬
viduell in entsprechend kleineren und grösseren Dosen
und mit jenem obligaten Nachtheile, dass die Besse¬
rung nur so lange anhält, als wir Brom geben, und
an Stelle chronisch epileptischer Individuen — sit
venia verbo — chronisch bromisirte Individuen ent¬
stehen.
Zur oligochlorösen Bromtherapie zurückkehrend,
besteht deren höchster Werth nachNäcke, Bai int,
Schäfer*) und Läufer in dem, dass man Brom
in viel kleineren Dosen geben kann, als früher. In
dieser Berechnung haben wir uns, wie ich sehe, ge¬
täuscht, weil nach der neuen Methode, wenn auch die
Bromdosis kleiner, ihre Wirkung doch vielfach grösser
ist, und für den Organismus ist natürlich nur
das Wirkungsquantum und nicht das Gewichtsquan¬
tum von Belang. Bali nt und Gar bin i haben In-
toxicationserscheinungen nicht wahrgenommen, aber
schon Toulouse und Rieh et, später Läufer
lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die Möglich¬
keit der Bromvergiftung bei oligochloröser Diät eine
sehr bedeutende ist. Dies fand Schloss und dies
habe auch ich in den Versuchen Halmes und
Bagarus’ bestätigt gefunden. Dasselbe beweisen
in tragischester Weise unsere Erfahrungen, nämlich
dass zwei Kranke unter der Wirkung der Cur in
Folge einer unaufhaltbaren Bromintoxication gestorben
sind. Und thatsächlich, ohne jeden biochemischen
Beweis halte ich es für eine für jeden nüchternen
Gedankengang unumstössliche Wahrheit, dass, wenn
die Wirkung der Bromdosis aus welcher Ursache
immer sich stärker gestaltet, dann auch die Möglich¬
keit einer Vergiftung grösser ist. Läufer betrachtet
ebenfalls die Zunahme der heilenden und vergiften¬
den Wirkung des Brom als parallel. Eben bei der
Cur T o u l o u s e - R i c h e t darf man nicht vergessen,
dass während bei einer gewöhnlichen Diät die Wahr¬
scheinlichkeit der zunehmenden Wirkung bei den¬
selben Individuen nur von einem Factor — und
dies ist die controlUrbare Steigerung der Dosen —
*) ln der oben erwähnten Discussion.
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abhängt, demgegenüber bei der oligochlorösen Diät
ein gefährlicher unberechenbarer Factor auftritt, näm¬
lich die Beraubung des Organismus von seinem natür¬
lichen Bestandtheile, vom Kochsalze, und demzufolge
entfaltet sich die veränderte Wirkung des Brom
gegenüber der künstlich abgeschwächten Resistenz¬
fähigkeit des Körpers.
Ich halte es nicht für nothwendig auseinander
zu setzen, dass der Organismus seines Kochsalzbe¬
standes in seinem normalen Reichthum bedarf, aus
welchem Quantum ohne künstlich Krankheiten her¬
vorzurufen nichts weggenommen, noch weniger mit
fremden, sogar mit toxischen Bestandtheilen ersetzt
werden kann. Den sogenannten Kochsalzluxus —
wenigstens von einigen, anders wie wir lebenden
mittelafrikanischen Völkern abgesehen — halte ich
nicht für ganz unzweckmässig, im Gegentheile, ich
halte es für einen solchen obligaten Reichthum, wel¬
chen der Organismus nicht entbehren kann, um da¬
von ebensoviel aufnehmen zu können, als an Koch¬
salz bezw. Chlor er unbedingt bedarf, um alle seine
biochemischen und biophysischen Processe gut vor
sich gehen zu lassen, damit der Organismus und
auch der neben ihm niemals zu vergessende Mensch
gedeihe. Auch bei Laudenheimer finde ich einen
Hinweis darauf, dass bei oligochloröser Verabreichung
von Brom die Intoxicationserscheinungen nicht nur
aus der Steigerung der Bromwirkung, sondern auch
aus der Chlorarmuth des Organismus zu erklären sind.
Das Besagte kann einen jeden ruhig denkenden
Arzt davon überzeugen, dass die Behandlung der
Epilepsie nach Toulouse-Richet ein gefährliches,
zweckverfehltes und unnöthiges Unternehmen ist, und
ich glaube, dass das hier Besagte gleich dem Schick¬
sale der Flechsig’schen Opium-Bromcur und trotz
der weniger beliebten Mittheilung der ungünstigen
Erfolge in Kurzem eine allgemeine Ueberzeugung
wird.
Den von Zeit zu Zeit in den Heilbestrebungen
der Epilepsie auftauchenden Enthusiasmus zu mässi-
gen, helfen nicht nur die seit hundert Jahren sozu¬
sagen gesetzmässig sich wiederholenden Enttäusch¬
ungen, sondern eben in diesem Falle auch das, dass
man die oligoehloröse Diät eine längere Zeit hindurch
nicht fortsetzen kann. Nur bei den französischen
Autoren lese ich, dass sie selbe sogar 7 Monate fort¬
setzten (in wie viel Fällen und ob unausgesetzt?). —
Die Publicationen der anderen Verfasser aber sprechen
gewöhnlich nur von nicht über 2 —3 Monate sich
erstreckenden Erfahrungen.
Wir sahen, dass unter den 8 Kranken H u d o -
vernig's 6 die versuchte, doch wenig versprechende
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
410 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37
ungesalzene Küche nur 3 Tage lang vertragen
konnten; die 15 bezw. 13 Kranken Halmi’s und
Bagarus’ konnten nach 4 Wochen ebenfalls nicht
zur Fortsetzung der Cur bewogen werden. Ich selbst
halte eine längere und sicher oligochlorösc Diät auch
ohne Verabreichung von Brom für eine Unmöglich¬
keit im hygienischen Sinne.
Nach all diesem ist es vielleicht auch überraschend,
wenn ich erkläre, dass ich nicht im Entferntesten
bezweifle, dass Toulouse und R i c h e t, B a 1 i n t,
Garbini, Toulouse und Meunier, wie auch
Schäfer gute Erfolge gesehen haben, doch glaube
ich, dass diese nicht auf Selbsttäuschung beruhenden
Erfolge im Wege der Suggestion erklärt werden
müssen, deren Wirkung mehr-weniger nicht nur die
Kranken, sondern auch die sie behandelnden Aerzte
betrifft. Damit ist jedenfalls in der Geschichte der
Heilkunde weder etwas neues, noch befremdendes
gesagt.
Bevor ich indessen diese meine Behauptung auf
die neueste Heilmethode der Epilepsie beziehe, muss
ich in Kürze noch auf eine Frage zuriiekkehren,
welche mit dieser meiner Behauptung zusammen¬
hängt. Einen scheinbaren Widerspruch muss ich
zu lösen versuchen, welcher cinestheils zwischen
Bai int, Garbini und Schäfer, anderenteils
zwischen Halmi und Bagarus besteht.
Ich schicke voraus, dass ich es für unmöglich halte,
dass bei einer genügenden und längeren Entfaltung
der Bromwirkung, welche in der Verminderung der
Leistungsfähigkeit der Nervenfaser besteht, die er¬
schwerte Association nur auf die spasmogene Leitung,
auf die Verminderung der Anfälle und nicht zugleich
auch auf die sämmtlichen associativen Funktionen
sich bezieht. Und tatsächlich hat sich in den Fällen
bei Halmi und Bagarus ausser der Verminderung
der Zahl der Anfälle die Bromwirkung unverkenn¬
barer Weise auch an der Psyche der Kranken gel¬
tend gemacht. Die Kranken sind apathischer, ruhi¬
ger, hier und da sind sie stuporös geworden, wir
konnten sogar auch Intoxikationsdelirien beobachten.
Und so kann Ich die entgegengesetzten Versuche,
allwo die speeifische Wirkung des Brom ausgeblicben
ist, wo das Sensorium sich geklärt hat, die Apper-
ccption und die Stimmung sich gebessert haben, und
all dieses bei gleichzeitiger Verminderung der Anfälle
nur auf eine Ursache zurückführen und dies ist, dass
die früher mit grosser Bromdosis gehaltenen Kranken
von der deprimirenden Wirkung des Brom befreit
worden sind, sie haben sich im Allgemeinen besser
gefühlt und indem sie Versuchsindividuen waren, be¬
kamen sie auch bessere Kost als früher, man hat sich
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mit ihnen auch mehr beschäftigt, auch ihre Heilung
ist öfter betont worden : all dieses hat ihr ganzes Ge¬
hirn, ihre sämmtlichen Associationen so sehr in Anspruch
genommen, dass mit der Besserung des Allgemein¬
befindens auch die Zahl der Anfälle sich vermindert
hat.
Als ich mich mit den Erfolgen dieser Versuche
beschäftigt hatte, erschien es mir, als wenn die jetzt
vorgetragene Auflassung vielleicht zu sehr persönlicher
Natur wäre und war nicht sicher, ob ich auch
von anderer Seite Zustimmung erhalten werde. Der
Zufall indessen hat mich auf ein schönes Kapitel
in der Geschichte der Epilepsie aufmerksam gemacht,
welche, wie es mir scheint, zu Gunsten meiner Auf¬
fassung spricht.
Esquirol sagt nämlich in seiner im Jahre 1818
über die Epilepsie erschienenen Arbeit: „J’avais ä
soigner trois cent quatre-vingt-cinq femmes ou filles
de tcut age, passe la puberte, appartenant a la classe
pauvre. Dans ce nombre quarantc-six etaient hyste-
riques et trois cent trente-ncuf epileptiques ; la plupart
etaint plus ou moins habituellement alienees.
Je voulus souinettre a mon observation l’efficacite
des remedes les plus varies. J'cssavai successivement
les evacuations sanguines, les purgativs, les bains a
toute temperature, les exutoires, le ca ule re, le feu, les
an tispasnn xliques, vegeteaux et mineraux. — Je
m’arretais a l’acide hydroevanique; je me procurai,
j’aehetai des remedes secrets. Tous les piintemps et
tous les automnes, je choisissais trente femmes epi¬
leptiques, de la maladie des quelles je connaissais
mieux le commemoratif, les causes et les svinplömes;
les femmes etaient preparees a ravance, en excitant
leur imagination par la promesse repetee d’une gueri-
son certaine. J’etait merveilleusement seconde par
la surveillaute et les eleves. Toujours une iiou-
v e 1 le medication suspen dait les acces *)
pendanl quinze j< >urs; chez les uncs; pendant un
mois, deux mois chez d’autres, et rneme pendant trois
mois. — Apres ce terme les acces reparaissaient suc¬
cessivement chez toutes n<»s femmes, avec les carac-
tercs, qu’ils avaient presentes les annecs precedentes.
Husieurs de nos epileptitques se sollt pretces a mes
essais plusieurs annees; mais, l’avnuerais-jc! je n’ai
pu obtenir de g u c r i som Dans 111a pratique
particuliere, je n’ai gurre cte plus heureux; si les
a c'c es 011t cte s u s p e ndus i 1 s Tont c t e m o i n s
par l’action des medicamens que par Y eff et
de 1 a co n f i a n c e q u i d e t e r m ine un m a lade
a consulter un nou v ea u mederin.” #)
*) Iin Original nicht betont.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 411
190’.]
Jenes Vertrauen zu erwerben, mittelst edler und
selbstbewusster Suggestion die Symptome der Epilepsie
zu lindern, wird uns auch nach der mit der Cur
T o u 1 011 se-Richet empfundenen Täuschung immer¬
hin eine ernste und würdige ärztliche Aufgabe bleiben.
Nachtrag bei der Correctur.
Schnitzer (Ncur. Centralbl. Nr. 17, 1902) fand bei 12
Fallen aus 16 (Versuchszeit 6 Wochen) eine bedeutende Besse¬
rum:, die Kranken widerstrebten jedoch der kochsalzarmen Kost.
Verfasser hält cs für zweifelhaft, dass die Kochsalzentziehung
sich auf Monate hin durchführen lässt. 4 Kranke zeigten
während der Versuchsperiode eine auffallend erhöhte Reizbarkeit.
Cappel letti und d’Ormea (Atti del XI. Congr. alla
Soeictä freniatrica italiana, Riv. Sperim. 10. VI. 1902) haben
20 Kranke 40 Tage hindurch nach Toulouse-Richet jedoch mit
einer genügend rasiabilen Diät behandelt. (Milch, Cafle, Zucker,
Brod, Mehlspeise, Fleisch, Eier, Hülsenfrüchte oder Obst,
Butter, Wein (!)). — Die Cur hat sich bei Frauen besser be¬
währt, die Anfälle sind ausgeblieben in 27%, vermindert mit
44°/ 0 , vermehrt mit 2 ° 0 und unverändert geblieben mit 3°/ 0 .
— Rasche Vermehrung der Anfälle nach Aussetzen der Cur.
— In der Discussion bemerkt Angiol ella, dass die Epilepsie
eine angeborene Anomalie ist, bei welcher die Verminderung
der Anfälle nicht gleichwertig mit der Besserung der Krank¬
heit ist. — Er glaubt für die Demenz der Anstaltsepileptiker
theilweise wenigstens die Brombehandlung verantwortlich machen
zu dürfen, und er meint, dass alle die Mittel, welche die Reiz¬
barkeit der Hirnrinde vermindern, als unnützlich und schädlich
in der Praxis vermieden werden sollten.
T a m b u r i n i (ebenda S. 170) hatte bei drei Kranken eine
bedeutende Verminderung der Anfälle beobachtet, er hebt je¬
doch hervor, dass die Cur nicht ganz unschädlich ist. Er hat
nämlich bei 2 Kranken nach einer gewissen Dauer der Cur
eine tiefe, confuse Geistesverirrung beobachtet, welche erst nach
der Kochsaiszufuhr verschwand. — Die Resultate von Fleury
scheint Tamburini ebenfalls bestätigt zu haben.
Ventra findet, dass man die kochsalzarme Diät nur
schwerlich bei Epileptischen durchfuhren kann, — er hat auch
gastrointestinale Störungen infolge der Cur P. R. beobachtet,
— er findet die Cur nicht ganz unschädlich und meint, dass
sie nicht vortheilhafter ist, wie die bekannte Combination von
Brom und Antipyrin. —
Alt (diese Wochenschrift Nr. 8) hat die obenerwähnten
Resultate von Wistoki und Fleury bestätigt.
Mittheilungen.
— 33. Versammlung südwestdeutscher Irren¬
ärzte in Stuttgart am 1. und 2. November 1902.
(Schluss.)
lieber Schulen für nervenkranke Kinder
sprach Dr. Stadelmann, Nervenarzt in Würzburg.
Für die neuropathischcn Kinder ist zur Zeit nicht
richtig gesorgt. Das Lehrprogramm der allgemeinen
Schule ist direct nach th eilig für diese Kinder. Keime
einer Neurose oder Psychose entwickeln sich dadurch
ungehindert; die spatere Stellung im socialen und be¬
ruflichen Leben ist in Frage gestellt. Es müssen
neuropathisch beanlagte Kinder einer individuellen
Unterrichtung unterzogen werden nach einer AssOeia-
tions- (Concentrations-) Methode des Unterrichtens.
Es sind im psychischen und körperlichen Verhalten
der Kinder die jederzeitigen Schwankungen, die die
kranke Anlage mit sich bringt, dabei zu berücksich¬
tigen. Dieser Unterricht ist ein Theil der psychischen
Behandlung der nervenkranken Kinder. Jedes Kind
hat sein eigenes Lehrprogramm, das nach dem Er-
gebniss der methodisch durchgefühlten Prüfung der
Intelligenz und nach der Beobachtung der moralischen
Fähigkeiten aufgestcllt wird. Psychologische That-
sachen verlangen dieses Princip des Individualisirens
und der Concentration beim Unterricht. Das neuro-
pathischc Kind hat ein Recht auf diese Behandlungs¬
weisen, die Schule f. n. K. soll mit einer Heilanstalt
verbunden sein, in der eine körperliche Behandlung
diese psychische unterstützt. Der Werth der Schule
für nervenkranke Kinder liegt in der Prophylaxe und
Frühbehandlung der Neurosen und Psychosen. Auch
die sociale Bedeutung der Schule für nervenkranke
Digitized by Go qIc
Kinder ist nicht zu unterschätzen. Vortragender hat
vor i 1 /* Jahren eine Schule für nervenkranke Kinder
in Verbindung mit einer Heilanstalt errichtet, die er
selbst leitet.
Direktor Dr. Eschle: Demonstration eines
Krankenbettes (nach Frau Emilie Eschle)
s p e c i e 11 für unreinliche Geisteskranke.
Eine geeignete Lagerstätte für unreinliche Geistes¬
kranke muss nicht nur mit Vorrichtungen versehen
sein, die das Liegen der Kranken in der Nässe
möglichst verhüten, sie muss auch den heutigen An¬
forderungen an ein Krankenbett entsprechen und
schliesslich darauf Rücksicht nehmen, dass dasselbe
von unruhigeren und verblödeten Patienten nicht leicht
zerstört werden kann und einzelne dabei losgelöste
Th eile (Knöpfe, Bänder u. s. w.) zur Selbstbeschädigung
der Kranken Anlass geben.
Wohl im Wesentlichen der Gesichtspunkt, ein
billiges Lagcrungsmaterial für die unreinlichen Geistes¬
kranken zu gewinnen, das jederzeit fortgethan und
durch neues ersetzt werden kann, hat in einzelnen
Anstalten zur Verwendung der Torfstreu als Bettfüllung
für derartige Pfleglinge geführt. Die letztere wird in
eine mit hölzernem Boden und ebensolchen Seiten-
theilen versehene Bettstelle gefüllt, ausgeebnet und
mit einem Leintuche bedeckt, auf das der Kranke
direkt zu liegen kommt. Die grosse Aufsaugefähigkeit
dieses Materials, sein billiger Preis und der wenig um¬
ständliche Ersatz der durchtränkten und verunreinigten
Schicht wurden als besondere Vortheile gerühmt.
Dass eine derartige Lagerstätte, wenn vielleicht nicht
geradezu menschenunwürdig, doch keine derartige ist,
Orig mal from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37
dass sie sich in den Rahmen einer modernen, wohl
eingerichteten Krankenanstalt einfügt, bedarf für den¬
jenigen, der diese Einrichtung aus eigener Anschauung
kennt, kaum weiterer Ausführung. Nicht nur dass
seitens eines lässigen Wartepersonals Ersatz und Nach¬
füllung nicht immer rechtzeitig und in exakter Weise
besorgt werden, durch die unvermeidlichen Verschie¬
bungen des übergebreiteten Betttuches werden Torf¬
partikelchen auf dasselbe gebracht und die an und
für sich bei diesen Kranken beträchtliche Chance des
Decubitus noch weiter vermehrt. Ausserdem buchtet
sich bei der lockeren Auffüllung und Verschieblichkeit
des Materials das Lager in der Gegend des Gcsässes
zu einer recht umfangreichen muldenförmigen Ver¬
tiefung aus, die das ganze Bett in Unordnung bringt
und den Patienten in eine nicht nur höchst unbe¬
queme, sondern auch sonst in hygienischer Hinsicht
überhaupt äusserst unerwünschte Situation bringt.
Anderwärts ging man dazu über, der Quere nach
nebeneinandergelegte Säcke mit Stroh, Spreu oder
Seetang zu füllen, auch wohl jenen die Form einer
dreitheiligen Matratze zu geben und das Füllmaterial
nach Bedarf zu entleeren. Die Spreu hat wegen der
Verschieblichkeit und der mangelnden Festigkeit der so
gewonnenen Unterlage ähnliche Nachtheile wie die
Torfstreu, die für diese Zwecke geeigneten Arten des
Seetangs sind im Binnenlande nicht leicht zu be¬
schaffen, das Stroh ist zeitweilig kein ganz billiges
Material, wenn der Wechsel wirklich in ausgiebiger
Weise durchgeführt wird. Es kommt im Wesentlichen
für Anstalten mit grösserer landwirtschaftlicher Oeko-
nomie in Betracht, in der es später als Streu für das
Vieh unbeanstandet Verwendung finden kann.
Gummiunterlagen und die mit Gummiüberzug und
einer Ablaufsvorrichtung in der Mitte versehenen
Betten, wie man sie häufig in Krankenanstalten findet,
die nur zeitweilig oder einen kleinen Procentsatz Un¬
reinlicher beherbergen, können ebensowenig allen An¬
sprüchen genügen, als einmal infolge der Wasserdicht¬
heit der Unterlage der Kranke mit dem grössten Theile
seines Körpers ständig nass liegt, andrerseits gerade
Gummistoffe mit Vorliebe den Geruch zersetzten Urins
annehmen und die Luft des Krankensaals geradezu
verpesten. Dass der Geruch urindurchtränkter Stoffe
ganz besonders geeignet ist, bei Kranken und Ge¬
sunden (z. B. bei jüngeren Kindern) Bettnässen und
Unreinlichkeit durch reflektorische Reizung des Ge¬
ruchsorgans zu unterhalten, ist keine ganz neue Er¬
fahrung.
Diese Erwägungen veranlassten den Vortragenden
nach einem andern billigen Füllmaterial Umschau zu
halten, das die erwähnten Nachtheile ausschlösse.
Durch den Rath seiner Frau, die den Missständen
in der Anstaltshygiene und der Krankenpflege seit
Langem besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte,
wurde derselbe auf die Verwendung der langfaserigen
Holzwolle (richtiger feinen Holzfaser!) hingeführt,
wie sie jetzt vielfach als ebenso reinliches und voll¬
kommen staubfreies, wie billiges Verpackungsmaterial
in Gebrauch genommen zu werden pflegt. Das
scheint auch ein sehr glücklicher Griff gewesen zu
sein. Die Holzwolle hat wie eine jetzt länger als
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ein Jahr währende Versuchszeit ergab nicht nur den
Vorzug eines überaus niedrigen Preises,*) sondern
auch die keineswegs zu unterschätzende Eigenschaft
dem Bett und dem Krankenzimmer selbst bei immer
wieder erfolgender Verwendung nach der sofort zu
erwähnenden Reinigungs-Prozedur ihren spezifischen,
reinlichen, an Waldluft erinnernden Geruch zu geben.
Aber nicht nur betreffs der Sauberkeit, auch was
Weichheit und Elastizität des Lagers anlangt, ist ein
so hergerichtetes Bett jedem mit einer Seegrasmatratze
versehenen vorzuziehen, es kommt vielfach einer kost¬
spieligen Rosshaarmatratze in jeder dieser Beziehungen
nahe.
Selbstverständlich ist es wohl, dass bei der gering¬
sten Anfeuchtung der ganze betroffene Theil des Unter¬
bettes ausgewechsclt und nicht etwa getrocknet wird, son¬
dern in die Wäsche wandert. Das bezieht sich nicht nur
auf die Hülle, sondern auch auf das Füllmaterial.
Nach Aufbrühen mittelst heissen Seifenwassers und
Trocknen auf einem mit verzinktem Drahtgeflecht
überspannten Rahmen, das an der frischen Luft oder
in geheiztem Raum äusserst rasch vor sich geht,
kann die Holzwolle bei ganz minimalem Verlust immer
wieder zu neuer Füllung von vorräthig zu haltenden
Reservematralzentheilen Verwendung finden.
Vortragender verwendet seit einem Jahr nach An¬
gabe seiner Frau hergestellte dreitheilige Matratzen.
Die einzelnen Matratzentheile sind mit eingesetzten
Scitentheilen gearbeitet und in der Mitte der unteren
Fläche mit einem zur BcwerksteUigung der Füllung
angebrachten, mit Bändern verschliessbaren Schlitz
versehen.
Kommen Abtheilungen in Frage, bei denen die
Füllung längere Zeit belassen werden kann (auch für
nicht unreinliche Kranke und verschiedentlich in
Privathausständen hat diese Einrichtung auf die ge¬
wordene Anregung hin Eingang gefunden) so werden
die einzelnen Matratzentheite mit fortlaufender Schnur
durchheftet. Das wird dadurch in eleganterer Weise
bewerkstelligt, dass in gewissen Abständen, auf oberer
und unterer Fläche correspondirend, ausgenähte Schnur¬
löcher-Paare angebracht sind, durch die mittelst
einer Tapezierer-Nadel die Schnur durchgeführt, dann
so festgezogen wird, dass sich annähernd quadratische
Felder wie bei andern Polstermatratzcn bilden und
schliesslich an beiden Enden an den nahe bei ein¬
ander gelegenen Oeflhungen für Ein- und Ausstich
verknotet wird. Die Neufüllung einer grossen Zahl
von Matratzen kann so von einer geübten Warte¬
person in geradezu unglaublich kurzer Zeit vorge¬
nommen werden. Vor allem wird die meist recht
kostspielige Arbeit des Tapezierer (Sattlers, bezw.
Matratzenmachers) durch diese Einrichtung vermieden
und so, wenn dieselbe weiteren Eingang in unsere
Hausstände findet, dem wichtigen hygienischen Faktor
einer öfteren Betterneucrung in grösserem Umfange
Rechnung getragen, als das leider bei uns in Deutsch -
*) Es wurde langfaserige Holzwolle Marke II-E durch Ver¬
mittelung der Firma Ludwig Thiele in Mannheim, Ver¬
treter der Holzstofffabrik Gebr. Bey in Wendisch-
Eschenbach (Bayern) zum Preise von M. 9,50 pro Doppel-
centner bezogeu.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 413
land — im Gegensatz zu der Gewohnheit in Frank¬
reich und im Eisass — der Fall zu sein pflegt. *)
Dem Princip dieser Einrichtung steht natürlich
auch die Wahl eines anderen Füllmaterials (Rosshaar,
Seegras) statt der Holzwolle nicht entgegen, dessen
Auswechselung dann nicht minder einfach ist.
Bei Rosshaarfüllung empfiehlt es sich, kleine runde
Tuchfleckchen, die unten mit einer Seidenschlinge
versehen sind, mittelst der fortlaufenden Schnur auf
der Oberseite der Matratze jeweils zur Deckung der
Schnürlöcher aufzunchtnen, um ein empfindliches
Durchstechen der Rosshaare durch das Betttuch hin¬
durch zu verhindern.
In ähnlicher Weise, wie beschrieben, werden Kopf¬
rollen bezw. Fussrollen und Keilkissen her gestellt.
Für Unreinliche empfiehlt es sich, hängend oder
auf Füssen stehend und den mittelsten Matratzentheil,
der bei einiger Aufmerksamkeit ausschliesslich durch¬
nässt zu werden pflegt, nach beiden Enden überragend
unter dem Bett ein sehnig abfallendes, mit Rinnen,
Rand und Ablauf versehenes Tropfbrett anzubringen,
um den durchsickernden Urin in einem untcrgestellten
Gefässe aufzufangen und eine Durchtränkung des
Boden während der Nacht zu vermeiden.
Am Betttuche werden zweckmässig, um ein Ver¬
rutschen zu verhüten, die 4 Zipfel zu einer einem Papp-
karton-Dcckcl ähnlichen Form rechtwinklig dadurch
vereinigt, dass man die durch die Verlängerung der
4 Kanten des Bettrahmens, die man sieh auf das
Betttuch aufgetragen denkt, entstellenden Quadrate
an den Zipfeln ausfallen lässt und die gleichfalls ent¬
stehenden 4 länglichen Seitenrcchtccke an ihren
schmalen Seiten mit einander vernäht.
Das Betttuch liegt so vollständig unverschieblich
fest und verunziert, da es sich glatt und viereckig
Zusammenlegen lässt, auch den Wäscheschrank nicht,
worauf Hausfrauen und weibliches Personal mit Recht
einen gewissen Werth legen. Kopf- und Fussrolle
sind durch Bänder lose an den Bettpfosten befestigt.
Die Bettdecke besteht zweckdienlich aus einem
Wollteppich, der nur auf der inneren Seite einen Leinen¬
bezug trägt, welcher futteralartig oben und unten
jenen libergreift und mittelst Bändern an ihm befestigt
ist. Auch hier ist so ein leichtes Auswechseln und
damit grösste Reinlichkeit gewährleistet. In der kalten
Jahreszeit können 2 solcher Decken übereinanderge-
legt Verwendung finden, von denen die untere, wie
der Ueberzug an correspondirenden Stellen mit je
einem Bande, die obere mit umsäumten Löchern ver¬
sehen ist, um das Durchziehen des unteren Bandes
und Verknüpfen mit dem oberen zu gestatten. Die
Anordnung ist so getroffen, dass die Bandschleifen
verdeckt zu liegen kommen und vom Geisteskranken
und Verblödeten, die derartige Dinge gern abreissen
und in den Mund nehmen, nicht leicht gefunden
oder wenigstens nicht beachtet werden.
Ein Modell eines in dieser Weise complet einge¬
richteten Krankenbettes ist auf Veranlassung des Herrn
*) Die Firma Eduard Speiser in Soncbeim liefert 3
in dieser Weise hergestellte Matratzentheile ohne Füllung je nach
der Qualität des verwendeten Drells zum Preise von ca. 10 M.
□ igitized by Google
Prof. Martin Mendelsohn der Krankenpflege-Sammlung
der Königl. Charite in Berlin übergeben worden.
Erwähnenswerth dürfte schliesslich noch sein, dass
für den grösseren Theil der unreinlichen Kranken,
die ja nicht dauernd an das Bett gefesselt sind, dem
Bedürfniss nach einer Sitzvorrichtung Rechnung zu
tragen gesucht wurde, die die Nachtheile der früher
vielfach gebrauchten „Zwangsstühle“ (nach Art der
sogen. Topfstühle für kleine Kinder) entbehrt.
Es geschah das in der Weise, dass an einem ein¬
fachen Holzsessel mit Rücken- und Seitenlehnen der
Sitz durch ein verzinktes Drahtgeflecht mittlerer
Maschenweite ersetzt und über diesen ein nach Art
der vorher beschriebenen Matratzentheile gearbeitetes
Holzwollekissen gelegt wird, das fortwährendes Aus¬
wechseln nach Bedarf gestattet. Ein unter den Stuhl
gestelltes Gefäss fängt den ablaufenden Urin auf. Am
Stuhl oben und unten mit Bändern befestigte Woll-
teppiche verhüllen und erwärmen die durch das für
beregte Zwecke erforderliche Arrangement der Kleider
entblössten Körpertheile und erschweren es zugleich
ohne Anwendung eines unhumanen Zwanges, dass
verblödete Kranke unmotivirt und ohne Weiteres den
ihnen angewiesenen Sitz verlassen. Autoreferat.
Professor Wollenberg-Tübingen : Ueber Stirn¬
hirn t u m o ren. Der Vortr. ist zu seinen Ausführungen
veranlasst worden durch einen Fall von Stimhimtumor,
bei dem die psychischen Erscheinungen einen be¬
sonders breiten Raum einnahmen.
Es handelte sich um einen 26jährigen Metzger,
der ohne besondere Ursache im October 99 mit
Kopfschmerz, Uebelkeit und gelegentlichem Erbrechen
erkrankte, worauf etwa 1 Jahr später der erste Krampf¬
anfall, beginnend mit Verdrehung des Kopfes und
der Augen nach links eintrat. Weiterhin traten psy¬
chische Störungen derart in den Vordergrund, dass
Patient auf einer Irrenabtheilung untergebracht werden
musste. Hier wurde ein tobsüchtiger Erregungszustand
mit Grössen- und Verfolgungsideen beobachtet, ausser¬
dem wiederum ein Krampfanfall epileptischen Characters.
In der Tübinger psychiatrischen Klinik, in welcher
der Kranke sodann vom 14. März 1901 bis zu seinem
Tode am 9. Oktober 1901 untergebracht war, wurden
von körperlichen Störungen festgestellt: beiderseitige
Stauungspapille, gelegentliches Erbrechen; vorüber¬
gehende Schwäche der linken oberen Extremität,
allmählich hervortretende dauernde Parese des linken
unteren Facialisgebietes; zeitweilig ausgesprochene
statische Ataxie; dazu subjectiv heftiger Kopfschmerz
bald in der Stirn- bald in der Hinterhauptsgegend.
Das geistige Verhalten kennzcichnete sich durch eine
habituelle Reizbarkeit, zeitweilige Euphorie mit Neigung
zum Witzeln, und vorübergehende Zustände theils
leichterer maniakalischer Exaltation, theils ausgespro¬
chener Tobsucht, zum Theil ungeheuerlichen Grössen¬
ideen. — Bei zweimaliger Lumbalpunktion ergab sich
erhebliche Druck Steigerung.
Die Diagnose wurde aus den Allgemeinerschein¬
ungen, dem Auftreten von Krämpfen, die mit Drehung
des Kopfes und der Augen nach links begannen,
der linksseitigen Facialis-Parese, der statischen Ataxie
und, in letzter Linie, aus dem psychischen Verhalten
Original from
HARVARD UNIVERSITY
414 PSYCIIIATI\ISCII-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37.
mit Wahrscheinlichkeit auf einen Tumor des rechten
Stirnhirns gestellt, eine entsprechende Operation in
Erwägung gezogen, von dem Kranken aber zunächst
abgelehnt und später durch den plötzlichen Tod ver¬
eitelt.
Die Section ergab das Vorhandensein eines gut
apfelgrossen Tumors, welcher das rechte Stirnhirn von
aussen und unten her bis auf etwa die Hälfte seines
Volums compiimirrt hatte.
Der Vortragende erörtert sodann unter Hinweis
auf einen weiteren Fall seiner Beobachtung die
Schwierigkeiten der Diagnose in manchen Fällen von
Stirnhirntumor, in denen wie in dem «einigen eine
Verwechslung mit Epilepsie sehr nahe liegt, und geht
näher ein auf die Bedeutung der psychischen Stör¬
ungen bei Hirntumoren im Allgemeinen, bei Stirn¬
hirntumoren im Besonderen.
Im Anschluss an die neueren statistischen Arbeiten
von Gianelli, Schuster u. A. wird die Häufigkeit des
Vorkommens geistiger Störung bei Tumoren der ver¬
schiedenen Hirngebiete besprochen, unter denen das
Stirnhirn in dieser Beziehung mit in erster Reihe
steht. Im Anschluss an ( >ppenheim, Bruns, Schuster u. A.
betont Wollenberg, dass die allgemeine Benommenheit
ohne active psychische Symptome die häufigste Art
der geistigen Störung beim Hirntumor sei, und er¬
örtert dann im Anschluss an seinen Fall, sowie an
die sonstigen in der Littcratur mitgetheilten Fälle die
Frage, ob es eine für die Stirnhirntumoren einiger-
maassen characteristische Form der Geistesstörring
gebe. Vortragender meint, seinem subjectiven Ein¬
druck nach, diese Frage in dem Sinne bejahen zu
müssen, dass das eigenthümliche Verhalten, welches
bereits von M. Bernhardt bei Tumoren der vorderen
Schädelgrube erwähnt, dann besonders von [astrowitz
gewürdigt und als Moria beschrieben, von Oppenheim
(„Witzelsueht“), E. Bruns, Hitzig, Horniger, ihm
selbst und anderen Autoren bei Stirnhirntumoien be¬
obachtet worden ist, und, wie er mit Schuster an¬
nimmt, je nach dem Grade, als einfache Euphorie,
Witzelsucht oder eigentliche Moria in die Erschein¬
ung tritt, bei Stirnhirnlumoren verhältnissmüssig häufig
sei.
Da es indessen sowohl Stirnhirntumoren ohne die
,,h\pomanische“ (Sc huster) Störung, als auch Tumoren
anderer Hirngebiete mit dieser gebe, so sei man
nicht berechtigt, auf Grund dieses psvchischen Ver¬
haltens allein die Diagnose auf Stirnhirntunior zu
stellen. Immerhin könne es aber ein verwerthbares
lo< aldiagm »stisc lies 11illSm«unent bilden, wenn andere
Erwägungen auf einen derartigen Sitz der Erkrankung
hinweisen.
Zum Schluss betont Vortragender, dass es durch¬
aus erforderlich sei, Fälle von Hirntumor in psv-
chischer Beziehung genauer zu beobachten , als es
besonders in den älteren Beobachtungen zumeist ge¬
schehen sei, da nur eine ad hoc angelegte Statistik
zur Klarstellung der hier noch offenen Fragen führen
k <"»1 me.
Dr. Max Weil-Stuttga rt stellt eine 41 jährige
Frau vor, bei der seit Oktober 1900 heftige Kopf¬
schmerzen im Ilinteikopf und auf dem Scheitel,
Digitized by Google
manc hmal in die Stirngegend ausstrahlend, verbunden
mit Erbrechen bestanden. Im Mai 1901 Abnahme
des Sehvermögens rechts mehr wie links. Erste Unter¬
suchung Anfangs Juni 1901: Beiderseits Neuritis op¬
tica rechts stärker als links, aber keine Lokalsymptoine.
In den nächsten 3 Wochen traten folgende Symp¬
tome hinzu: Ausbildung einer starken Stauungspapille
rechts stärker wie links, circumscripte percutorische
Empfindlichkeit am Schädel rechts in der Schläfen-
gegeiid, Verlust des Geruc hs ro hts, Parese des linken
Mundfacialis, Fehlen des linken Abdominalreflexes,
hochgradige Ataxie von typisc h ecrebellarem Charakter
mit der Neigung nach links zu fallen, keine Rumpf -
muskels« hwäche. Im weiteren Verlauf eigenthiimliehes
psvehist lies Verhalten, Euphorie mit Witzelsucht: die
linksseitige Fa< ialisparese schwankte in der Intensität,
ebenso die Ataxie. Auf Grund dieser Svmptome
wurde die Diagnose auf Tumor des rechten Frontal¬
lappens gestellt, von dem in Anbetracht der cireum-
scripten percutorischcn Empfindlichkeit des Schädels
anzunehmen war, dass er nic ht zu weit vom Knoc hen
entfernt war. Entscheidend für die Lokaldiagnose war
die circumscripte percutorische Empfindlichkeit rec hts,
die statische Ataxie, die linksseitige Monoplegia Faci¬
alis, die Aufhebung des Geruchs rechts. Die psychi¬
schen Sunptome waren geeignet, die Diagnose zu
stützen. Am wahrsc heinlic hsten erschien einSarcom;
bezüglich der Ausdehnung des Tumor konnte man
sagen, dass er wohl kaum noch die Zentralwindung
erreicht hatte*.
Am 20. Juli iooi Operation durch Professor Dr.
Steinthal. Bildung eines Wcichtheilknochenlappcns in
der rechten Sehläfengegend. Nach Eröffnung der
Dura lag der Tumor zu Tage und liess sich glatt
stumpf heraus.se hälen ; er hatte die Grösse eines
Hühnereis und erwies sieh als ein Fibrosarcoin. In
der Umgebung des Tumor noch 2 kleinere desselben
Charakters, die entfernt wurden. Sofortige Besserung
der subjektiven Besch werden, die Stauungspapille ging
zurück, das Sehvermögen hob sich. Nach 3 Wochen
wiederum Zunahme der Staimngserscheinungcn im
Augenhintergmnd mit Abnahme des Sehvermögens
ohne sonstige Beschwerden. Bei dem fieberlosen Ver¬
lauf war ein Re< idiv wahrscheinlich. V iederöffnung
am 4. September 1001 und Entfernung zweien wei¬
terer Tumoren von der Grosse einer kleinen Wall-
miss; darnach glatte Heilung. Die* Patientin fühlt
sich seitdem sehr wohl, das Sehvermögen hob sieh
jedoc h nur bis zum Erkennen von I Iandl »ewegungen
(ophtb.ilnn >s< < »piseli Atrophia X. opt. i; aber Patientin
ist im Stande*, last ohne freunde Hilfe alle gröberen
Haushaltungsarbeiten zu verrichten. Vor ü Wochen,
direkt nach dem Heben einer schweren Last, epilcp-
tiformer Anfall; z. Z. jedoch keine allgemeine oder
Lokalsymptome nachzuweiben, die auf ein Rex idiv
schliosen Hessen. — Der Vortragende weist darauf
hin, dass dieser Fall, wie auch einige andere, zeigen,
dass man unter Umständen auch Tumoren des rechten
Frontallappens mit Sicherheit diagn« »sticiren könne.
Er macht ferner darauf aufmerksam, dass bei der
Patientin trotz hochgradiger Ataxie keine Rumpf-
muskelschwäche vorhanden war; über die Witzelsueht
Original from
HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 415
als Lokalsymptom der Stirnhirntunioren spricht er sich
aus verschiedenen Gründen mit Reserve aus; die
statische Ataxie sei zweifellos ein Lokalsymptom.
(Ausführliche Mittheilung folgt).
Den Schluss der ersten Sitzung bildete die De¬
monstration und Erläuterung der Pläne der neuen
Staatsirrenanstalt bei Weinsberg durch Med.-Rath Dr.
Dietz im Anschluss an die in oben genannter Zeit¬
schrift von ihm veröffcntlichlen allgemeinen Ge¬
sichtspunkte, welche für die* Errichtung einer weiteren
wi'irttembergischen Anstalt überhaupt, wie im Einzel¬
nen für die Art der Ausführung denselben, (Pavillon¬
styl) und die Wahl des Kauplatzes maassgebend waren.
Die Anstalt in Weinsberg ist für 500 Kranke bestimmt,
mit je 250 Männer und Frauen. Hälftig ist auch die
Trennung der „geschlossenen“ (Aufnahme und Ueber-
wachungshäuser, halbmhige Häuser und Lazarethe),
und der „offenen Anstalt“, also ebenfalls mit je 250
Ketten. Männer- und Frauenabtheilung sind durch
eine mittlere neutrale Zone getrennt, in welcher sich
Verwaltungsgebäude und Kirc he befinden. Die Ge-
sammtzahl der Gebäude beträgt 33. Die masc hinellen
Betriebe sind möglichst concentriseh angelegt, Küche
und Waschküche so, dass sic trotzdem leic ht zugäng¬
lich sind; für den Speisetransport ist eine Rollbahn
in Aussicht genommen.
Die Zahl der Krankenhäuser beträgt 18. Die un¬
gefähr kreisförmige Anlage derselben erleichtert auch
räumlich einen stufen weisen Uebergang von den Auf¬
nahme- und Ueberwachungshüusern zur c»Honen Anstalt
und freien Behandlung. Der seitherige Gutshof wird
als Colonie betrieben werden.
Wasserversorgung: 400 Ltr. pro Kopf und Tag,
event. ohne Schwierigkeiten noch zu erhöhen. Elek¬
trische Beleuchtung; Zentral - Heizung in Form der
Gruppenheizung von 3 Zentren aus. — Abwasser¬
reinigung nach biologischem Verfahren. Gcsainmt-
kosten der Anstalt: 3 Mill. Mark. Eröffnung theil-
weise am 1. October 1003, ganz 1. April 1004.
Die in Aussicht genommene Besichtigung der im
Rohbau nahezu fertigen Anstalt musste des schlechten
Wetters wegen leider unterbleiben.
Abends 7 Uhr vereinigten sich dann etwa 80
Theilnehmer zu dem im Hotel Marquardt veranstal¬
teten Festessen, in dessen Verlauf San.-Rath Dr.
Wildcrmuth die Theilnehmer im Namen der Geschäfts¬
leitung, San.-Rath Dr. Fauser im Namen der Stadt
und Dr. Weil im Namen des ärztlichen Vereins be-
grüssten. In längerer Erwiderung dankte Geh.-Rath
Schüle von Illenau und gab einen Ueberblick über
das, was in Württemberg und von Württembergern
für die Psyc hiatrie geleistet worden sei. Er erwähnte,
dass vor 33 Jahren die 2. Versammlung des Vereins
auch in Stuttgart getagt habe. Damals waren es 10
Theilnehmer!
Am Sonntag Vormittag 8 l / 2 Uhr vereinigte man
sic h im Bürgerspital, um unter der Leitung von
Sanitätsrath Dr. Fauser die Irrenabtheilung mit den
im Sommer vollendeten Anbauten zu besichtigen.
Dann wurde die Versammlung unter dem Vorsitz von
Med.-Rath Dr. Kreuser fortgesetzt, indem dieser zu¬
nächst ein Begrüßungsschreiben des Stadtdekans von
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Braun vorlas. Zunächst wurden einige geschäftliche
Angelegenheiten erledigt und für den Ort der nächst¬
jährigen Zusammenkunft K a r 1 s r 11 h e gewählt. So¬
dann wurde mit überwiegender Mehrheit eine Reso¬
lution gegen den Erlass des kgl. prcuss. Justizministe¬
riums vom 1. Oct. v. J. gefasst, der anordnet, dass der
Gerichtsarzt zu Entmündigungssachen regelmässig zu
wählen sei. Der Beschluss (s. S. 351 Nr. 32) wurde
zur weiteren Verarbeitung dem Vorstand des Vereins
deutscher Irrenärzte übergeben. — Den 1. Vortrag
hielt sodann San.-Rath Dr. Fauser über die Einrich¬
tung und den Betrieb der Irrenabtheilung des Bürger¬
spitals. Nach einer kurzen Beschreibung der bau¬
lichen Einrichtungen, namentlich der Wachabtheilung,
folgten Allgaben über die Aufnahmezilfern. die Krank¬
heitsformen, die Ileilresultate, über das Pflegepersonal
und die Aufnalimestatuten. Seit der Errichtung der
neuen Anstaltsgebäude im Jahre iScgj. haben sich die
Neuaufnahmen von Kranken um reichlich 100 ° 0 ver¬
mehrt, während das Aufnahmegebiet sich nur um 30" 0
vergrößert hat. Im letzten Jahre wurden in der An¬
stalt 221 Kranke verpflegt, von denen 06 nach an¬
deren Anstalten verbracht und 1 iq wieder als geheilt,
zum Theil auch als ungebessert nach Hause entlassen
wurden, b Patienten sind gestorben. Mit dem An¬
schluss der Irrenabtheilung an die Krankenabtheilung
wurden nur günstige Erfahrungen gemacht. Dagegen
sei es nicht angängig, dass bei Ucberfüllung der Irren¬
abtheilung Geisteskranke im Krankenhause Aufnahme
finden, weil durch deren Verhalten die im letzteren
herrschende Disciplin gefährdet werde. Als vortreff¬
lich habe sich erwiesen, die aus der Irrenabtheilung
als genesen Entlassenen noch kurze Zeit im Kranken¬
hause zur Beobachtung zu behalten.
Privatdozent Dr. Gaupp-IIeidelberg sprach über
die Grenzen der psychiatrisc hen Erken ntniss.
Dir. Frank- Mi'msterlingen: lieber den Heil-
werth der H y p n o s e. (Suggestivtherapie.)
Vortragender geht zunächst den Gründen nach,
welche die nur geringe Ausbreitung der suggestiv-
therapeutischen Methode bedingen, und findet als
solche: 1. den Umstand, dass die Suggestivtherapic
gleich nach ihrem Bekanntwerden von vielen nicht
genügend vorgebildeten Aerzten angewendet wurde,
und somit bei der allgemeinen Publikationswuth sehr
viele Fälle veröffentlicht wurden, die vor der exact
wissenschaftlichen Kritik nicht bestehen konnten; 2.
dass die Ausbildung der Aerzte auf den Universitäten
in den einschlägigen Gebieten, so in der Psychologie,
Psychophysiologie, Neurologie und Psychiatrie, eine
zu mangelhafte ist, während doch die meisten sugges¬
tiv-therapeutisch zu behandelnden Fälle zum Internen
kommen statt zum Neurologen oder Psychiater; und
3. dass der Arzt, der die Suggestive Behandlung mit
Erfolg anwenden will, gewisse quasi künstlerische
Fähigkeiten haben muss, wie sie auch nicht ein jeder
aufweisen kann. Er muss imstande sein, schnell und
sicher zu beobachten und zu komhiniren, muss sich
schnell und gut concentrircn und auch eine grosse
Ausdauer haben. — Auf diese Gründe führt F. auch
die vielen abfälligen Kritiken der medicinisclicn Au¬
toritäten über den Heilwerth der hypnotischen Me-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
416 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 3 7
thode zurück, indem er den Worten Forels in der 1.
Auflage seines „Der Hypnotismus und die Suggestiv¬
therapie“ : „Prüfe nach, bevor du urtheilst!“ noch hin¬
zufügt: „wenn du dazu befähigt bist.“ Er verlangt
weiterhin, dass man die Aerzte auf den Universitäten
entsprechend, also psychologisch und pychophysiolo-
gisch, vorbilde, und nach Forerschem Muster die
Methoden der Suggestivtherapie in Verbindung mit
einer Klinik oder Poliklinik lehre. Hiermit verbindet
Fr. jedoch nicht etwa den Zweck, alle Aerzte zu
Suggestivtherapeuten machen zu wollen, sondern er
beabsichtigt nur, neben der Gewinnung weiterer Re¬
sultate für die Psychologie, zu ermöglichen, dass bei
recht vielen Patienten die richtige Diagnose gestellt
werde, damit dieselben dann dem Specialarzt zur
heilungbringenden Behandlung zugeführt werden können,
sowie dass auch die Aerzte einsehen lernen, worauf
die Heilwirkung sehr vieler ihrer sonstigen Heilmittel
beruht, nämlich auf der Suggestion. Und wenn sich
der Vortr. auch von dem Heilwerth der hypnotischen
Methode für die Psychosen nicht viel verspricht, so
hält er doch ihre Anwendung in einzelnen Fällen für
durchaus angezeigt, wie er sie selbst auch bisweilen
bei Psychosen mit Erfolg angewendet hat. So führt
er einen diesbezüglichen Fall von Prof, von Speyr an
und erwähnt auch 2 derartige Fälle aus seiner eigenen
Praxis. In dem einen handelt es sich um eine Er¬
schöpfungspsychose bei einer 31jährigen Bauersfrau.
Dieselbe hatte sich von einem Abortus nach einer
14 wöchentlichen Gravidität und dabei stattgefundenen
starken Blutverlusten nur langsam erholt, zeigte vor
allem Schlaflosigkeit und hatte seit 8 Tagen vor der
Aufnahme Gesichts- und Gehörstäuschungen. Pat.
wurde am 2. Tage ihres Anstaltsaufenthalts, als sie
gerade lucid war, hypnotisirt, schlief darauf Nachts
gleich gut und verlor auch nach noch 2 Sitzungen
völlig ihre Sinnestäuschungen. Sie konnte bereits nach
15 Tagen als gesund entlassen werden, nachdem
auch ihr Schlaf weiterhin stets gut geblieben war, und
ist sie auch seitdem — es sind jetzt 6 Jahre ver¬
flossen — gesund geblieben. Der 2. Fall betrifft einen
11 jährigen Knaben, der von der Schulvorsteherschaft
vom Schulbesuch ausgeschlossen werden sollte, weil
er im Schulzimmer Stuhlgang hatte, ohne es zu be¬
achten. Eine organische Ursache Hess sich für das
Leiden nicht finden, aber es gelang F., in hypotak¬
tischem Zustand zu eruiren, dass der erwähnte Zu¬
stand aus dem 7. Lebensjahr des Knaben stammte.
Es war ihm damals, als er neben seiner gerade mit
Fettschmelzen beschäftigten Mutter stand, ein Tropfen
heissen Fettes auf die entblösste Brust gespritzt. Der
dadurch verursachte Schreck hatte dann eine unbe¬
absichtigte Defäcation ausgelöst und diesen Zustand
der nicht gefühlten Defäcation auch bis zum Tage
der Untersuchung unterhalten. Nachdem Vortr. dies
eruirt hatte, gelang es ihm nun durch entsprechende
energische Suggestionen in 2 Sitzungen, den krank¬
haften Zustand für immer aufzuheben. —
Dr. Bezzola, Ermatingen (Schloss Hard).
Casuistischer Beitrag zum Heilwerth der
Psychotherapie. Knabe aus gesunder Familie, nur
Mutter vasomotorisch sehr erregbar. Selbst von Kind
Digitized by Google
auf etwas nervös, besonders auch sexuell früh ent¬
wickelt. Musste wegen zu starken Wachsthums
aus der Realschule wcgbleiben, litt an immerwähren¬
der Müdigkeit und nervösen Gliederzuckungen. Später
stark entwickelte Phantasiethätigkeit und impulsive
Handlung, schiesst sich eine Kugel in den Arm und be¬
hauptet, es habe ein grosser magerer Mann auf ihn
geschossen. Polizei sucht überall, kann keine Spuren
davon finden. Zuletzt Pat. als Betrüger bestraft und
eingesteckt, halb schuldbewusst. Zwei Jahre darauf
Streit mit Kameraden, sehr aufgeregt, schläft ein, wird
von einem Kameraden geweckt, der ihm etwas ins
Ohr flüstert, verfällt in grosse Aufregung und zuletzt
Krämpfe mit Bewusstseins Verlust, die sich
einige Tage nach einander wiederholen. Diagnosen:
Epilepsie, Hysteroepilepsie, Hysterie mit entspr. Be-
handlungsvorschlägcn.
Beginn der Behandlung: 19. März 1902. Beob¬
achtung ergiebt grosse Erregbarkeit, Stimmungswechsel,
vermehrte Phantasiethätigkeit, Selbstvorwürfe wegen
verlorenem Leben, Amnesie für die Anfälle, keine De-
fecte. Hypnose durch Verbal Suggestion leicht hervor¬
zubringen. Somnambulismus mit nachheriger Amnesie.
Situation beim Schlafzustand vor den Krämpfen:
Traum, dass sein Mädchen von einem Kameraden
erschossen wird und dass er selbst mit demselben auf
Leben und Tod ringt. Berichtet in der Hypnose über
diesen Kampf in sehr erregter Weise, sodass man sieht,
er träumt den Traum wieder durch. Stöhnt, ächzt,
wechselt die Farbe, wälzt sich hin und her, ballt die
Fäuste, macht einen sehr unheimlich drohenden Ein¬
druck. (Beobachtung stenographisch aufgenommen.)
Nach und nach Ruhe. Auf Befragen sagt er, der
betr. Kamerad habe ihm ins Ohr geflüstert: „Was
ist denn los ? — Mach doch kein Unsinn! — Gut’
Nacht!“
Dieselbe Szene spielt sich nun in jeder folgenden
Hypnose, aber immer mehr abgekürzter Form
und immer ruhigerer Art und Weise ab, bis
Pat. die Geschichte erzählt, wie wenn er sie in der
Zeitung lesen würde. Bezüglich des gchcimnissvollcn
Verbrechers gelingt es im hypnotischen Schlafe zu
eruiren, dass der „grosse Mann“ sein „Vetter“ in
Stuttgart war. Mit demselben hatte er als ganz junger
Knabe — vor 12 — 13 Jahren — im Walde Ver¬
steckspiele getrieben und war dabei erschreckt worden,
indem er, genau wie nachher bei der Vision, hinter
einem Baume hervorgetreten war. Der Schreck war
klein gewesen, aber nachher zeigten sich die nervösen
Erscheinungen.
Im wachen Zustande amnestisch, auch für das in
der Hypnose aus der Erinnerung hervorgeholte Ge-
heimniss des „grossen Mannes“. Erst am Schluss der
Behandlung wird Pat. die hypnotische Suggestion ge¬
geben, seinen Eltern successive Aufklärung über die
verschiedenen Geheimnisse seines Lebens zu geben
und beim Frühstück die Geschichte vom Versteck¬
spiel, beim Mittagessen die Revolveraffaire, beim Nacht¬
essen die Traumaffaire in ihrem Zusammenhänge mit
den unbewussten Vorgängen zu erzählen, was er in
verblüffender Weise thut, unter der Angabe, die Sachen
seien ihm soeben eingefallen.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 417
Pat. ist bisher frei von nervösen Erscheinungen
geblieben und nach den Angaben seiner Eltern so¬
wohl als nach seinen eigenen ein anderer Mensch
geworden. Er hat den Sommer über mit Lust und
Fleiss gearbeitet und das gefürchtete Examen zum
Einjährig-Freiwilligen bestanden, vor dem er so Angst
hatte, dass Ref. es für gut fand, ihn einige Male
dasselbe in der Hypnose durchmachen zu lassen.
Pat. glaubt, dass dieses Gewöhnen an eine gefürchtete
Situation ihm von grossen Nutzen gewesen sei, ob¬
wohl die Gründe andere waren.
Krauss-Kennenburg: Ueber Vererbung von
Geisteskrankheiten.
Die Annahme, das das Darwinsche Gesetz der
Vererbung auch für die Form der Geistesstörung Gel¬
tung habe, bestätigt sich nicht nach den Befunden
bei den Kranken der psych. Klinik in Heidelberg
und an der Heilanstalt Kcnnenburg. Es fanden sich
vielmehr gleichartige Vererbung von der Gesammt-
zahl der Fälle bei Eltern und Kindern nur in 7o°/q,
bei Geschwistern nur in 6o,6"; 0 , bei Geschwisterkin¬
dern nur in 46,5° ',, der Fälle. Fs ergiebt sich damit
eine überwiegende Zielstrebigkeit im Sinne einer De-
generescenz der Krankheitsform der Dcsccndenz, eine
Beobachtung, die auch dadurch ihre Bestätigung findet,
dass sämmtliche überhaupt zur Beobachtung gelangten
Dcsccndenten mit einer einzigen Ausnahme in meist
wesentlich jüngerem Alter zur Aufnahme gelangten,
als die Ascendenten. Auch der Verlauf scheint sich
entschieden bei der Descendenz ungünstiger zu ge¬
stalten als bei der Ascendenz.
Dr. H ess-Stephansfeld : Ueber hysterisches
Irresein. (Ist in Nr. 36 dieser Wochenschrift als
Original erschienen.)
Dr. Rüh 1 c - Winnenthal: N i c h t p ar a 1 v tische
Geistesstörung neben Tabes.
Seit den ersten Veröffentlichungen über das Vor¬
kommen von Tabes und pmgress. Paralyse bei ein
und demselben Individuum durch C. Wcstphal i. J.
1878 und den 3 Jahre später über diese Frage an-
gestellten Untersuchungen durch Mocli hat sich -ein
lebhaftes Interesse für diese Combination zweier Er¬
krankungen des Centralnervensystems in den psychi¬
atrischen Kreisen geltend gemacht und zu zahlreichen
einschlägigen Arbeiten Veranlassung gegeben. All¬
mählich kam man durch Beobachtung gleichartiger
patholog.-anatom. Befunde im Rückenmark der Er¬
krankten und in Berücksichtigung des wahrscheinlich
beiden Erkrankungen zu Grunde liegenden gemein¬
samen aetiologischen Factors zu der Ueberzeugung,
dass zwischen beiden innige Beziehungen bestehen
müssten, und von einer grossen Zahl von Forschern
wird geradezu die Identität von Tabes und Paralyse
behauptet. Vortr. bespricht nun 2 Fälle von echter
Tabes, denen sich psychopathologische Erscheinungen
zugesellt hatten, die sich nicht in das Bild der pmgress.
Paralyse einfügen lassen.
Der eine Fall betrifft ein Individuum, bei dem
neben der seit 9 Jahren bestehenden Tabes sich ein
vollkommen systematisier uncorrigirter Wahn aus¬
gebildet hat und nun seit bereits 5 Jahren in un-
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veränderter Weise fortbesteht. (Der Fall wurde de-
monstrirt auf der Versammlung württemb. Nerven- und
Irrenärzte am 29. Juni 1901. Referirt darüber in
Nr. 53 der psych. Wochenschrift 1902.)
Der zweite Fall betrifft einen 46 j. Beamten. Sehr
intelligenter Mann. Psychische und physische Ueber-
anstrengung im Dienst. Lues nicht nachgewiesen.
Vor 3 1 /, Jahren Beginn der Tabes, vor bald 2 Jahren
der psychischen Störung. Ausbildung eines deutlichen
Beziehungs- und Verfolgungswahnes auf Grund zahl¬
reicher Gehörstäuschungen. Oertlich und zeitlich voll¬
kommen orientirt, intellectuellc Fähigkeiten, Urteils¬
kraft — soweit nicht unmittelbar mit seinem Wahn
zusammenhängend — ungeschwächt, vollständiges
Fehlen irgend welcher „geistigen Schwäche“, intactes
Gedächtniss sowohl für die frühere Vergangenheit als
auch für die jüngste Zeit, keinerlei Grössenideen,
richtige Beurteilung seiner financiellen Lage, rasches
und sicheres Rechnen. Der Kranke interessirt sich
lebhaft für Zeitereignisse und Tagesfragen, seine
ethischen Gefühle sind unverkümmert, sein Benehmen
tactvoll, ist stets sorgsam gekleidet. Vollkommene
Krankheitseinsicht für Tabes.
In beiden Fällen bieten die psychischen Stör¬
ungen nichts von dem, was zur Diagnose einer pro-
gress. Paralyse erforderlich wäre; sie zeigen vielmehr
seit 5 bezw. 2 Jahren ein ausgesprochen paranoisches
Gepräge. Vortr. kommt zu dem Schluss, dass es
keine gesetzmässigen Beziehungen sind, in denen die
klinischen Bilder von Tabes und Paralyse zu ein¬
ander stehen und dass darum die Lehre von der
Identität beider noch nicht als erwiesen gelten darf.
Wil man ns-Heidelberg. Psychose der Land¬
streicher.
Das Material, das dem Vortrage zu Grunde liegt,
besteht aus 120 Geisteskranken, professionellen Land¬
streichern. Infolge der vorgerückten Zeit beschränkt
sich der Vortr. darauf, die Bedeutung hervorzuheben,
welche der Dementia praecox in der Zusammensetzung
des gewohnheitsmässigen Vagabondenthums zukommt.
Er unterscheidet drei Gruppen: die erste Giuppe wird
von ursprünglich geistig und körperlich gesunden, sess¬
haften Persönlichkeiten gebildet, die in geordneten
Erwerbsverhältnissen lebten, bis dass sie meist zwischen
dem 20. und 30. Jahre von einer schwereren, acuten
Psychose befallen wurden, nach deren unvollkommenen
Heilung sie in die Landstreicherlaufbahn geriethen.
Hochgradiger Schwachsinn, Wahnvorstellungen oder
eine acute hallucinatorische Erregung im Arbeitshause
führten oft erst nach Jahrzehnten ihre endliche Auf¬
nahme in der Klinik herbei. — Eine zweite Gruppe
bilden ebenfalls ursprünglich sociale Elemente, die
sich, ohne dass eine ausgesprochene geistige Störung
vorhanden war, ziemlich plötzlich oder mehr allmäh¬
lich ohne erkennbaren Grund einem unsteten und
unregelmässigen Leben hingaben und zu gewohnheits¬
mässigen Vagabonden wurden. Erst im Laufe von
Jahren und Jahrzehnten und oft erst nach häufigen
Internirungen in Correctionshäusem traten activ psy¬
chotische Erscheinungen auf oder wurde der Schwach¬
sinn als so hochgradig erkannt, dass eine Ueberfüh-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
418 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 37.
rung in eine Anstalt nothwendig erschien. — Die
dritte Gruppe endlich setzt sich aus von Haus aus
patnologischen Persönlichkeiten zusammen, bei denen
schon in frühester Jugend sittliche und intellectuelle
Defecte vorhanden waren, die nach meist unvoll¬
kommener Schulausbildung kein Handwerk erlernten,
schon früh ins Vagabondiren geriethen und nach
massenhaften Störungen wegen Verbrechens gegen die
Person und das Eigenthum, Betteins und Land¬
streichens, nach häufigen Internirungen in Gefäng¬
nissen, Zucht- und Correctionthäusern ausgesprochen
geisteskrank und in die Irrenanstalt überführt wurden,
die geringeren sehr häufig mit dem Symptomen com -
plex der Kalbaum’schen Katatonie, die älteren unter
dem Bilde der alten hebephrenischen Verblödung.
Dr. Feld mann giebt einen Ueberblick über die
seit dem Jahr 1895 auf der Inenabtheilung des
Bürgerhospitals behandelten 71 Fälle von acuter
Gei stesstörung der Gewohnheitstrinker. Unter
101 Alkoholikern, darunter 10 weiblichen, wurden auf¬
genommen :
40 (6 weibl.) wegen chronischen Alkoholismus,
11 „ pathologischer Rauschzustände,
14 (2 weibl.) „ acut, halluc. Wahnsinns d. Trinker,
36 (2 „ ) „ Delirium tremens.
Referent geht nur auf die letzten 2 Gruppen
näher ein. Bei den 14 Patienten mit acutem
h al lucin atorischem Wahnsinn wurden bei 12
einfachen und 2 mehrfachen Aufnahmen insgesammt
20 Anfälle beobachtet.
Bei den aus der Irrenabtheilung nach Hause ent¬
lassenen Kranken dauerte der Aufenthalt im kürzesten
Fall 4, im längsten 21, im Durchschnitt 17 Tage.
Wegen Delirium tremens wurden 36 Per¬
sonen, davon 7 mehrmals aufgenommen, so dass
im ganzen 51 Anfälle beobachtet wurden.
Die körperliche Untersuchung der Kranken ergab
im Widerspruch zu den sonstigen Erfahrungen sehr
wenig schwere Complicationen, insbesondere keine
Pneumonie und nur eine schwere Verletzung.
Bei 4 Anfällen erfolgte der Ausbruch des Deliriums
erst nach dem Eintritt auf die Irrenabtheilung des
Bürgerhospitals, darunter befindet sich auch ein Rück¬
fall im Bürgerhospital, dessen Einzelheiten der Be¬
richterstatter näher vorträgt.
Alkohol wurde nur in 4 Fällen verabieicht und
zwar geschah dies derart, dass bei hochgradiger Herz¬
schwäche neben andern Excitantien kleine Dosen Wein
gegeben wurden. Auch von Narcotids wurde nur
massiger Gebrauch gemacht, Sulfonal, Trional und
Paraldehyd gelangten wiederholt in geringen Mengen
zur Anwendung. Chlaralhydrat wurde nie gegeben.
In einzelnen Fällen wirkten hydrotherapeutische Pro¬
zeduren sehr günstig ein. Unter dieser Behandlung
trat die Orientirtheit durchschnittlich nach 3,6 Tagen
ein. Die Entlassung erfolgte in beinahe */ 3 der Fälle
in den ersten zwei Wochen, im Durchschnitt nach
13,7 Tagen. Ein Fall, den der Vortragende eben¬
falls genauer schildert, gelangte zum exitus letalis.
Der Berichterstatter führte zum Schluss an, dass
das Delirium tremens zu denjenigen Krank-
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heiten gehöre, die sich ganz besonders zur
Behandlung in den Irrenasylen der grösseren
Städte eignen und zwar aus folgenden Gründen:
1. Das Delirium tremens ist meistens von sehr
kurzer Dauer.
2. Trotzdem ist es fast unmöglich, derartig Kranke
im Hause zu behandeln; andererseits lassen sich die
für die Aufnahme in eine eigentliche Irrenanstalt noth-
wendigen Formalitäten häufig nicht mit der gewünschten
Schnelligkeit vollziehen, auch erscheint die Vermeid¬
ung eines längeren Transportes bei dieser Krankheit
besonders wünschenswerth.
3. Im Irrenasyl lässt sich die sofortige, vollkom¬
mene Entziehung des Alkohols beinahe in allen Fällen
durchführen. Bei sorgfältiger Behandlung des Kranken
tritt trotzdem der Ablauf des Deliriums in durchschnitt¬
lich 3 l /2 Tagen ein.
4. Wo das Irrenasyl wie in Stuttgart mit einem
Krankenhaus verbunden ist, kann man in den meisten
Fällen den Trinker nach Aufhören der durch seinen
Anfall bedingten Gemeingefährlichkeit und damit auch
nach Fortfall der rechtlichen Grundlage für unfrei¬
willige Zurückhaltung desselben durch gütliches Zureden
dahin bringen, dass er sich freiwillig noch einige Zeit
der Aufsicht des Arztes unterwirft.
5. Die Verbringung in eine Trinkerheilstätte, die
natürlich immer anzustreben ist, wird leichter möglich,
wenn sich der Trinker vom Irrenasyl aus direct da¬
hin begiebt, als wenn er vorher in seine häuslichen
Verhältnisse zurückkehrt.
ö. Wo aber der Kranke, wie dies in den meisten
Fällen zutrifft, aus äusseren Gründen baldmöglichst
seine Erwerbsthätigkeit wieder aufnehmen muss, da
ermöglicht ihm das Irrenasyl bei dem ge¬
ringsten Kostenaufwand und unter den
leichtesten Bedingungen die bestmöglichste
Behandlung während des Anfalls und die
ehethunlichste Wiederaufnahme der Arbeit
nach Ablauf desselben.
Der Vortrag erscheint anderwärts in extenso.
H. Levi: St ich Verletzung des Gehirns.
(Aus dem Marienhospital in Stuttgart.)
Vortragender stellt einen Patienten vor, welcher
vor 4 Monaten bei Raufhändeln in den Kopf ge¬
stochen worden war. Das Messer durchschnitt das
rechte Scheitelbein 1 cm von der Mittellinie entfernt
glatt, ohne Splitterung und drang noch 4 cm tief ins
Gehirn ein. (Beinregion nach Krönlein scher Messung.)
Im Moment der Entfernung, bei welcher Hebelbe¬
wegungen ausgeführt wurden, sank der linke Arm wie
leblos herab und blieb gelähmt, während Pat. noch
gut gehen konnte und keine gröbere Sensibilitätsstör¬
ung bot. Plötzlich auftretende auf Druck hinweisende
Symptome machten ca. 2 Stunden nach der Verletz¬
ung operative Erweiterung des Knochenspaltes noth¬
wendig, wobei weder ein Bluterguss noch Splitter sich
fanden. (Prof. Zeller.) Die Wundheilung verlief in
der Folge glatt, doch bildete sich nunmehr d;is Symp-
tomenbild einer associirten brachio-cruralen Monoplegie
aus: es bestand 14 Tage lang völlige Lähmung des
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1902.j PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 419
linken Armes, dessen Motilität sich in eigenartiger
Reihenfolge allmählich wieder herstellte, ferner Parese
des linken Beines, Störungen des Muskelsinns, Lagege¬
fühls, LokalisationsVermögens, stereognostischen Sinnes
und auch in geringem Grade der Tast- und Wärme¬
empfindung insofern, als ein deutlicher Unterschied
zwischen rechts und links bestand. Weiterhin be¬
standen spastische Symptome in Arm und Bein mit
Steigerung aller Reflexe und ausgesprochene Rinden¬
ataxie. Fast alle diese Erscheinungen haben sich so
beträchtlich zurückgebildet, dass der Verletzte seit 14
Tagen wieder seinem Beruf nachgehen kann. Vortr.
bespricht kurz die Localisation, Prognose u. s. w. des
Falles, der anderweitig in extenso veröffentlicht wird.
Laudenheimer (Alzbach b. Darmstadt). Sexu-
elle Zwangsvorstellungen bei einem Kinde.
Irresein aus Zwangsvorstellungen bei Kindern ist
in der Litteratur nur vereinzelt, sexuelle Zw. im Kin¬
desalter überhaupt bisher nicht beschrieben. In L.’s
Fall wurden einem 11 jährigen Quartaner von älteren
Mitschülern unanständige Worte und Zeichnungen
mitgetheilt, deren Inhalt er nicht verstand, welche sich
ihm dann zwangsmässig besonders in den Schulstunden
aufdrängten. Gleichzeitig befürchtete er diese Worte
oder Bilder laut ausgesprochen oder aufgezeichnet
zu haben, was niemals der Fall war, und deshalb
aus der Schule gejagt zu werden. Hieraus entwickelte
sich allmählich im Laufe eines halben Jahres ein
melancholisches Zustandsbild mit Angstgefühl, Selbst¬
vorwürfen und Suicidialgedanken, jedoch waren die
Zw. stets das primäre. Entfernung aus der Schule,
körperlich und seelisch kräftigende Behandlung
brachten die Zwangsvorstellungen nach 3 Monaten
zum Verschwinden. — Recidiv trat 1 Jahr nach
Krankheitsbeginn mit dem Einsetzen der Pubertäts¬
entwicklung auf: Gleichzeitig mit den ersten unvoll¬
kommenen Erectionen, die Pat. beim Anblick weib¬
licher Personen bekam, stellte sich die Zwangsbefürcht¬
ung ein, zu vorübergehenden Frauen unanständige
Worte oder Bewegungen machen zu müssen. Pat.
machte sich hierüber heftige moralische Vorwürfe.
Sachgemässe Aufklärung des in sexuellen Dingen noch
absolut naiven Knaben brachte rasche Heilung. L.
führt aus, dass dieser in seiner Aetiologie ungewöhn¬
lich durchsichtige Fall der Hypothese Freud’s über
Entstehung der Zw. nicht entspricht, wohl aber ein
schlagendes Beispiel für M. Friedmann’s Theorie der Zw.
bildet. (Vortrag in extenso veröffentlicht im „Kinderarzt.“)
Dr. R o s e n f e 1 d-Strassburg sprach über trauma¬
tische Hypochondrie, Dr. B u s c h - Heidelberg über
die Diagnose der progressiven Paralyse. Die Sitzung,
die bis 5 Uhr Abends dauerte, wurde unterbrochen
durch ein von der Stadt Stuttgart gebotenes Gabel¬
frühstück. Dabei sprach Prof. Kräpelin in launiger
Weise über den gelungenen Lauf der Versammlung.
Privatdocent Dr. Gaupp dankte dem Redacteur des
Med. Correspondenzblattes Hofrath Deahna für die
Erstellung der Festschrift. Allgemeine Anerkennung
fanden die Einrichtungen der Irrenabtheilung des
Bürgerspitals, die weitherzige Fürsorge der Stadt Stutt¬
gart in dieser Richtung und ganz besonders die vor-
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treffliche Organisation und Leitung der Anstalt durch
den San.-Rath Dr. Fauser, der es verstanden hat,
das alte Stuttgarter Irrenlokal in ein mustergültiges
städtisches Irrenasyl umzuwandeln. Besonders erfreut
und dankbar äusserten sich die versammelten Irren¬
ärzte über das höchst liebenswürdige Entgegenkommen
der städtischen Behörden und über die rege Theil-
nahme auch der Collegen in Stuttgart, die nicht Spe-
cialisten sind.
Referate.
— Die Beziehungen zwischen körperlichen
Erkrankungen und Geistesstörungen. Von Dr.
Weber, Oberarzt u. Privatdoc. in Göttingen. Halle a. S.,
Carl Marhold, 1902, Pr. 1,50 Mk. Samml. zw r angL Ab-
handl. a. d. Gebiet der Nerven- u. Geisteskr. III. Bd.,
Heft 7.
Auf dem Boden körperlicher Erkrankungen können
zwar psychische Störungen entstehen, selten bildet je¬
doch die körperliche Erkrankung die einzige oder
hauptsächlichste Ursache der Psychosen. In diesen
wenigen Fällen, die namentlich unter den Intoxications-
und Infectionspsychosen zu suchen sind, bietet das
klinische Bild gewisse characteristische Symptome.
Im übrigen ist die körperliche Erkrankung neben vielen
anderen gleichwerthigen nur ein aetiologischer Faktor,
manchmal nur ein sogenanntes auslösendes Moment.
Den vom Verf. beobachteten 2 Fällen von Dia¬
betes und Geistesstörung kann Ref. einen sehr ähn¬
lichen zur Seite stellen, bei dem ebenfalls hochgradige
Vergessliclikeit im Vordergrund stand.
Mit der vorliegenden Arbeit ist die bekannte Samm¬
lung zwangloser Abhandlungen wieder um eine lesens-
werthe Nummer vermehrt worden. H. Kornfeld.
— Jahresbericht für die I rren-Abthei¬
lung des Pennsylvania-Hospital für 1901/2
des Directors Dr. Jota Chapir.
Schon auf der ersten Seite dieses Berichts fällt
angenehm auf, dass als consultirender Gynäko¬
loge Herr Dr. Scott-Häusler aufgeführt ist. Der ärzt¬
liche Stab besteht aus 5, die Zahl der Wärter und
Wärterinnen ist 154.
Es wurden täglich im Durchschnitt behandelt
195 M., 253 W. = 448, es starben im Berichts¬
jahre 30 und genasen 23°/,, der Aufgenommenen
= 38; (von den seit 1841, Eröffnung des Hospitals,
Aufgenommenen 11,322 : 1770 bezw. 4845). 14 Neu¬
rastheniker kamen freiwillig in die Anstalt.
Die Jahreskosten betrugen ca. 1 / 4 Mill. Dollars;
333 Kranke zahlten einen Theil des Unterhaltes.
Ein prachtvoller Pavillon (Geschenk) wurde für
Hydropathie errichtet, ebenso ein Haus auf einer
Farm.
Mehrere brillante Abbildungen, z. B. der elegan¬
ten Villen für Frauen, des gymnastischen Pavillons,
des Natatoriums, und ausführliche statistische Tabellen
sind beigegeben.
Bemerkensw r erth ist das Urtheil über die nega¬
tiven Resultate der pathologischen Untersuchungen
bezw. Therapie. Hermann Kornfeld.
Original frum
HARVARD UNIVERSUM
420
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 37.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psych. und
psych.-ger. Medicin. 59. Bd., 2. und 3. Heft.
Linke-Tost O.-S. Noch einmal der Affekt
der Paranoia.
Auch bei der Paranoia wird neuerdings angenommen,
dass dem Auftreten des Wahns eine durch primäre
Affekte bedingte, krankhafte Veränderung des Ich zu
Grunde liegt. Verf. halt an seiner bereits früher gc-
äusserten Ansicht fest, dass die „gespannte Erwartung“
als der für das erste Auftreten des Wahns ausschlag¬
gebende Affekt anzusehen sei und verwirft die Be¬
zeichnungen „Misstrauen oder Rathlosigkeit“.
Siefert-Halle a. S. Ueber chronische
Manie.
Ein 36jähriger Arbeiter mit abenteuerlichem Le¬
bensgang, wiederholt in der Klinik aufgenommen, bot
andauernd das Bild der Manie. In der Litteratur
fehlen derartige Fälle, welche maniakalischen Symp-
tomenkomplex, Unveränderlichkeit der Erscheinungen
und fehlende Concurrenz eines psychischen Defekts
darbieten, so gut wie ganz. Verf. glaubt, dass sich
unter den Vagabunden, sowie unter den Insassen von
Arbeitshäusern und Gefängnissen derartige psychische
Individualitäten häufiger werden finden lassen. Dem
chronischen Maniacus müsste der Schutz des § 51
zugebilligt werden.
Hoppe-Allenberg. Ein Fall von Queru¬
lantenwahnsinn.
Typischer Fall von Querulanten wahn bei einem
Lehrer, der 3 mal wegen falscher Anschuldigungen
etc. verurtheilt worden war und 3 Jahre Gefängniss
abgebüsst hatte. Erst bei der vierten Anklage wurde
eine Anstaltsbeobachtung durchgesetzt und auf Grund
des ärztlichen Gutachtens Freisprechung erzielt; auch
wurde Pat. nachträglich im Wiederaufnahmeverfahren
in den 3 früheren Strafsachen freigesprochen.
Risch. ZurCasuistik der Aphasie mit
Agraphie und Alexie.
Ein 61 jähriger Maurer, der seit ca. 3 Jahren die
Sprache verloren hatte, wurde nach der Rieger’schen
Methode untersucht. Während Perception und Apper-
ception nicht erheblich gestört waren, wurden optische,
tactile Perceptionen schlecht, Sinneseindrücke, die
aus eigenen Bewegungen stammten, überhaupt nicht
behalten. Spontansprechen war völlig, das Nachsprechen
nicht absolut aufgehoben. Das Verständniss der Worte
war anscheinend vollständig vorhanden. Es bestand
ferner absoluter Ausfall des Spontan- und Diktat¬
schreibens, sowie des Lesens und des Leseverständ¬
nisses. Nach Ansicht des Verf. liegt der Krankheits-
heerd in der Insel und greift auf die Leitungsbahnen
über, die zum Lesecentrum führen.
Arnemann-Gross-Sdnveidnitz.
— V. Congres international d’anthro-
p o 1 og i e criminelle. Amsterdam 9. — 14. Sep¬
tember 1901.
Jelgersma (Amsterdam) stellt die Psychologie
collective, die Psychologie der Massen, der Psycho¬
logie individuelle entgegen. Die Massen stehen unter
dem Einfluss des Monoideismus, einer einzigen sie
beherrschenden Vorstellung. Der Uebergang von der
Idee zur That vollzieht sich ungewöhnlich rasch.
Henrik Dedichen (Norw-egen) schlägt vor,
die Geisteskranken, die sich nur kleinere Verbrechen
zu schulden kommen lassen, wie Diebstahl u. dergl.,
und deren Aufenthalt fortwährend zwischen Irrenan¬
stalt, Gefängniss und Freiheit schwankt, in Kolonien
zur Bearbeitung der Torfmoore und Haiden unterzu¬
bringen. In Betracht kommen die Imbecillen, Des-
equilibrirten, Alkoholisten.
Meijer (Deventer): Ueber die Unterbringung
geisteskranker Verbrecher. Die Infirmeries peniten-
tiaires (in England versucht), w’o die körperlich und
psychisch Kranken des Gefängnisses verpflegt werden
sollten, haben sich nicht bewährt. Ebensowenig die
Centralanstalten (prisons-asiles in Dundrum seit 1850,
Aubum bei New-York seit 1859, Broadmoor seit
1863, Montelupo in Italien, Marchattan in Amerika,
Waldheim in Sachsen). Nachtheile: Verschwörungen,
Gewalttätigkeiten, Entweichungen, Kosten, Umständ¬
lichkeit des eventuellen Transports in das Gefängniss
oder die gewöhnliche Irrenanstalt. Beste Methode:
Adnexe an Gefängnisse zum Zweck der Beobachtung
und zeitweisen Behandlung, und Adnexe an die Irren¬
anstalt zur definitiven Intemirung.
A 1 etrin o (Amsterdam) fordert die sociale Gleich¬
stellung des Homosexuellen mit dem Heterosexuellen.
Zwischen beiden besteht kein Unterschied. Beide
können von vorzüglichem Charakter sein, und die
Laster des Heterosexuellen können sich auch beim
Homosexuellen finden. Es giebt eine normale Homo¬
sexualität. Die Befruchtung giebt nicht den Aus¬
schlag dafür, ob die Verbindung zwischen Mann und
Weib moralischer sei als die zwischen Mann und
Mann. Es giebt auch sterile Ehen, und im niedem
Thierreich ist die Befruchtung, das Zusammentreffen
von Sperma und Ei, ganz Zufall. Die Liebe beim
Menschen beruht nicht so sehr auf Geistes- und
Charaktereigenschaften. Beim Menschen giebt es
eine Periode geschlechtlicher Indifferenz, etwa vom
12. bis 15. Jahr. Zu welchem Geschlecht man sich
darnach hingezogen fühlt, hängt von äussern Um¬
ständen ab. Es giebt ausgezeichnete Menschen, die
homo- und heterosexuell lieben, beides in idealem
Sinn. Der Uranismus braucht also keine Anomalie
zu sein.
Benedict stellt eine Grundformel der Psycho¬
logie in ihren Beziehungen zur Kriminalität auf.
Diese Grundformel, für unsern beschränkten Ver¬
stand unfassbar, erklärt nicht w-enig. „Sie drückt
jede Funktion jeder Zelle aus, wie dies nothw r endig
ist zur Beurtheilung der Tragödieen Shakespeare’s,
der Gemälde Rafael’s, der Symphonieen Beethoven’s,
des Novum Organon von Baco, der geistigen Er¬
rungenschaften Kant’s, des Heroismus des Mucius
Scaevola und der Missethaten der Verbrecher.“ Der
Leser mag diese wunderthätige Grundformel selbst
nachlesen. (Fortsetzung folgt.)
Für den redactioncllen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lircslcr, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Ruchdruckerci (Gebr. WolflF) in Halle a. S.
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Gck >gle
Original fram
HARVARD UNiVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
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Oberarzt Dr. «roh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
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Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6252), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Referate und Anträge betreffend die Reform des Irrenwesens in Oesterreich. Von Primararzt Dr. Star-
linger (S. 421). — San Servilio (S. 427). — Mittheilungen (S. 428).
Referate und Anträge betreffend die Reform des Irrenwesens in Oesterreich.
T^\ie grosse Wichtigkeit, die allen gesetzgeberischen
Vorkehrungen im Irrenwesen überhaupt inne¬
wohnt und das Interesse, mit dem gerade gegenwärtig
die Fachleute derartige Bewegungen verfolgen, lässt
es gerechtfertigt erscheinen, einiges von den Ergeb¬
nissen der heuer zum Abschluss gebrachten Verhand¬
lungen der Wiener Enquete zur Reform der Irren¬
gesetze hier im Auszuge folgen zu lassen.
Es ist freilich in allen Gesetzen ein locales Colorit
naturgemäss, aber gerade diese Anträge und Referate
zeigen in so vieler Hinsicht allgemeine Bedeutung
und haben andrerseits so hervorragende Referenten
zu Autoren, dass es nur bedauert werden kann, dass
sie bisher nicht in einem psychiatrischen Blatte ihre
Veröffentlichung gefunden haben.
Es ist selbstverständlich, dass ein auszügliches
Referat dieser Anträge nichts weniger als erschöpfend
sein kann und nicht jede einzelne Anregung wieder¬
zugeben vermag. Es können daher hier nur die
Hauptzüge hervorgehoben werden und für das Detail
sei auf die „Zeitschrift für das österreichische Sanitäts¬
wesen“ verwiesen, wo mit Ausnahme des Referates
von Prof. Benedikt die Referate in extenso erschienen
sind.
28 Fragen wmrden vom Ministerium der Enquete
vorgelegt.
1. Ist es im Interesse der Obsorge für die Irren
oder zum Schutze der Allgemeinheit vor gemeinge¬
fährlichen Irren unumgänglich nothwendig eine Anzeige¬
pflicht gesetzlich in dem Sinne festzusetzen, dass die Be¬
hörden von dem Falle einer Geisteskrankheit recht¬
zeitig in Kenntniss gesetzt werden?
2. Für welche Kategorien von Geisteskrankheiten
ist eine solche Anzeigepflicht fcstzusetzen ?
3. Genügt es, wenn die Anzeigepflicht dem be-
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422 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
handelnden Arzte und behördlichen Organen auferlegt
wird? Oder ist es
4. geboten, auch der privaten Umgebung des Irren
eine Anzeigepflicht aufzuerlegen?
5. Welche Kriterien sollen für das Eintreten dieser
Anzeigepflicht maassgebend sein?
6. Wäre es zweckmässig, die den Gemeinden im
selbständigen Wirkungskreis obliegende Überwachung
der Pflege der ausserhalb von Irrenanstalten unter¬
gebrachten Irren dahin auszugestalten, dass für die
Ausübung dieser Ueberwachung eine Commission
eingesetzt wird, welcher neben Sanitätsorganen auch
Vertrauensmänner der Gemeinde angehören?
7) Ist es nothwendig, die Errichtung von staat¬
lichen Irrenanstalten neben den bestehenden Landes¬
anstalten in Aussicht zu nehmen, oder kann die
weitere Entwicklung der Organisation der öffentlichen
Irrenanstalten den Ländern überlassen bleiben ?
8) Sollen Privat-Irrenanstalten überhaupt zugelassen
werden ?
9) Ist es, falls die Auflassung der Privat-Irrenan¬
stalten mit Rücksicht auf die vorhandenen Bedürf¬
nisse nicht durchführbar ist, nothwendig, die in der
Ministerial-Verordnung vom 14. Mai 1874, R. B. Bl.
Nr. 71, enthaltenen Vorschriften, welche die Einfluss¬
nahme der Staatsverwaltung auf die Führung der An¬
stalt und die Behandlung der Kranken in derselben
zum Gegenstände haben, umzuändern oder zu ergän¬
zen und zw'ar in welchen Beziehungen ?
10) Soll das Recht, die Abgabe eines Irren in
eine Irrenanstalt zu beantragen, gesetzlich auf be¬
stimmte Personen eingeschränkt werden, und zwar
auf welche?
11) Was sind vom Standpunkte der medicinischen
Wissenschaft für Forderungen aufzustellen, um Miss¬
bräuchen hinsichtlich der Aufnahme in eine Irrenan¬
stalt und der Anhaltung in derselben vorzubeugen ?
12) Ist insbesondere nach Aufnahme eines Indi¬
viduums in eine Irrenanstalt eine commissioneile Unter¬
suchung und Entscheidung über die Nothwendigkeit
der Anhaltung desselben in der Irrenanstalt gesetzlich
anzuordnen, bejahenden Falles innerhalb welcher
Frist hat diese Untersuchung und Entscheidung Platz
zu greifen und wie ist eine solche Commission zu¬
sammenzusetzen ?
13) Empfiehlt es sich, gegen das Gutachten, auf
Grund dessen die Aufnahme in eine Irrenanstalt statt¬
findet, eine Berufung an ein Sachverständigencollegium
zu ermöglichen ?
14) Erscheint cs einerseits im Hinblicke auf die
gemachten Erfahrungen wünschenswert!), andrerseits
mit der gebotenen Rücksicht auf den Zustand der
Irren vereinbar, eine wiederholte commissionelle L T n-
tersuchung jedes Irren ohne Unterschied während der
Dauer seiner Anhaltung in der Irrenanstalt gesetzlich
anzuordnen, bejahenden Falles in welchen Zeiträumen
und unter welchen Modalitäten hätte eine solche
Untersuchung Platz zu greifen?
15) Sind gesetzliche Bestimmungen bezüglich des
Vorganges beim Transporte von Irren in Irrenanstalten
zu erlassen ?
16) Welche Vorschriften sind für die Entlassung
aus den Irrenanstalten festzusetzen ?
17) Genügen insbesondere auch die bisherigen
Vorschriften der Ministerial-Verordnung vom 14. Mai
1874, welche die Entlassung nicht geheilter Kranken
gegen Revers zum Gegenstände haben oder bedürfen
dieselben einer Abänderung oder Ergänzung, und
zwar in welcher Richtung?
18) Welche Vorschriften sind hinsichtlich der
zeitweiligen Beurlaubung von in Irrenanstalten unter¬
gebrachten Individuen gesetzlich festzustellen ?
19) In welcher Weise ist die behördliche Auf¬
sicht über die Irrenanstalten zu organisieren?
20) Für welche Kategorien von Geisteskranken
ist die Entmündigung gesetzlich vorzuschreiben ?
21) Ist es insbesondere nach dem heutigen
Stande der Psychiatric gerechtfertigt, anzunehmen,
dass bei verschiedenen Arten und Graden der Er¬
krankung die Dispositionsfähigkeit des Individuums
eine verschiedene sei und sind besondere gesetz¬
liche Maassnahmen in dieser Beziehung gerecht¬
fertigt ?
22) Empfiehlt es sich demnach beider Festsetzung
der Bestimmungen über die Entmündigung von Irren
ausser den eigentlichen Curatoren, welche die sämint-
lichen Angelegenheiten eines gänzlich handlungsun¬
fähigen Irren besorgen, unter Umständen lediglich
die Bestellung von Beiständen vorzusehen, welche
dem nicht völlig handlungsunfähigen Irren bei der
Besorgung seiner Angelegenheiten zur Seite stehen
und demgemäss einen gesetzlich zu umschreibenden
beschränkteren Wirkungskreis haben ?
23) Welche Vorschriften sind vom Standpunkte
der medicinischen Wissensc haft für das Verfahren bei
der Entmündigung von Irren wünschenswert!)?
24) Bestände insbesondere ein Bedenken dagegen,
für die Entmündigung ein contradictorisches Ver¬
fahren überhaupt oder wenigstens im Falle eines Ein¬
spruches des von der Entmündigung Betroffenen
Platz greifen zu lassen ?
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1902.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
423
25) Soll dem verantwortlichen Leiter der Irren¬
anstalt gegen Verfügungen des Gerichtes, durch welche
die Entmündigung eines in der Austalt Untergebrachten
abgelehnt oder aufgehoben wird, ein Rechtsmittel ein¬
geräumt werden ?
26) Welche besondere Bestimmungen sind im
Hinblicke auf die Gemeingefährlichkeit verbrecherischer
Irren oder irrer Verbrecher hinsichtlich der Abgabe
derselben in Anstalten und der Entlassung aus den
Anstalten zu treffen?
27) Sind die verbrecherischen Irren oder irren
Verbrecher in besonderen etwa vom Staate zu er¬
richtenden Anstalten unterzubringen und sind diese
Anstalten als Heilanstalten oder als eine Art von
Strafanstalten in Aussicht zu nehmen?
28) Ist in den vorangedeuteten Beziehungen
(Frage 25 und 2 b) ein Unterschied zwischen ver¬
brecherischen Irren oder irren Verbrechern zu
machen ?
Diese Fragen vertheilen sich in nachstehender
Art auf folgende Referate:
I. Anzeige})flicht hinsichtlich der ausserhalb der
Irrenanstalten verpflegten Geisteskranken.
(Zu den Fragen 1—5).
Referent: Prof. Dr. A. Pick.
Pick bezieht alle Geisteskranken, ob in oder ausser¬
halb einer Anstalt lebend, in den Kreis seiner Vor¬
schläge und hebt mit Recht hervor, dass gerade die
nicht internierten des Rechtsschutzes noch mehr be¬
dürfen als die in den Anstalten untergebrachten.
Aber die grossen Schwierigkeiten hier können nicht
auf einmal und lediglich durch gesetzliche Bestim¬
mungen beseitigt werden, sondern man muss erst all¬
mählich auf eine Gewöhnung der betreffenden Kreise
hinstreben.
Tick tlicilt die in Betracht kommenden Kranken
in drei Kategorien, je nachdem sie in eigener oder
fremder Familie oder in einer Anstalt unterge-
gcbracht sind und knüpft das Recht der öffentlichen
Fürsorge nicht an die Geisteskrankheit, deren ärzt¬
liche und juiistische Definition nicht möglich ist,
sondern an die Momente, deren Schutz in den
Machtbereich des Staates fallen, wie öffentliche Sicher¬
heit, persönliche Freiheit, Behandlung des Kranken
etc. Damit fällt die strenge Trennung zwischen An¬
stalten für Nerven- und Geisteskranke von selbst
weg, und andererseits soll durch Wegfall der allge¬
meinen Anzeigepflicht die Empfindlichkeit der Familie
geschont werden und das Schutzrecht der Familie
zum Theil gewahrt bleiben.
Nur dann, wenn eine damit verbundene Einsper¬
rung mehr als 3 Monate überschreitet, soll Anzeige¬
pflicht geboten sein, aber auch dann discret behandelt
werden. Was man unter „eigener Familie“ versteht,
ist speciell zu bestimmen.
Für die Unterbringung in „fremder“ Familie,
gelten schon die Bestimmungen der Privat-Anstalt,
d. i. sofortige Anzeige und von Anfang an volle
Staatsaufsicht.
Bezüglich aller übrigen Krankenanstalten schlägt
Pick verschiedene Bestimmungen vor und gedenkt
schliesslich noch der Strafbestimmungen zur Sicherung
der Anzeigepflicht.
Referent resumirt seine Ausführung dahin:
1) Ein alle Geisteskranken umfassender Rechts¬
schutz macht die Anzeigepflicht auch für die ausser¬
halb der Irrenanstalten verpflegten Kranken noth-
wendig.
2) Bei dem Fehlen einer dafür zureichenden De¬
finition von Geisteskrankheit ist die Anzeigepflicht
auf die durch das Auftreten einer solchen Krankheit
geschaffene, juristisch fassbare Situation, Beschränkung
der persönlichen Freiheit oder der Dispositionsfähig¬
keit, persönliche Sicherheit und Behandlung zu ba-
siren.
Bei der Formulirung dieser Anzeigepflicht ist, soll
dieselbe nicht an den Vorurtheilen des Publicums
mehr oder weniger scheitern, auf diese gebührend
Rücksicht zu nehmen.
4) Bezüglich der in der eigenen Familie, bei
Asccndenten, Descendenten,Geschwistern,Onkel, Tante
oder gesetzlichem Vormund verpflegten Geisteskranken
tritt die Anzeigepflicht ein, nachdem eine dreimonat¬
liche Sequestration nothwendig gewesen; sie ist ver¬
traulich zu behandeln. Eine Ausnahme bezüglich des
Termines der Anzeigepflicht tritt in solchen Fällen
ein, wo die Kranken mit Hilfe von öffentlichen oder
Armengeldem unterhalten werden; dann ist die so¬
fortige Anzeige zu leisten.
5) Die Anzeigepflicht kommt demjenigen zu, der
den Kranken bei sich verpflegt, sie den Aerzten auf¬
zuerlegen erscheint nicht zweckmässig.
6) Die Unterbringung eines Geisteskranken in
einem „fremden“ Hause involvirt die sofortige A11-
zcigepflicht, die dem Beherbergenden zufällt.
7) Den Aerzten erscheint in allen vorangehenden
Fällen ebenso wie auchjbezüglich der im folgenden zu
behandelnden das Recht, geeignete Fälle „vertraulich“
zur Anzeige zu bringen, gewahrt.
8) Bezüglich der in nicht als Irrenanstalten qua-
lificirten Anstalten untergebrachten Kranken, ergeben
sich folgende Kategorien:
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
a) Nerven-, Wasserheil-, sowie andere Cur-
anstalten, in denen auch Geisteskranke behandelt
werden; die Anzeigepflicht bezüglich dieser beginnt
mit dem Momente, wo die persönliche Freiheit oder
die Dispositionsfähigkeit des Kranken behindert er¬
scheint. Die Anzeigepflicht obliegt dem Arzte der
Anstalt
b) Bezüglich von Spitälern, Krankenhäusern, die
Geisteskranke nur intercurrent aufnehmen, tritt die
Anzeigepflicht bei einem 14 Tage überdauernden
Aufenthalte ein; die mit solchen Anstalten verbunde¬
nen psychiatrischen Kliniken erfordern hinsichtlich
der Anzeigepflicht mit Rücksicht auf ihre besonderen
Zwecke eine besondere Bestimmung, etw'a in Analogie
mit den in der eigenen Familie untergebrachten
Kranken.
c) Idiotenanstalten sind bezüglich der Anzeige¬
pflicht den Irrenanstalten gleichzustellen.
d) Epileptikeranstalten sind den zu a) behandelten
Anstalten gleich, ebenso auch Armen-, Versorgungs¬
häuser, Klöster und ähnliche Anstalten, welche Geistes¬
kranke bei sich beherbergen. In allen diesen An¬
stalten, (c und d) obliegt die Anzeige dem Arzte
resp. Vorstand der betreffenden Anstalt.
9) Strafbestimmungen sind Sachverständigen (Acrz-
ten) gegenüber verschärft in Anwendung zu bringen,
in jedem Falle aber nicht strafprocessualer, sondern
administrativer Fixirung zu unterstellen.
11. Behördliche Ueberwachung der Pflege der in den
hrmanstalten und ausserhalb derselben unter-
gebrachten Geisteskran Jcen .
(Zu den Fragen 6—19).
Referent: Prof. Dr. G. Anton.
Anton geht einleitend von der diesbezüglichen
Bestimmung in anderen Staaten aus, mit gleichzeitiger
Berücksichtigung etwa da bestehender Gesetzentwürfe
und formulirt dann seine Vorschläge.
Anton verlangt als wichtigste Forderung zunächst
die Errichtung einer Centralbehörde für das ge-
sammte Irrenwesen und begründet dieselbe damit,
dass die vielseitigen Fragen auf diesem Gebiete eine
einheitliche Leitung erfahren und diese nicht mehr
„so nebenbei“ von anderen Behörden besorgt werden
sollen, dass durch sie ein fachmännisch-competentes
Forum und Berathungsorgan geschaffen werde für
Revision, Evidenzhaltung, Auskünfte etc. Auch eine
zukünftige Prophylaxis würde in den Bereich ihrer
Programmpunkte einzustellen sein.
Auch ein Centralarchiv soll angelegt werden.
An der Spitze dieser Commission ist ein Genera 1 -
inspector gedacht, mit Vertreter und juridisch und
technischem Hilfspersonale, das zum Theil aus schon
bestehenden Bureaus entnommen werden könnte.
Dieser zur Seite stünde ein „staatlicher Beirath
für das Irrenwesen“ aus Klinikern, Anstaltsdirectoren
und Vorständen von Irrenhilfsvereinen.
Für die Existenzhaltung sollen Bezirks- und Ge-
meindekomites herangezogen werden, denen auch
zugleich ein entsprechender Wirkungskreis zur Con-
trolle einzuräumen wäre.
Das Referat schliesst mit der Namhaftmachung der¬
jenigen Functionäre, welche zu den Bezirkscomites,
resp. zu den Gemeindecomites beizuziehen sind.
III. Die Errichtung staatlicher Inen-Anstalten.
(Zur Frage 7).
Referent: Dr. Adalbert Tilkowsky, Regie¬
rungs- und Sanitätsrath, Director der n. öst. Landes-
Irrenanstalt in Wien.
Referent erörtert zunächst die Principienfrage, ob
Staats- oder Landes-Anstalten, und wählt zu dieser
Entscheidung einen kurzen, historischen Rückblick.
In Oesterreich standen die Irren-Anstalten bis zur
Errichtung der Länder-Autonomie 1865 unter staat¬
licher Verwaltung. Eine statistische Gegenüberstellung
über Anzahl der Irren-Anstalten und Anzahl der ver¬
sorgten Pfleglinge vor und nach 1865 ergiebt einen
wesentlichen Ausschlag zu Gunsten der Landes-Ver-
waltung. Referent sieht in diesen Thatsachen eine
grosse Bedeutung und untersucht die Momente näher,
die das rasche Aufblühen seit dieser Zeit bewirkt
haben. Nicht die Populationsbewegung oder eine
Steigerung der psychischen Erkrankungen überhaupt,
trage daran Schuld, sondern es ist der Ausdruck der
erhöhten und verständnisvolleren Fürsorge für die
Geisteskranken, wovon den Land es-Verwaltungen mit
Recht ein hervorragender Theil gebühre, sodass die
Aufrechterhaltung des jetzigen Modus entschieden zu
befürworten ist.
Damit ist aber nicht gesagt, dass alle Kategorien
von Geisteskranken den Landes-Irren-Anstalten an¬
heimfallen müssen. Vielmehr betont der Referent,
dass jene störenden Elemente der Irren-Anstalten wie
verbrecherische Kranke uud dergleichen nach dem
Vorbilde anderer Staaten, besser in staatliche Ver¬
waltung zu stellen sind. Die Beziehung dieser
Elemente zur Justiz, ihre Criminalität, die geringe An¬
zahl in einem Lande begründet dieses.
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1 1)02.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 425
Hingegen fallen die Anstalten für Idioten, Epilep¬
tiker wieder in den Kreis der Landes-Verwaltung,
nur hätte für das pädagogische Moment in den Idi¬
otenanstalten der Staat mit einer Subvention aufzu¬
kommen. Auch die Trinkerasyle sollten den Ländern
unterstellt werden. Alle diese Anstalten aber müssten
unter ärztliche Leitung gestellt werden oder wenig¬
stens wie die Idiotenanstalten unter ärztlicher Ober¬
aufsicht stehen. Am Schlüsse werden noch die Ver-
pflegskosten gestreift und eine möglichst liberale Me¬
thode befürwortet. Die Verpflcgskosten für Ausländer
fallen in die Prärogative des Staates.
IV. Aufnahme in Irrenanstalten und Schuh rar
ungerechtfertigten Internirungen.
(Zu den Fragen 10—14).
Referent: Ober-Sanitätsrath Prof. D. J. Wagner,
Ritter von Jauregg.
Rasch, leicht, billig und mit Ausschluss aller
Widerrechtlichkeit müssen die Aufnahmen vor sich
gehen. Aber der Referent verkennt gleich eingangs
nicht die theilweise Gegensätzlichkeit dieser Forde¬
rungen. Um sie in Einklang zu bringen, geht er
jede derselben nach ihrer Dignität eingehend durch.
Vereitelung oder Verzögerung der Aufnahme ist er-
fahrungsgemäss oft von den schlimmsten Folgen be¬
gleitet. Neunzehntel von den Aufnahmen sind ann.
Widerrechtliche Intemirung kommt absichtlich wohl
kaum vor, und ihr Vorkommen existiert, wie Ver¬
fasser mit Recht hervorhebt, wohl mehr „in der er¬
hitzten Phantasie einiger verschrobener Köpfe“ als in
Wirklichkeit. Irrthümer sind möglich, aber gewiss
selten. Eine unnöthige Erschwerung der Aufnahme
habe also mehr Nachtheile als Vortheile.
Eltern, Kindern, Ehegatten, Geschwistern, Vormund,
Curator soll das Recht und die Pflicht zustehen ohne
behördliche Intervention die Aufnahme in Irren-An¬
stalten verlangen zu können, wenn sie im gemein¬
schaftlichen Haushalte leben. In jedem anderen Falle
soll grundsätzlich die Behörde anzusprechen sein.
Ein ärztliches Zeugniss ist Grundbedingung, dasselbe
soll auf persönlicher Untersuchung basieren und nicht
über 14 Tage alt sein, muss aber nicht nothwendig
von einem Amtsärzte ausgestellt sein. In dringenden
Fällen kann der Leiter einer Anstalt ohne Zeugniss
aufnehmen. Dann muss aber die nachträgliche Unter¬
suchung durch einen Amtsarzt geschehen. Bei frei¬
willigen Aufnahmen entfällt das ärztliche Parere.
Irrthümliche Aufnahmen schliesst auch die streng¬
ste Forderung nicht absolut aus, wie ein Hinweis auf
Strafrechtspflege genügend darthut. Aber die Dauer
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einer solch widerrechtlichen Intemirung muss mög¬
lichst reducirt werden. Daher die Anzeige binnen
24 Stunden für jede Neuaufnahme (mit Ausnahme der
freiwilligen) an die politische Behörde.
Referent hält eine Cont^olle der Irrenärzte für
nöthig und die richterliche Behörde dazu für berufen.
Der gegenwärtige Modus in Oesterreich sei hierzu
am geeignetsten, wonach kurz nach Aufnahme eine
Commission, bestehend aus zwei Sachverständigen unter
Vorsitz eines Richters, den Kranken untersuchen.
Diese Sachverständigen dürfen nicht Aerzte der Irren -
Anstalt sein, aber doch Fachleute, der Vorsitzende
muss mit der nöthigen Machtbefugnis zur eingehenden
Information ausgestattet sein.
Zur Entlastung der Gerichtsärzte wird deren Ver¬
mehrung und die Abkürzung der Gutachten bei offen¬
kundigen Fällen in Vorschlag gebracht. Ein contra-
dictorisches Verfahren zum Schutze der persönlichen
Freiheit oder ein eigener defensor libertatis ist unter
diesen Verhältnissen entbehrlich, sollte aber letzterer
als nöthig erachtet werden, so soll ein solcher vom
Gerichte ernannt werden. Ein Antrag auf neuerliche
Untersuchung des Geisteszustandes darf von den
Aerzten nicht abgelehnt werden; doch soll ein solcher
nicht vor Ablauf einer gewissen Frist gestellt w’erden
können.
V. Entlassung von Geisteskranken aus der Irren¬
anstaltspflege.
(Zu den Fragen 16—18).
A) Referent: Dr. A. H ras e, Dircctor der Landes-
Irrenanstalt in Dobran.
Nach dem Referenten hätte die Entlassung zu
geschehen:
a) Wenn der Kranke geheilt ist.
b) Wenn Entmündigung abgelelmt wurde.
c) Wenn Anstaltsbehandlung nicht mehr nöthig.
d) Ueber Verlangen der gesetzlichen Vertreter.
Bei Entlassung gegen Revers, ist der Revers bei
der politischen Behörde zu bestätigen, seine Aus¬
stellung erfolgt vom Anstaltsleiter. Freiwilliger Eintritt
bedingt freiwilligen Austritt, ausser bei Entwicklung
einer vollen Geisteskrankheit. Beurlaubungen sollen
nur bis 2 Wochen gewährt werden. Entwichene sind
nach 14 Tagen wie Neuaufnahmen zu behandeln.
Jeder Abgang von der Anstalt ist der Behörde und
den gesetzlichen Vertretern anzuzeigen. —
B) Correferent Tilkowsky fasst seine Ausführungen
folgendermassen zusammen.
Die Entlassung Geisteskranker aus der Irren-
Anstalt erfolgt beim Eintreten der psychischen Ge-
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HARVARD UNIVERSITY
426 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
sundheit über Befund des Anstaltsleiters, bei Ab¬
lehnung oder Aufhebung der Entmündigung.
Freiwillig Eingetretene müssen über Wunsch so¬
fort entlassen werden, wenn sich ihr Krankheitszustand
nicht zu voller Geisteskrankheit entwickelt hat.
Ungc heilte müssen über Verlangen der gesetz¬
lichen Vertreter oder deren Angehörigen entlassen
werden. Bei Gemeingefährlichen ist deren Entlassung
von der Beibringung eines Reverses über die gehörige
Ueberwachung und Verpflegung abhängig. Dabei ist
die Zustimmung des gesetzli< hen Vertreters resp.
Curatelsgerichtes erf< »rdcrlich.
Der Revers muss von der (Gemeindevorstehung
des Reverslegers und seiner zuständigen politischen
Behörde bestätigt sein, lieber die Ausstellung des
Reverses entscheidet der Anstaltsleiter, der den Krank¬
heitszustand und die Bedingungen zur Entlassung der
politischen Behörde zu schildern verpflichtet ist. —
Bei geisteskranken Verbrechern muss auch die
Zustimmung der einliefernden Gerichtsbehörde ein-
gcholt werden.
Ungeliebte, nicht mehr gemeingefährliche Kranke
können vom Anstaltsleiter auch gegen den Wunsch
der gesetzlichen Vertreter aus der Anstalt entlassen
werden, aber in jenen Fällen ist im Vorhinein die
Anzeige an die gesetzlichen Vertreter oder die Ange¬
hörigen zu erstatten. Nach erfolgter Entlassung hat
innerhalb 24 Stunden die Anzeige zu erfolgen :
a) Bei geheilt Entlassenen an die Gerichtsbehörde
des Sprengels der Anstalt und an den Curator.
b) Bei ungeheilt Entlassenen ausserdem noch an
die Ortsgemeinde, in deren Sprengel sich der
Kranke begiebt und an die zuständige politische
Behörde.
Bei geisteskranken Verbrechern ist auch die An¬
zeige an das Ueberweisunsgericht zu erstatten.
Die Beurlaubungen können auf 6 Monate ausge¬
dehnt werden und sind denselben Behörden und Per¬
sonen anzuzcigen, wie bei Entlassung eines Unge-
heilten.
Bei Transferierungen in andere Anstalten hat eine
Krankengeschichte mitzufolgen, desgleichen alle gesetz¬
lichen den Kranken betreffenden Daten; ausserdem
sind die Anzeigen zu erstatten, wie bei geheilt Ent¬
lassenen.
Bei Entweichungen hat der Anstaltsleiter die ent¬
sprechenden Schritte zur Habhaftmachung einzuleiten
und die Anzeige zu erstatten:
a) An die Gerichtsbehörde erster Instanz des
Sprengels der Anstalt.
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b) An die politische Behörde, von der der Kranke
hergekommen ist; dann an Ortsgemeinde, An¬
gehörige resp. Curator.
Der Anzeige an die Ortsgemeinde ist eine Per¬
sonsbeschreibung anzuschliessen. Die Wiederein¬
bringung ist denselben Behörden anzuzeigen. Die¬
selbe gilt erst nach Ablauf eines Monats als Neuauf¬
nahme.
Das Ableben der Geisteskranken ist sofort den An¬
gehörigen resp. dem Curator, der zuständigen Gerichts¬
behörde und dem Todtenbeschauer anzuzeigen. Die
Leichen in der Anstalt werden olxlucirt. Die Ob¬
ducti« m kann jedoch über Wunsch der Familie unter¬
bleiben. Die sanitätspolizeiliche oder gerichtliche
Leichenöffnung unterliegt den betreffenden Gesetzen.
VI Entmündigung der Geisteskranken.
(Zu den Fragen 20—25).
Referent: Hofrath Professor Dr. R. Freiherr
v. Krallt-Ebing.
(Vcrgl. Referat in Nr. 33, 1901, pag. 329 dieser
Wochenschrift).
T77. Behandlung crimineller Geisteskranker.
(Zu den Fragen 2b—28).
Referenten : Obersanitätsrath Professor Dr. Julius
Wagner, Ritter von Jaurcgg, und Professor Dr.
M o r i z Be ne d i c t.
(Siehe eben dort).
Im Berichte folgt noch eine kurze Darstellung der
in den europäischen Staaten bestehenden Einrich¬
tungen, bezüglich crimineller Irrer.
VIII. Prirat-Irren-Anstalten.
(Zu den Fragen 8—0).
Referent: Professor Dr. Moriz Benedict*).
Die rein privaten Irren - Anstalten sind nach
jeder Richtung einer strengen Controlle zu * unter¬
ziehen. Wegen der Eigenthumsrechte ist der Ent-
mündigungsact möglichst abzukürzen.
Die Heilung muss längstens 8 Wochen nach
Schwund aller krankhaften Symptome der Für¬
sorge-Behörde angezeigt werden.
Die Entlassungsgcsuche sind stets zu berücksich¬
tigen. Briefgeheimniss ist zu wahren. Die Entlassung
Ungeliebter soll lediglich auf Verfügung der Fürsorge-
Behörde zu geschehen haben. Entlassungsgesuche
Ungeliebter dürfen vom Anstaltsleiter nur bis 6 Mo¬
nate zurückbehalten werden, sind aber aufzubewahren.
*) Ausführlich in der Wiener klin. Wochenschrift 1901.
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IQ02.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Bei Entweichungen hat die Fürsorge-Behörde eine
Untersuchung anzustellen, ob Leiter oder deren An¬
gestellte daran Schuld sind. Auch freiwilliger Ein¬
tritt Geisteskranker ist der politischen und richterlichen
Behörde anzuzeigen. Die Entlassung derselben ist
gleichfalls anzeigepflichtig und je nach Art der Krank¬
heit dem Anstaltsleiter allein oder der Fürsorge-Be¬
hörde anheim zu steilen. Der freiwillig Eintretende
hat vor Zeugen seinen Eintritt zu motivieren.
Zur Controlle ist zu verlangen die genaue Führung
der Krankengeschichte mit detaillirten Behandlungs¬
angaben, insbesondere der angewendeten Zwangsmass-
rcgeln. Das Besuchsrecht ist zu reglementiren und
darüber ein Verzeichniss zu führen. Wenigstens ein¬
mal wöchentlich muss der Besuch freigegeben werden
für die Angehörigen von dem Arzte. Besuchssperre
ist schriftlich zu begründen. Bei incorrectem Ver¬
fahren ist eine Reihe von Bestrafungen vorzusehen
bis zur Concessionsentziehung.
Neben „reinen“ Irrenanstalten kann es auch „ge¬
mischte“ Anstalten geben, d. h. solche, wo neben
Geisteskranken auch Nichtgeisteskranke zur Aufnahme
kommen.
Gemeint sind da alle einer Entziehungscur Bedürf¬
tige, Neurastheniker, Perverse, moral insanity; auch
hier unterliegen alle Insassen der Anzeigepflicht.
Ueber Aufnahme, Behandlung, Curatel folgen Detail-
Bestimmungen.
Bei der Familienpflege werden zur Controlle Lan¬
desgericht, Bezirks-, Polizei- und Gemeindebehörden
delegirt.
Zur Wahrung der Dispositionsfähigkeit ist häufige
und eingehende Controlle anzurathen. Die verschie¬
denen Erkrankungen, Concessionsverhältnisse erfahren
noch Detailerörterung.
IX. Spccialreferate und Anträge ausser dem
Rahmen des Fragebogens.
Psychiatrische Kliniken, Begründung der Sonder¬
stellung derselben und Nothwendigkeit einer Berück¬
sichtigung ihrer speciellen Aufgaben im Irrengesetze.
Referent: Prof. Dr. G. Anton.
Prof. A. bespricht damit die Verhältnisse der
Irren-Kliniken zum Irrengesetze und erläutert, dass
bei einer Reihe von klinischen Kranken die strenge
Durchführung von Aufnahms- und Entlassungsmodali¬
täten nicht angezeigt ist. — Nur diejenigen Kranken,
bei denen eine längere Behandlungsdauer oder die
Gemeingefährlichkeit in den Vordergrund tritt, sollen
der Irrenschutzgesetze vollständig theilhaftig werden,
nur der Aufnahmsmodus soll auch da möglichst er¬
leichtert sein.
X. Die Irrengcsetxgebung und die Menschen mit
anom aler Lebensführung.
Referent: Prof. Dr. Moriz Benedict.
Referent schlägt damit eine „verschärfte Unmün¬
digkeitserklärung“ vor, für angeborene oder erworbene
Nervenstörung mit dissocialen Trieben, (Arbeitsscheu,
sexuelle Perversitäten, unverbesserlicher Leichtsinn,
Verschwendungssucht) und combinirt dieselbe mit
Verwahrungshaft, um sie, ihre Familie und die Gesell¬
schaft wirksam zu schützen. Dr. Stärlingen
San Servilio.
Weihnachtsbetrachtungen
J n Italien herrscht gegenwärtig grosse Entrüstung
über die rückständigen Verhältnisse *) der Kran¬
kenbehandlung in der kirchlichen Irren-Anstalt San
Servilio bei Venedig. Man tadelt neben mancherlei
anderen Missständen besonders die zu reichliche An¬
wendung veralteter Zwangsmittel. Der Leiter der An¬
stalt, „Vater“ Minoretti, halte im Jahre 1900 berichtet,
die Zwangsmittel seien auf ein äusserst geringes Mass
beschränkt worden. Die Behörde hielt den Betrieb
gewiss für einen „tadellosen“. Was mag da sonst
*) Zur Aufdeckung derselben hat nicht zum geringen Theil
der darauf bezügliche Aufsatz unseres verehrten Herrn Mit¬
herausgebers Privatdocent Dr. Weygandt im Jahrgang 1900.
No. 19 beigetragen. Red.
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in es deutschen Psychiaters.
noch Alles vertuscht worden sein! Gegen diese Zu¬
stände stechen die unter ärztlicher Leitung stehenden
staatlichen Anstalten sehr günstig ab, z. B. die An¬
stalt in R eggio -Emi lia, die, vom Geiste freier Irren¬
pflege und wissenschaftlichen Strebens durchw eht, selbst
vielen nichtitalienischen Anstalten zum Vorbild dienen
könnte. Aber freilich, den Menschen, deren künst¬
lich erzeugte Beschränktheit — ein geistiger Aztekis-
mus —, in der Krankheit nur eine Folge der Sünde
sicht, wird es immer unmöglich sein, an die Stelle
einseitiger Begriffe von Menschenliebe ein neues,
edleres Humanitätsideal zu setzen. Der moderne
Staat und die Naturwissenschaften, unter letzteren nicht
am wenigsten die Psychiatrie, haben in der Erfassung
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
428
und Ausführung des Humanitätsgedankens alles bis¬
her Dagewesene w'eit überholt. —
Aber dürfen wir in Deutschland denn wirklich so
selbstgerecht über Andere urtheilen? Mit nichten.
Zwar gelten bei uns die Irren jetzt wohl ziemlich
allgemein für Kranke; aber die idiotischen und schwach¬
sinnigen Kinder zu prügeln, wenn es die jeweilige
Auffassung von Moral etc. der hier und da nicht-ärztlichen
Leiter solcher Anstalten gut scheinen lässt, das steht
diesen noch jederzeit frei! Die Prügelstrafe ist ja in solchen
Anstalten nicht verboten! Prügelt man denn ein Kind,
welches infolge krummer Beine die Absätze an den
Schuhen schief läuft? Und gar die Zwangs Zög¬
linge! Warum ist bei § 4 des preussischen Fürsorge¬
erziehungsgesetzes, welcher fordert, dass vor der Be¬
schlussfassung Eltern, Vormund, „und in allen Fällen
der Gemeindevorstand und der zuständige Geistliche
und Lehrer“ gehört werden, nicht auch die Anhörung
des Arztes zur Pflicht gemacht? Warum hat man
diesen social enterbten Kindern nicht auch den Weg
zum Arzte gebahnt? Dass gerade bei der so ausser¬
ordentlichen Plasticität der Kindesseele ethische De-
fecte häufig Zeichen einer seelischen Abnormität oder
[Nr. 38.
Erkrankung oder Folge eines körperlichen Leidens statt
Wirkung blosser Verwahrlosung sind, dieser trivialen
Thatsache trägt das sonst so nützliche Fürsorge¬
erziehungsgesetz überhaupt nicht Rechnung. Der
Schutz, welcher den Erwachsenen der § 51 des Straf¬
gesetzbuchs bietet, hätte in sinngemässer Anwendung
auf die Bestimmung der Erziehungsform und in noch
höherem Grade auch dem Kinde gewährt werden
müssen. Wo in den Ausführungsbestimmungen des
Gesetzes die ärztliche Mitwirkung erwähnt wird, ge¬
schieht es hauptsächlich in Bezug auf die Behandlung
körperlicher Krankheiten; es wird da auch voii
einem „körperlichen Reinigungsprocess“ (!) neben dem
sittlichen gesprochen. — So kommt es denn thatsäch-
lich vor, dass man in „Fürsorge“- Erziehungs-Anstalten
gegen handgreifliclie Symptome seelischer und ner¬
vöser Störung, ja selbst gegen das Bettnässen,
ohne Weiteres mit Stockschlägen vorgeht. Sollten
solche Schläge den an Körper und Geist kränkelnden
Kindern nicht viel schmerzlicher und nachtheiliger
sein als tobenden Geisteskranken die Last von
Fesseln ?
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Fortschritte der Psychiatrie. Die „Neue
Zürcher Zeitung“ vom 8. d. M. bringt folgende er¬
freuliche Nachricht: „Im Cafe „Zimmerleuten“ zu
Zürich konstituirte sich Freitag, den 6. De¬
zember, eine Vereinigung von Psychiatern
undjuristen zur Besprechung von gemein¬
sam interessierenden Fragen. Die Ver¬
einigung setzt sich zum Ziele, ein besseres gegen¬
seitiges Verständniss, ein practisches Zusammenarbeiten
beim Lösen einzelner Aufgaben herbeizuführen. Das
Hauptgebiet, auf dem die Juristen mit den Psychia¬
tern gemeinsam arbeiten, ist der Strafprocess; auf
diesen bezogen sich vor allem die acht Thesen des
Herrn Directors Dr. Frank in Münsterlingen,
die bei der ersten Sitzung zur Discussion Vorlagen.
Herr Dr. Frank wünscht, dass bei der Ausbildung
der Juristen die Psychologie und Psychiatrie mehr als
bisher berücksichtigt werden, dass speciell für die
Studenten der Jurisprudenz practische Kurse ertheilt
werden, wie dies bereits in Heidelberg geschieht. Das
Postulat wurde allgemein unterstützt; nur fand einer
der Herren Juristen, dass solche Kurse viel mehr
Werth hätten für Männer, die bereits einige Jahre
in der Praxis gestanden hätten, als für Studenten.
Verschieden waren die Meinungen über die These,
dass die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit nur
Aufgabe des Psychiaters, niemals des Richters sein
könne. Gerade in diesem Punkt stehen ja im all-
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gemeinen die Anschauungen der Juristen und Psy¬
chiater einander gegenüber. Herr Director Dr. Frank
verlangte ferner, dass die Frage der Unzurechnungs¬
fähigkeit oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit
nicht dem Wahrspruch der Geschworenen überwiesen
werden sollte. Dieses Postulat wurde auch von sol¬
chen Juristen unterstützt, die mit der gegenwärtigen
Institution des Schwurgerichtes zufrieden sind; denn
keine Frage eignet sich für die schwurge¬
richtliche Beurtheilung so wenig, wie die¬
jenige nach der Zurechnungsfähigkeit
eines Angeklagten.“
Wie wir erfahren, ist es speciell der Initiative des
Herrn Prof. Bleuler, unseres sehr verehrten Mit¬
herausgebers, zu danken, dass diese schon seit längerer
Zeit geplante Vereinigung nunmehr zu Stande ge¬
kommen ist. —
Zu dieser Nachricht dürfen wir noch eine zweite
hinzufügen: Im Verlage des Herrn C. Marhold,
der die psychiatrische Bewegung mit seinen erprobten
buchhändlerischen Kräften nun schon seit einer Reihe
von Jahren opferwilligst unterstützt, beginnt in den
nächsten Tagen eine zwanglose Sammlung von Ab¬
handlungen ,,J u r istis c h -p sy ch i a t risch e Gr e nz-
fragen“ zu erscheinen. Herausgeber sind Prof. Dr.
jur. Finger (Halle a. S.), Professor Dr. Hoche (Frei¬
burg i. Br.) und der Redacteur dieser Zeitschrift. Das
Programm dieser „Grenzfragen“ besagt folgendes:
Original fram
HARVARD UNIVERS1TY
1002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 429
Das Grenzgebiet der Rechtswissenschaften und der
Lehre von den krankhaften Erscheinungen des Seelen¬
lebens hat von jeher für Juristen und Irrenärzte, ebenso
wie für Psychologen ein besonderes Interesse gehabt.
Auf diesem Gebiete wird der Streit um fundamentale
Begriffe dieser Wissenschaften ausgetragen, hier wird
vielfach entschieden, welcher der drei Wissenschaften
die Lösung einzelner Fragen zuzuweisen ist, womit
von vornherein die Methode ihrer Behandlung be¬
stimmt und mittelbar die Art der Lösung beeinflusst
wird
Das Interesse für die dem Grenzgebiete zwischen
den medicinischen Wissenschaften, der Jurisprudenz
und Psychologie angehörenden Fragen ist derzeit mit
Rücksicht auf zahlreiche durch die Einführung des
bürgerlichen Gesetzbuches erwachsende Fragen,
namentlich aber wegen der bevorstehenden Revision
des Strafrechts ein wesentlich gesteigertes. Es schien
daher zweck- und zeitgemäss, einen litterarischen
Mittelpunkt zu schaffen, welcher der gemeinsamen
Erörterung der einschlägigen Fragen dient und die
Verständigung über strittige Punkte anzubahnen be¬
stimmt ist.
Der Bestand von Vereinigungen wie die „foren¬
sisch-psychiatrische“ in Dresden, die „forensisch-psy¬
chologische“ in Göttingen ist ein deutliches Zeichen
dafür, dass eine wissenschaftliche Aussprache zwischen
Medicinem, Juristen, Philosophen über die Grenzfragen
ihrer Wissenschaften ein Bedürfnis geworden ist.
Diesem Bedürfnis sollen die juristisch-psychiatrischen
Grenzfragen dadurch dienen, dass sie Abhandlungen
von Medicinem und Juristen bringen werden über
die beide Gebiete interessirenden Fragen wie beispiels¬
weise folgende: verminderte Zurechnungsfähigkeit,
Einfluss derselben auf den Strafvollzug; Strafvollzug
bei Degenerationszuständen; Einfluss der Geistes¬
störungen auf Eides- und Testirfähigkeit; Eheschei¬
dung wegen Geisteskrankheit u. s. w. Auch Aufsätze ad¬
ministrativ- und socialpsychiatrischen Inhaltes sollen
Aufnahme finden. Die „juristisch-psychiatrischen Grenz¬
fragen“ wollen nicht eine bestimmte wissenschaft¬
liche Richtung vertreten, sondern jeder wissen-
schaf tl ich b eg rün deten Meinung offen stehen.
Die juristisch-psychiatrischen Grenzfragen werden
in zwangloser Folge in jedesmal in sich abgeschlossenen
Heften und zum Abonnementspreis von M. 6,—
pro Band = 8 Hefte erscheinen; einzelne Hefte
sind zu einem etwas erhöhten Preise erhältlich.
— II. Landes-Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest (I. Sitzung vom 26. Oc-
tober 1902, Vorm.)
Alterspräsident Karl Bolvo begrüsst in herzlichen
Worten die Versammelten, worauf der Congress sich
constituirt, indem Ministerialrath Cornel Chyzcr zum
Präsidenten und Sectionsrath Gedeon Raisz zum
Präsidcnten-Stellvertreter gewählt wurden.
Letzterer übernimmt in Abwesenheit Chvzer’s
den Vorsitz und dankt für die ihm erwiesene Ehre.
Er betont, dass im ganzen Sanitätsdienst eben das
Irrenwesen jenes Gebiet ist, auf welchem ärztliches
Fachwissen, administrative Thätigkeit, bürgerliches
Recht und Strafrecht sich an unzähligen Punkten be-
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rühren. Gerade im Kreise des Irrenwesens sei es
daher gerechtfertigt, wenn jene, die infolge der Ver¬
schiedenheit ihres Berufes für gewöhnlich in den ver¬
schiedensten Wirkungskreisen thätig sind, Gelegenheit
suchen, von Zeit zu Zeit mit der Unmittelbarkeit des
persönlichen Verkehrs und des gesprochenen Wortes
in Ideenaustausch miteinander zu treten und so zum
Wohle der Sache, der sie gemeinschaftlich zu dienen
berufen sind, ihr Wissen gegenseitig zu bereichern.
Nach der mit Beifall aufgenommenen Rede wurde
das Bureau gewählt,worauf Secretär Ladislaus Epstein
seinen Bericht verliest, in welchem er u. a. Karl
Laufenauers Verdienste um Psychiatrie und Irrenwesen
in warmen Worten würdigt. Er erwähnt ferner, das
Organisations-Comite habe den Beschluss gefasst, dass
Standesfragen im Laufe dieses Congresses nicht be¬
sprochen werden sollen, sondern dass ausschliesslich
wissenschaftliche Fragen zur Verhandlung gelangen.
Hierauf stellt der Secretär die Vertreter der Behörden
und verschiedenen Körperschaften vor und legt schliess¬
lich dem Congresse die Beschlüsse der Commission
über die dem ersten Congresse eingereichten An¬
träge vor.
Hierauf folgt die Tagesordnung.
1. Die Gr u ndpri n ci pien des Gesetzes
über das Irrenwesen. Referent: O. Schwartzer
de Babarcz.
Der Vortragende erhielt von der Reform-Com¬
mission des Landes - Sanitätsrathes den Auftrag, als
Grundlage für ihre Verhandlungen einen Gesetzent¬
wurf über das Irrenwesen auszuarbeiten. In seinem
Vortrage will Sch. also jene Principien erörtern, auf
welchen das neue Gesetz aufgebaut werden müsse.
Der Vortrag enthält nicht bloss die Besprechung und
übersichtliche Zusammenfassung aller jener zerstreuten
Ministerial-Verordnungen, welche in dieser Angelegen¬
heit erschienen sind, sondern er enthält auch w ichtige
und interessante Neuerungen.
Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte
der Gesetzgebung über das Irrenwesen folgen die
acht Abschnitte des Vortrages.
Im ersten Abschnitte wird betont, dass die Leitung
des Irrenwesens eine staatliche Aufgabe ist. Die
Frage, ob die Definition der Geisteskrankheit im
Gesetze enthalten sein muss oder nicht, wird ver¬
neinend beantwortet.
Der zweite Abschnitt behandelt die Unterbringung
der Geisteskranken und behält das bisherige System
bei. Die Internirung in Anstalten wird auf solche
Geisteskranke beschränkt, deren Freiheit entweder für
die öffentliche Sicherheit oder für die eigene Person
in Gefahr sein könnte. Hierauf folgt die Definition
des Begriffes der Irrenheilanstalt, der öffentlichen und
privaten Anstalten, die Bedingungen, unter w'elchen
eine solche Anstalt eröffnet werden kann und die
Vorschriften, nach denen sie eingerichtet sein muss.
Auch die Frage der Irren -Colonien wird kurz er¬
örtert.
Im dritten Abschnitte wird die Aufnahme in die
Anstalt besprochen, die Bedingungen, unter welchen
man den Geisteskranken auf nehmen darf oder auf¬
nehmen muss. In der wichtigen Frage, auf welche
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PS YC HIATRISC H- N E U ROLOt
Art und Weise die Aufnahme in das Institut und
die Diagnose der Geisteskrankheit zu erfolgen hat,
wird das heute zu Recht bestehende Statut einer
strengen Kritik unterzogen und die Forderung aufge¬
stellt, dass die natürliche Controlle auch auf die staat¬
lichen Institute ausgedehnt werde.
Der vierte Abschnitt regelt die Modalitäten der
Entlassung aus der Anstalt. Dieselbe erfolgt, wenn
es sich herausstellt, dass die betreffende Person gar
nicht geisteskrank ist, wenn sie geheilt oder nicht
mehr gefährlich ist. Neu ist hier die Verfügung, dass
in Fällen, in welchen die Direction der Anstalt und
die Angehörigen des Kranken in der Frage der Ent¬
lassung desselben aus der Anstalt nicht einig werden
können, die richterlic he Entscheidung angerufen werden
muss. Hier wird auch die Beurlaubung, die Flucht
und der Transport der Kranken eingehend besprochen.
Der fünfte Abschnitt handelt von der Beaufsich¬
tigung der Irren und regelt die bei uns sehr ver¬
nachlässigte Frage der Beaufsichtigung solc her Geistes¬
kranken, die sich ausser der Anstalt befinden. Zu
diesem Zwecke sollen eigene Aufsichts-Behörden ge¬
schaffen werden, als deren ('entralorgan im Ministerium
des Innern ein eigener Landes-Senat für Irrenwesen
organisitt werden müsste.
Der sechste Abschnitt behandelt eine Neueiung.
Es soll gestattet werden, dass auch Nicht-Geistes¬
kranke in Irrenheilanstalten aufgenommen werden.
PN soll also für solche, die freiwillig eine Anstalt auf-
suclien wollen, in welcher sie Schutz gegen eine Er¬
krankung suchen, die im Entwickeln begriffen ist und
im betäubenden Lärme der Aussenwelt sicher zum
Ausbruch käme, die Möglichkeit gegeben sein, Auf¬
nahme und Heilung zu finden. Diese Institution
wird mit so vielen Cautclcn umgeben, dass sic zu
Missbräuchen chm haus keinen Anlass geben kann.
Der siebente Abschnitt enthält die speciellcn
Verfügungen, die sieh auf Geisteskranke beziehen,
welche von einem Verbrechen freigesprochen wurden.
Der achte Abschnitt enthält die Strafbestimmungen.*)
Di scussion.
M o r a vc s i k : Trotzdem das vorliegende Elab< >rat
so detaillirt und auf so breiter wissenschaftlic her Ba¬
sis aufgebaut ist, dass wir dem Verfasser, dieser her¬
vorragenden Autorität auf dem Gebiete der heimischen
Psychiatrie, zu warmem Danke verpflichtet sind,
wünsche ich doch zu bemerken, dass eine Umschrei¬
bung des Begriffes der Geisteskrankheit in irgend
einer fassbaren verständlichen F< >rm sehr angezeigt
gewesen wäre. Selbst der Entwurf des neuen bürger¬
lichen Gesetzbuches gebraucht eine Reihe von Aus¬
drücken, wie „Geistesschwäche“, „Blödsinn“, „Geistes¬
krankheit“, stellt hier sogar Categ« »rien fest, die sich
auf die Entschliessungsfähigkeit solcher Kranken be¬
ziehen und sehr geeignet sind, zur Verwirrung der
Begriffe beizutragen.
Der Zweck meiner Worte ist vom Standpunkte
des Psychiaters aus zu betonen, dass zwischen Geistes¬
schwäche und Geisteski ankheit kein Unterschied
besteht und dass dieser Umstand im vorliegenden
*) Demnächst erscheint ein ausführlicher Artikel über
diesen Entwurf. Red.
□ igitized by Google
ISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
Elaborate schärfer zum Ausdruck gelangen müsste.
Denn Geistesschwäche ist im Gegensätze zur physi¬
ologischen geistigen Beschränktheit ein ausgesprochen
pathologischer Zustand.
v. O l a h: Mit den führenden Principien, den Grund¬
ideen des Pintwurfes stimme auch ich vollkommen
überein. Das Irrenhaus hat aufgehört, eine rein po¬
lizeiliche Institution zu sein und der Schwerpunkt des
Irrenwesens liegt heute nicht mehr im Einsperren,
sondern im Heilen der Geisteskranken. Dieser Stand¬
punkt wird in dem im Geiste des Vortragenden zu
schaffenden Gesetze zweifellos besser zur Geltung
kommen, als heute.
Besondere Wichtigkeit messe ich dem Umstande
bei, dass von nun an nicht jeder Geisteskranke dem
vormundschaftlichen Verfahren unterworfen werden
soll. Das Phitmündigungsvcrfahren, die öffentliche
Verhandlung desselben, die Urtheilvcrkündigung hält
die leichteren Krankheitsfälle von der Anstalt fern
und diese kämen so nur zu schweren P'ällen. Ich
kann nicht einschen, warum zum Beispiel wegen einer
Intoxications- oder Puerperal-Psychose, also wegen
eines vorübergehenden Uebels, der schwerfällige Ap¬
parat des Vormundschaftsverfahrens in Thätigkeit ge¬
setzt werden müsste.
Wir sehen ja auch bei anderen Erkrankungen,
z. B. beim Typhus, schwere Bewusstseinsstörungen
und doch wird niemand daran denken, hier ein Ent¬
mündigungsverfahren einzuleiten.
FYeudigst begrüsse ich den Vorschlag, dass man
in Irrenheilanstalten auch freiwillig sich Meldende
aufnehmen könne. Nicht nur im Interesse dieser
wenigen Kranken, die sich freiwillig zur Aufnahme
melden werden, ist diese Neuerung zu bewillkommen.
Von grosser Tragweite ist der Umstand, dass das
Institut den Kranken und deren Familie in ganz
anderem Lichte erscheinen wird, wenn es in das All-
gemcinbewusstscin übergehen wird, dass hier auch
freiwillig die Anstalt aufsuchende Kranke Aufnahme
finden. Dieser kleine, fromme Betrug kann in vielen
Fällen von grossem Nutzen sein.
P'in wichtiges Moment ist ferner die successive Ent¬
lassung der Kranken. Das P'Jaborat erwähnt die
probeweise P'.ntlassung, Beurlaubung. Die Intention
ist dieselbe. Wir können bei dem zu entlassenden
Irren selbst auf Grund unserer Beobachtungen und
Erfahrungen im Institute niemals Voraussagen, wie er
sich ausserhalb des Institutes benehmen wird, und
nachdem nicht jeder Kranke über eine solche Um¬
gebung, Verwandtschaft etc. verfügt, die zur Beauf¬
sichtigung geeignet wäre, ist es viel angezeigter, wenn
die Kranken zuerst ausserhalb der Anstalt, z. B. in
der Nähe derselben gehörig instruirten Leuten für
die Dauer einer Probe-Beurlaubung übergeben werden.
Schliesslich halte ich es für eine Cardinal*For¬
derung des Irrenwesens., dass die sogenannte Irren-
haus-Qualification modificirt werde. Es ist ganz un¬
richtig, das Recht zum Behandeltwerden an das Cri-
terium der Heilbarkeit oder der Gemeingefährlichkeit zu
binden. Die Irrenheilkunde kann auch in jenen
Fällen viel leasten, wo eine Heilung ausgeschlossen
ist. Ich halte also die Modification der Irrenhaus-
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
iqo2 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Qualification für eine der wichtigsten Gründe der
Revision des Gesetzes und glaube, dass der diesbe¬
zügliche $ des Gesetzes dahin abzuändern ist, dass
jeder solche unbemittelte Nerven- und Geisteskranke
— ohne Rücksicht darauf, ob er gemeingefährlich ist
oder nicht —, welcher infolge seiner Krankheit der
öffentlichen Veisorgung bedarf und in der Irrenheil¬
anstalt schon darum am besten aufgehoben ist, weil
das freie Leben, wie auch die Armenhaus- und Ge¬
meinde-Versorgung ihm schädlich werden könnte, An¬
spruch auf Behandlung im Irrenhause habe. Auch
hätten im Rahmen dieses Elaborats einige Initiativen
zur socialen Prophylaxe der Geisteskrankheiten Platz
finden können. Hier wäre noch sehr viel zu thun,
so im Kampf gegen den Alkohol, gegen die Lues, in
der zwangsweisen Internirung von Trunksüchtigen
u. s. w. Das Gesetz über das Irrenwesen kann nicht
ausschliesslich zum Gesetz über Irrenheilanstalten
werden, es muss tiefer in das Leben eindringen. Es
ist mein Glaube und meine Ueberzeugung, dass die
psychiatrischen Bestrebungen des XX. Jahrhunderts
den Charactcr einer ausgebreiteten Vertheidigungs-
Action annehmen werden. In allem anderen halte ich
dafür, dass die Grundideen des Elaborates geeignet
sind, bei der Codificirung eines Gesetzes über das
Irrenwesen als Grundlage zu dienen.
Fischer betont, dass der Schwerpunkt der Frage
darin liegt, dass eine genügend grosse Anzahl von
Irrenanstalten vorhanden sei. Er wünscht zweierlei
Institute: Grosse, für unheilbare Kranke bestimmte
Sammelanstalten und kleinere Anstalten für heilbare
Kranke.
Tclegdi: wünscht, dass die Leiter auch jener
Irrenanstalten , welche im Anschlüsse an bestehende
Krankenhäuser geschaffen werden, Fachleute mit spe-
cieller psychiatrischer Vorbildung sein sollen. Diese
führen die Abtheilung selbstständig auf eigene Ver¬
antwortung. Wird ein Geisteskranker von einer An¬
stalt in eine andere gebracht, so ist auch sein Vor¬
mund zu Käthe zu ziehen.
Konrad: Ich schliesse mich vollständig jener
Ansicht des Vortragenden an, dass es unmöglich ist,
eine vollkommene, erschöpfende, jedes Attribut der
Krankheit umfassende Definition der Geisteskrankheit
zu geben. Diese Definition braucht auch gar nicht
in das Gesetz ausgenommen zu werden. Aber es ist
wohl zu überlegen, ob diese Definition des Begriffes
„geisteskrank* 4 selbst nicht doch in das Gesetz auf¬
genommen werden soll. Im einheitlichen Gesetzent¬
würfe der Republik Schweiz über das Irrenwesen
wurde diese Definition aufgenommen und lautet bei¬
läufig f< »lgendermassen:
Geisteskrank ist:
1. Wer an einer angeborenen oder erworbenen
Geisteskrankheit leidet.
2. Wer auch ohne tiefere Störung der Vernunft
an (insbesondere auf constitutioneller Basis beruhen¬
den) pathologischen Instinkten und Neigungen oder
schweren moralischen Defcctcn leidet.
3. Wer sich durch narcotische Gifte (Alcohol, Mor¬
phium etc .) Sc haden zufügt, sobald er infolge seines
Zustandes unfähig gewoiden ist, über sich selbst zu
verfügen und die Rechte anderer zu achten, zum
Schutze der eigenen Person jedoch der Pflege und
Aufsicht bedarf oder anderen bedeutenden Schaden
zufügt oder gemeingefährlich wird.
Der practische Werth dieser Definition wäre der,
dass w-ir gegenüber solchen Degenerirten und Deca-
denten, welche sich gegen die Insinuation, geistes¬
krank zu sein, vertheidigen und die Üeflentlichkeit
glauben machen, sie wären geistig gesund, eine gesetz¬
liche Handhabe bekämen.
Ich empfehle meine Proposition der Aufmerksam¬
keit des Vortragenden.
Die Idee der Fachkurse für das Wartepersonal
ist zu billigen, doch müssen die Bezüge der Wärter
erhöht werden. Nach einigen Bemerkungen admini¬
strativer Natur empfiehlt K. die Annahme der
V« >rlage.
Szigeti: Die frühzeitige Entmündigung des
Geisteskranken ist sowohl vom Standtpunktc des bür¬
gerlichen als auch von dem des Strafrechtes aus
ausserordentlich wichtig; dieselbe soll anfangs bloss
eine temporäre sein; nach Ablauf eines Jahres muss
sie erneuert werden und erst nach Ablauf des zweiten
Jahres wird sie eine bleibende. Die baldmöglichste
Entmündigung ist nothwendig, damit der Rechtssc hutz
des Kranken für alle Fälle gesichert ist.
Sa lg 6: Unter den heutigen Verhältnissen hat die
Irren - Anstalt noch immer den Character einer
Detentions-Anstalt und die Detention ist noc h immer
viel wichtiger als die Behandlung der Kranken. So¬
wohl die Aufnahme als auch die Entlassung der
Kranken geht mit grossem Apparate vor sich und
gehört in den Wirkungskreis der Aerzte der Anstalt.
Diese vielseitigen Agenden entziehen den Arzt seiner
eigentlichen Aufgabe, Besonders in der Frage der
Entlassung hat ausschliesslich der Arzt zu entscheiden
und das giebt Anlass zu verschiedenen Missbräuchen
oder Irrthümcm. Darum ist der Vorschlag des Ent¬
wurfes, dass die Institute durch externe Commissionen,
in welchen neben Aerzten und Juristen auch Laien
Platz finden mögen, controlliert werden sollen, unbe¬
dingt anzunehmen. Diese Commission hätte das In¬
stitut systematisch zu besuc hen, sie untersuc he die
Kranken und entscheide in allen Angelegenheiten,
welche sich auf die Kranken beziehen.
Lechner: Die im Entwürfe enthaltenen Ideen
und Principien finden meine volle Zustimmung. Nur
eine Bemerkung möc hte ich machen. Derjenige Theil
des Elaborates, welcher sich damit befasst, dass auch
freiwillig sich Meldende in eine Anstalt aufgenommen
werden können, bedarf einer gewissen Ergänzung.
Wir kennen nämlic h eine ganze Reihe von Krank¬
heitsformen, über deren Stellung in der Psvcho-Patho-
logie wir Sachverständige selbst nic ht rec ht klar werden
können. Es sind das Ubergangsformen von zweifel¬
hafter Natur, wie sie in der Praxis so häufig Vor¬
kommen und gerade diese wären zur Behandlung in
der Anstalt oft ganz besonders gut geeignet. Es
müsste also ausgesprochen werden, dass auch Alco-
holikcr, Nervenkranke, Gemüthskränke, Epileptiker in
die Anstalt aufgenommen werden dürfen. Das ist
eine sociale Nothwendigkeit, denn Wohlhabende lassen
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
432
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
sich in Sanatorien aufnehmen, Unbemittelte bleiben
ohne Behandlung. In vielen Fällen würde die Inter-
nirung und Behandlung, bezw. Erziehung in der An¬
stalt solche Kranke retten. Darum wünsche ich, dass
nicht nur Geisteskranke, sondern auch Nerven- und
Gemüthskranke, Alcoholisten u. s. w. aufgenommen
werden können.
Epstein hält es im Interesse der Kranken für
notlnvendig, dass im Falle, als dieselben „geheilt“
entlassen werden, die Direction der Anstalt bei der
Entlassung die Behörde officiell verständige, dass das
Verfahren zur Aufhebung der Vormundschaft einzu-
leiten sei. Dieser Vorgang wäre besonders für Un¬
bemittelte von grosser Wichtigkeit, denn diese haben
weder das nöthige Geld dazu, noch kennen sic Mittel
und Wege, wie man um Aufhebung der Vormund¬
schaft nachsuchen muss. (Fortsetzung folgt.)
— Ueber die kürzlich erfolgte Aufdeckung der
Missstände in San Servilio brauchen wir unsere Leser
wohl nur auf den Artikel unseres sehr verehrten Herrn
Mitherausgebers Privatdoccnt Dr. med. et phil. Wey-
gandt in Nr. 19, II. Jahrgang zu verweisen. Hingegen
dürfte psychologisch interessant sein, was dazu ein
kirchliches Blatt schreibt:
„Widerrechtlich und gewaltsam wurde der geist¬
liche Director des Irrenhauses von seinem Amte ent¬
fernt; jahrzehntelang sind die gutmiithigen Mönche
von der Provinzialvcrwal tung*) aufs Empörendste
ausgebeutet worden und jetzt erhalten sie den Tritt
der Ungläubigen für ihren Edelsinn (!) und ihren uner¬
schöpflichen Opfcrmuth. Warum ? Ihre Methode
soll nicht mit der Wissenschaft vereinbar sein? Was
ist die Wissenschaft?!! Sicherlich ist auch diese Ver¬
folgung von der Liebe Gottes geschickt, um den ver¬
folgten Dienern seiner Kirche neue Verdienste im
Himmel zu erwerben.“ (!)
— Gabersee. Unter den „Mittheilungen“ dieser
Wochenschrift Nr. 36 S. 398 ist eine die oberbayerische
Kreisirrenanstalt Gabersee betreffende Nachricht ent¬
halten, welche der Richtigstellung bedarf.
Richtig ist, dass 1901 u. 1902 in Gabersee zahl¬
reichere, meist leichtere Typhusfälle unter den Pfleg¬
lingen wie unter dem Personal aufgetreten sind. Die¬
selben sind jedoch nicht auf die „schlechte“ Qualität
des hiesigen Trinkwassers, sondern auf die Quantität
des bisher zur Verfügung stehenden Wassers zurück¬
zuführen, indem dieselbe es unmöglich machte, das
Schwemmsystem einzuführen. Das hiesige Trinkwasser
ist tadellos, aber das Wasserquantum = 1 3 4 Secun-
denliter bei einem Krankenstand von etwas mehr
als bco unzureichend. Der Typhus ist hier indirect
durch das noch bestehende Tonnensystem verursacht,
indem ein Theil des Anstaltsterrains durch Fäcalien
verunreinigt und inficiert wurde. In diesem Falle
lässt sich fast zur Evidenz naehweisen, dass der ur¬
sprüngliche Typhusherd im Boden, auf Wiesen, liegt,
von wo aus er in die Gebäude und Abtheilungen
übertragen wurde.
Ein Project für ausgiebige Wasserversorgung ist
*) Anne d. Red.: Merkwürdiger Weise fallen manche
Prov.-Verwaltungen immer wieder darauf hinein!
übrigens bereits ausgearbeitet und die zur Einrichtung
des Schwemmsystems nüthigen Mittel bereits bewilligt.
_ Dr. Dees.
Erwiderung.
Verspätet ersehe ich erst, dass mich, ebenso wie
Herrn Collegen von Wagner in Wien, Herr Director
Pfausler in einem Artikel, der in Nr. 32 Ihrer
Wochenschrift erschienen, zum Object eines
scharfen Angriffes gemacht; indem ich mir Vorbehalten
muss, vielleicht später ausführlich auf das Sachliche
des Angriffes, insoferne es sich um die von Herrn
Director Pfausler erwähnte Irrengesetz-Enquete
handelt, zurückzukommen, wobei dann möglicherweise
auch der andere College dazu Stellung nehmen wird,
muss ich doch schon jetzt auf die darin vorkommenden,
meinem persönlichen Vorgehen gewidmeten Bemer¬
kungen reagieren. —
Herr Director Pfausler verweist zur Begründung
seiner Ansicht über die Stellung der Anstaltsärzte im
Entmündigungsverfahren der in den Anstalten unter¬
gebrachten Kranken darauf hin, dass ich während
meiner Dienstzeit als Director in Dobrzan als psychi¬
atrischer Experte in diesem Verfahren fungiert habe;
dass ich weiter gegen den sich um diese Function
bewerbenden dortigen Stadtarzt Stellung genommen;
an diese zwei Feststellungen knüpft er dann weiter
Bemerkungen, die in dem Citate eines Wortes des
Justizministers von Körber gipfeln: ,,Es soll einerlei
Recht sein für alle“.
Darauf habe ich folgendes sachlich richtig zu
stellen:
1) Als ich Ende 1880 zur leitenden Stellung in
Dobrzan berufen worden war, wurde ich von den
Gerichtsbehörden nach längerem Sträuben meinerseits
und nachdem es zu einem förmlichen Conflicte ge¬
kommen war, sozusagen gezwungen als Sachverstän¬
diger im Entmündigungsverfahren über die in der
Anstalt untergebrachten Kranken mitzuwirken;
2) Amtlich gegen den Stadtarzt Stellung zu nehmen,
hatte ich keine Veranlassung, da ich gewiss von den
Beinirden nicht befragt wurde; sollte ich das aber
privatim, was ich mich jetzt, nachdem ich vor mehr
als 16 Jahren aus jener Stellung geschieden, nicht
mehr zu erinnern weiss, gethan haben, dann geschah
es gewiss nicht deshalb, weil der betreffende nicht
Anstaltsarzt war;
3) Seitdem ich meine Stellung als Vorstand der
psvchiatrischen Klinik innc habe, habe ich, und ich
betone natürlich aber auch nicht ein einziges Mal
als Sachverständiger bei der Entmündigung der in
meiner Klinik untergebrachten Kranken mitgewirkt.
Die vorstehenden sachlichen Richtigstellungen
werden einerseits genügen, um meine Stellung zur
ganzen Frage und deren Behandlung in der Enquete
ins richtige Licht zu stellen, andererseits aber auch
dem geneigten Leser cs ermöglichen, sich ein Urtheil
zu bilden über die Berechtigung der Ausführungen
des Herrn Director Pfausler und speciell der von
ihm gemachten dunklen Andeutungen über die inne¬
ren und äusseren Wandlungen auf dem Wege von der
Irren-Anstalt bis zur acadcmischen Katheder. —
Prag, <>. Dezember 1902. Prof. A. Pick.
Digitized by
Für den redactionellon Theil verantwortlich; Oberarzt Dr. J. liresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schliss der Inseratcnannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevncmann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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nt letten aonnaDena —
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Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
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Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
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Budapest. St. Maurice Seine). Privatdoceni, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdoceut, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 39. 27. December. 1902.
Die Psych i at r i sch-Ne u r o 1 o g i sc he Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6{95), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
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Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), »«richten.
Inhalt. Originale: Ueber die Familienpflege in Göttingen. Von Dr. II. Behr, Assistenzarzt (S. 433)- — Mittheilungen
(S. 438). — Referate (S. 444). — Pcrsonalnachricht (S. 444).
Ueber die Familienpflege in Göttingen.
Von Dr. H. Behr , vorm. Assistenzarzt an der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Güttingen, jetzt in Lüneburg.
(Nach einem Vortrag in der Jahresversammlung
der Irrenärzte Niedersachsens und Westphalens in Hannover am 3. Mai 1902.)
j^/Jit dem Beginn des Jahres 1901 ist man an der
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Güttingen
mit der Einrichtung der Familienpflege vorgegangen.
Nachdem von Seiten des Directors der Anstalt, des
Herrn Professor Cramer, die nöthigen vorbereitenden
Schritte getroffen und vor allem die maassgebenden
Persönlichkeiten in den für die Fainilicnpflege zunächst
in Aussicht genommenen Dörfern für die Sache ge¬
wonnen waren, ein Schritt, der durch das Entgegen¬
kommen und das Interesse des betreffenden König!.
Landrathsamtes wesentlich erleichtert wurde, wurden
im Januar des vergangenen Jahres die ersten Kranken
in Pflege gegeben. Allmählich hat sich ihre Zahl
vergrüssert, das Misstrauen, das die Landbevölkerung
neuen derartigen Einrichtungen naturgemäss entgegen¬
bringt, schwand sehr schnell, als die ersten Kranken
sich in jeder Beziehung gut bewährten, die Zahl der
Anmeldungen nahm dauernd zu, so dass es lediglich
dem Mangel an geeigneten Krankenmaterial zuzu¬
schreiben ist, wenn am 1. April 1902, also nach i ] j A
jährigem Bestehen, erst 26 Kranke, 22 Männer
und 4 Frauen in Familienpflege untergebracht waren,
die sich auf die Ortschaften Elliehausen, Hetzershausen,
Ellershausen und Grone vertheilten. Sämmtliche
Dörfer liegen in der nächsten Umgebung von Göt¬
tingen und sind von der Anstalt aus bequem und
schnell zu erreichen.
Wenn ich zuerst auf die äusseren Vorgänge näher
cingchen darf, so wurde dabei derart verfahren, dass,
sobald sich ein Pfleger gemeldet hatte, zunächst mit
der Aufnahme der betreffenden Pflegestellc durch
einen Arzt begonnen wurde, und zwar an der Hand
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
434
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
eines Fragebogens, wie er seit längeren Jahren in
Uchtspringe in Gebrauch ist und sich bewährt hat.
Eine besondere Berücksichtigung fand dabei in eistcr
Linie die Kammer der Kranken, ('s wurde ein Luft¬
inhalt von mindestens 13 cbm verlangt, das Zimmer
musste reichlich erhellt und gut zu lüften sein. Am
liebsten wurden mit Rücksicht auf die Reinlichkeit
Zimmer gewählt, deren Wände einfach goweisst und
nicht tapeziert waren; nach Vorschrift des Contractes
musste der Anstrich der Wand jedes jahr mindestens
einmal erneuert werden. Abgesehen von dem noth-
wendigen Mobiliar, einem gut erhaltenen und sauberen
Bett muss jede Kammer eine Garderobe enthalten,
die lediglich für die Kleidungsstücke der Kranken
bestimmt war. Um einmal die Kranken vor Stör¬
ungen seitens der übrigen Hausbewohner zu schützen
und um andererseits bei etwa eintretenden Erregungs¬
zuständen des Kranken Unannehmlichkeiten irgend
welcher Art vorzubeugen, wurde ferner Werth darauf
gelegt, dass die Zimmer, die mit der Kammer des
Kranken in dirocter Verbindung standen , während
der Nacht unbewohnt blieben.
Besonders sorgfältig controllirt wurden weiter bei
der Aufnahme neuer Pflegestellen die Wasscrverhält-
nissc; die Lage des Brunnens, die Nähe von Dung¬
gruben wurde dabei entsprechend berücksichtigt, das
Wasser selbst auch in jedem Falle auf sein Aussehen
und seinen Geschmack hin untersucht. In einigen
hüllen, in denen das I rinkwasser aus einem Bach be¬
zogen wurde, sind die Gesuche der betreffenden Land-
wirthe von vornherein abgelehnt. Ueber den Leu¬
mund und die Y crmogensverhältnisse des Pflegers
gab gewöhnlich der Bauermeister des Dorfes Auskunft,
er diente gewissermaassen als Vertrauensmann, achtete
auf sämmtlichc Kranke, die in der betreffenden Ort¬
schaft untergebracht waren, und machte dem con-
tiollircndcn Arzt von eventuell vorgekommenen Un¬
regelmässigkeiten entsprechend Mittheilung. Fand sic h
ein für die Familicnpflcge geeigneter Kranker, wobei,
soweit es möglich war, auf die Wünsche des Pflegers
Rücksicht genommen wurde, so wurde vom Director
der Anstalt die Pflegestelle nochmals revidirt, und
dann, falls sie den Ansprüchen genügte', der Vertrag
mit dem Pfleger abgeschlossen.^ 1 Der Vertrag verlangt
als erste Bedingung, dass der Kranke absolut als zur
harnilic des Pflegers gehörig betrachtet wird, er soll
über Tag stets mit ihr zusammen sein, vor allem
auch die Mahlzeiten gemeinschaftlich mit den übrigen
Familienmitgliedern einnehmen. Weiter giebt der
Vertrag dem Pfleger genaue Vorschriften über die
Behandlung der Kranken, die Anhaltung zur Sauber¬
keit, ebenso über die Instandsetzung und Reinlichkeit
[Nr. 3 c).
des Zimmers und der Kleidung. Während die An¬
stalt sämmtlichc Kleidungsstücke liefert, sie, sobald
sie unbrauchbar geworden sind, ersetzt, das Schuhzeug
auch reparirt, ist der Pfleger verpflichtet, die Leib¬
wäsche der Kianken zu waschen und auch sonst in
brauchbarem Zustand zu erhalten.
Der Pfleger erhält für den Kranken als Kostgeld
je nach der Arbeitsfähigkeit 00 — 80 Pfg. pro Tag,
die ihm monatlich postnumerando frei durch die Post
zugesandt werden. Der einmal bestimmte Betrag für
einen Kranken ist jedoch kein definitiver, vielmehr
kann der Verpflegungssatz, w enn der Kranke sich nicht
so bethätigen sollte, wie angenommen war, oder wenn
seine Pfleg® sonst in irgend einer Weise besondere
Schwierigkeiten und Mühe inacht, jeder Zeit von
Seiten des Directois der Anstalt erhöht und im ent¬
gegengesetzten Falle herabgesetzt werden, allerdings
immer nur in der Grenze zwischen üo und So Pfg.
Dieser Vertrag zusammen mit dem vorher erwähnten
Fragebogen gehen alsdann an das Landesdirectorium,
das den Vertrag endgültig genehmigt und ihn der I)i-
rcction der Anstalt znriicksendet.
Jeder Kranke, der in Familienpflege gegeben w ird,
wird mit der gleichen Anzahl gut erhaltener und
brauchbar'er Kleidungsstücke und Wäsche ausgerüstet
und zwar erhielt er in jedem Falle einen Arbeitsan¬
zug, einen neuen schwarzen Anzug für die Feiertage,
2 Arbeitskittel, 2 Paar fedc Schuhe, 1 Paar Haus¬
se hübe, weiter (> Hemden, o Paar Strümpfe und die
entsprechende Anzahl Taschentücher, Hüte, Mützen
und dcrgl. Die mitgegebenen Kleidungsstücke weiden
dein Pfleger beim Abholen des Kranken vorgezählt
lind das Verzeiehniss der erhaltenen Sachen vom
Pfleger unterst hrieben. Ein gleiches Verzeic hniss er¬
hielt er selbst und zwar in dem Uontrollbuch, einem
kleinen Ortavheft. in das der revidirende Arzt auch
den Tag der Revision und seinen Namen cinträgt,
das weiter auch als Gew ic htsbuch dient und stets vom
Pfleger mitgebracht worden muss, wenn die Kranken,
was vorsehriftsmässig einmal im Vierteljahre geschehen
soll, thatsächlich aber 1 läufiger geschieht, zum Baden
und Wiegen in die Anstalt gebracht werden. Es
werden in dieses Büch auch etwaige körperliche Er¬
krankungen , Anweisungen an die Pfleger vermerkt.
Ein weiteres Rcvisionsbuch liegt im C« ■nfer enzziintner
der Anstalt aus. Hier hinein weiden alle Beobacht¬
ungen des revidirenden Arztes über das Verhalten
der Pfleglinge sowohl wie der Pfleger, über die Sau¬
berkeit und Ordnung in der Kammer des Kranken,
die Reinlichkeit der Wäsche regelmässig nach jedem
Besuch eingetragen.
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
I 902 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Was die ärztlichen Revisionen selbst betrifft, so
gilt eine besondere Vorschrift dabei nicht. Nach
unseren Erfahrungen ist cs dringend geboten, die
frisch in Familienpflcgc überführten Kranken am 2.
<*lcr 3. Tage zu besuchen, um zu sehen, ob sic sich
in die neuen Verhältnisse eingelcbt haben, oder ob
die veränderte Umgebung und Lebensweise ungünstig
auf sie ein wirken. Sieht man später, dass die Pfleg¬
linge sich gewöhnt haben, merkt man, dass auch die
Pfleger es verstehen, mit den Kranken ordentlich um¬
zugehen und sic richtig zu behandeln,: so wird die
Revision gewöhnlich alle 8—14 Tage wiederholt. Bei
alten eingelebten Kranken genügt ein vierwöchent¬
lich wiederkehrender ärztlicher Besuch vollkommen,
besonders da man auch dem Pfleger dadurch gewisser-
maassen ein Vertrauensvotum giebt. 2 bis 3 mal im
Jahr wurden sämmtliche Pfleglinge von dem Director
besucht und ihre Zimmer revidirt. Weiter hatte der
Oberwärter die Anweisung, von Zeit zu Zeit die Kleid¬
ungsstücke und die Wäsche der Pfleglinge auf ihre
Brauchbarkeit hin zu untersuchen und für entsprech¬
enden Ersatz zu sorgen.
Erwähnen möchte ich noch, dass jeder Pfleger,
sobald er den für ihn bestimmten Kranken aus der
Anstalt abhnlte, genau über die Art der Behandlung,
die besonderen Eigenarten des Kranken vom Arzte
informirt wurde, ebenso wie es ihm besonders ans
Herz gelegt wurde, sofort der Anstalt Nachricht zu¬
kommen zu lassen, wenn der Pflegling irgendwie
erkrankte oder andere abnorme Erscheinungen zeigen
sollte. Ich darf schon hier erwähnen, dass die Pfleger
in dieser Beziehung sich stets als sehr vorsichtig und
zuverlässig erwiesen haben.
Weiter möchte ich jetzt etwas näher auf die Re¬
sultate der Familienpflege und die Erfahrungen, die
wir mit den Kranken sowohl wie mit den Pflegern
gemacht haben, eingehen. Allerdings ist die Zeit
noch zu kurz, um aus unseren Erfahrungen bindende
Schlüsse über die Vortheile und Nachtheile der Fa¬
milienpflege ziehen zu können. Immerhin haben wir
doch in der kurzen Zeit ihres Bestehens so gute Er¬
folge gesehen, dass ein weiterer Ausbau der Familien¬
pflege sich in jeder Weise rechtfertigen lässt. Wie
schon Anfangs erwähnt, befanden sich am I. April
d. |. 2 0 Kranke in Pflege, darunter 22 Männer und
4 Frauen. Bei der Auswahl der Kranken musste
natürlich mit der grössten Vorsicht vorgegangen werden,
besonders in der ersten Zeit, wo die Pfleger erst
lernen mussten, die Kranken richtig zu behandeln,
und wo jeder Unglücksfall, jede gefährliche Handlung
seitens des Pfleglings die Einführung der Familien¬
pflege sofort wieder in Frage stellen konnte. Es
wurden daher grundsätzlich alle Kranken vermieden,
die auf diese oder jene Weise mit dem Strafgesetz
in Conflict gerathen waren oder die im Verlauf ihrer
Erkrankungen besonders während des Aufenthaltes in
der Anstalt irgend welche schwere gewaltthätige Hand¬
lungen verübt hatten. Dass bei der grossen Anzahl
derartiger crimineller und gewalttätiger Elemente unter
dem an und für sich nur geringem Bestände der
Göttinger Anstalt die Ausdehnung der Familienpflcgc
von vornherein sehr beschränkt wmrde und sich nur
langsam weiter entwickeln konnte, liegt auf der Hand.
Ausgeschlossen von der Familienpflege waren weiter
alle Epileptiker und Paralytiker sowie die alten siechen
und besonderer Pflege bedürftigen'Kranken. Ebenso
war man mit Alkoholisten Anfangs vorsichtig, später
haben wir auch mit ihnen unter entsprechenden Vor¬
sichtsmaassregeln einen Versuch gemacht, ohne dass
bislang irgend welche unangenehme Erscheinungen
dabei aufgetreten wären, was immerhin bemerkens¬
wert}! ist, da der Bauer dort zu Lände keineswegs
dem Principe der Abstinenz huldigt. Am besten
eignen sich nach unseren bisherigen Erfahrungen zur
Familienpflege die alten abgelaufenen Fälle von chron.
Paranoia, die Fälle von secundärem Schwachsinn
massigen Grades, ebenfalls geeignet sind die Imbeeil len,
wenn auch bei der Neigung dieser letzteren Categoric
zu impulsiven Handlungen besondere Vorsicht und
eine genaue Controlle absolut geboten ist. Unsere
ersten Pfleglinge gehörten deshalb auch zu den alten
abgelaufenen Fällen, die sich verhältnissmässig sehr
schnell in die neuen Verhältnisse einlebten und den
Pflegern in keiner Weise Schwierigkeiten machten.
Dazu kam noch, dass Anfangs nur gute Feldarbeiter
abgegeben wurden. Es war das fraglos richtig ge¬
bandelt, denn es kam darauf an , mit der Familien¬
pflege erst festen Fuss zu fassen, und den Bauern, w ic
man zu sagen pflegt, den Mund w'ässrig zu machen.
Aber die Sache hatte späterhin die unangenehme
Schattenseite, dass jeder Pfleger einen Feldarbeiter
verlangte, seinen Kranken mit dem des Anderen ver¬
glich, unzufrieden war, wenn er nicht das gleiche
leistete, und natürlich von einem reinen Pflegling
nichts wissen w'ollte. — Später hat sich dieses Ver¬
hältnis etwas gebessert, wir hatten zuletzt verschiedene
Kranke, die nur in sehr beschränktem Maassc arbeits¬
fähig waren, in Pflege, aber immer wieder bin ich bei
der Aufnahme neuer Pflegestellen dem Wunsche
seitens der Pfleger begegnet, sie möchten solch’ einen
Kranken haben, wie dieser oder jener habe, wobei
stets auf die zuerst herausgegebenen Kranken als
Muster hingewiesen wurde. Es dürfte sich daher
empfehlen, sobald jetzt weitere Dörfer zur Familien-
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HARVARD UNIVERSITY
436 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30.
pflege herangezogen werden sollen, hier in erster
Linie auf Aufnahme reiner Pfleglinge zu dringen.
Für die Frauen, um auch darauf mit ein paar Worten
einzugehen, wurde Anfangs das Alter jenseits des
Climacteriums verlangt, wir sind aber bald davon ab¬
gekommen und es befinden sich unter den 4 Frauen
2, die in jüngeren Jahren stehen. Es bedarf auch
hier selbstverständlich der sorgfältigsten Contrulle seitens
des Arztes, ebenso wie auch die Pfleger ständig auf
die Gefahren aufmerksam gemacht und zu einer be¬
sonders guten Beaufsichtigung der betreffenden Kranken
ermahnt wurden. Irgendwelche Unannehmlichkeiten
sind bislang nicht vorgekommen.
Wenn ich weiter auf die Frage eingehe, wie sich
der Kranke selbst zu der Fainilienpflege stellt, ob er
sich darin wohl fühlt, so glaube ich, obwohl die in
Göttingen gemachten Erfahrungen erst eine vcrhält-
nissmässig kurze Zeit umfassen, doch für unsere Fa¬
milienpfleglinge diese Frage in vollstem Maasse be¬
jahen zu müssen. Ich bin während des Jahres, wo ich
mich speciell mit der Familienpflege beschäftigt habe, nie¬
mals Klagen oder berechtigten Beschwerden seitens
der Pfleglinge begegnet, ich habe vielmehr immer den
Eindruck gehabt, als ob sich alle in den neuen Ver¬
hältnissen sehr wohl fühlten, wohler jedenfalls, wie in
der geschlossenen Anstalt, und dieser Eindruck ist
mir wiederholt seitens der Pfleglinge bestätigt worden.
Kranke, die sich Anfangs auf alle mögliche Art und
Weise gegen die Ueberführung in die Familienpflege
gewehrt hatten, waren schon nach kürzester Zeit nicht
nur vollständig beruhigt, sondern vollkommen zufrieden
mit dem Wechsel, sie empfanden die grössere Frei¬
heit, die ihnen dadurch gewährt wurde, dankbar und
hatten die Anstalt meistens schnell vergessen. Bei
einer ganzen Anzahl hielt es schwer, sie zum Baden
in die Anstalt zu bringen, weil sie der irrthümlichen
Ansicht waren, sie sollten dort wieder dauernd bleiben.
Andere Kranke, die aus diesem oder jenem Grunde
aus der Familienpflege zurückgezogen werden mussten,
drangen fortgesetzt in den Arzt, sie wieder nach
draussen zu schicken, sie hängen alle mit grosser An¬
hänglichkeit an ihren Pflegern. Ich möchte gleich
hier erwähnen, dass ich verschiedentlich nicht uner¬
hebliche Besserungen im psychischen Verhalten der
Kranken im Anschluss an die Ueberführung in die
Familien pflege beobachten konnte. Ich habe dabei
neben mehreren Anderen besonders einen vom Lande
stammenden Kranken, einen chronischen Paranoiker,
im Auge, der in der Anstalt recht stumpf und inter¬
essenlos war, zeitweise lebhaft hallucinirte, dann erregt
wurde und zu einer ordentlichen Beschäftigung nie¬
mals heranzuziehen war. Ich war erstaunt über die
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Veränderung des Kranken, als ich ihn 2 Tage nach
seiner Ueberführung besuchte; er war äusserst lebhaft,
sehr vergnügter und zufriedener Stimmung und arbeitete
vor allem sehr fleissig, kurz es war zweifellos, dass
die Ueberführung des Kranken in die Verhältnisse,
die er von Jugend an gewöhnt war, in jeder Beziehung
günstig auf sein psychisches Verhalten eingewirkt hatte.
Alle diese Momente sind mir eine Bestätigung dafür,
dass die Fainilienpflege nicht nur günstig auf das Be¬
finden des Kranken einwirkt, dass sie auch seitens
der Pfleglinge seihst als eine Wohlthat anerkannt wird.
Man bringt die Kranken eben wieder in die Verhält¬
nisse zurück, in denen sie aufgewachsen und gross
geworden sind, in die sie sich auch nach dem Auf¬
enthalt in der geschlossenen Anstalt, der ihren Ge¬
wohnheiten zu Hause nicht in dem Maasse entsprechen
kann, gern und schnell einleben. Es eignen sich
deshalb, nach meinen Erfahrungen, am besten zur
Familienpflege die aus ländlichen Kreisen stammen¬
den Kranken, während die Kranken aus der Arbeiter¬
bevölkerung, überhaupt aus den Städten, sich nicht
so schnell an den Aufenthalt auf dem Lande ge¬
wöhnen und oft grössere Schwierigkeiten machen.
Es dürfte daher vielleicht cmpfehlenswerth sein,
für diese letztere Categorie, denen der Aufenthalt in
den Dörfern und die ländliche Beschäftigung nicht
Zusagen, an die Einrichtung von Pflegestellen in der
Stadt selbst zu denken. Gerade für Göttingen wird
sich dieses Projekt meiner Ansicht nach in den nalre
der Anstalt liegenden Stadttheilen, die vorzugsweise
von kleinen Leuten bewohnt sind, wo auch mehrfach
ältere Wärter wohnen, ohne grosse Schwierigkeit aus¬
führen lassen. Allerdings halte ich die Unterbringung
der Kranken auf dem Lande, wie es bisher war, für
die idealere Art der Familien pflege.
So günstig im Allgemeinen auch der Erfolg in
der Familienpflege bislang gewesen ist, so sind wir
natürlich auch nicht von Unannehmlichkeiten aller
Art verschont geblieben. 2 Kranke mussten dauernd
zurückgenommen werden, weil sie nach mehr oder
weniger langem Aufenthalt in der Familienpflege Er¬
regungszustände bekamen. In drei Fällen wurden
Entweichungsversuche gemacht, die aber sämmtlich
resultatlos verliefen; die Kranken wurden nach kurzer
Zeit der Anstalt wieder zugeführt. Ein Pflegling starb
im Hause des Pflegers an einer äusserst acut verlaufen¬
den Peritonitis, und schliesslich verloren war einen
Kranken durch einen schweren Unglücksfall. Der
betreffende Pflegling, der bereits hochgradig verblödet
war, war Abends, während noch mit der Dresch¬
maschine auf dem Felde gearbeitet wurde, auf eine
Strohdieme gestiegen, um dort etwas zu helfen. An-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1 002.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 437
statt nun zu warten, bis eine Leiter angelegt wurde,
wie ihm auch von den übrigen Arbeitern befohlen
war, glitt er an der Dieme herunter und in die Zinken
einer Forke, die versehentlich mit der Spitze nach
oben gegen die Dieme gelegt war. Da uns die eigent¬
liche Todesursache von dem Pfleger verschwiegen war,
haben wir der Staatsanwaltschaft Anzeige gemacht,
die Untersuchung wurde aber nach kurzer Zeit nieder¬
geschlagen, weil eine strafbare Handlung nicht vorlag.
Die gerichtliche Section ergab eine schwere Blutung
in die linke Pleurahöhle, eine Verletzung der linken
Lunge und Zerreissung der grossen mediastinalen Ge¬
wisse. Derartige Unglücksfälle sind allerdings in hohem
Grade bedauerlich, aber man muss mit ihnen rechnen
und es würde gänzlich verfehlt sein, aus einem solchen
Grunde den Stab über der ganzen Familienpflege zu
brechen. Je freier wir die Geisteskranken behandeln
und die Familienpflege ist zur Zeit wohl die freieste
Art der Behandlung, desto grösser wird auch die
Wahrscheinlichkeit, dass derartige unglückliche Ereig¬
nisse einmal eintreten.
Wenden wir uns jetzt kurz zu der Betrachtung
des Pflegers. Die Bauern in der Umgebung von
Göttingen gehören nicht gerade zu den reichen Land¬
wirtlien, sie sind andernfalls aber auch keineswegs
arm, sondern vertreten durchschnittlich, soweit ihre
Vermögensverhältnisse in Betracht kommen, den guten
Mittelstand und eignen sich als solche, meiner An¬
sicht nach, ganz besonders gut zu Pflegern. Jeder
Bauer hat seinen mehr oder weniger grossen Acker,
durchweg recht guter und schwerer Boden, den er
bepflanzt und von dessen Erträgen er lebt, er besitzt
seine Scheunen und Stallungen und ist in der Lage,
ausser Kühen, Schweinen und dergl. sich auch durch¬
schnittlich 2 Pferde zu halten, kurz, es sind ganz
wohlhabende Landleutc, nicht zu reich, um sic h über
die Kranken erhaben zu fühlen, aber auch nicht zu
arm, um den Verdacht zu erwecken, dass die Kranken
bei ihnen Noth leiden würden. Die Nahrung ist,
wie ich mich verschiedentlich selbst überzeugen konnte,
ausreichend und kräftig, die Pfleglinge, die im Ver¬
lauf des Sommers bei der Arbeit auf dem Felde theil-
weise an Gewicht verloren hatten, sehen im allge¬
meinen blühend und gesund und haben zum Theil
auch erheblich an Gewicht zugenommen. Die Woh¬
nungen der Pfleger lassen im Grossen und Ganzen
auch nicht zu wünschen übrig, sie werden sauber und
reinlich gehalten, wenn das auch grösseren Schwank¬
ungen unterliegt. Dagegen waren die Zimmer der
Kranken immer tadellos in Ordnung, das Bett sauber
und reinlich, die Kleider und besonders die Wäsche
stets gründlich geflickt und rein gewaschen. Seinem
ganzen Character nach muss man den Bauer in der
Umgebung von Göttingen als einen biederen und
fraglos intelligenten Menschen bezeichnen, er ist
äusserst fleissig und solide und zeichnet sich in erster
Linie durch grosse Ruhe und Gutmüthigkeit aus, kurz
er ist durch seine ganze Art wohl geeignet, mit
Kranken umzugehen und sie ordentlich und gut zu
behandeln. Der Familien pflege bringen die Bauern
im Allgemeinen ein grosses Interesse entgegen, dafür
spricht schon die grosse Anzahl von Anmeldungen
und Anfragen, auch aus weiter entfernten Dörfern.
Natürlich glaube ich nicht, dass sie der Familienpflege
nur um des guten Zweckes willen ihr Interesse ent¬
gegenbringen, so selbstlos denkt kein Bauer. Sie haben
fraglos in erster Linie immer ihren persönlichen
Nutzen und Vortheil dabei im Auge und lassen sich
dadurch auch vorzugsweise bestimmen, aber aus
manchen Kleinigkeiten geht doch andererseits wieder
deutlich hervor, dass der persönliche Vortheil nicht
allein maassgebend ist, dass sie auch für den Kranken
selbst viel übrig haben und auch im Interesse der
Kranken der Familienpflege wohlwollend gegenüber¬
stehen. Sie lassen die Pfleglinge an allen freudigen
Ereignissen in der Familie theilnchmcn, geht der
Pfleger Sonntags aus, so nimmt er den Pflegling mit,
er beschenkt ihn zu Weihnachten, kauft ihm Kleid¬
ungsstücke, Cigarren u. dergl., der ganze Ton, in dem
der Pfleger von seinem Kranken spricht, die Art,
wie er auf seine Eigenarten eingeht, und nicht zum
wenigsten die Zufriedenheit des Kranken selbst, alles
das ist doch fraglos ein Zeichen dafür, dass die per¬
sönlichen Interessen nicht der allein leitende Factor
sind, sondern das daneben auch das Interesse für die
Kranken und ihr Wohlergehen eine grosse Rolle
spielt. Nach unsem bisherigen Eifahrungen sind wir
zu der Annahme berechtigt, dass sich der Bauer in
der Göttinger Gegend in jeder Beziehung vorzüglich
zum Pfleger eignet.
Wenn ich schliesslich noch mit kurzen Worten
auch die Vortheile berühre, die die Anstalt selbst
von der Einrichtung der Familienpflege hat, so ist
sie in erster Linie schon deshalb von grossem Werth,
weil sie Platz für neue Aufnahmen schafft. Gerade
zu der Zeit, als in Göttingen die Familien pflege ein¬
geführt wurde, vor der Eröffnung der neuen Anstalt
in Lüneburg, w r ar die Ueberfüllung der übrigen Pro-
Vinzialanstalten eine derartig starke, dass für frische
Aufnahmen kaum Platz vorhanden w'ar. Weiter muss
auch die pecuniäre Seite in Erwägung gezogen werden.
Ich glaube nicht, dass bisher in Göttingen irgend
welche Ueberschüsse erzielt sind, obwohl die Ver¬
pflegung ja bedeutend billiger ist wie in der Anstalt.
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Original ffom
HARVARD UNIVERSITY
4,5*
Aber die Kleider, Schuhe, Alles erfordert doch ent¬
schieden in der Familienpflege einen lebhafteren Er¬
satz wie in der Anstalt und gleichen den billigeren
Verpflegungssatz mehr oder weniger aus. Aber auch
das wird im Laufe der Zeit, mit der weiteren Aus¬
breitung der Kamihenpflege und der Zunahme der
Zahl der Pfleglinge besser werden.
Schliesslich möchte ich noch der Ansicht ent¬
gegentreten, dass durch die Familienpflege der An¬
stalt die besten Feldarbeiter entzogen wurden. Ob¬
wohl wir, wie schon erwähnt, anfangs nur gute Feld¬
arbeiter heiausgegeben hatten . sind Störungen im
landwirtschaftlichen Betriebe der Anstalt niemals ein¬
getreten. Die Wärter, die natürlich am liebsten mit
ihren alten ausgebiideten Kranken arbeiten, sind dann
[Nr. ;,Q.
einfach gezwungen, sich aus dem übrigen Kranken-
material neue Arbeitskräfte heranzuziehen und her-
anzululden. Weiden in Zukunft vorzugsweise ieine
Pfleglinge nach draussen geschickt, so fällt dieser Fin-
wurt ja au- h von v. «rnherein fort.
Will ich nun aus diesen Mittheilungen einen Schluss
ziehen, so darf ich ihn wohl dahin /.usammenfassen,
da>s die Einrichtung der Famihenpflege in Göttinnen
in jeder Beziehung ein recht glücklicher Schritt war.
Die Erfahrungen , die bislang damit gemacht sind,
sind sehr günstige, die Yortheile, die sie vorzugsweise
den Kranken bringt, sind derartig grosse, dass sie
wohl berechtigen, den einmal beschrittenen Weg weiter
zu gehen und die Familienpflege mehr und mehr
aiiN/.udehnen.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Yoi läufige Einladung zur nächsten Jahressitzung
des Vereins der deutschen Irrenärzte. Die Jahres-
sitzung wird am Montag, den 20. und Dienstag, den
2 1. April 1903 in Jena stattfinden.
Pr« «gramm.
I. Anträge des Vorstandes: a) den Namen
des Vereins in die Bezeichnung „Deutscher Verein
für Psvchiatrie“ zu ändern, b) die Vorgesetzten Be¬
hörden um Gewährung von Reisekosten für die die
Jahresversammlung besuchenden Anstaltsärzte zu er¬
suchen.
II. Referate: i) Ueber die Anwendung der Iso-
lirung bei der Behandlung GcBt-skrunker. Referent:
Herr Diiertor Dr. Meicklin (Treptow a. d. R.).
2) Ueber Begriff und Bedeutung der Demenz. Re¬
ferent: Herr Medicinalrath Prof. Dr. Tuc/ek (Mar¬
burg). Cerreferent: Herr Hotrath Dr. ( Binsen Dresden).
3) Der Erlass des preüssrichen Justiz-Mini>teriums
vom i). October lo°2. betreffend die SaehverstämligQ-n-
thätigkeit in Entmündigungssachen, Referent: Herr
Professor Dr. Thomson (Bonn).
III. Die Anmeldung Von Vorträgen Bitten wir bis
spätestens Anfang März 1003 an den mitunterzeieh-
neten Professor jolly (Bedin N.W., Alexander-Ufer 7)
zu richten. Herr Ilofrath Prof. Dr. Binswanger
(Jena) hat sich freundlic bst bereit erklärt, den Vor¬
sitz des Locale« »mites zu übernehmen.
Nähere Angaben über das Sitzungslocal, das ge¬
meinsame Mittagessen und sonstige Zusammenkünfte
werden dem definitiven, im März zu versendenden
Programm beigegeben werden.
Der Vorstand. Fürstner. Hitzig. Jollv. Kreuser.
Laehr. Pelman. Siemens.
— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 8. December 1902.
Vorsitzender Jollv, Schriftführer Bernhardt.
Vor der Tagesordnung demonstrirt M.
Roth mann einen 32 jährigen Mann, der vor 15
Jahn n Lues gehabt hat, im Jahre 1900 an Kopf¬
schmerzen und nachfolgender rechtsseitiger Parese
erkrankte. Durc h Imin« tioiiskur Besserung, die auch
bei einem Re« idiv erzielt wurde. Seit ca. I Jahr
rechtsseitige Krämpfe, ausserdem Schwindel. K«-pf-
s< hnirr/.eii und Schwäche der rechten Extremitäten.
Ubjcctiv lindel sich Differenz der Pupillen 1 1.,
refleet« •rische Pupillenstarrc, Hemiparcsis dextra mit
gering« *r HvperaeNthesie und grobschlägigem Tremor
der rei hten Hand hei Intention, starkes Schwanken
bei Augenschluss, so dass Patient wie ein Brett um¬
zufallen droht, bisweilen dabei Neigung nach rechts
zu fallen. Das intei essanteste Svinptom, das Patient
darbiet«-t. ist ein Krampf der Mm. interni, ein Con-
veigcnzkrampf, der bei jeglicher Fixation, zu der Pat.
aufi^efordert wird, auftritt, gleichgiltig. nach welcher
Eich tim <2 die Buihi fixieren sollen. In der Ruhe tritt
dieser Krampf nicht auf, selten beim Lesen, auch
nicht wenn Pat. sich ungezwungen nach der einen
oder andern Richtung umsieht. Unter Schmierkur
Besserung. Die L< »calisation der Irischeinung ist sehr
schwer, besonders, wenn man versuchen will, die
Svmptome auf einen Herd zu beziehen: vielleicht
handelt es sieh um einen Herd in der Yierhügel-
gegend. Wenn nicht die Therapie auf den Zustand
günstig einwirkte, könnte man für einige Symptome,
besonders die auffallend starke Gleichgewichtsstörung
und den Convergenzkrampf, auch an functionelle
(hvsterische) Störungen denken.
D i scu ss io n.
B ernhar d t macht darauf aufmerksam, dass
Pat. während der Demonstration unbewusst ganz un¬
gehindert nach links und rechts geblickt habe.
Rot hinan n bemerkt, dass er bereits hervor¬
gehoben habe, dass die Störung nur bei stärker in¬
ten« licitem Sehen vorkommt, zeitweilig allerdings auch
beim Lesen.
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1902.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Tag esordn u ng.
von Leyden und (J i un mach: Die
R ö nt ge »gfa p h i e im Dienste der Riicken-
m a r k s k ra n k h e i t e n.
In der Einleitung des Yorlr.iges bespricht v.
Leyden die (ieschit 1 »te der Diagnostik der Rücken-
markskrankheiten in grossen Zügen; er hetont, dass
bis heilte in der Klinik die anatomische Diagnose
der Rücken in arkskra n kheiten (Inspekti« m, Palpatic »n etc.)
der physiologischen ( Func tionsausfall. >egmentdiagnosc)
weit unterlegen geblieben sei. In jüngster Zeit sei
als werthvolles anatomisc hes Hilfsmittel der Diagnose
die Lumbalpunc tion hinzugekommen. Die bisherigen
Leistungen der Röntgographie haben uns für die Er-
kenntnis der Vorgänge im Wirbelkanal selbst noch
keinen Gewinn gebracht, wohl aber für die Differen¬
zierung der Wirbelerkrankungen selbst, und, wie aus
den weiteien Mittheihmgen der Vorträge heivor^rhen
wird, für die Ben:theilung manclier Vorgänge an den
Knochen der Wirbel, dir* in Beziehung zu manchen
Rückenmarkserkrankungen zu bringen sein weiden.
((>ste< »pon >sc).
Vortr. berichtet:
i) über 5 Fälle von Deformitäten an der Wirbel¬
säule mit spinalen Symptomen, Paresen bezw. Para-
plegiecn, in denen es sich in i Fall um (’aries. in
2 um rachitische Yeiändcruiigen, in 2 um Spondvlose
rhizomelique handelt.
Demonstration der characteristischen Actinogramme
durch Herrn (»runmach.
2 ) über 2 Fälle von metastatischen Wirbeltuinnren,
i. Carcinom dys b.--7. Halswirbels mit Spontan-
fractur nach jMammacarcinom, 2. Sarcom der Len¬
denwirbelsäule nach Oberschenkelsarcom, beide durch
das Röntgenbild bestätigt, sowie über 2 Fälle von
traumatischen Wirbelerkrankungen, in deren einem
das Röntggnbild einen Callus des 6. — 7. Halswirbels
nach Fractur nach wies, während in dem 2., wo nach
Sturz \<>n einer Leiter das nicht ganz reine Bild einer
Ilalbseitenlähmung des unteren Brustmarks aufgetreten
war, nicht die Zeichen einer Fractur nach¬
gewiesen werden konnten; ein Schatten in der Ge-
gencl des 8.—-io. Brustwirbels wird von den Vortr.
als Rest einer Blutung gedeutet.
3) über 3 Fälle von Myelitis, von denen sich der
eine als Spomh litis entpuppte, 1 von Meningomyelitis,
2 Fälle von Tabes, davon einer mit Osteoarthropathie
der Wirbelsäule, und einer von Bulbärparalyse, bei
dem sich als interessanter Xebenbefund eine alte
Luxation der Ilalsw irbelsäule durch das Röntgenver¬
fahren fcststellen liess.
Bei den letztgenannten Fällen fanden sich nun,
besonders bei den llerderkrankungen, in den unter¬
halb derselben gelegenen Partieen der'Wirbelsäule,
aber auch in den Fällen von Tabes, eigenthümliche
Aufhellungen der normalen Schatten der Wirbel¬
knochen, die, mit normalen Bildern verglichen, die
Vortr. zu dem Schluss vcranlassten, dass es sich hier¬
bei um trophische Störungen in der Knoc hensubstanz
handelt, (Osteoporose!* die in Beziehungen zu der
spinalen Erkrankung gebracht werden müssen.
Demonstration durc h Herrn Grün mach.
Die Fortschritte, die die Röntgographie auf dem
Gebiet der Rückenmarkserkrankungen bisher geleistet
hat, beziehen sich demnach im wesentlichen auf die
Erkrankungen der Wirbel seihst, zum Theil. aber auch
auf secundäre Proccsse, in den letzteren im Gefolge
und wahrscheinlich mich in einer gewissen Abhängig¬
keit um spinalen Ei krankungen.
Die Discussion über den Vortrag wird vertagt.
Martin Bloc h, (Berlin).
— II. Landes-Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest. ( L Sitzung vom 20. (.)«•-
tober l</02, Vnrm.i 1 Fortsetzung
Den Yoisitz übernimmt N. Gsap, später, X.
Th<» m a n.
a) Referent: Karl Lechner. 2. Mode* r 11 e
Princi]>ien in der Therapie der Geistes¬
krank h <* i t c* n.
Die moderne P>\« hiatrie wird in ihrem \ä >: gehen
von der Liebe zu dem Kranken beeinflusst und ge¬
leitet. Alle jene Maassnahmen als'*, welc he eigentlich
gar nicht den Zweck hatten zu heben, sondern die
menschliche Gesellschaft uni <!■'■■ UmgebunL' des
Kranken zu schützen, hubpfl nun an Wichtigkeit
verl« »ren.
Unser Bestreiken richtet; sich jetzt nicht ausschliess¬
lich darauf, die bestehenden gefährlichen Symptome
zum Sc hwinden zu bringen. Wir denken hauptsächlich
an das Interesse des Kranken und legen auf geistige
und körperiic he Diät, auf die Prophylaxe der Geistes¬
krankheiten das größte Gewicht.
Die erprobten Arzneien von wirklichem Ileilwerth
wollen auch wir nicht entbehren. Dennoch sind wir
bestrebt, die interne Medik ation auf ein Minimum zu
beschränken, die externen Pr« »ecdtiren, also Kaltwasser-
cui, lilektric ität u. s. w. nur der Xothwendigkeit ange¬
messen zu gebraut hen und sc iiliessiich haben wir die
ehedem so beliebten Zwangsmittel ganz verfassen und
geben unseren Kranken die grösstinögliche Freiheit.
Auch die < hgaiio- und Sei uml nhrapie wenden wir
an, sobald sic* in ihrer Wirkung erprobt ist.
Die körpe-di'he Diät I ^treuen wir uns durch
gesunde W<»iniuiig Reinlichkeit, Bewegung in fris» her
Luft, gute Ernährung und Bäder z.u ordnen. Die
alkoholischen Gctiänke lmisvii aus d«-n Irrenheil-
anstalten vollständig verbannt werden. Selbst als
Arznei sollen sie nur in den seltensten Fällen eereiebt
werden, denn w ir kennen k.uun ein Gift, wei« hes dem
Gehirne schädlicher wäre als der Alkohol.
Noch viel mehr erwarten wir Von der se- 1 is* hen
Diät. Hier sind Bettruhe. zweckmässigeg Plaeirung,
gutes Wartepeiscmal. dau* rnd-e Bes« häftigimg und ziel¬
bewusste Bec'intlussung des Seelen iejuci in von größter
Wichtigkeit. Daneben sind 1 »eruhigeirde, warme Bäder,
nasse Einpackungen, die* Suggestion und manc hmal
auch die Hypnose von guter Wirkung. Um die
zweckmässige Unterbringung der Kranken zu erleb litcrn,
beabsichtigen wir im Anschlu ss an die Irrenanstalten
Gewerbe-Ela hi isseinentc. laml w i rtl i>< hal'llic he (’ol- »nien,
Dörfchen fü* das \\ artcpersonal zu enirhten und
wollen geeignete Kranke der (>bhut solc her Wärler-
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HARVARD UNIVERSITY
440
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39.
Familien anvertrauen. Epileptiker, Alkoholiker, ver¬
brecherische Geisteskranke, sowie Nerven- und Ge-
müthskranke sollen womöglich in besonderen Anstalten
untergebracht werden. Ueberall müssen wir dahin
wirken, dass der um seine Familie besorgte, arme
Kranke irgendwie zu einem Gelderwerb komme und
zwar nicht nur für die Zeit der Intcrnirung, sondern
auch dann, wenn er geheilt oder gebessert entlassen
wurde. Wir sorgen ferner dafür, dass die zurückge¬
lassene Familie für die Zeit, in welcher der Ernährer
der Familie sich im Institute befindet, eine ange¬
messene Unterstützung erhalte.
Grössere Erfolge als auf diesem Gebiete erwarten wir
von unserer Thätigkeit auf dem Wege der Prophylaxe.
Wir müssen das Zustandekommen der Gehirnkrank¬
heiten verhindern, soweit wir das können. Darum
kämpfen wir gegen die Vererbung der Disposition
zu Geisteskrankheiten. Durch richtige Erziehung seien
wir bestrebt, die Psyche zur kräftigen Entwicklung zu
bringen. Besondere Sorgfalt müssen wir der Erziehung
nervöser, psychisch degencrirter Kinder zuwenden.
Nehmen wir den Kampf gegen die socialen Uebel
mit voller Energie auf, unterdrücken wir namentlich
den so ungeheuer verbreiteten Alkoholismus, setzen
wir der weiteren Verbreitung der Syphilis energischen
Widerstand entgegen und versuchen wir wenigstens
die Folgen des Pauperismus zu mildern. Diese Uebel
geben nämlich den Boden ab, auf welchem die
Geisteskrankheiten am üppigsten gedeihen.
Erreichbar wären diese Erfolge: durch eine
zweckmässige Beeinflussung der Eheschliessungen,
durch Ordnung des Prostitutions- und Armenwesens,
durch Gesetze gegen die Trunksucht, durch Errichtung
von Anstalten, in welchen nervöse, und belastete
Kinder erzogen werden, durch Erbauung von Sana¬
torien und Asylen für Trinker und Epileptiker und
Nervenkranke, sowie durch Errichtung eigener Heil¬
anstalten für geisteskranke Verbrecher. Es giebt noch
eine ganze Reihe solcher Institutionen, die uns in der
Erreichung unseres Zieles behülflieh sein können, wenn
die Gesellschaft den freiwillig angebotenen Rath und
die Hülfe der Psvchiater annehmen wollen wird.
Es wäre die Aufgabe einer aus der Mitte des
Congresses zu entsendenden Commission nach dem
Muster des Auslandes eine Bewegung zur Bekämpfung
der erwähnten Uebel einzuleiten und zu führen , die
schon vorhandenen diesbezüglichen Bestrebungen zu
unterstützen und in der Leitung derselben dem
Psychiater den ihm gebührenden Platz zu sichern.
b) Correferent: G ustav O 1 a h.
In den Bestrebungen der modernen Irrenheil¬
kunde kommen immer entschiedener zwei verschiedene
Standpunkte zum Ausdruck.
Der erste bezieht sich auf eine derartige Organi¬
sation der Irrenanstalten, dass dieselben nicht bloss
kostspielige Internate für unheilbare Kranke seien,
Internate, deren Kosten kleinere Staaten für die Dauer
kaum ertragen werden können, sondern dass in den¬
selben heilbare Fälle zur Zeit Aufnahme und Heilung
finden, was natürlich eine fortschreitende Spenali-
sirung des ärztlichen Dienstes nothwendig macht. Der
zweite Standpunkt ist der, ».lass die unheilbaren Ele¬
mente durch den hierzu geschaffenen und eingerichteten
grossen Heilapparat, den wir Irrenanstalt nennen, auf
einem möglichst gesellschaftsfähigen Niveau erhalten
bleiben.
In demselben Maasse, in dem vagabundirende und
bettelnde, selbst das Nothwendigste entbehrende
Geisteskranke mit der gesellschaftlichen Ordnung des
Staates in Conflict gerathen, steigt die Last, welche
durch die lebenslängliche Versorgung dieser Elemente
dem Staate aufgebürdet wird und die Errichtung neuer
Irrenhäuser nothwendig macht. Wollen wir mit dem
Ausbau unserer staatlichen Institutionen alle unsere
unversorgten Geisteskranken unterbringen, was schliess¬
lich nicht ausbleiben kann, so werden wir die Lasten
dieser Versorgung nicht ertragen können, wenn wir
keine Praeventiv- Maassregeln ergreifen. Darum wird
cs überall als eine Nothwendigkeit angesehen, die
Zahl der endgültig dissociirten Elemente, der noto¬
rischen Irrenhausbrüder, welche ein Artefact des
falschen Svstems sind, zu verringern und ebenso ist
es eine höchst wichtige Aufgabe der modernen Irren-
pflcgc, die chronischen Fälle auf einer relativ socialen
Höhe zu erhalten
Ein weiteres Hauptprinzip ist die möglichst früh¬
zeitige Behandlung der Geisteskrankheiten. Das ist
nur dann zu erreichen, wenn alle Factoren, welche
die leichteren und beginnenden Psychosen vom In¬
stitute fern halten, radical ausgerottet werden. So
lange bei der Schaffung von Irrenanstalten die Frage
der Intcrnirung im Vordergründe stand, wurde dem
Ingenieur von ärztlicher Seite nur die eine Aufgabe
gestellt, mit Beachtung der modernen hygienischen
Verhältnisse und der Interessen der öffentlichen
Sicherheit auf einem bestimmten Terrain für Geistes¬
kranke so viel Belegraum als möglich zu schaffen.
S<> entstanden die im Block- und Pavillon-System
aufgeführten Irrenhäuser, mit tadellosen Heiz- und
Ventilations-Einrichtungen, jedoch mit vollständiger
Vernachlässigung der psychischen Hygiene erbaut,
obwohl die entsprechend gewählte Gesellschaft, die
kleineren und grösserett Gruppen, das bürgerliche
Heim, das Bauern-Häuschcn durc h keinerlei patentirten
Spucknapf, durch kein Ventilations-System und durch
keinen Carbolgeruch ersetzt werden können.
Ich will zugeben, dass auch die angedeutete
Richtung nicht übertrieben werden darf. Wir be-
nöthigen grosse, luftige Krankensäle, besonders für
liegende Kranke, wir können 1- 2 Wannenbadräume
pro Saal nicht entbehren, dennoch lässt die Auf¬
führung von ausschliesslich aus solchen Krankensälen
bestehenden Irrenhäusern im Block- oder Pavillon-
system auf sehr wenig psychiatrisches Gefühl des
Erbauers schliessen.
So construirte Irrenhäuser zwingen nicht zusammen¬
gehörige Kranke in eine abstossende Gemeinschaft,
schaffen unhaltbare, hässliche Zustände und diesem
Boden entspringt dann die Anwendung von Zwangs¬
mitteln , Missbrauch mit den hypnotischen Mitteln,
die inveterirten Zellenbew'ohner, mit einem Worte die
erschreckend grosse Anzahl der für die menschliche
Gesellschaft endgültig Verlorenen. Es ist eine bereits
banale, immer aber noch eine grosse Wahrheit, dass
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HARVARD UNIVERSITY
iqo-\]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
44i
die Ueberfüllung und der Irrenhaus-Character für
eine Irrenheilanstalt dasselbe bedeuten, was die Sepsis
für eine chirurgische oder gynäkologische Abtheilung.
In ein solches Irrenhaus kann man heilbare Fälle
mit den Chancen der Heilung nicht bringen und ist
es doch die Aufgabe, der Psyc hiatrie zu retten, was
noch zu retten ist, nicht aber Unheilbare lebenslänglich
zu versorgen.
Hält man diese Principien vor Augen, so tauc hen
bei Besprechung der DetaiKragen folgende Fragen auf:
Ks wären grössere Anstaltseinheiten zu sc hallen,
deren Theile, wenn sie auch räumlich nicht Zusammen¬
hängen, einen einheitlichen < hganismus darslellen und
dennoch die weitgehendste Differem Innig gestatten,
dies zu dem Zwecke, um den Kranken immer in das
betreffende Milieu bringen zu können, welches dem
jeweiligen Stadium seiner Krankheit entspricht. Ein ein¬
heitliches Pavilk »ns\ Stern, besonders mit symmetrischer
Anlage, entspricht den psychiatrischen Anforderungen
durchaus nicht. Nach demjenigen Systeme, welc hes
derzeit für das beste gehalten wird, übergeht die
ganze Colonie fast unmerklich in die Umgebung und
zeigt keinerlei auffallenden (’haracter. Unter Schaffung
grosser Anstaltseinheiten verstehen wir durchaus nicht
die Schöpfung riesiger umzäumter Anstalt»-Uolosse,
in welchem 1500—jooc Kranke* untergebracht werden
können, sondern solc he einheitliche ( hganisationen,
in deren Rahmen die vorher erwähnten psyc hiatrischen
Standpunkte zu verwirklichen wären; diese Organi¬
sationen senden durch probeweise Entlassung von
Kranken in die Umgebung Fäden in die Aussenwelt
aus und können auf diese W eise aufklärend und leh¬
rend, zu Organen der soc ialen Prophylaxe werden.
Ein wichtiger Factor des Fortschrittes und der
Vervollkommnung der Psychiatrie ist die Spe< ialisirung
der ärztlichen Agenden. In den meisten Irrenheil¬
anstalten älteren Styles verrichten die Aerzte tagtäglich
die gleiche Arbeit. Die Psychiatrie sowie deren
Ilülfszweige, die experimentelle Psychologie, die Histo¬
logie, die chemischen Untersuchungen, einzelne Fleil-
proceduren sind so umfangreich geworden, dass kein
Mensch in allen diesen Fächern gleichzeitig Voll¬
kommenes leisten kann. Wie sehr man zum Beispiel
bei Idioten der socialen Qualification nahe kommen
kann, haben unsere Specialisten, welche sich mit
Idioten befassen und dieselben fast gesellschaftsfähig
machen, zur Genüge bewiesen. Diese Idioten wären,
bei der heutigen Einthcilung des ärztlic hen Dienstes,
in eine Irrenanstalt gebracht, geblieben, was sic waren.
Dasselbe gilt znm grossen Theile für andere Formen
der Geisteskrankheiten. Es ist die Aufgabe der In¬
stitutsleitung, der Specialisirung des ärztlichen Dienstes,
welche der Schlüssel allen Fortschrittes ist, innerhalb
des Institutes Geltung zu verschaffen. Das ist aber
nur in grossen Anstaltseinheiten durchführbar.
Viele haben an der Idee Gefallen gefunden, dass
arbeitsfähige, unheilbare Kranke auf einer sogenannten
Colonie, einem angenehmen und gesunden Orte, ge¬
sammelt und dort zu landwirtschaftlichen Arbeiten
verwendet werden. Diese gefällige und idyllische
Idee wird zur idealen Lösung erhoben, wenn man
betont, dass diese Colonien sich selbst erhalten,
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dass die Arbeit der Kranken alle Auslagen deckt.
Diese Argumentation ist meiner Ansicht nach etwas
unpsychiatrisch. Jede grössere Irrenanstalt bedarf
zwar einer landwirtschaftlichen Colonie und zwar
nicht aus administrativen, sondern aus therapeutischen
Gründen, doch kann diese nur ein Glied, ein Organ
des ganzen Institutes sein. Die Absonderung des un¬
heilbaren Materiales, als Selbstzweck vorgenommen,
würde den bestehenden Anstalten den Gnadenstoss
versetzen.
Eine weitere k rage wäre die der Zahl-Abtheilungen.
In einem dem (iemeinwohle gewidmeten öffentlichen
Institute sollte man die strenge Absonderung der
Geisteskranken je nach der Klasse, welche sie bezahlen,
möglichst vermeiden. Es ist durchaus nicht in der
Intention und im Interesse der Psychiatrie gelegen,
dass jeder Kranke möglichst luxuriös untergebracht
werde. Im Gegentheil ! Der Irrenhausluxus wirkt
oft unangenehm, ja peinlich, im grössten Maasse anti-
psvehiatrisch ist jedoch der Vorgang, einen Kranken
aus der besseren Umgebung, nach welcher er sich
sehnt, welche er zu würdigen weiss, zu entfernen, ihm
die bessere Verpflegung, an die er im Leben gewöhnt
war, zu entziehen, weil er in eine andere Verpflegungs¬
klasse gehört. Für ein Bein, das operirt werden soll,
sind das Fragen von ganz unte rgeordneter Bedeutung,
für ein Gehirn, das geheilt werden soll, ist das die
Heilung selbst, deren Art und Wesen.
Was die Benennung der Anstalt anbelangt — und
diese ist ein cardinalcr Factor, w enn wir die Möglich¬
keit einer frühzeitigen Behandlung der Kranken
schaffen wollen —, so will ich mit der Ausführung meiner
Ansicht hier keine Zeit verschwenden und keine un¬
fruchtbare Discussion heraufbeschwören. Ich weiss,
dass ich diesbezüglich etwas isolirt dastehe und will
nur soviel bemeikcn, dass jede besc hönigende Be¬
nennung — unter welcher das Publikum ja dennoc h
das bewusste Haus der lebenden Todten vermuthet
— nur den Uebeigang zur einzig richtigen natur¬
wissenschaftlichen Auffassung bildet, welche die Geistes¬
krankheiten als eine specifische Erkrankung der
Function des Centralnervensystems und das Irrenhaus
als die Heilstätte dieser Erkrankung ansieht und
dasselbe demgemäss benennt.
Was die unmittelbaren Heilmittel der Psychiatrie
anbelangt, so zeigen die maassgebenden Standpunkte
eine successive Verschiebung.
Es ist zweifellos, dass in der neueren Zeit jene
hässlichen, gefährlic hen Formen, welche wir noch vor
10— 25 Jahren durch das Fenster der Zelle zu be¬
obachten Gelegenheit hatten, fast vollständig ver¬
schwunden sind. Man kann darüber streiten, ob die
Krankheitsbilder mit dem Fortschritte der Cultur ihre
Form änderten, oder ob die Einrichtung der alten
Irrenhäuser diese wilden Formen als rcactivc Krank¬
heitsbilder, artelicicll erzeugten, aber es ist zweifellos,
dass das heutige Krankcnmatcrial socialer ist, dass
es leichter ist, mit demselben umzugehen.
Ueber die Princ ipien der medicamcntösen Therapie
will ich bezüglich einiger specieller Indicationen später
noch einiges sagen, hier möchte ich nur soviel be¬
merken, dass bisher — die mcdicamentöse Therapie
Original from
HARVARD UN1VERSITY
44-2 PS YGHIA T R1SCII - N E U R O LOG l SC H E WOCHENSCHRIFT. [Nr. y>.
der Epilepsie und des Myxoedems, sowie die Wirkung
der Salz-Infusionen ausgenommen — noch keine
Studien angestellt wurden, welche versucht hatten, den
wesentlichen Beziehungen zwischen dem Verlauf eines
psychotischen Proccsses und der medicamentösen
Therapie eine exacte, experimentelle Basis zu geben.
Im Mittelpunkte des therapeutischen Interesses stehen
jetzt die liegende Behandlung, die prolongirtcn Bäder,
die suggestive Milieu-Therapie, die Heilbeschäftigung
und die Regelung des St oft Wechsels.
In der ganzen psychiatrischen Litteratur domi-
niren diese Fragen. Durch die fachliche und früh¬
zeitige Ausnutzung dieser Prozeduren glauben wir
einerseits als positive psychiatrische Leistung den
stilleren Verlauf der acuten Psychosen, die sicherere
Vermeidung gefährlicher C<unplicati« >nen , hierdurch
ein viel günstigeres 1 leilungs-Percent, andererseits das
Aufhalten der socialen Devastation der chronisch
Kranken zu erreichen.
Heute sieht es schon jedermann ein, dass uns in
der Erreichung dieser Ziele die Ausschaltung aller
mechanischen Mittel der Freiheitsbeschränkung sehr
zu gute kommt. Wo das Vcrständniss für dieses
Princip noch nicht erwacht ist, zeigt man uns einen
solchen Zellenbewohner, welcher wiithend auf uns
losstürmt, wenn wir durch das Fensterchen seiner
Zelle blicken, und sagt höhnend: „Bitte mit diesem
Kranken ohne Zelle fertig zu werden.“ Thatsächlich
ist es eine schwere Aufgabe, einen solchen Kranken
soc ial zu machen, doch darf es solche Kranke in mo¬
dernen Instituten überhaupt nicht geben. Hier kommen
wir zu einem Circulus vitiosus. Die Isolirung schafft
Formen, welche; man nicht mehr gesellschaftsfähig
mac hen kann. Die Zelle macht die Zelle unentbehr¬
lich. Das tritt in solchen Instituten, in welcher die
grossen, nach gemeinschaftlichem Typus gebauten
Krankensäle die Gruppirung des Krankenmateriales
unmöglich machen, unfehlbar ein, denn hier isolirt der
Arzt, weil er sich anders nicht zu helfen weiss. Zwei
Kranke werden handgemein. Der eine oder der
andere wird in die Zelle gebracht. Fr ist schlaflos,
also bekommt er ein Ilvpnoticum. Eins zieht das
andere nach sic h und beides gemeinschaftlich deso-
eialisirt den Kranken und erzeugt jene hässlichen
Formen als Artefactc des Irrenhauses. Solchen be¬
gegnen wir heute glücklicherweise schon sehr selten
lind wo wir ihnen begegnen, dort ist entwe der in
der Leitung des Institutes oder im (Jrganismus seines
I Ieilapparatcs der Fehler zu suchen. Selbst in der
schwersten Bewusstseinsstörung sucht sich der Kranke
dem Milieu, in welchem er sich befindet, anzupassen.
Die Zuc hthäusler-Uniform, Sc hloss und Riegel, stämmige
Wächter erwecken die Vorstellung des Gefängnisses
und der Kranke benimmt sich anders als im Kran¬
kenkittel in einem Krankensaale oder in einem freund¬
lichen Speisesaalei Gabel und Messer in der Hand,
unter den Aufsicht barmherziger Schwestern sein Mahl
einnehmend.
Mein Primarius Dr. Molnar, der Paradoxe liebt,
]»liegt zu sagen, dass er immer, wenn ein Wärter
sich beklagte, ein Kranker hätte ihn ohne Grund
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attakirt, Lust hätte, den Wärter zu bestrafen. Allen¬
falls ist cs eine zu beherzigende Erfahrung, dass
während die Gefängnisswächtern ähnlichen Wärter
fortwährend thätlichen Insulten ausgesetzt sind, in der
Anstalt, seitdem ich barmherzige Schwestern anstellte,
denselben selbst auf der Männerabtheilung kein Leid
geschah.
Die Isolirung soll jedoch nicht mit der Absonder¬
ung verwechselt werden. Während die Isolirung ein
gefährliches Werkzeug der Desocialisirung ist, ist die
Separation ein mächtiger psychiatrischer Ileilfactor.
Das Gehirn bedarf in vielen Fällen der Einsamkeit,
welche der Arzt nicht nur gestatten, sondern auch
so schaffen soll, wie das der Zustand des Kranken
erfordert. W ir benützen in Ermangelung eines Bes¬
seren die alten Zellen zur Separation. Wir Hessen
dieselben jedoc h schön malen, parquettiren und da¬
mit die Separation den Anschein der Absperrung
verliere, haben wir die Einrichtung getroffen, dass
die Thiiren der Zellen sich nur von innen nach aussen
öffnen, so dass der Kranke herauskommen kann, wenn
er will, während Niemand, der keinen Schlüssel hat,
eintreten kann.
Vielleicht wird es kleinlich scheinen und denen,
die behaupten, dass die Psychiatric keine Wissenschaft
ist, als willkommenes Argument dienen, wenn ich ver-
rathe, dass wir auf die Kleidung auc h besonderes
Gewicht legen. Die Milieu-Behandlung ist eines der
Mittel, durch welche wir die Vorstellung der körper¬
lichen Krankheit in das Bewusstsein des Kranken
bringen und so eine Grundlage für die weitere Be¬
handlung sc haffen. Darum haben Krankensaal, Bett,
warme Bäder, Spitalskleidung eine so hohe W ic htig¬
keit bei den agitirten Formen, darum ist bei den
Nichtliegenden die bürgerliche Kleidung am Platze.
Wirksamer kann man diesen Heilfactoren gar nicht
entgegenwirken, als wenn man den Kranken die
graue Uniform der Zuchthäusler gibt, denn diese er¬
weckt in den Kranken die Vorstellung, eingesperrt
zu sein und erschwert unnützerweise den Standpunkt
des Arztes. (Bei uns kann ich den selbstbewussteren,
nicht zahlenden Kranken innerhalb der Grenzen des
Erlaubten solche bürgerliche Kleidung verordnen, als
er sic h nur wünscht. Meine Vorgesetzte Behörde Hess
mir — in der W ürdigung des Heilzweckes — hierin
freie Hand.) Dasselbe gilt von der Entfernung oder
spitzfindigen Umänderung aller jener Gegenstände,
mit welchem der Kranke sic h oder anderen Schaden
zufügen könnte und mit deren Entfernung man —
wie man zu sagen pllegt die Möglichkeit der Un¬
fälle „auf ein Minimum reducirt“. Die' Erfahrung
lehrte, dass die Zahl der Unfälle auch dann, wenn
w'ir gar nichts entfernten, wenn wir alles so einrich¬
teten, wie überall anderswo, sich auch nicht über
jenes gewisse Minimum erhob. Die Zahl der sich
selbst gefährlichen Kranken macht ein verschwindend
kleines Pen ent aus. Zur Beaufsichtigung dieser Kran¬
ken werden in jeder Anstalt ohnehin eigene Per¬
sonen angestellt und besondere Verfügungen getroffen.
Es besteht nicht die geringste Ursache, dass das
ganze Institut den Character des technischen Schutz¬
systems gegen Unfälle an sich trage.
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HARVARD UNIVERSITY
1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
443
D iscussi on:
Sa Igo: Der Vortragende hat sehr richtig bemerkt,
dass die Irrcnheilanstalt ein Heilmittel ist und daher
allen Anforderungen entsprechen muss, welche man
vom Standpunkte der Heilung der Kranken stellen
kann. Es ist natürlich , dass bei dem Kranken, der
schon an und für sich schaudernd in die Anstalt
kommt, wenn er dort auf der Beobachtungs-Abtheil¬
ung zwischen andere schwere Kranke gelangt, der so
erlittene Shok nicht sehr viel zur Heilung beitragen
wird. Aber sowohl unsere, als die ausländischen An¬
stalten gehen von dem Standpunkte aus, dass der
Kranke zu bewachen ist, damit ja kein Unglück ge¬
schieht. Dieser Auffassung entspricht auch die The¬
rapie, welc he in erster Reihe eine Einsperrung des
Krankem fordert: Auch ein Theil der Zwangsbehand¬
lung, die Zelle blieb erhalten. Ich sah noch eine
Menge von Zwangsmitteln; mit der besseren Erkennt¬
nis der Krankheiten, mit der Vermehrung unserer
Erfahrungen sind die meisten derselben überflüssig
geworden. Während früher auf meiner Abtheilung
bei einem kleineren Krankenstände 32 Zellen zu
wenig waren, sind jetzt bei viel grösserem Kranken¬
stände auch diese 32 zu viel, weil die Zellenbehand¬
lung weder dem Kranken, noch dem Institute von
Nutzen ist. Mit dem Wegfällen der Zellenbehand¬
lung sehen wir heute schon kaum mehr jene erwähnten
arlcficiell verwilderten Fälle.
Was die Bettruhe anbelangt, sah ich sowohl in
ac uten als in chronisc hen Fällen (z. B. bei Epilepsie)
ausgezeichnete Erfolge.
Was die Medication anbelangt, sehe ich durchaus
kein Verdienst darin, dass der Arzt kein Medicament
verordnet; reichen wir immerhin solche Mcdicamcnte,
von denen wir Nutzen erwarten, vermeiden müssen
wir nur das gedankenlose Rcceptschreiben, welches ja
überhaupt unärztlich ist. Wichtig ist ferner, dass die
Kranken in die gut gebaute, zweckmässig eingerichtete,
dem Zustande der Kranken entsprechende Anstalt
leicht hinein und ebenso leicht aus derselben wieder
heraus gelangen können. Unter den heutigen Ver¬
hältnissen, wo die dem Anstaltsarzte aufgebürdete
grosse Verantwortlichkeit selbst dann nicht auflicht,
wenn der Kranke die Anstalt schon verlassen hat,
wo für alles, was der Kranke unter den verschiedenen
Umständen des Ausscnlebcns anstellt, nicht nur seitens
der Oeffentlichkeit, sondern auch seitens der Zuge¬
hörigen des Kranken der Anstaltsarzt verantwortlich
gemacht wird, kommt leicht der sogenannte „Pavor
manicomialis“ zustande. Es ist dies ein Zustand,
welcher jede Betätigung, jede Entschliessung des
Anstalt.sarztes im höchsten Grade beeinflusst. In dem
Falle, dass die Irrcnheilanstalt einst'tatsächlich bloss
eine Heilanstalt sein wird, wird der Arzt frei von
solchen Nebenrücksichten und in der vollen Freiheit
seiner Entschliessungen in allen Fragen , welche den
Kranken berühren, entscheiden.
Vorsitzender dankt den Vortragenden und
schliesst die Sitzung.
E p s t e i n (Budapest.)
(Fortsetzung folgt.)
— Auszeichnung eines ungarischen
Arztes in Amcric a. Die Stadt New-York be¬
sitzt eine grosse Colonic für epileptische Kranke,
welche von einem reichen, philanthropischen Mitbürger
Namens Craig gegründet wurde. Diese sogenannte
„Craig Colony“ hat gegenwärtig ein Vermögen von
000,500 Dollars und erhält 112b derartige: Individuen,
welche Unterricht gemessen und sic h mit nützlicher,
hauptsächlich landwirtschaftlicher Arbeit beschäftigen.
Der Directionsrath der „Craig Colonv“ hat eine in¬
ternationale Preisbewerbung für eine englisch ge¬
schriebene, mit Motto versehene Originalarbeit aus¬
geschrieben, welche den besten Beitrag zur Pathologie
und Therapie der Epilepsie liefert. Das aus den
hervorragendsten americanisrhen Nervenärzten be¬
stehende Preisrichter-Collegium hat dem Budapester
Universitäts-Docenten und Ordinarius der Nervenab¬
teilung des St. Stefan-Spitales Dr. Julius Donath ein¬
stimmig den Preis zuerkannt für dessen Arbeit: „Die
Rolle des Cholins in der Epilepsie“. Diese Arbeit,
in welcher Donath nachgewiesen hat, dass in der
Hirn-Rückcnmarksfliissigkeit eine giftige Substanz, das
Cholin sich findet, welches, Thieren in die Hirnrinde
eingespritzt, heftige Krämpfe hervorruft, wurde im
vergangenen Monate auc h der Ungarischen Academic
der Wissenschaften vorgelcgt.
— Vorläufiges Programm des 14. internationalen
med. Congresses in Madrid. 23.—30. April 1903.
Abteilung 6. Neuropathies, Maladies, mentales
et Anthropologie criminelle. President M. Jose Maria
Escjuerdo y Zaragoza. Vice-Presidents MM. Luis
Simarro y Lacabra, Rafael Salillas y Ponzano, Jaime
Vera y Lopez. Secretairc M. Abdbn Sanchez Her¬
ren). Sccretaires adjoints MM. Jerbnimo Galiana y
Soriano, Rambn Ezquerra y Baig, Enrique Navarro
y Ortiz. Membres MM. Adriano Alonso Martinez,
Emilio Loza y Collado, Serafin Buisen v Tomati,
Tornas Maestre y Pcrez, Enrique Salcedo v Gincstal,
Federico Olbriz y Aguilera.
Rapports.
1. „Folies toxiques et infectieuscs“.— Rapporteur:
M. Jerbnimo Galiana.
2. „Etiologie et therapeutique ps\-ehiques“. —
Rapporteur : M. Sanchez Herren».
3. „Centre de projection et d’association clans le
c cTveau selon les determinations de l’anatomic
pathologique actuellc“. — Rapporteur: M. Bi-
anchi (Naples).
4. „Etüde cliniquc de Tagnoscic et de l’asymbo-
lie“. — Rapporteur: M. Simarro y Laeabra.
5. „Delimitation de la nature pathologique du
delit“. — Rapjxuteurs: MM. Rafael Salillas,
Morsclli (Genes).
6. „De l’intcrvention de la psychiatric dans le
traitement reformateur des delinqunnts“. —
Rappi »rtcurs : MM. Alonso Martinez, Lombroso
(Turin).
Communication.
Mr. le Dr. Etiennc Skaiski (Vouvant): „L’eflfet
crelectro-magnetisme animal“.
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444 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 30.
Referate.
— V. C o n g r e s intern a t i o n a 1 d’anthro-
p o 1 og i e c r i m i n e 11 c. Amsterdam 9. — 1.9 Sep¬
tember 1901. (Fortsetzung.)
G au ekler (Jurist, Nancy) verlangt die Trennung
der Maassregeln, die zur Strafe dienen, von denen,
die die Besserung des Delinquenten zum Zwecke
Italien. Die Entscheidung, ob Strafe oder Bessi?%
rungsmittel angewendet werden sollen, soll dem Richter
überlassen werden.
Morel (Muns): Prophylaxe und Behandlung der
Gewohnheitsverbrecher. Sie gehören meist zur Klasse
der Degenerirten und Imbecillcn. Viele werden
durch das Milieu, in dem sie aufgewachsen sind, zu
Gewohnheitsverbrechern. Die meisten Verbrecher
fallen auf das 18. — 30. Lebensjahr. Diese Minder-
werthigen müssen in besondern nach medizinisch-
pädagogischen Gesichtspunkten geleiteten Anstalten
erzogen und zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft
herangebildet werden. Die Strafe, als Rache für
verübte Missethaten, hat bei den Minderwertigen
keinen Sinn, an ihre Stelle tritt besser die Erziehung.
Sighele (Rom) bespricht die Psychologie der
Verbrecher zu zweien und mehr: Couple criminel,
associations des malfaiteurs, sccte criminelle, foule
criminelle. Schon bei einem zu zweit verübten Ver¬
brechen sieht man, dass der eine der Führende, der
andre der Geführte ist. Darnach ist die Verantwort¬
lichkeit zu beurthcilen. Beim Gcmeinschaftsvcrbrechen
ist die Schuld des einzelnen, je nach den Umstän¬
den , schwerer oder milder zu beurtheilen als beim
Einzel verbrec hen, z. B. wird beim vorher gemein¬
sam berathenen Verbrechen die Schuld des einzelnen
sich vergrössem, während bei plötzlichen Erregungen
der Massen sich auch der Beste zum Verbrechen
hinreissen lassen kann, also seine Schuld sich ver¬
ringert.
Deknatel (Breda) vei langt eine eingehende
Untersuchung der Rekruten auf ihren psychischen
Zustand. Die Einstellung Minderwerthigcr soll thun-
lichst vermieden werden. Desgleichen sind Soldaten
mit verdächtigen Symptomen erst einer genauen Be¬
obachtung zu unterwerfen, ehe man zur Strafe
schreitet.
Dorado (Jurist, Salamanka) fordert die gänz¬
liche Beseitigung der Strafe. An ihre Stelle trete
die Pathologie pedagogique oder Pcdagogie correc-
tionelle. In den Verbrechern hätten wir nur Un¬
glückliche zu sehen. Das Gesetz macht einen Unter¬
schied in der Bestrafung der minderjährigen und
volljährigen Verbrecher. Und doch schwankt das
Grenzjahr zwischen, 14, 10, jo, 21, 25 und 30 Jah¬
ren. Warum nicht weitergehen? Die pädagogische
Behandlung schliesse eine Art Strafe nic ht völlig aus,
wie ja das bei Kindern auch der Fall ist.
Näcke: lieber die Unterbringung geisteskranker
Verbrecher. Da Vf. eine Monographie darüber ge¬
schrieben hat, erübrigt sich hier das Referat.
Steinmetz (Leiden) erörtert den Gewinn, den
das Studium des Verbrechers aus der Ethnologie
ziehen kann. Diese allein entscheidet die Frage, ob
der Verbrecher ein Ucbcrbleibsel des primitiven Men¬
schen ist. Ein Fehler liegt darin, dass wir die Ver¬
brechen bei primitiven Völkern gern von unsrem
Standpunkt aus beurtheilen, statt von ihrem eigenen.
B 011 man (Loosduinen) beschreibt eine in einer
holländischen Baucrnfamilic vorgekommene psychische
Inferti«>n. Die Familienmitglieder waren bei stet,
j»Hegten übertriebene religiöse Uebungcn, lasen Trac-
tätrhen voll scheusslich-höllischer Phantasiegebilde
und machten Influenza durch. Ein Bauer wurde
verrückt, hallurinirte und verübte einen Mord, weil
er den Satan töten müsste. Seine nähere und fernere
Umgebung glaubte fest an die Sendung des Bauern-
Messias, bis alle mehr oder weniger verrückt ge¬
worden waren.
Piepers (Jurist, Nicderl.-Indien) sieht in der
Entwicklungshemmung des Altruismus die Ursache
des Verbrechens. Das Pathologische beim Verbrecher,
seine Heredität, seine Degeneration, sind nur acci-
dentelle Faetoren. Auch erworbene pathologische Zu¬
stände, z. B. nach Trauma und Vergiftung, können
dieselbe Wirkung haben, nämlich die altruistischen
Gefühle ersticken.
Tenchini (Parma) hat eine Anomalie entdeckt,
nämlich einen lamellenartigen Fortsatz, der, vom vor¬
dem Rand des jugum sphenoidale abzweigend, auf
eine mehr oder weniger weite Strecke den Orbital -
thcil des Stirnbeins bedeckt, so dass die Bogen der
Orbitalhöhlen fast verdoppelt sind : Lamina orbitalis
des Praesphenoids. Vf. untersuchte ca. 1200 Schädel
bei Normalen, Verbrechern, Geisteskranken u. Affen.
Die Anomalie fand sich häufiger bei Degenerirten
und besonders bei denen, die mehrere Degenerations¬
zeichen aufwiesen. Vf. sieht darin einen Rückschlag.
W e 11 e n b c r g h (La Haye) plädirt dafür, die
Greise, die ein Verbrechen begangen haben, auf
ihren geistigen Zustand zu untersuchen. Nach ihm
beginnt das Greisenalter mit 70 Jahren. Um diese
Zeit nimmt die Widerstandsfähigkeit ab. Begeht da
jemand, der vorher unbesc holten war, ein Verbrechen,
so ist seine Zurechnungsfähigkeit fraglich, selbst wenn
keine eigentliche Psychose vorliegt. *897 waren
unter 10000 Greisen 3 verbrecherische. Meistens
sind's Sittlichkeitsverbrechen. (Fortsetzung folgt.)
Ganter.
Personalnachricht.
— Sanitätsrath Dr. Bartels, Besitzer des Cur-
hauscs für Nervenkranke „Villa Friede“ in Ballenstedt
a. Harz, hat sich als Nervenarzt in Hameln nieder¬
gelassen.
Hofrath Professor Freiherr von Kraf ft-Ebing
ist gestern in Graz an den Folgen von Neuralgie
und Nierenleiden im Alter von 62 Jahren ge¬
storben.
1‘iir den i edactionel len iheil veiantwoitiu li : Oberarzt ] )r. J . 1» r e s U- r , Krasc.hnit/. (Sch csien).
Krscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. WolfF) In Halle a S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. •
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schnitze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice -Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien i.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. .v
Telegr.-AdreMC: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 40 . 3- Januar. 1903 .
Die Psychiatrisch-Neurolo gische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
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Inserate werden für die 3spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Material zu § 1569 B. G. B. Nr. 14 (S. 445). — Mittheilungen (S. 449). — Referate (S. 453). —
Personalnachrichten (S. 455). — Entgegnung auf die Erwiderung des Herrn Prof. Dr. Pick. Von Dr. Pfausler (S. 455).
Material zu § 1569 B. G.-B.
(Nr. 14.)
J n Sachen der Fleischermeisterfrau Marie B. geh. F.
zu K., Klägerin und Berufungsklägerin, gegen
ihren entmündigten Ehemann, den Fleischermeister
Ludwig B. zu K., zur Zeit in der Irrenanstalt K., ver¬
treten durch den Fleischermeister K. zu M. als Pfleger,
Beklagten und Berufungsbeklagten, in der Berufungs¬
instanz wegen Scheidung der Ehe, hat der dritte
Civilsenat des Königlichen Oberlandesgerichts in
Königsberg auf die mündliche Verhandlung vom
3. Februar 1902 für Recht erkannt:
Das Urtheil der zweiten Civilkammer des Königl.
Landgerichts zu K. vom 26. Februar 1901 wird
dahin abgeändert:
Die Ehe der Partheien wird geschieden. Die
Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auf¬
erlegt.
Thatbestand.
Partheien sind seit dem 24. Öctober 1877 mit
einander verheirathet. Aus der Ehe sind 2 erwachsene
Kinder am Leben.
Beklagter ist durch Beschluss des Amtsgerichts zu
K. vom 5. November 1894 wegen Geisteskrankheit
entmündigt.
Klägerin verlangt wegen der Geisteskrankheit des
Beklagten die Scheidung der Ehe. Der Vorderrichter
hat die Klage abgewiesen. Er erachtet die geistige
Gemeinschaft zwischen den Partheien nicht als auf¬
gehoben, da nach dem Gutachten des vernommenen
Sachverständigen, des Directors der Provinzial-Irren-
anstalt K. Dr. S., Zustände von Verwirrtheit bei dem
Beklagten in der Irrenanstalt nie beobachtet worden
sind, sein Gedächtniss unversehrt geblieben ist, er
sich auf alle Einzelheiten seines Lebens genau zu
besinnen weiss und er das Verständnis und Interesse
für seine Familienangelegenheiten keineswegs verloren
habe. Dies gehe auch aus einem Briefe des Be-
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HARVARD UNIVERSITY
44ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 .
klagten vom 25. October 1900 hervor, in welchem
er der Klägerin zum Geburtstag gratulirt, sich über
Vernachlässigung beklagt und um ihren Besuch bittet.
In zweiter Linie hält der Vorderrichter nicht jede
Aussicht auf Wiederherstellung der Gemeinschaft für
ausgeschlossen, weil der Sachverständige die Krankheit
des Beklagten nur als voraussichtlich unheilbar be¬
zeichnet.
Gegen dieses Urtheil, auf dessen Thatbestand im
Uebrigen Bezug genommen wird, hat Klägerin mit
dem Anträge Berufung eingelegt: unter Abänderung
der Vorentscheidung ihre Ehe zu scheiden.
Für den Beklagten ist in der Berufungsinstanz Nie¬
mand aufgetreten.
Zur Rechtfertigung ihrer Berufung hat Klägerin
vorgetragen:
Schon im Jahre 1803 habe zwischen Partheien bei
dem Landgericht ein Scheidungsprozess geschwebt.
Damals hätten die Zeugen Br. und M. bekundet,
dass Klägerin von ihrem Mann in erheblicher Weise
beleidigt und misshandelt worden sei. Schon damals
habe der Director Dr. S. in einem Attest vom 2. No¬
vember 1892 bescheinigt, dass Beklagter, welcher vom
15. Februar 1889 bis 28. Juni 1892 in der Irren¬
anstalt K. sich aufgehalten habe, mit einem unheil¬
baren, mit organischen Veränderungen verbundenen
Gehimleiden behaftet sei und als gemeingefährlicher
Irrer der Aufnahme in eine Irrenanstalt bedürfe.
Beweis: die Processakten des Landgerichts L. B.
14 93 -
Im Jahre 1891 habe bei dem Amtsgericht B. ein
Entmündigungsverfahren gegen den Beklagten ge¬
schwebt, welches zwar mit der Ablehnung der Ent¬
mündigung geendigt habe. In den Entmündigungs-
akten befinde sich aber ein für die Beurtheilung des
Beklagten wesentliches eidliches Gutachten des da¬
maligen Assistenzarztes an der Irrenanstalt K. Dr. F.
vom 4. November 1891. Dr. F. erkläre unter Anderem :
B. sei hereditär belastet, von früheren Erkrankungen
sei nur bekannt, dass er nach Angaben seiner Frau
wahrscheinlich syphilitisch gewesen sei. Am 19. Sep¬
tember 1888 habe sich zum ersten Male eine Ab¬
normität in seinem Verhalten gezeigt, und sei im
October 1888 in der Innern Klinik zu K. festgestellt
worden, dass Beklagter an der Zuckerkrankheit litt.
Im Januar 1889 habe Beklagter sich von Wahn¬
vorstellungen und Sinnestäuschungen beeinflusst gezeigt,
und in der darauf folgenden Zeit über sehr starkes
Schwindelgefühl, Gleichgewichtsstörungen beim Gehen
und Sehbeschwerden geklagt. Am 15. Februar 1889
sei er in die Irrenanstalt aufgenommen worden; ausser
den vorerwähnten Symptomen konnte hier noch con-
statirt werden, dass die Pupillen sehr träge auf Licht¬
einfall reagirten, dass die Sprache schwerfällig und
langsam war und die Zunge bei einzelnen Silben an-
stiess. In der Nacht habe Beklagter laut mit seiner
Frau und seinen Bekannten gesprochen. In der
Kleidung sei er sehr nachlässig und unsauber gewesen.
Im Uebrigen habe er in der Irrenanstalt behaglich
und zufrieden gelebt.
Am 20. Mai 188g sei er urlaubsweise nach Hause
geschickt worden, habe aber schon nach 4 Wochen
zurückgebracht werden müssen, weil er sein Geschäft
geschädigt und durch Unvorsichtigkeit beim Rauchen
eine Scheune mit der ganzen Roggenernte angeziindet
habe.
In die Anstalt habe er sich ruhig bringen lassen
und sei hier ganz zufrieden, so lange er gut essen
und trinken könne und ihm der Rauchtabak nicht
ausgehc.
Körperliche Symptome seien zur Zeit kaum
demonstrabel.
Beklagter leide jedoch an einer chronischen
Geisteskrankheit, der progressiven Paralyse der Irren.
Bei dieser Art der Geisteskrankheiten könnten so weit
gehende Remissionen eintreten, dass die Kranken dem
unkundigen Laien fast gesund erscheinen; nichts desto-
weniger bleibe die Krankheit bestehen.
Beweis: die Entmündigungsakten des Amtsgerichts
B. E. 2/91.
Im November 1893 sei sodann durch das Amts¬
gericht K. das Entmündigungsverfahren von Neuem
eingeleitet und in demselben die Entmündigung des
Beklagten ausgesprochen worden.
Die in diesen Akten E. 9/93 befindlichen eid¬
lichen Gutachten des Dr. S. und des Dr. L. ergäben
im Wesentlichen Folgendes:
B. sei auf Wunsch seiner Angehörigen am 28. Juni
1892 wieder probeweise aus der Anstalt entlassen
worden, jedoch am 12. Juni 18113 auf Grund eines
Attests des Irrenarztes Dr. St. vom 9. Juni 1803
wieder in die Irrenanstalt aufgenommen worden.
In diesem Attest bescheinige Dr. St., Patient leide an
Paralvsis progressiva luetica, einer unheilbaren Krank¬
heit, die bei zeitweilig scheinbaren Besserungen unter
allen Umständen mit fortschreitender Abschwächung
der geistigen Fähigkeiten, Aufhebung der sittlichen
Empfindungen und Anschauungen und dem Auftreten
organischer Krankheitserscheinungen des Gehirns in
kürzerer oder längerer Zeit zum tötlichen Ausgang
führe. Patient habe während seines Aufenthalts in
der Aussen weit den von seiner Frau erhaltenen Besitz
fast ruinirt. In sinnloser, ganz kritikloser Weise habe
er zu wirthschaften versucht, das Vieh weggeschlachtet,
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 447
sei nach Polen gefahren um Schweine zu kaufen trotz
der Grenzsperre, habe sämmtliche Wirthschafts- und
Fleischereigeräthschaften verkauft, sich Gesellen ge¬
halten, obschon Nichts zu schlachten war, einer Dame
einen Heirathsantrag gemacht und trotz der Anwesen*
heit seiner Frau stets Heirathsannoncen in die Zeitungen
setzen lassen, um sich Geld zu verschaffen, endlich
seine Frau unaufhörlich mit geschlechtlichen Atten¬
taten verfolgt, obschon er ganz impotent war. Einem
Schwager habe er wiederholt Geld entwendet.
Es stehe mit Sicherheit zu erwarten, dass er die
letzten Subsistenzmittel für seine Familie vergeuden
und mit dem Strafgesetzbuch in Conflict kommen
werde.
Patient sei demgemäss in hohem Mnasse gemein¬
gefährlich und seine sofortige Ueberführung in eine
Irrenanstalt dringend nothwendig.
Im Anschluss an dieses Attest des Dr. St. erklärten
Dr. S. und Dr. L.:
Seit der Wiederaufnahme des Patienten sei in
seinem Befinden keine wesentliche Aenderung einge¬
treten.
Die Innervation der Gesichtsmuskulatur sei eine
schlaffe, die linke Pupille sei, — aber nicht ganz
regelmässig — weiter, als die rechte, beide reagiren
träge bei Lichteinfall, die Sprache biete bei genauer
Beobachtung deutliches Häsitiren.
Das Vorhandensein eines mit organischen Ver¬
änderungen des Gehirns einhergehenden Leidens sei
durch die Lähmungserscheinungen der Gehimnerven
wissenschaftlich bewiesen. Das Leiden bietet einen
aussergewöhnlich schleichenden Verlauf. Die psy¬
chischen Degenerationserscheinungen treten im gere¬
gelten Anstaltsleben weniger in die Erscheinung, als
sie zweifellos sich zeigen würden, wenn B. gezwungen
wäre, den Kampf um seine Existenz ohne Ueber-
wachung und Schutz aufzunehinen. Die vorhandene
geistige Schwäche lasse sich einem Laien nicht, wie
ein Rechenexempel vordemonstriren; die ärztliche
Ueberzeugung beruhe auf langer Beobachtung.
B. sei an einem schleichenden Gehimleiden er¬
krankt; Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besse¬
rung bestehe nicht. B. sei nicht im Stande, die
„Folgen seiner Handlungen zu überlegen“.
Klägerin trägt sodann im Wesentlichen in Ueber-
einstimmung mit vorstehenden Aeusserungen der Aerzte
die ganze Krankheitsgeschichte des Beklagten nach
Massgabe des hierdurch in Bezug genommenen Schrift¬
satzes vom 22. Juni 1901 vor, benennt Zeugen für
die in den Gutachten der Aerzte erwähnten, durch
die Unzurechnungsfähigkeit des Beklagten veranlassten
Handlungen, eine vorsätzliche Brandstiftung, einen
schweren Gelddiebstahl, die sinnlosen geschäftlichen
Maassnahmen, die schamlosen, geschlechtlichen Atten¬
tate, das unvernünftige Benehmen des Beklagten,
stellt ferner unter Beweis, dass sie in Folge der
durch das Zusammenleben mit dem Beklagten
ihr verursachten Gemüthsbewegungen vorübergehend
die Sprache verloren habe, und benennt ferner den
Arzt Dr. B. hier als Zeugen und Sachverständigen
dafür, dass auch eine Schwester und ein Bruder des
Beklagten geisteskrank seien und er mit Geisteskrankheit
erblich belastet sei.
Ueber die vorstehenden Behauptungen der Klä¬
gerin hat nach Maassgabe des Beweisbeschlusses vom
24. Juni 1901 Beweisaufnahme stattgefunden durch
Vernehmung der vorgeschlagenen Zeugen, welche im
Wesentlichen die Behauptungen der Klägerin bestätigt
haben.
Wegen des näheren Inhalts der Zeugenaussagen
wird auf die protocollarischen Feststellungen des Amts¬
gerichts B. vom 17. September und 22. October iqoi,
des Amtsgerichts L. vom 2. October 1901, des be¬
auftragten Richters des Berufungsgerichts vom 2. No¬
vember 1901 Bezug genommen. Dr. B. hat insbe¬
sondere bestätigt, dass er eine Schwester des Beklagten,
Frau B., längere Zeit an ausgesprochener Geisteskrank¬
heit behandelt habe, diese auch später in die Irren¬
anstalt A. gebracht worden sei, dass er ferner bei der
ärztlichen Behandlung der Frau B. erfahren habe,
dass ein in Berlin lebender Bruder ein Trunkenbold
und zu Gewalttätigkeiten geneigter Mensch sei, end¬
lich dass der Vater des Beklagten im Rufe eines sehr
jähzornigen Mannes gestanden habe, während die
Mutter eine Trinkerin gewesen sei.
Dr. B. gelangt hiernach zu der wissenschaftlichen
Ueberzeugung, es bestehe ein hoher Grad von Wahr¬
scheinlichkeit dafür, dass der Beklagte mit der Neigung
zur Geisteskrankheit erblich belastet sei.
Demnächst ist der Director Dr. S. nochmals als
Sachverständiger eidlich vernommen worden und hat
unter ausdrücklicher Bezugnahme auf sein erstinstanz¬
liches Gutachten hinsichtlich der Antecedentien, in
welchem er sich dem oben wiedergegebenen Gutachten
des Dr. F. anschliesst und seine in Gemeinschaft mit
Dr. L. in der K.'ger Entmündigungssache abgegebenen
Gutachten, deren wesentlicher Inhalt bereits dargestellt
ist, aufrecht erhält. Folgendes erklärt:
Die Krankheit des Beklagten habe in jüngster
Zeit geringe, aber deutlich erkennbare Fortschritte
gemacht; insbesondere trete die Sprachstörung neuer¬
dings stärker und deutlicher hervor. Daraus müsse
der Schluss gezogen werden, dass das der Geistes¬
krankheit zu Grunde liegende schleichende Leiden
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
448
des Gehirns und seiner Häute an Ausdehnung und
Intensität zugenommen habe. Nach den bestehenden
Erfahrungen sei daher bei Lage des Falls eine Heilung
oder wesentliche Besserung der Geisteskrankheit des
B. ausgeschlossen.
Dem Beklagten fehle das Verständniss für seine
Lage und seine Pflichten der Ehefrau gegenüber und,
wenn seine Frau auf geistige Mitarbeit und gemein¬
same geistige Thätigkeit rechne, so würde sie ver¬
gebens rechnen.
Der eigentliche Zweck des Briefes, in dem Be¬
klagter seiner Frau zum Geburtstage gratulirt habe,
sei in erster Linie die Wiedererlangung der Freiheit,
— in zweiter Linie die Erlangung von Genussmitteln
resp. der dazu nothwendigen Gelder gewesen.
Für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse
hätten auch geistig tief stehende Personen oft ein
erhebliches Verständniss. Das Bewusstsein gemein¬
schaftlich bestehender Interessen fehle dem Beklagten.
In Bezug auf die Scheidung habe Beklagter seine
Ansicht plötzlich geändert; er wolle jetzt auch ge¬
schieden sein, — mit der Motivirung, dass seine Frau
ihn zu Unrecht in die Irrenanstalt gebracht und immer
vernachlässigt habe.
Ersteres sei unrichtig, letzteres nur in beschränktem
Maasse richtig.
Dass die Frau den Beklagten nicht besuchte, sei
begreiflich, da die unausbleiblichen Eindrücke und
heftigen Scenen das Befinden der äusserst nervösen
Frau ungünstig beeinflussten.
Die Wiederkehr des Bewusstseins der gemein¬
schaftlich bestehenden Interessen sei gleichfalls aus¬
geschlossen.
Das Beweisergebniss ist vorgetragen worden und
war hiernach, wie geschehen zu erkennen.
E n tsch ei d un gs g r ü n d e.
Bei Feststellung des Grades, welchen die Geistes¬
krankheit des Beklagten erreicht hat, darf nicht blos
das gegenwärtige, äussere Verhalten des Beklagten in
Betracht gezogen werden, wie es sich unter dem Ein¬
fluss des längeren Aufenthaltes in der Irrenanstalt
entwickelt, da das behagliche Leben in der Anstalt
das Befinden des Kranken günstig beeinflusst, in der
Anstalt auch wenig Anreiz und Gelegenheit zu augen¬
fälligen Excessen gegeben ist.
Das Verhalten des Beklagten ausserhalb der Irren¬
anstalt war, wie auf Grund der Aussagen der ver¬
nommenen Zeugen als erwiesen anzusehen ist, ein
derartiges, dass er trotz wiederholter Beurlaubungen
immer wieder in die Anstalt zurückgebracht werden
musste.
[Nr. 40.
Auf Grund der Bekundungen der Zeugen T. und
Wittwe K. muss für erwiesen angesehen werden, dass
Beklagter unter dem Einfluss seiner geistigen Erkrankung
eine Scheune mit Vorräthen vorsätzlich in Brand ge¬
setzt hat.
Die Aussage des Fleischers B. ergiebt, dass Be¬
klagter, während er aus der Irrenanstalt beurlaubt
war, wiederholt Geld gestohlen hat.
Aus der Bekundung der Zeugin N. geht hervor,
dass Beklagter die Klägerin vielfach misshandelt hat.
Nach der T.’schen Aussage hat Beklagter in un¬
sinniger Weise gcwirthschaftet, in Abwesenheit seiner
Frau alles Vieh geschlachtet, — sämmtliches lebende
und todte Inventar verkauft.
Die Zeugin H. hat glaubhaft erfahren, dass Be¬
klagter einem Fräulein einen Heirathsantrag gemacht
hat.
Das gesammte Verhalten des Beklagten, so lange
er in Freiheit war, war ein derartiges, dass Klägerin
damals zu verschiedenen Zeugen geäussert hat, sic
habe Angst, mit ihrem Manne zusammen zu leben,
„er könne sic alle in der Nacht abschlachten“.
Die Klägerin hat offenbar in Folge der durch
das Zusammenleben mit dem Beklagten veranlassten
häufigen Geinüthsbewegungen Sprachstörungen erlitten
und eine Zeit lang gestottert.
Beklagter befindet sich jetzt seit Juni 1893 dauernd
in der Irrenanstalt Kürtau. Nach dem erstinstanzlichen
Gutachten des Dr. S. war seit jener Zeit eine wesent¬
liche Veränderung in dem Befinden des Beklagten
nicht eingetreten; die Lähmungserscheinungen waren
sogar „theils ganz verschwunden, theils erheblich zurück¬
gegangen“.
Ö o O
Nach dem letzten S.’schcn Gutachten tritt aber
jetzt die Sprachstörung wieder stärker und deutlicher
hervor und ist hiernach wieder eine Zunahme der
Gehirnkrankheit des Beklagten anzunehmen. Der
gesammte Zustand des Beklagten ist daher gegen¬
wärtig als ein solcher anzusehen, dass dem Beklagten
das Verständniss für das sittliche Wesen der Ehe
abhanden gekommen ist, —- dass ihm das Bewusstsein
der mit der Ehe verknüpften sittlichen Reihte und
Pflichten fehlt.
Der Brief des Beklagten, in welchem er seiner
Frau zum Geburtstag gratulirt, ist wesentlich durch
das Bestreben veranlasst, hierdurch Genussmittel zu
erlangen und steht daher den vorstehenden Fest¬
stellungen nicht entgegen.
Nach dem aus dem ärztlichen Gutachten ersicht¬
lichen Character der Krankheit und ihrer langen
Dauer, der ständigen, wenn auch langsamen Ver¬
schlimmerung, der durch dieselbe verursachten Zer-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
449
1903.]
Störung der sittlichen und intellectuellen Urtheilskraft
des Beklagten muss daher festgestellt werden, dass
die Krankheit des Beklagten einen solchen Grad
erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen
den Parteien aufgehoben ist (cfr. Jur. Wochenschrift
1901 S. 279).
Da das Leiden des Beklagten, hervorgerufen durch
eine erbliche Belastung mit der Neigung zu Gehirn¬
krankheiten, mit anatomischen Veränderungen eines
Theils der Gehimsubstanz verknüpft ist und in den
mehr als zwölf Jahren seines Bestehens, wenn auch
schleichend, Fortschritte gemacht hat, tritt der Senat
M i t t h e i
— Psychiatrischer Verein zu Berlin. Sitzung
vom 13. December 1902. Der Vorsitzende, Herr
Moeli, widmet bei Beginn der Sitzung den verstor¬
benen Mitgliedern Dr. Kaplan-Herzberge, Sanitätsrath
Dr. Wulffert-Berlin und Geheimen Sanitätsrath Dr.
Fränkel-Dessau einen ehrenden Nachruf.
Herr Juliusburger berichtet alsdann über eine
06 jährige Patientin, welche hereditär belastet, seit
dem 15. Lebensjahr an Krampfanfällen litt und welche
jetzt das Svmptomenbild der originären Paranoia dar¬
bot. Dabei bestand ein retrospectiver Beziehungs¬
wahn, welcher sich nicht an wirklich Erlebtes an-
knüpfte, sondern an Confabulationen.
Herr Boedeker besprach einen schweren Nach¬
theil, welcher durch die behördliche Verfügung seiner
Anstalt zugefügt werde, dass freiwillige Pensionäre
nur in ganz bestimmten Räumen des Hauses unter¬
gebracht werden dürfen. Die Unzweckmässigkeit einer
solchen Bestimmung bedarf keiner weiteren Be¬
sprechung an dieser Stelle. In der sich anschliessenden
Erörterung berichteten drei Besitzer grösserer Privat-
anstaltcn, dass für ihre Anstalten eine solche Ein¬
schränkung nicht bestände.
Herr Locwcnthal bespricht im Anschluss an einen
Specialfall die ministerielle Anordnung, dass bei ge¬
richtlicher Ablehnung der Entmündigung bezw. bei
Aufhebung der ausgesprochenen Entmündigung die
Entlassung aus der geschlossenen Anstalt eintreten
muss. Da bei bestellender Geisteskrankheit ganz be¬
stimmte Voraussetzungen bestehen müssen, um die
Entmündigung auszusprechen, so fehlt thatsächlich
ein innerer Zusammenhang, um die Entlassung in
solchen Fällen zu rechtfertigen. Zu erinnern ist an
Alkoholiker, die sich häuhg in der Anstalt schnell
bessern, an Melancholiker, bei denen die Entmün¬
digung häufig nicht ausgesprochen werden kann. In
der Discussion weist Moeli auf den Rechtsweg in
solchen Fällen hin, indem einmal im Wege der Be¬
schwerde der Beschluss angefochten werden kann,
oder der Staatsanwalt von neuem anzurufen ist.
Guck räth, bei zweifelhaften Fällen solle der Sach¬
verständige das Verfahren auf 6 Monate aussetzen
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dem Gutachten des Sachverständigen auch darin bei,
dass es nach den bestehenden Erfahrungen als un¬
heilbar anzusehen ist.
Daraus folgt, dass auch jede Aussicht auf Wieder¬
herstellung der durch die Krankheit aufgehobenen
geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Die Voraus¬
setzungen der Scheidung, welche § 1569 B. G.-B.
erfordert, liegen somit vor.
Demnach war, unter Abänderung der Vorent¬
scheidung, wie geschehen, zu erkennen.
Die Entscheidung des Kostenpunkts beruht auf
§ 19 C.-P.-O.
1 u n g e n.
lassen. Es trete dann auch schon eine vorläufige Vor¬
mundschaft ein und die Entlassung aus der Anstalt
sei nicht nöthig.
Herr Reich-Herzberge hat 44800 Anfälle bei
hunderten von Epileptikern in der Anstalt Wuhlgartcn
nach verschiedenen Richtungen gruppirt und die
Häufigkeit der Anfälle mit den meteorologischen Fac-
toren im Verlaufe von 4 Jahren verglichen. In Be¬
tracht wurden Temperatur, Barometerstand, Bewölkung,
relative Feuchtigkeit, Niederschläge, Gewitter gezogen.
Die Zusammenstellung ergab, dass absolut kein Ein¬
fluss der Witterungsverhältnisse auf die Häufigkeit der
Anfälle zu finden war. Waldschmidt machte darauf
aufmerksam, dass er früher Gelegenheit gehabt habe,
zu beobachten, dass eine Mehrung der Anfälle auch
von Blutungen bei starker negativer Electrizität der
Luft stattgefunden habe. Ascher.
— Stuttgart. Zum Fall Münch. Dem wegen
seiner Processe und Excessc und wegen des merk¬
würdigen Streits über seinen Geisteszustand in den
letzten Jahren vielgenannten Freiherrn Oskar v. Münch
(früher Mitglied des Reichstags) ist eine angenehme
Weihnachtsbotschaft zu theil geworden. Der heutige
„Staatsanzeiger“ verkündet nämlich: Die polizeiliche
Einweisung des Freiherrn v. Münch in eine württem-
bergische Irrenanstalt ist nunmehr durch Erlass der
k. Kreisregierung in Reutlingen aufgehoben worden,
nachdem die frühere Anordnung seiner Begleitung
durch einen Wärter bei seinem Aufenthalt in Württem¬
berg schon seit einigen Monaten in Wegfall gekommen
war und sein Verhalten in neuerer Zeit keinen Grund
mein zu der Befürchtung einer gemeingefährlichen
Betätigung seiner Persönlichkeit gegeben hat.
— Am 24. December waren 25 Jahre verflossen,
seitdem der bekannte Nervenarzt Dr. Ludwig Hirt
zum ausserordentlichen Professor an der medicinischen
Facultät der hiesigen Universität ernannt wurde. Be¬
vor sich Dr. Ludwig Hirt der academischen Lehr¬
tätigkeit zuwandte, war er bereits längere Zeit als
practischer Arzt tätig gewesen. Nach seiner am
3. Juni 1871 erfolgten Habilitation beschäftigte er sich
Original from
HARVARD UNIVERSUM
450 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40.
zunächst ausschliesslich mit Hygiene. Seine Vorles¬
ungen, die vorzugsweise für Studirende aller Fakul¬
täten gehalten wurden, erfreuten sich zu einer Zeit,
wo die Gesundheitspflege überhaupt noch nicht als
selbständige Wissenschaft anerkannt wurde, eines
ausserordentlichen Zuspruchs. Während 15 Jahren
war Hirt Commissarius in der medieinischen Staats¬
prüfung für Aerzte. Die Publication eines grossen
Werkes über die Krankheiten der Arbeiter, welches
1871 — 1878 in 4 Bänden erschien, wurde von der
Kritik als bahnbrechend bezeichnet und machte den
Verfasser zum Hauptbegründer aller modernen, auf
den Arbeiterschulz hinzielenden Bestrebungen. Diesem
Werke verdankte Hirt, nachdem sich eine Berufung
als Ordinarius nach Utrecht zerschlagen hatte, seine
frühe Ernennung zum ausserordentlichen Professor.
Seit anfang der 80er Jahre wandte sich Hirt dem
Gebiete der Neurologie zu und veröffentlichte ausser
zahlreichen kleineren Abhandlungen ein werthvolles
Handbuch der „Pathologie und Therapie der
Nervenkrankheiten“, welches in Deutschland in
mehreren Auflagen erschien und gleichzeitig ins Fran¬
zösische, Englische und Italienische übersetzt wurde.
Vom Magistrat schon vor 17 Jahren zum dirigirenden
Arzte der städtischen Armenhäuser erwählt, bekleidet
der Jubilar noch heute dieses Amt und vermag seiner
ausgedehnten ärztlichen Thätigkeit nach allen Richt¬
ungen hin noch in erfreulicher Weise Rechnung zu
tragen.
— II. Landes -Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc-
tober 1902, Nachm.)
Vorsitzende: L. Tolle, später A. Rozsaffy.
Schriftführer: E. Nemeth, S. T e k e p d y.
Der Vorsitzende meldet, dass Karl Lechner im
Anschlüsse an seinen heute Vormittags gehaltenen Vor¬
trag dem Landes-Congresse der Irrenärzte folgenden
Antrag vorlegt:
Der Congress der Irrenärzte entsende eine Com¬
mission , deren Aufgabe es sei, eine gesellschaftliche
Action gegen die in meiner Arbeit geschilderten
socialen Uebel einzuleiten, schon bestehende, der¬
artige Bestrebungen zu unterstützen und in allen
derartigen Institutionen dem sachverständigen Arzte
den nöthigen Einfluss zu sichern.
Der Congress nimmt den Antrag an.
Tagesordnung.
3. Die Unterbringung irrer Verbrecher.
Ref. Emst Emil Moravcsik.
Die Geisteskranken, welche mit der gesellschaft¬
lichen Ordnung in Conflict gerathen, müssen in zwei
Gruppen unterschieden werden: 1. Verbrecherische
Irren (criminels alienes) und 2. irre Verbrecher (alienes
criminels). Nach der detaillirten Ausführung dieses
Satzes schildert M. die verschiedenen Methoden,
Welche in den verschiedenen Ländern bei der Unter*
bringung von irren Verbrechern (geisteskrank gewordene
Verbrecher) gebräuchlich sind. Diese Geisteskranken
werden untergebracht: 1. in eigenen Central-Anstalten,
2. in solchen Irrenanstalten, in welchen auch andere
Geisteskranke aufgenommen werden, a) unter diese
Kranken vertheilt, b) von diesen Kranken abgesondert
auf eigenen Abtheilungen oder in eigenen Gebäuden;
3. in Adnexen der verschiedenen Gefangenenhäuser.
Selbst diejenigen, welche leugnen, dass eine strenge
Absonderung von irren Verbrechern unbedingt notli-
wendig ist, müssen — w’enn auch in einer anderen
Form — die Nothw'endigkeit der Separation aner¬
kennen; Moravcsik ist der Ansicht, dass die neben
Gefangenenhäusern errichteten, allen psychiatrischen
Anforderungen entsprechenden Beobachtungs- und
Irrenheilanstalten den Vorzug vor allen anderen An¬
stalten verdienen. Der Leiter dieser Anstalten muss
natürlich ein Psychiater sein und soll in seiner Fach-
thätigkeit vollkommen selbständig und unbeeinflusst
bleiben. In solche Anstalten sollen sowohl Unter¬
suchungs-Häftlinge behufs Untersuchung ihres Geistes¬
zustandes als schon verurtheilte irre Verbrecher gebracht
werden. Letztere sollen so lange hier bleiben, bis sie
gesund gew'orden sind oder bis ihre Strafzeit abge¬
laufen ist. Der Vortragende giebt hierauf eine ein¬
gehende Schilderung der Beobachtungs- und Irren¬
heilanstalt, welche neben dem Budapester königl.
Sammelgefängnisse errichtet wurde. Er schildert die
Verhältnisse, die Einrichtung, die Organisation dieser
Anstalt und äussert sich im Tone der wärmsten An¬
erkennung über ihre Thätigkeit.
D isc ussion.
Szigeti glaubt, dass besondere Irrenanstalten
dennoch angezeigt wären, denn in solchen kämen
Verdächtigungen des Gutachtens der Sachverständigen
seitens einzelner Richter weniger zur Geltung. Der
heutige administrative Vorgang, demgemäss die ver¬
brecherischen Irren im Irrenhause beobachtet werden,
hierauf bis zur richterlichen Constatirung ihrer Geistes¬
krankheit wieder zurück ins Gefängniss wandern, um
von dort nachher wieder ins Irrenhaus zurückzukehren,
ist ein ganz unzweckmässiger; es wäre viel angezeigter
und einfacher, die Kranken gleich in der Beobachtungs-
Anstalt zu belassen.
Mulnar bestätigt auf Grund eigener Erfahrungen
alles, w r as Szigeti vorbrachte.
Moravcsik: Dass ein in der Anstalt beobachtetes
Individuum in dieser Anstalt nicht zurückgehalten
werden kann, beruht auf den bezüglichen Verfügungen
der Strafprocess - Ordnung und einer diesbezüglichen
Ministerial-Verordnung, nach welcher die Dauer der
Beobachtung die Zeit von zwei Monaten nicht über¬
schreiten darf. Diese Verfügung hat ihre guten
Gründe. Gelangt ein Individuum unter Beobachtung
und constatirt der Arzt die Geisteskrankheit, so ist
der Gerichtshof nicht gezwungen, das Gutachten des
Arztes zu acceptiren; der Betreffende wird nur von
dem Augenblicke an als geisteskrank betrachtet, in
welchem seine Geisteskrankheit richterlich festgestellt
wurde. Die Ministerial - Verordnung war übrigens so
vorsichtig, auch an solche Fälle zu denken, in welchen
die Geisteskrankheit prägnant und in störender Form
zum Ausdrucke kommt; in solchen Fällen verständigt
die Leitung der Anstalt den Gerichtshof und der
Kranke bleibt, so lange der Richter keine anderweitige
Verfügung trifft, in der Anstalt. M. selbst wünscht,
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Gov gle
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
»9°3-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
45 i
dass irre Verbrecher und habituelle Uebelthäter im
Institute verbleiben.
4. Der Rechtsschutz der Geisteskranken.
Ref. Eugen Konrad.
Der Vortragende beschäftigt sich hauptsächlich mit
dem Rechtsschutze der persönlichen Freiheit der
Geisteskranken, mit den eherechtlichen Fragen der¬
selben und mit den einzelnen Graden der rechtlichen
Handelns- und Entschliessungsfähigkeit der Irren. Die
Grundlage dieser Ausführungen bildet der Entwurf
des ungarischen allgemeinen Gesetzbuches über das
bürgerliche Recht.
Vom Standpunkte des Schutzes der persönlichen
Freiheit aus genügt es nicht, dass die Geisteskrankheit
des in eine Irrenanstalt aufgenommenen Kranken
richterlich constatirt werde, sondern es ist unbedingt
nothwendig, dass die Untersuchung auch darauf aus¬
gedehnt werde, ob die Zurückhaltung des Kranken
in der Anstalt unbedingt nothwendig ist. Ja es wäre
sogar zu fordern, dass der Gerichtshof auch auf die
zeitliche Dauer und Wirkung seines Urtheiles bedacht
sei, die Irrenanstalt durch den Rechtsspruch also
eigentlich nur dazu Berechtigung erhielt, den Kranken
je nach seinem Zustande eine bestimmte Zeit hindurch
in der Anstalt zurückzuhalten. Die practische Aus¬
führung ist auf Grund des neuen ungarischen bürger¬
lichen Gesetzbuches ganz gut möglich. Das Bestreben
des neuen bürgerlichen Gesetzbuches, dem Geistes¬
kranken Rechte zu erhalten und zu retten und Grade
der privatrechtlichen Entschliessungs- Fähigkeit des¬
selben festzustellen, ist wärmstens zu begrüssen. Die
aufgestellten Symptomencomplexe und Typen halten
jedoch der psychiatrischen Prüfung nicht Stand und
werden den Sachverständigen, falls die Bedeutung der
einzelnen Symptome nicht genauer fixirt wird, noch
manche Schwierigkeit bereiten.
Unser Eherecht schiesst im Rechtsschutze der
Geisteskranken weit über das Ziel hinaus, denn es
erkennt die Geisteskrankheit nicht als Scheidungsgrund
an. Der deutsche Standpunkt, welcher überall dort,
wo seelische Gemeinschaft unmöglich geworden ist,
die Scheidung gestattet, ist gerechter und entspricht
auch viel besser den practischen Bedürfnissen. Unser
heutiges psychiatrisches Fachwissen gestattet uns po¬
sitiv festzustellen, ob seelische Gemeinschaft mit dem
Kranken oder ob Heilung desselben noch möglich
ist oder nicht.
Discussion.
Ministerial-Secretär v. S z a s z y ersucht, dass der
Vortrag in toto der Commission, welche den Entwmrf
des bürgerlichen Gesetzbuches vorbereitet, zu Studien-
zwecken überlassen werde. In merito bemerkt Sz.
nur, dass zwischen der Begründung des § 7 und §
916 und zwischen den folgenden §§ kein Widerspruch
besteht. Nach § 7 ist sowohl der Geisteskranke als
der Geistesschwache unter Vormundschaft zu stellen;
§ 929 fordert, dass bezüglich der Fähigkeit, einen
rechtsgültigen Contract abzuschliessen, zwischen Geistes¬
kranken und Geistesschwachen graduelle Unterschiede
gemacht werden.
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5. Karl Decsi: Die Wärterfrage.
Decsi schildert jene gesteigerten Anforderungen,
welche die Errungenschaften der modernen Psychiatrie
und die freie Behandlung der Geisteskranken an
Körper und Geist der Irren Wärter stellen. Dennoch
werden diese Wärter nicht genügend entlohnt; ihre
Wohnung ist schlecht, sie werden schlecht bezahlt;
sie können keine Familie gründen, denn ihre Zukunft
ist eine ungewisse. Die Folge dieser Zustände ist
der stete Wechsel im Personale der W'ärter und eine
hochgradige Verschlechterung der Qualität des Warte¬
personals ; die Wärtermisere wird durch statistische
Daten, welche sich auf vaterländische und ausländische
Zustände beziehen, bewiesen. Hierauf folgt eine Be¬
sprechung der Methoden, durch welche diese Uebel-
stände abzuschaffen wären. Empfohlen wird eine
Verbesserung der Gehalts- und Wohnungszustände,
eine Regelung der Pensionsfähigkeit, die Colonisirung
der Wärter, damit dieselben Familien gründen und
erhalten können. Man sichere die Zukunft des
Wärters und gebe ihm Gelegenheit, durch Curse und
systematische Vorträge sein Fachwissen zu erweitern.
Nach einer kritischen Betrachtung unserer Zustände
empfiehlt Decsi, der Congress möge zum Studium der
heimischen Verhältnisse auf diesem Gebiete eine
eigene Commission entsenden.
Discussion:
O I ä h : Er habe vor einigen Jahren wiederholt
versucht, durch Gehaltsverbesserung, durch systema¬
tischen Unterricht und Anstellung intelligenterer In¬
dividuen ein besseres Wartepersonal zu erhalten; doch
blieben diese Versuche erfolglos. Die vorzüglichsten
Wärter sind die barmherzigen Schwestern. Für den
Wärter ist die Möglichkeit, eine Familie zi* gründen,
bei uns nur auf der Abtheilung Prof. Moravcsik’s
gegeben. Auch diese Einrichtung erwies sich als un-
zweckmässig.
Salgo: Der systematische Unterricht des Warte¬
personales hat die daran geknüpften Erwartungen nicht
erfüllt. Das höhere Gehalt und die Pensionsfähigkeit
haben zwar den Erfolg, dass die Wärter im Dienste
verbleiben, doch ist es durchaus kein Vortheil, ein im
langjährigen Dienste schwach und apathisch gewor¬
denes Wartepersonal zu besitzen. Zweckmässiger
wäre es, dem Irrenw'ärter nach einer gewissen Dienst¬
zeit eine Abfindungssumme zu geben, w r omit er ein
neues Leben beginnen könnte. Am zw'eckmässigsten
w'äre es, anstatt der bisher üblichen 24 stündigen
Dienstzeit eine Dienstzeit von 8 Stunden zu systemi-
siren.
Molnar weistauf die Einrichtung unserer ältesten
Irrenheilanstalt, der Schwarzer’schen Privat-Irrenheil-
anstalt hin. In derselben sind seit 25—30 Jahren
gut versorgte, im Alter pensionirte Wärter angestellt,
deren Dienst in Folge der weisen Zeiteintheilung ein
verhältnissmässig leichter ist.
Fischer bemerkt gegenüber den Ausführungen
Salgo’s, dass der bessere Unterricht des Warteperso¬
nales eine elementare Notliwendigkeit ist. Progressive
Gehaltsaufbesserung und zweckmässige Zeiteintheilung
wären ebenfalls von bestem Erfolge begleitet.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 .
Telegdi wünscht, dass gesetzlich oder auf dem
Verordnungswege festgestellt werde, welches Maximum
von Kranken einem Wärter zugewiesen werden darf.
Wenn die Zahl der Kranken ansteigt, ist es heute nur
auf dem Wege einer langwierigen Procedur möglich,
eine Vermehrung des Wartepersonales durchzusetzen.
Epstein: Es handelt sich darum, dass wir ein
tüchtigeres Wartepersonal erhalten; das werden wir
jedoch durch Verbesserung der Lage dieser Leute,
durch Gehaltsaufbesserung, Pension u. s. w. allein nicht
erreichen können. Zwei Dinge kommen hier in Be¬
tracht.
Erstens soll die Diensteintheilung — w r ie das
Salgo schon bemerkte — eine solche sein, dass der
Wärter seinem Dienste gewissenhaft nachzukommen
im Stande sei und zweitens werde er von solchen
Arbeiten befreit, welche nicht in den Wirkungskreis
eines Krankenwärters gehören. Solche Arbeiten sind
z. B. Aufreiben des Bodens, Reinigung des Zimmers
u. dgl. m. Für diese Arbeiten müssten eigene Leute
angestellt werden.
Raisz: Die Erfahrung lehrt, dass die Lösung der
Wärterfrage von zwei Dingen abhängt. Erstens
müssen wir unser Wartepersonal aus einer gesell¬
schaftlich viel höher stehenden Klasse nehmen, als
wir das bisher gethan haben; zweitens müssen wir
Wärter in genügend grosser Zahl anstellen und sie
ordentlich bezahlen. In letzter Zeit besserten sich
durch die Anstellung der barmherzigen Schwestern
die Zustände ein wenig, doch sind auch diese nur
von relativ besserer Brauchbarkeit. Es ist wichtig,
dass der Wärter von echter Menschenliebe durch¬
drungen sei. Wir müssen bestrebt sein, Individuen,
welche auf einem höheren gesellschaftlichen Niveau
stehen, für den Beruf der Irrenwärter zu gewinnen.
Decsi dankt für die Bemerkungen der Vorredner,
da dieselben seine eigenen Ausführungen ergänzen
und bereichern. Die Verhältnisse in der Schwartzcr’-
schen Heilanstalt sind mit den Verhältnissen in un¬
seren öffentlichen Anstalten überhaupt nicht zu ver¬
gleichen. Während wir dort gute Verhältnisse finden,
sind hier die Verhältnisse die denkbar schlechtesten.
III. Sitzung vom 2 7. Octobcr 1902, Vormittag.
Vorsitzender : Julius R i c k 1 , später Eng. Konrad,
Franz Bir in ger. Schriftführer: Edmund N cm e th,
G. Vernb ac h.
6. Die sexuellen Per v er si tä teil vom psy¬
chiatrischen und strafrechtlichen Gesichts¬
punkte.
a) Ref. Jacob Salgb.
Die perversen Acusserungcn der Geschlechtslust
sind beiläufig ebenso alt, wie der Geschlechtstrieb
selbst. Vollkommen vertrauenswürdige Documente
beweisen, dass es kaum ein Zeitalter gab, welchem die
sexuellen Perversitäten unbekannt geblieben wären.
Diese schriftlichen Ueberlieferungen beweisen, dass die
Perversitäten nicht vielleicht eine Folge der heutigen
decadenten Weltanschauung und der aus dieser her¬
vorgehenden Degeneration des Nervensystems sind,
wie das manche Autoren behaupten und dass sie
auch nicht dem Mangel an Cultur und geistiger Ent¬
wickelung zuzuschreiben sind. Wir wissen, dass in
Rom und in Griechenland zur Zeit der höchsten
Blüthe der Cultur die sexuellen Perversitäten eben
so sehr verbreitet waren, wie bei den Indiern, bei
den allerzurückgebliebensten afrikanischen Stämmen
und anderen ganz ungebildeten orientalischen Völker¬
schaften , welche in diesen Perversitäten nichts
Dehonestiiendes, Unschickliches erblickten. Erst seit¬
dem man begann, sich wenigstens mit dem Anscheine
des wissenschaftlichen Ernstes mit dieser Frage zu
befassen, ei hielt sie Bürgerrecht in ernsten wissen¬
schaftlichen Corporationen und bildet den Gegenstand
intensiver Forschung auf ärztlichem und juridischem
Gebiete.
Ich werde mich natürlich hauptsächlich mit dem
ärztlichen Theile der Frage befassen, die strafrecht¬
lichen Beziehungen meines Themas aber eben nur
berühren.
Wir wissen, dass in neuerer Zeit einige Fachleute
die sexuellen Perversitäten unter dem Namen der
Psychopathia sexualis zusammenfassten. Sie wollten
damit andeuten, dass alle diese Perversitäten einem
pathologischen Geisteszustände entspringen. Zur
Unterstützung dieser Auffassung wurde darauf hinge¬
wiesen, dass die sexuellen Perversitäten gewöhnlich
bei solchen Menschen auftreten, welche auch andere
körperliche und geistige Abnormitäten, sogenannte
„Stigmata“ aufzuweisen haben, welche unter gewissen
hereditären Einflüssen leiden; dass sie auch in diesen
Fällen erst dann auftreten, wenn schon eine gewisse
Degeneration des Nervensystems und der psychischen
Functionen vorhanden ist und dass schliesslich ein¬
zelne Arten der Perversität, namentlich die Homo¬
sexualität den Folgezustand einer angeborenen, also
einem Entwicklungsfehler entspringenden Inversion
der Geschlechtslust darstellen.
Die ethnographischen und andere litterarische
Beweise unterstützen jedoch diese Annahme nicht.
Ich erwähnte schon vorher, dass die Homosexualität
zu jeder Zeit, in jedem Stadium der Entwickelung und
Cultur und an jedem Orte der Erde vorkam und vor¬
kommt und dass wir zwischen Homosexuellen häufig
solchen Individuen begegnen, welche sonst kein Zeichen
irgendwelcher Degeneration an sich tragen. Nichts
beweist aber klarer und unwiderleglicher, dass die
Homosexualität nicht als angeborene Inversion auf¬
zufassen ist, als der Umstand, dass homosexuelle
Umtriebe niemals, weder bei einzelnen Individuen,
noch bei ganzen Völkern das normale heterosexuelle
Leben ausschlossen. Daraus folgt, dass sowohl die
Homosexualität als auch manche andere Perversität
nichts anderes, als der von Hoche zuerst besprochene
„Reizhunger“, welcher aus den verschiedensten äusseren
Ursachen entstehen kann, zur Grundlage hat. Er
kann entstehen, weil die Gelegenheit zur normalen
Befriedigung der Geschlechtslust fehlt, oder auch da¬
rum, weil der gewohnte normale Geschlechtsact nicht
mehr im Stande ist, die gewohnte Sensation hervor¬
zurufen. Und wir wissen sehr gut, welche Findigkeit
der Mensch im Aufsuchen und im Steigern des Ver-
Digitized by Google
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
453
gnügens, im Hervorrufen angenehmer Sensationen im
Allgemeinen und insbesondere auf sexuellem Gebiete
besitzt, ohne dass wir dieses Bestreben als patholo¬
gisch betrachten könnten. Nur die Homosexuellen
suchen zu beweisen, dass die Homosexualität ange¬
boren ist, dass sie unter dem Zwange ihres perversen
Triebes stehen und sich vergeblich gegen denselben
wehren. Wir kennen aber die alte Sentenz: „Priapus
ist der Gott der Lüge“ und wissen, dass auf keinem
anderen Gebiete menschlichen Handelns so viel
Selbstbetrug, so viel Täuschung Anderer vorkommt,
als hier, und werden also auf die Bekenntnisse dieser
Perversen kein besonderes Gewicht legen.
Was jene körperlichen und geistigen Degenera¬
tions-Symptome anbelangt, welche bei perversen In¬
dividuen so häufig zu finden sind, so kennen wir
deren pathologischen Werth überhaupt nicht. Wir
haben keinen einzigen Beweis dafür, dass diese so¬
genannten Stigmata mit Abnormitäten des Nerven¬
systems Zusammenhängen und als Folgezustände dieser
Abnormitäten aufzufassen sind.
Damit will ich nicht etwa gesagt haben, dass bei
Geisteskranken überhaupt keine sexuellen Perversitäten
vorkämen. Im Gegentheile. Wir wissen, dass es
eine ganze Reihe von pathologischen Geisteszuständen
giebt, bei welchen sexuelle Perversität ständig in der
Reihe der Symptome zu finden ist. Ich will nur
so viel gesagt haben, dass sexuelle Perversität für sich
allein nicht als Geisteskrankheit zu betrachten ist, ja
nicht einmal das pathognomonischc Symptom irgend
einer geistigen Erkrankung darstellt. In Fällen, in
welchen sexuelle Perversität ein Glied im Symptomen-
complexe einer Geisteskrankheit darstellt, erkennen
wir den pathologischen Zustand aus anderen, viel
charactcristischeren Symptomen und nur die durch
andere Symptome diagnosticirtc Erkrankung beweist,
dass wir die sexuelle Perversität hier als pathologisches
Symptom aufzufassen haben.
(Schluss fol^t.)
Referate.
— La quer, lieber schwachsinnige Sch ul-
k i n der *).
Die Schrift stellt sich die Aufgabe, nachzuweisen,
inwieweit die Betheiligung von practischen Aerzten
an der Beobachtung und Versorgung von Schwach¬
sinnigen nothwendig und erspriesslich erscheint. Den
ersten beiden Schuljahren fällt die erfolgreichste Auf¬
gabe bei der Feststellung des kindlichen Schwach¬
sinnigen zu, weil für die Prüfung des Geisteszustandes
in diesem Alter die Schule den besten methodischen
Weg abgiebt. Die Erkennung der idiotischen Gruppe
von Schwachsinnigen gelingt dem erfahrenen Lehrer
in den meisten Fällen auch ohne die Mitwirkung des
*) Heft 1 des IV. Bandes der Sammlung zwangloser Ab¬
handlungen a. d. Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten,
herausgeg. von Prof Dr. A. Hoche, Freiburg in Br.) Halle a S.
1902. Verlag von Carl Marhold Preis Mk. 1,50.
Schularztes. Die Feststellung der Imbecillität der
Kinder erfordert ein Zusammenwirken des Arztes mit
dem Lehrer. Die Seh- und Hörprüfung, einige Monate
nach Beginn des Unterrichts ausgeführt, wenn ein
Kind den Fragen eines ihm fremden Beobachters,
Schularzt, schon folgen kann, ergiebt die zwischen
Arzt und Lehrer zu erörternde Frage, ist das Kind
seh- bezüglich hörschwach oder begriffsschwach ? Das
schwachsinnige Kind ist überaus leicht zum Weinen
geneigt, wenn es Fragen nicht beantworten kann,
baumelt bei der Untersuchung mit den Beinen, zupft
an der Kleidung, spielt mit den Händen und steckt
die Finger in den Mund oder in die Nase. Auf
Grund schulärztlicher und specialärztlicher Vorunter¬
suchungen an den Sinnesorganen baut sich im ersten
Schuljahre die ärztliche Wahrscheinlichkeitsdiagnose
„Schwachsinn“ auf. Der Arzt muss immer im Auge
behalten, dass die Minderwertigkeit der geistigen An¬
lage eine besondere Behandlung nothwendig macht,
die unabhängig von den Maassnahmen für körperliche
Heilung und Pflege erfolgen muss. Ein Kind, welches
nach einem Jahre, spätestens nach zwei Jahren das
Ziel der Unterstufe der Volksschule nicht erreicht hat.
muss als schwachsinnig angesehen werden. In der
Vorgeschichte schwachsinniger Schulkinder verdienen
vier Momente der erblichen Belastung eingehende
Berücksichtigung, Tuberkulose, Alkoholismus, Lues,
Nerven- und Geisteskrankheiten der Erzeuger, Gross¬
eltern und Seitenlinien. Nach der Criminalität der
Eltern und nach Selbstmorden in der Familie muss
man fragen. — Sobald ein Kind in eine Hilfsschule
(nur für schwachsinnige Kinder) eingetreten ist, ist
die Beobachtung durch Lehrer und Arzt eine wesent¬
lich leichtere. Eine Aussonderung anstaltsbedürftiger
Elemente, Epileptiker, z. B., ist hier so früh wie mög¬
lich in die Wege zu leiten, wegen des schlimmen
Einflusses auf die anderen Zöglinge und weil sie
einen Hemmsc huh im Unterricht bilden. Lehrer und
Aerzte der Hilfsschulen müssen sich mit ihren Zög¬
lingen so lange wie möglich beschäftigen, dürfen in
geistiger Beziehung nicht zu viel von ihnen verlangen
und möchten ihre Schützlinge nach der Entlassung
aus der Schule nicht spät genug aus den Augen
lassen. Die Neigungen der Schwachsinnigen zu al¬
koholischen Ausschreitungen, ihre Verführbarkeit zu
leichtsinnigen und verbrecherischen Handlungen, zu
geschlechtlichen Ausschweifungen (Prostitution) führen
sie sehr bald dem Gefängniss, dem Krankenhause, (dem
Corrcctionshause) und oft den Irrenanstalten zu. Un-
\ersorgte und unbeaufsichtigte Schwachsinnige bilden
geradezu einen Krebsschaden an unserem socialen
Organismus. Der Kampf gegen die Tuberkulose ist
aufgenommen, der Kampf gegen die venerischen
Krankheiten soll aufgenommen werden. Und der
Kampf gegen den Alkohol ? er ist auch aufgenommen
(aber abseits steht ihm die Mehrzahl der Angehörigen
des Standes, welcher vor allem dazu berufen ist, das
Volk in gesundheitlichen Fragen aufzuklären und ihm
Führer zu sein. Im Zeitalter der Naturwissenschaften
dürften sich die Aerzte nicht von den Laien belehren
lassen. Das wird sich nochmals bitter rächen).
J. S. M as c her- Hubertusburg.
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Gck >gle
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
454
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40 .
— Möbius, Geschlecht und Krankheit*).
1903.
Wenn die Frage erörtert ist, wie sich die Ge¬
schlechter den einzelnen Krankheiten gegenüber ver¬
halten, dann könnte vielleicht etwas darüber zu er¬
fahren sein, ob es eine Langlebigkeit giebt, die dem
weiblichen Geschlechte eingeboren wäre. Krankheiten,
die nur dem männlichen Geschlechte eigen sind, kennt
M. nicht, wohl aber solche (Chlorose, Osteomalacie)
die nur Weiber befallen. Die Osteomalacie der
Männer will M. anderen Knochenkrankheiten zu¬
schreiben. In gewissem Sinne seien auch hierher die
Uterusmyome zu rechnen. Diese Erkrankungen nennt
M. eingeschlechtige. Dann giebt es Krankheiten,
welche vorzugsweise nur ein Geschlecht befallen. Auch
hier sind die „weiblichen“ Krankheiten gegenüber den
„männlichen“ (Hämophilie, primärer Muskelschwund)
im Vorsprung. Ein massiges Uebergewicht beim
männlichen Geschlecht haben Diabetes mellitus. Dia¬
betes insipidus, Gehimgesclnvülste, angeborene Herz¬
schwäche, Leukämie, Heufieber. Im Gegensatz dazu
bilden die vorwiegend weiblichen Krankheiten eine
lange Reihe, zunächst eine Anzahl von Kinderkrank¬
heiten (chorea Sydenhamii, Keuchhusten,umschriebener
Gesichtsschwund, Torticollis spasticus), sodann die
Schilddrüsenkrankheiten , jedenfalls aber Myxödem,
Basedow. Etwa 80% der Erkrankungen an chro¬
nischem Gelenkrheumatismus fallen auf das weiblic he
Geschlecht. Als eine Krankheit der Weiber gilt so¬
dann die Hysterie, wie schon der Name angicbt.
Das ist sicher, dass die nicht traumatische Hvsterie
eine weibliche Krankheit, 70° „, ist. Bei den eigent¬
lichen Geisteskrankheiten ist nur beim manisch-de¬
pressiven Irresein ein starkes Ueberwicgen des weib¬
lichen Geschlechts, ö6°/ 0 , erwiesen. Bei der Migräne
ist ebenso wie bei der Hysterie der Antheil der Knaben
nicht viel kleiner als der der Mädchen. Erst das
reifere Alter lässt den weiblichen Antheil erheblich
anwachsen. Bestimmte Hautkrankheiten (Erythema
nodosum, Lupus erythematosus) sind beim weiblichen
Geschlecht ungleich häufiger als beim männlichen.
Auffallend ist der Antheil des weiblic hen Geschlechts
bei Erkrankungen an alkoholischer Neuritis. Es sind
nur wenige Krankheiten (Cholelithiasis, acute gelbe
Leberatrophie, Wanderniere, (lastropt«>sis, Trachom,
Thränensackeiterungen), deren Häufigkeit im weib¬
lichen Geschlecht den Lebensumständen zugeschrieben
wird. Die männliche Thätigkeit verursacht viele vom
Verkehr abhängige und auf anderen Wegen ge¬
hende Infectionen bei dem männlichen Geschlechte.
Hierher sind zu rechnen Eebris recurrens, Fleckfieber,
Typhus abdominalis, Gelbfieber, Hundswuth, Tetanus,
Dysenterie, Ischias. Die Bestände von Nervenschwäche
sind bei Männern häufiger als bei Weibern. Einzelne
Hautkrankheiten (Ekcema marginatum, Pemphigus)
sind bei Männern häufiger. Der Alkohol lässt bei
den Männern viele Erkrankungen entstehen, welc he
bei dem zum Glück noch in Deutschland zum grössten
Theil an-alkoholistischen Weibern das weibliche Gc-
*) (Heft 1 der „Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-
Unterschieden.“) Halle a. S. 1903, Verlag von Carl Marhold.
— Preis Mk. 1.—, im Abonnement Mk. 0,80.
schlecht verschonen. Dahin sind zu rechnen das Delirium
tremens, der chronische Alkoholismus und die Schä¬
digungen, welche der regelmässige Genuss von Alko¬
hol verursacht. Gastritis chronica, Magenerweiterung,
Lebercirrhose, Leberabscess sind vorwiegend alkoholi-
stische Erkrankungen. Die vorzeitige Arteriosclerose
und Atheromatose, die chronischen Nierenkrankheiten
verschulden Alkohol und Geschlechtskrankheiten in
gleicher Weise. An croupöser Pneumonie erkranken
mehr Männer als Weiber. Morphinismus ist haupt¬
sächlich eine Männerkrankheit. Der Tripper mit
seinen Folgekrankheiten ist „unendlich viel häufiger“
beim Manne als beim Weibe. Die Zahl der Männer
bei Syphilis und syphilitischen Nachkrankheiten ist
viel grösser als die der Weiber. Krankheiten, bei
denen keine oder doch nur unwesentliche Verschieden¬
heiten bei den Geschlechtern bestehen, sind Tuber-
culosc, Carcinom, Cholera asiaticä, Cholera nostras,
Pest, Aussatz, Malaria, Pocken, acuter Gelenkrheuma¬
tismus, Masern, Scharlach, Diphtherie, Rhachitis u. s. f.
M. fasst nun die Krankheiten zusammen und unter¬
scheidet solche mit natürlichem Geschlechtsunterschied
und solche mit socialem Geschlechtsunterschied. Die
letzteren verursachen bei Männern eine grössere Mor-
tabilität gegenüber den Weiben\; Bacchus und Venus
verdankt die männliche Morlabilität ihr Uebergewicht
über die weibliche. Keine Thatsache spricht für eine
grössere Wiederstandsfähigkeit des Weibes gegen
Krankheiten gegenüber dem Manne. Es liegt kein
Grund vor, dem weiblichen Geschlechte an sich eine
eigene Langlebigkeit zuzusprechen.
I. S: M a scher- Hubertusburg.
— V. C o n g r c s international d’anthro-
pologie criminelle. Amsterdam 9.— 14. Sep¬
tember 1901. (Fortsetzung,!
T $ e h i s c h ( Dt »rpat): Die Verbrechertypen nach
D os toj ew sk ij. Eine ausgezeichnete Studie, die
sich aber nicht referiren lässt. Darnach hat Dost,
bereits 50 Jahre vor der Kriminalanthropologie die
Yerbreehcrkategorieen so treffend unterschieden und
beschrieben, wie es seitdem niemand besser gelungen
ist. Er unterschied bereits den geborenen, den poli¬
tischen Verbrecher, den Gelegenheits- und Leiden¬
schaftsverbrecher, und unter den politischen Ver¬
brechern wieder den pathologischen, den geborenen
und den Verbrecher aus Fanatismus.
Franc hi (Jurist, Rom): Lieber die Einführung
der psychophysischen Untersuchungsmethoden im Straf-
process.
R e n d a und S q u i 11 a c c: In Kalabrien über-
wiegen die Verbrechen gegen das Leben und die
Epilepsie. Ursachen: Ethnische, sociale, intellektuelle,
moralische Factoren, Temperament, Gifte (Malaria,
Alk< )holismus, Syphilis).
Louise Robinovitsch weist, zur Verhütung
des Verbrechens, auf die günstigen Erfahrungen hin,
die im Elmira Reformatory gemacht wurden, wo die
Verbrecher durch Unterricht, durch Erlernung ver¬
schiedener Handwerke zu ehrlichen Menschen ge-
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1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
macht werden und nach ihrer Entlassung ehrlich ihr
Brot verdienen können.
Tarde (Paris) untersucht den Einfluss politisch¬
religiöser und öconomischer Krisen auf die Krimi¬
nalität. Sie sind nicht die einzige Quelle der Ver¬
brechen, ja nicht einmal eine konstante Quelle.
Cutrera (Sicilien) kritisirt die Mängel der ita¬
lienischen Correctionshäuser. Dort werden Minder¬
jährige von 9 — 20 Jahren intemirt, alles durchein¬
ander, unverdorbene Knaben und geborene Ver¬
brecher, ohne etwas zu lernen. Bei der Entlassung
fallen sie dann alle dem Verbrechen in die Arme,
die weiblichen Personen auch der Prostitution. P 2 ine
verfehlte Maassnahme ist ferner die Zuweisung eines
Zwangsaufenthaltsortes an junge Leute, die ein Ver¬
brechen begangen haben. Manche Insel wird so
zu einer Universität des Verbrechens. Vf. schlägt
vor: Verwaiste oder von ihren Eltern verlassene
Kinder werden gegen Entgeld in Familien unter¬
gebracht. Minderjährige geborene Verbrecher kom¬
men in besondere Anstalten zur Erziehung und
um ein Handwerk zu lernen. Die absolut Unver¬
besserlichen werden dauernd intemirt. Manche Vcr-
brecher-Recidivisten erhalten einen Zwangsaufenthalts¬
ort unter Polizeiaufsicht zudictirt. Die geborenen
Verbrecher werden verbannt. Alle müssen zur Arbeit
gezwungen werden.
Bombarda (Lissabon) hofft aus dem Studium
des Verbrechens bei Thieren Aufklärung für die ver¬
wickeltem Psychologie des Verbrechens beim Men¬
schen zu finden. Bei Thieren ist der psychologische
Vorgang einfacher, nur sind die bisher gesammelten
zahlreichen Beobachtungen wenig brauchbar, da sie
zumeist von einem aprioristisch psychologischen Stand¬
punkt aus angestellt worden sind. Man muss das
Leben der Thiere, vor allem das der Hausthiere,
veränderten Bedingungen unterwerfen und sie so in
ihrem Verhalten beobachten. Die Methoden der
Anthropologie müssen auch hier angewendet werden.
Alle Charaktereigenschaften, alle Leidenschaften, Ge-
müthsstimmungen finden sich auch bei den Thieren.
Auch da giebt es Geisteskranke, Unverbesserliche,
Unträtable, pervers Sexuelle, Nervöse, Hysterische,
Epileptische. Vf. beschreibt den epileptischen Cha¬
rakter zweier Hunde.
Lombroso meint, die Verbrecher von Genie
(Alexander, Napoleon) zeigten deshalb nicht den Ver¬
brechertypus, weil ihre Physionomiecn durch ihre
hervorragende geistige Thätigkeit modificirt wurden,
und weil sie sich nicht der gewöhnlichen brutalen
Mittel des gewöhnlichen Verbrechers bedienten, son¬
dern solcher, die ein Studium der Wissenschaften
voraussetzten. Auch stammten sie meistens aus den
höheren Klassen, wo die atavistischen Merkmale
weniger ausgeprägt seien. Bei vielen sei ausserdem
der Verbrecher-Charakter erst durch eine Krankheit
hervorgerufen worden, oder es seien nur innere I)e-
lienerationszeichen vorhanden, z. B. Windungsanoma-
gen der Gehirnrinde.
F e r r i (Jurist, Rom) erblickt im Verbrechen eine
natürliche Erscheinung, wie in einer Krankheit. Alle
455 ■
Verbrecher sind Anormale, aber es giebt unter ihnen
zwei Klassen: Involutiv Anormale mit atavistischen
und egoistischen Tendenzen, aus deren Verbrechen
nicht der geringste Nutzen hervorgeht, und evolutiv
Anormale mit progressiven und altruistischen Ten¬
denzen, die sie aber manchmal bis zum Verbrechen
überschreiten. Die Verbrecherenergie dieser letzteren
Sorte kann von der Gesellschaft in nützliche Bahnen
gelenkt werden. Sie rekrutirt sich aus den Deklassir-
ten. Verwahrlosten, Verlassenen, politisch Unter¬
drückten.
Colajanni weist an der Hand der Wahlergeb¬
nisse in Deutschland und Italien nach, dass die
Gegenden, wo die meisten socialdemokratischen Stim¬
men abgegeben worden sind, auch die geringste Zahl
an Verbrechen aufweisen.
Clark Bell: Der Staat New-York hat vom 1. IX.
1901 ab das Gesetz der sentence indeterminee ein¬
geführt. Darunter fallen Leute, die zum ersten Mal
zu Gefängniss bis zu 5 Jahren verurtheilt werden.
(Fortsetzung folgt.)
Personalnachrichtei).
— Der Titel „Sanitätsrath“ wurde verliehen an
Director Dr. Vorster - Stephansfeld, Director Dr.
Go ttlob - Merzig, Director Dr. N euhaus - Düssel¬
dorf, dem leitenden Arzte der israelitischen Heil-
und Pflege-Anstalt für Nerven- und Gemüthskranke
zu Savn b. Coblenz, Dr. Behrendt; der Professor¬
titel dem Privatdocenten Dr. Bonhoeffer in Breslau.
Entgegnung anf die Erwiderung des
Herrn Prof. Dr. Pick.
Von Dr. Pfausler , Director in Valduna.
Herr Prof. Pick hat auf S. 432 eine „sachliche
Richtigstellung“ meiner Ausführungen in Nr. 32 dieser
W ochenschrift, in soweit sic seine Person betrafen,
zur Aufnahme gebracht, zu der ich folgendes be¬
merken muss:
ad 1) Herr Prof. Pick giebt selbst zu, dass er
in seiner leitenden Stellung in Dobran als Sachver¬
ständiger im Entmündigungsverfahren mitgewirkt hat.
Eine sachliche Richtigstellung meiner diesbe¬
züglichen Angabe wird Herr Prof. Pick doch wohl
ernstlich hierin nicht erblicken wollen, während er
doch selbst das T h atsä c h 1 i c h e meiner Behauptung
zugesteht.
Herr Prof. Pick bringt dafür allerdings an¬
scheinend eine Entschuldigung vor und erklärt, dass
er „nach längerem Sträuben“ seinerseits zur Exper¬
tise „sozusagen gezwungen worden sei“. Es dürfte
somit gerathen sein, diese jedenfalls interessanten Vor¬
gänge erst näher aufgeklärt zu hören, bevor ich mich
zu dieser Quasi - Entschuldigung, die übrigens zu
meiner Aufstellung als eine „sachliche Richtigstellung“
nicht herangezogen werden kann, weiter äussere.
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456 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40.
ad 2) Es liegt mir die bestimmte Mittheilung vor,
dass Herr Prof. Pick gegen den Stadtarzt, der sich
zur Expertise in Dobran meldete, Stellung genommen
hat. Herr Prof, Pick wagt selbst nicht dies vollends
in Abrede zu stellen und flüchtet sich hierfür hinter
einen Erinnerungs-Mangel.
Dass eine solche Stellungnahme eine amtliche ge¬
wesen, wurde nicht behauptet; umsomehr aber ist die
Annahme berechtigt, dass seine „privatime“ Stel¬
lungnahme auch seinen privaten Anschauungen
entsprochen haben muss.
Ich nehme gerne an, dass diese Stellungnahme
nicht erfolgte, weil der betreffende Stadtarzt „n i c h t
Anstaltsarzt“ war.
Die Stellungnahme des Herrn Prof. Pick dürfte
wohl darum veranlasst worden sein, weil er die Com-
petenz des betreffenden Arztes für die Expertise als
unzulänglich angesehen haben wird. Sonst sehe ich
nicht ein, warum Herr Prof. Pick einerseits gegen
seine Zuziehung zur Expertise sich lange gesträubt
haben soll, und andererseits wieder gegen die Zu¬
ziehung des Stadtarztes zu derselben Stellung ge¬
nommen hat. Er wird doch nicht geglaubt haben,
dass die Resultate der Expertise die besseren, oder
dass das Gesammtwohl der ihm anvertrauten Kranken
intensiver und allseitiger gefördert sein werde, wenn
er diese Pflicht schwächeren Schultern freiwillig oder
unfreiwillig überliess. In diesem Punkte treffen sich
hoffentlich unsere Anschauungen. Meine Stellung¬
nahme gegen den bekannten Ministerial-Erlass richtet
sich dahin, dass ich die Competenz der an die Stelle
der Anstaltsärzte zur Expertise berufenen Sachver¬
ständigen für eine einwandfreie Rechtsentscheidung
als ungenügend, ja vielfach als unzulässig erkenne.
Darauf kommt es an. In der Experten-Commission
ist der Richter als solcher vom psychiatrischen Stand-
puncte ein Laie und vergiebt sich dabei nichts, wenn
er sich in seiner Entscheidungsformel an die be-
rathende und begutachtende Mitwirkung des Arztes
anlehnt, vorausgesetzt, dass dieser nicht selbst in
Sachen der gegenständlichen Beweisführung ein
Laie ist.
Wenn man entgegen hält, doch wenigstens der
Bezirksarzt dürfe nicht umgangen werden, so hätte
die Irrengesetz-Enquete bei ihrer grundsätzlichen
Stellungnahme für den Ausschluss der Anstaltsärzte
von der Expertise die thatsächlichen Verhältnisse be¬
rücksichtigen müssen, dass wir mit Ausnahme der
Universitätsstädte Wien und Prag in ihrem Sinne
entsprechende Experten mit vieijähriger psychiatrischer
Vorbildung ausser den Anstaltsärzten wohl nirgends,
auch nicht unter den Bezirksärzten haben.
Die Psychiater auch als Anstaltsärzte durften in
schwächlicher Rücksichtnahme auf ungerechtfertigte
Recriminationen umsoweniger aus ihrer bisherigen
Stellung verdrängt werden, als sie berufen sind bei
der verheissungsvollcn Umbildung der Rechtswissen¬
schaft, bei der Reform des Strafrechtes zu einer all¬
gemeinen socialen Hygiene in besonderem Masse
mitzuwirken, damit das „Juristen-Recht“ von 2 Jahr¬
tausenden, das die Juristen durch ihren gewaltigen
Einfluss als Hüter des Rechtes in abgeschlossener
Selbstherrlichkeit vielfach auch als Schöpfer des Rechtes
ausnützten, durch die organischen, socialen und
geistigen Entwicklungsfactoren des Volkes zu einem
socialen Volksrechte sich umgestalte. Die Anstalts-
Psychiater dürfen hierin, wie sie ihre Mithilfe an¬
bieten, auch mit Recht die Führung durch ihre hoch-
geschätzten Lehrer beanspruchen, damit der gesammte
Stand, gemäss dem schönen Worte Carlyle’s: „Lasst
Jeden alles sein, was er fähig ist zu sein“, in wir¬
kungsvoller Einheit zur Erringung dieser grossen Ziele
seine Kräfte leihe.
ad 3) Herr Prof. Pick erklärt als Vorstand der
psychiatrischen Klinik niemals als Sachverständiger
im Entmündigungsverfahren mitgewirkt zu
haben. Ich nehme dies zur Kenntniss. Doch darum
ist es mir in diesem Punkte nicht einzig zu thun.
Herr Prof. Pick dürfte wissen, dass die Irrengesetz-
Enquete der Anschauung Ausdruck gegeben hat, „dass
die gerichtsärztlichen "Untersuchungen, welche schon
gegenwärtig in den Irrenanstalten stattfinden, nicht
bloss der Entmündigung wegen, sondern auch wegen
des persönlichen Rechtsschutzes der Geisteskranken
stattfinden sollen, ob die Anhaltung des Kranken in
der Irrenanstalt gerechtfertigt ist oder nicht.“
Nun möchte ich aber wissen, ob der Rechtsschutz
der persönlichen Freiheit für ein „aus- Misstrauen
und Bosheit“ schöpfendes Publikum nicht auch bei
der Intemirung in eine Irrenklinik gefährdet erscheint,
ob auch an Universitätsstädten — ich nehme die
Städte Wien und Prag mit ihren eigenen Gerichts-
Psychiatern aus — allenthalben die Voraussetzungen
für den erwähnten Enquete-Beschluss gegeben sind;
und ob, wo dies nicht der Fall, die Herren Professo¬
ren die geistigen und materiellen Interessen ihrer
Kranken durch die auswärtige Expertise in allen Fällen
hinlänglich gewahrt erachten. Für uns Ansta^tsärzte
in der Provinz erscheinen durch die Neuregelung nicht
die dürftigsten Anforderungen erfüllt, so dass unsere
Stellungnahme gegen den Ministerial-Erlass umso ge¬
rechtfertigter ist, als unsere Anschauung von weiten
juristischen Kreisen getheilt wird und uns von hoher
Stelle die Befürwortung einer diesbezüglichen Eingabe
an das Justiz-Ministerium zur Erreichung einer ent¬
sprechenden Abänderimg des Erlasses zugesichert
wurde, indessen aber leider an anderweitige von un¬
serem Standpunkte unerfüllbare Bedingungen geknüpft
worden ist.
Nachdem so die „sachliche Richtigstellung“ des
Herrn Prof. Pick in das rechte Licht gestellt, kann
ich nur bedauern, dass Herr Prof. Pick in seinem
Schlusssätze in empfindsamer Weise eine Unterstellung
hervorhebt, die durch meinen sachlichen Aufsatz nicht
gerechtfertigt erscheint, weshalb ich mir eine weitere
Entgegnung darauf versagen muss.
Fiir den redactioneücu Thcii verantwortlich: Oberarzt Or. J . lJrvs'ier, Kraschnttz (Sch.esien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schhjss der Insrratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Ilevnomann’sche Euchdruckerei (Oebr. WoifT) in Hallo .1 S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
berausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
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Direktor Dr. G. Ol ah, Direktor Dr. Bitti, Oberarzt Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice * Seine). Privatdocent, Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 41 . 10. Januar. 1903 .
■ Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6)95), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltigo Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), tu richten.
Inhalt. Originale: Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. Von Prof. Dr.
Moeli, Geh. Med.-Rath (S. 457). — Mittheilungen (S. 461). — Referate (S. 463). — Berichtigung (S. 464).
Einiges über die Weiterentwicklung
der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke.
Von Prof. Dr. Moeli , Geh. Med.-Rath.
TTinem Wunsche der Redaktion entsprechend, mache
' ich einige Mittheilungen über die weitere Für¬
sorge der Stadt Berlin für Geisteskranke.
Zunächst betreffen sic den Umfang der neuen
Anstalten. Die in den 70 er Jahren gefasste Absicht,
eine Anstalt für 600 Geisteskranke für Berlin zu
bauen, wurde schon vor der Inangriffnahme der An¬
stalt Dalldorf aufgegeben. Entsprechend dem raschen
Wachsthum des Bedürfnisses wurde sofort für 1000
Kranke in 2 Abtheilungen gebaut, deren jede einem
ärztlichen Leiter unterstellt wurde. Durch Zubauten
u. s. w. kam es zur Belegung mit 1200 Kranken.
Die in dieser Anstalt gemachten Erfahrungen führten
dazu, die zweite Anstalt — Herzberge -— für 1000
Kranke anzunehmen und dann auf 1150 (demnächst
1200) Plätze zu erweitern. Dabei wurde aber hier,
was nachträglich auch in Dalldorf geschah, die ärztliche
Leitung der Anstalt einer Person übertragen.
Schon die Grösse des Kranken-Bestandes, noch
mehr aber die ungewöhnlich grosse, die Bestandzahl
übersteigende Aufnahmeziffer, weisen darauf hin —
wie bereits s. Z. in dem Programm für die Anstalt
Herzberge ausgesprochen wurde — dass die persönliche
Betheiligung an der Behandlung des einzelnen Kranken
für den ärztlichen Leiter nicht durchführbar sei. (Im
Jahre iqoi hatte die Anstalt Herzberge in Lichten¬
berg 1485 Aufnahmen). Die ärztliche Betheiligung
des Direetors sollte sich auf die wichtigsten Fälle
beschränken und in mehr berathender Weise statt¬
finden. Das blieb mit der Aufgabe vereinbar, einen
Ueberblick über die Gesammtheit der Kranken, nicht
bezüglich der Einzelheiten des Leidens eines jeden,
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458
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 41.
aber bezüglich ihrer Artung im Ganzen, des Antheils der
einzelnen Krankheitsformen, der Herkunft u. s. w. sich
zu verschaffen und Kenntniss von besonders wichtigen,
z. Th. gerichtlichen oder der Beurtheilung und Be¬
handlung besondere Aufgaben stellenden Einzelfällen
zu gewinnen. Die Forderung persönlicher Kenntniss
der Kranken in diesem Umfange ist unabweislich,
wenn die Einrichtungen und die Wirksamkeit der
Anstalt von dem Leiter derselben stets ihrem Zwecke:
wenn irgend möglich Rückführung der Kranken ins
Aussenlebcn, entsprechend gehalten und weiter gebildet
werden sollen. Auch ist es nur so möglich, die
Befolgung gewisser Grundsätze bei der Behandlung
einschliesslich des Einflusses der Umgebung, Lebens¬
weise zu sichern, die richtige Vertheilung der Kranken
zu überwachen, die Regelung ihrer rechtlichen und
sonstigen Angelegenheiten nach einheitlichen Gesichts¬
punkten zu ordnen und durchzuführen.
Bei einer früheren Besprechung über den Umfang
öffentlicher Anstalten für Geisteskranke in der Jahres¬
versammlung der deutschen Psychiater (Halle 1899:
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 5, S. 653) trat Werner
für eine Begrenzung auf boo Kranke ein. Alt bestritt
dabei die grössere Billigkeit ausgedehnterer Anstalten.
Mehrere staatliche und Provinzialbehörden haben sich
seitdem dafür erklärt, diese Zahl oder höchstens die
von 800 Kranken bei einfachen Verhältnissen (keine
Pensionärabtheilung) nicht überschritten zu sehen.
Andererseits ist in Nr. 9 dieses Jahrgangs ein
Aufsatz von Starlinger-Wicn erschienen, der die Frage
der grossen Anstalten auf Grund der Wiener Erfahrungen
behandelt. Man wird aus den weiteren Ausführungen
sehen, dass seine sehr richtigen Vorschläge bezüglich
der ärztlichen Organisation in der Entwicklung der
Berliner Anstalten schon früher, grüsstentheils unter
dem Druck der Thatsachen, zur Geltung gelangt sind.
Es sind nun in letzter Zeit durch die Umfrage
einer Provinz die Meinungen mehrerer Psychiater über
die zulässige Grösse von öffentlichen Anstalten für
Geisteskranke von neuem gesammelt worden.
Gegenüber den verschiedenen Ansichten über die
vorliegende Frage kann ich nur wiederholen: Nach
unserer Erfahrung ist die Antwort überhaupt nicht
mit „Ja“ oder „Nein“ zu geben. Zur Erwägung kommt
eine ganze Reihe von Einzelheiten:
A) Grosse des Aufnuhntebexirks.
In einer sehr dicht bevölkerten, an Verkehrsmitteln
sehr reichen Gegend kann die Anstalt grösser sein,
ohne den erwünschten Zusammenhang der Kranken
mit Heimath und Angehörigen aufzuheben. Nicht nur
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die Erleichterung der (auch der versuchsweisen) Ent¬
lassung und Beurlaubung, sondern auch die Wirk¬
samkeit der Anstalt auf die Kranken, erfordert in
den bei weitem meisten Fällen Erleichterung des
Verkehrs mit ihrer bisherigen Umgebung, der Familie
u. s. w. In dünn bevölkerten Gegenden würde daher
durch Vertheilung der Anstalten auf mehrere Stellen
einer übergrossen räumlichen Entfernung des Kranken
von seinem Aufenthaltsorte und der Erschwerung
des Verkehrs entgegengewirkt werden müssen, also
mittelgrosse Anstalten den Vorzug verdienen.
Dagegen kommt dieser Gesichtspunkt nicht in Frage wo,
wie bei uns, die Anstalt selbst von dem entferntesten
Punkte ihres Aufnahmebezirks in etw'a s / 4 Stunden
und ohne wesentliche Kosten durch ein Strassen-
bahnnetz erreicht w r erden kann.
B) Verhält uiss der Aufnahme zur Bestands zahl.
Es bedarf keiner Ausführung, wie sehr das Wachsen
der Aufnahmezahl und der Wechsel der Kranken
die persönliche Kenntniss des Einzelnen erschwert.
Ganz von selbst ergiebt sich bei grösserem Wechsel
des Bestandes (der z. B. hier über 100 ° 0 der
Plätze innerhalb eines Jahres beträgt) die Nothwendig-
keit, die Einzelbehandlung der Kranken in die Hand
erfahrener, älterer Vorsteher der einzelnen Ab¬
theilungen und zwar unter reichlicher Beigabe
ärztlicher Hilfskräfte zu legen. Mit derartiger Ein¬
richtung ist aber dem Kranken auch in einer ganz
grossen Anstalt das volle Maass ärztlicher Fürsorge
gewährleistet. Natüilich gehört zu solcher Stellung
auch die Abgabe ärztlicher Aeusscrungcn und Zeugnisse,
die Anleitung des Pflegepersonals im Einzelnen, dessen
Vertheilung in den einzelnen Häusern u. s. w. Die
ärztliche Behandlung kann in grossen Anstalten bei
richtiger Ausbildung des ärztlichen Dienstes und
namentlich auch bei persönlicher genauer Fühlung
der Betheiligten sogar gewisse Vorzüge, wenigstens
gegenüber kleinen Anstalten darbieten. Es ist für die
Mehrzahl der Kranken eine Behandlung in mehreren
Instanzen sicherlich nicht oder wenigstens nicht auf
die Dauer nöthig. Andererseits aber ist es in der
grossen Anstalt möglich, für die wirklich wichtigen
Fälle und für alle Fragen von allgemeinerer Bedeutung
eine grössere Summe ärztlichen Wissens durch Zu¬
sammenwirken mehrerer Aerzte von reicher Erfahrung
heranzuziehen. Grade eine Verschiedenheit der
Auffassung, die sich auf ein begründetes selbst¬
ständiges Urtheil stützt, wird, in die richtigen Bahnen
geleitet, immer anregend und Frucht bringend wirken.
C) Die Schwierigkeit tierärztlichen Leitung
einer Anstalt liegt bekanntlich grösstenthei 1 s in der Ord-
Qriginal fram
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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
nung der Verwaltung. Es muss mit vollster Entschie¬
denheit darauf gehalten werden, dass die V erwaltung ärzt¬
lich geleitet, aber nicht vomArzteausgeführt werden
kann. Dies gilt ebenso für mittelgrosse wie für grosse
Anstalten. In der Ueberlastung des ärztlichen Leiters
mit Verwaltungsgeschäften und der Behinderung ärzt¬
lichen Wirkens muss man den allerwichtigsten Ein¬
wurf gegen die Vergrösserung der Anstalten über
einen gewissen Umfang finden. Gelingt es nicht,
die richtigen Einrichtungen zu treffen, um ein Ueber-
maass der Verwaltungsgeschäfte zu verhüten,
so muss man in der That eine Beschränkung des
Umfanges zur Erreichung einer einheitlichen ärztlichen
Leitung für nöthig erachten.
Unter gewissen Umständen aber ist — bei gutem
Willen und Einsicht der betheiligten Behörden — dieser
Fehler vermeidbar. Dass man überhaupt dem ärzt¬
lichen Leiter einer Anstalt eine solche Menge von
Verwaltungsgeschäften aufzubürden gewohnt ist, wie
dies zahlreiche Beispiele zeigen, liegt nur zum Theil,
berechtigterweise, im inneren Zusammenhang der Dinge,
zum Theil dagegen an den äusseren Verhältnissen.
Bei den abgelegenen kleineren Anstalten der früheren
Zeit, wo ausser dem Director und dessen Vertreter
überhaupt kaum ein höherer Beamter zur Verwendung
kam, musste schliesslich alles, was im regelmässigen Be¬
triebe der Anstalt vorkam, so erledigt werden. Nur ein
Theil dieser Beschäftigung aber gebührt dem ärztlichen
Leiter, nämlich das, was mit der Krankenbehandlung
und mit den Aufgaben der Anstalts leitung wirk¬
lich im Zusammenhänge steht: die Ordnung
der Verhältnisse, welche nachweisbar auf die
Kranken ein wirken. Ein solcher organischer Zu¬
sammenhang besteht aber z. B. nicht zwischen
der Ausführung des Kassen- und Bureauwesens
in seinen Einzelheiten, zwischen vielen Kleinig¬
keiten des maschinellen Betriebes, auch den Einzel¬
ausführungen zur Anschaffung von Beköstigungs-, Be-
kleidungs- und Lagerungs - Gegenständen. Wäre es
richtig, den leitenden Arzt einerseits durch Beigabe
fachmännisch gebildeter Collegen in der Behandlung
der Kranken, der Verwendung des Pflegepersonals
u. s. w., also auf seinem eigensten Arbeitsgebiete, zu
entlasten und ihn andererseits mit nichtärztlichcr
Schreibarbeit oder mit Heizern, Dienstpersonal,
landwirtschaftlichen Arbeitern u. s. w. unmittelbar
zu beschäftigen? Wenn in der kleineren Anstalt
der leitende Arzt in eingehender Weise auch diese
ihm ferner liegenden Dinge selbst behandeln muss,
sogar Einzelheiten derselben beherrscht und ausführt
und dabei doch an den Fortschritten der ärztlichen
Wissenschaft noch Antheil zu nehmen, seine Er¬
fahrungen stetig zu erweitern und tüchtige, jüngere
Aerzte heranzubilden vermag, so verdient dies die
grösste Achtung. Aber durch die, wie ich ausgeführt
habe, z. Th. aus Noth erfolgte Gründung grosser
Anstalten von 1000 und mehr Plätzen mit starkem
Wechsel wird eine solche Verwaltungsleistung unmög¬
lich gemacht. Glücklicherweise liegt in dem Wachsen
des Ganzen zugleich die Möglichkeit der Beseitigung
der entstehenden Missstände. Wie aus den ein oder
zwei Hilfsärzten, die vor einer Reihe von Jahrzehnten
allein neben dem Director standen, sich jetzt überall
ein ärztlicher Stab entwickelt hat, so muss nothwen-
digerweise mit der wachsenden Beleg- und Aufnahme¬
zahl das Verwaltungspersonal ein anderes, zur sachge-
mässen Erledigung der gewöhnlichen Vorgänge seines
Dienstzweigs befähigteres werden. Es muss das Bureau
selbständig arbeiten, die innere Verwaltung, die Land¬
wirtschaft muss in fachmännischer Hand liegen,
ebenso bedarf der maschinelle Betrieb eines technisch
gut ausgebildeten Vorstehers. Auch so bleiben immer
noch für den Leiter neben der nöthigen Kenntniss
der Kranken reichlich hygienische, bauliche Ange¬
legenheiten, die Beköstigung, Beschäftigung u. A.
im Allgemeinen zu bearbeiten, dabei müssen ihm
im Einzelnen technisch richtige Angaben entgegen-
gebracht und die eingehende Ueberwachung des
Bureau, des maschinellen, wirtschaftlichen u. s. w.
Betriebs muss durch Thätigkeit speciell Vorgebildeter
gewährleistet werden. Die Mittel zur Anstellung
derartig ausgebildctcr Verwaltungskräfte gewährt ohne
erhebliche Steigerung des durchschnittlichen Kosten¬
aufwands nur eine grosse Anstalt oder ein Kom¬
plex von mehreren räumlich zusammen gelegenen
Krankenanstalten (auf letzteren Punkt komme ich
gleich zurück).
Da die allgemeinen Anordnungen über Beköstigung,
Beschäftigung, den Pflegedienst und ähnliches in der
Hand des Leiters bleiben müssen, ist die Art und
Zusammensetzung des Krankenbestandes fin¬
den Umfang der Verwaltungsgeschäfte von grösster
Bedeutung. Es giebt eine ganze Reihe von An¬
gelegenheiten, wobei es für die Leitung einer Kranken¬
anstalt keinen Unterschied macht, ob die Ausführung
der Maassregeln 400 oder 1000 Kranke betriff!, wenn
nur nicht eine Verschiedenheit durch Einrichtung von
Klassen, Pensionären u. s. w. erhebliche Schwierig¬
keiten schafft. Dieser Umstand — Einfachheit der
Verwaltung — ist daher von besonderer Bedeutung
für die Frage: grosse oder mittlere Anstalten? Die
Organisation also giebt den Ausschlag, nur sie
vermag den ärztlichen Leiter für seine unerlässliche
Thätigkeit: Kenntniss der Kranken im Ganzen und
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460 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 41.
der besonders wichtigen Fälle im Einzelnen — eine Auf¬
gabe, die allerdings mit der Grösse der Anstalten
ebenfalls so wächst, dass eine gewisse Grenze sich
von selbst ergiebt — genügend frei zu machen.
Ob der ärztliche Director einer grossen Anstalt
zugleich den Dienst auf einer bestimmten Abtheilung
(Aufnahme-Ueberwachungshaus?) leiten kann, hängt
ganz und gar von den ärztlichen Verhältnissen, ins¬
besondere von der Aufnahmezahl und dem Be¬
stand Wechsel ab. Bei einem Jahreswechsel der
Plätze von 100 v. H. und darüber, ist in grossen An¬
stalten der Umfang der ärztlichen Thätigkeit auf der Auf¬
nahme-Abtheilung selbstverständlich viel zu gross, um so
wahrgenommen zu werden. Aber auch bei ruhigerem
Bestände ist die Bindung des Leiters an eine bestimmte
Abtheilung bedenklich. Dass er den grösseren
Theil seiner Zeit der Aufnahmeabtheilung widmet,
ergiebt sich ganz von selbst — das ist hier wie
anderswo der Fall. Aber keineswegs sind die Kranken,
deren Kenntniss im Allgemeinen für ihn wichtig ist,
nur in dieser Abtheilung in Behandlung. Auch an
leichteren Formen Leidende (Landhauskranke) können
Bedeutung haben und die Einsicht in den Gang der
Dinge bei vorzugsweise Bettlägerigen (Pflegehaus) ist
ganz unentbehrlich — namentlich auch wegen der
andersartigen Anforderungen, die hier z. Th. an die
Behandlung und Pflege gestellt werden. Auch die
einheitliche Auffassung und Behandlung der Fälle
leidet, wenn sie nicht — möglichst— in der Hand des¬
selben Abtheilungsvorstandes (Oberarztes) wenigstens
bis zur Reconvalescenz bleibt. Die Aerzte, die nach
Lage der Sache die Verantwortung für die Einzel¬
heiten der Behandlung weiterhin tragen, dürfen in der
möglichst frühzeitigen und zusammenhängenden Be¬
obachtung nicht beschränkt werden. Die Abtheilungs-
ärzte sollen bei der psychiatrischen Behandlung
auch mit ihrer Persönlichkeit auf die Kranken ein¬
wirken und es soll an keiner Stelle der Schein
einer geringeren Selbständigkeit ihrer Leistung erweckt
werden. Gespart an Aerzten und ärztlichen Stellen
kann aber durch die Einrichtung grosser Anstalten
nicht werden. Eine Kostenverminderung auf diesem
Wege wäre sicherlich durch den Rückgang der Leistung
im Ganzen viel zu theuer verkauft. Unter keinen
Umständen, also auch nicht durch alleinige Ueber-
tragung der ärztlichen Thätigkeit auf einer bevorzugten
Abtheilung auf den Director, darf die Gelegenheit zur
Anregung und zur Ausbildung der Erfahrung und
des Urtheils durch fortlaufende Beobachtung der Fälle
für die Aerzte beeinträchtigt und die stetige Selbst¬
prüfung, ob die Auffassung richtig sei, abgeschwächt
werden. Je nach der Zahl und Art der Aufnahme
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wird diese Gefahr näher gerückt, wenn man den Leiter
grosser Anstalten vorzugsweise als behandelnden Arzt für
eine Gruppe von Kranken, deren Umgrenzung schwer
richtig zu ziehen sein wird, betrachtet, und nicht als
eine in erster Linie die ärztlichen Bestrebungen zu¬
sammenfassende und regelnde Stelle.
])) Bezüglich der mehligen Frage „Kosten“
scheint mir der Vortheil doch auf Seite der grösseren
Anstalten zu liegen, sowohl bezüglich der Bau- als
der Betriebskosten. Für manche, allerdings nicht
ausschlaggebende Dinge: Pförtner, Telephonwesen,
Verkehrsmittel, auch für einzelne maschinelle Einricht¬
ungen, z. B. Beleuchtung, Desinfection, für Büchereien,
für Instrumente und Laboratoriumseinrichtungen u. A.
wird dies kaum bestritten werden. Aber wie be¬
merkt, soll ein ganz bestimmtes Urtheil über wesent¬
liche Verbilligung der Anlage nicht abgegeben werden.
Immerhin muss ich darauf hinweisen, dass wohl
die Baubeamten sich ganz überwiegend für die An¬
nahme grösserer Billigkeit der ausgedehnteren An¬
stalten entscheiden werden. Die Stadt Berlin wird
nach reiflicher Ueberlegung voraussichtlich die neue
(1500 Kranke haltende) Anstalt für Geisteskranke,
wegen der vortheilhafteren Anlage mit einem auf den¬
selben Umfang berechneten Siechenhause und einer
Heimstätte örtlich so Zusammenlegen, dass ein Theil
der Anlagen, (Beheizung, Wasserversorgung, Wäscherei,
natürlich auch Friedhof, vielleicht Desinfection) ge¬
meinsam eingerichtet wird, während Küche u. A.
getrennt bleiben. Es wird die Gesammtanlagc erheb¬
lich über 3000 Kranke versorgen. Die Sachlage ist
hier eine so ausnahmsweise, dass sie für die Bedürf¬
nisse an anderen Orten natürlich nicht in Frage
kommt. Ich erwähne aber diese Thatsache, weil ein
gewisser Grossbetrieb — hier allerdings in ganz be¬
sonderem Maasse -— doch als vorteilhafter anerkannt
ist. Nach den bisherigen Erwägungen ist nicht im
Mindesten zu befürchten, dass die Anstalt für Geistes¬
kranke in irgend welcher Weise zu kurz kommen
werde, da den ihrer Eigenart entsprechenden Forde¬
rungen vollständig Rechnung getragen w'ird.
Die vorstehenden Ausführungen über das Ver¬
halten grosser (über 1000 Kranke fassender) Anstalten
zu denen von viel geringerem Umfange können also
keineswegs dazu führen, in einseitiger Weise allgemein
grosse Anstalten zu empfehlen. Ausdrücklich sind die
besonderen Bedingungen dargelegt, die unein¬
geschränkt erfüllt sein müssen, wenn nicht die Be¬
friedigung aller Bedürfnisse für die Behandlung der
Kranken und somit die Leistung des Ganzen gefährdet
werden soll. Ist aber eine richtige Gestaltung der An-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
ioo v v] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 461
stalt, eine genügende Zahl von Abteilungsleitern und
Hilfsärzten und namentlich eine zweckmässige An¬
ordnung des Verwaltungsdienstes gesichert, so können
den kleineren Anstalten an Leistungsfähigkeit eben¬
bürtige grosse geschaffen werden. Diese Erfahrung
hat die Erbauung einer neuen Anstalt von 1500
Kranken für Berlin gerechtfertigt. Das Hinausgehen
noch über die Belegziffer von Dalldorf und Herzberge
wird durch den voraussichtlich geringeren Wechsel
der Kranken in der etwas weiter entfernten Anstalt
ausgeglichen werden. Damit ist die für die Ver¬
hältnisse Berlins noch zulässige Grösse einer Anstalt
erreicht.
Ist nur unter der Voraussetzung einer richtigen
Organisation bezügl. der ärztlichen und Verwaltungs-
Beamten der Bau einer so grossen Anstalt zulässig,
so ergeben sich einige weitere Fragen. Die wichtigsten
betreffen die Grösse des Grundstücks und der einzelnen
Häuser.
1. Die G r ö s s e des Grundstücks ist weniger
von einer mehr oder weniger zerstreuten Bauart oder von
der Grösse der einzelnen Krankengebäude abhängig,
als von der Art der Kranken. In bekannter Weise
wirkt hierauf namentlich der Antheil der bettlägerigen
oder wenigstens körperlich hinfälligen, der frisch er¬
krankten und der unruhigen Fälle. Diese Gattungen
überwiegen verhältnissmässig beträchtlich bei rein
grossstädtischem Aufnahmebezirk. Aber auch für die
unentbehrliche Beschäftigung im Freien kommt cs
sehr auf die bisherigen Lebensgewohnheiten und die
Umgebung der Kranken an. Die landwirtschaftliche
Beschäftigung im weiteren Sinne gestaltet sich danach
verschieden. Es ist begreiflich, dass bisher nur auf freiem
Felde, im Wald, auf den weiten Flächen unserer
norddeutschen Ebene beschäftigte Kranke ähnliche
weiträumige Gefilde verlangen und sich auf kleineren
Feldern, in Gärten, Parks, Baumschulen noch beengt
fühlen würden. Will man ihnen ganz gerecht werden,
so braucht man Felder und Wiesen von gewisser
Ausdehnung, in das offene Land übergehend.
(Schluss folgt.)
M i t t h e i
— II. Landes -Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc-
tober 1902, Nachm.) Fortsetzung.
Was die strafrechtliche Seite der Frage anbelangt,
will ich mich auf einige kurze Bemerkungen beschränken.
Die strafrechtlichen Verfügungen gegen sexuelle Per¬
versitäten sind sehr lückenhaft. Unser Strafrecht kennt
nur eine Art der Perversität, die Homosexualität, und
auch diese nur zwischen Männern. Ausserdem wird
nur noch Nekrophilie und Xoophilie bestraft. Wir
wissen, dass damit die Arten der sexuellen Perver¬
sität noch lange nicht erschöpft sind und dass die
Homosexualität, wenn überhaupt strafbar, bei Weibern
ebenso zu beurthcilen ist wie bei Männern. Was
aber die Necrophilie und die Xoophilie anbelangt,
so sind gerade diese Perversitäten thatsächlich Folge¬
zustände von Geisteskrankheiten und zwar von ter¬
minalen Stadien derselben. Unser Strafgesetzbuch
lässt daher eine ganze Reihe von Perversitäten unge¬
ahndet und bezeichnet gerade die bei schweren Geis¬
teskrankheiten Vorkommenden als strafbar.
Will nun aber die Gesellschaft die sexuellen Per¬
versitäten mit Fug und Recht verfolgen, so darf sic
das weder vom Standpunkte der Moral, noch von
dem des guten Geschmackes aus thun, sondern nur
dann, wenn diese Perversen sich Vergehen gegen die
Interessen der Gesellschaft zu Schulden kommen
lassen. Die sexuellen Perversitäten sündigen gegen
die cardinalen Interessen der Gesellschaft darin, dass
sie sich gegen die Propagation richten. Wollen wir
nun diese Hauptsünde verfolgen und strafen, so ist
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1 u n g e n.
es ganz klar, dass wir die Perversitäten des legitimen
Geschlechtslebens ebenso strenge verfolgen müssen
wie die des homosexuellen, und ebenso klar ist es,
dass man unter den Perversitäten keine Ausnahme
machen kann und darf.
Ich kann also meine Ausführungen in Folgendem
zusammen fassen:
1. Die sexuellen Perversitäten als solche stellen
weder für sich selbst eine Geisteskrankheit dar, noch
können sie als pathognomonisches Symptom irgend
einer ernsten Erkrankung des Centralnervensvstems
angesehen wen len. Wir besitzen andere , viel wich¬
tigere Symptome zum Nachweise einer solchen Geis¬
teskrankheit.
2. Nachdem die Gesetzgebung weder bei uns,
noch irgendwo im Stande ist, alle jene Perversitäten,
welche gegen die Propagation, gegen dieses fundamen¬
tale Interesse der Gesellschaft sündigen, zu verfolgen
und zu strafen und nachdem alle hierherbezüglichen
Handlungen, insoferne sie die Gesundheit anderer
gefährden, andere schädigen oder die öffentliche
Sittlichkeit bedrohen, im Strafgesetzbuchc an anderer
Stelle schon Erwähnung fanden, ist jede besondere
Bestimmung gegen die sexuellen Perversitäten über¬
flüssig.
b) Correferent Isidor Baum garten, königl. ung.
Kn »nanwalts-Substitut.
Der Vortragende erklärt, dass er sich nur mit
jenem Theile der Frage beschäftigen wird, welche
sich auf den Uranismus, also die zwischen Männern
geübte Unzucht bezieht, und dies auch nur von
Orig mal from
HARVARD UNIVERSUM
[Nr. 41
46 $ PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
dein einen Standpuncte aus, ob eine Abänderung
der betreffenden Abschnitte des Strafgesetzbuches be¬
gründet ist oder nicht. Die europäischen Gesetz¬
gebungen scheiden sich mit Bezug auf diesen Gegen¬
stand in zwei Gruppen. Zu der einen Gruppe ge¬
liehen die germanischen und slavischen, zur andern
die romanischen und manche östlichen Länder. Die
ersteren bestrafen die Homosexualität unbedingt, die
letzteren nur dann, wenn zugleich öffentlicher Scandal
erregt, Gewalt angewendet wird oder jugendliche In¬
dividuen verführt werden. Das ungarische Strafge¬
setzbuch schloss sich dem deutschen Codex an. In
den letzten Jahrzehnten wurde die Aufmerksamkeit
der wissenschaftlichen Welt in intensiverem Maase
als früher auf diesen Gegenstand hingelenkt. Aus¬
gezeichnete und berühmte Psychiater erklärten die
Homosexualität für einen pathologischen Trieb und
halten eine strafrechtliche Verfolgung für unerlaubt.
Bei einer so decidirten Stellungnahme der Wissen¬
schaft musste der gegen die Homosexualität gerichtete
Feldzug auch eine andere Richtung nehmen und die
Criminalität konnte sich einer reiflichen Ueberlegung
der Erfolge dieser Studien nicht entziehen. Diese
Aufgabe ist um so schwieriger, als eine auf fester
naturwissenschaftlicher Basis beruhende Theorie über¬
haupt nicht existirt, sondern bloss einander wider¬
sprechende kühne Hypothesen vorhanden sind.
Mögen sich jedoch die Psychiater in der Erklärung
dieses rüthselhaften Triebes noch so sehr wieder-
sprechen, darin stimmen alle überein, dass der ho¬
mosexuelle Trieb nicht ausschliesslich als angeborener
Trieb vorkommt, sondern durch Gewöhnung, Sug¬
gestion und Einfluss der Umgebung auch übertragen
resp. erworben werden kann. Dieser Umstand allein
beweist zur Genüge, dass staatliche Prävcntivmaass-
rcgeln nothwendig sind. Die Gefahr der Ansteckung
bedingt die Nothwendigkeit der Prophylaxe. Ander¬
seits geben selbst jene Gelehrte, welche die wider¬
natürliche Unzucht auf eine pathologische Degenera¬
tion zurückführen, zu, dass bei Homosexualität keine
Geisteskrankheit vorhanden zu sein braucht, welche
den freien Willen, die Entschliessungsfähigkeit unbe¬
dingt ausschliesst.
Das weitgehendste Entgegenkommen gegen die
Forderungen der Psychiatrie kann auch nur den Er¬
folg haben, dass wir zugeben, die freie Willens-
äusserung des Urnings wäre bezüglich der Art der Be¬
friedigung seines (ieschleehtstriebes aufgehoben, dass
der Urning also nicht im Stande ist, seine Zwangs¬
vorstellungen niederzukämpfen und mit Frauen ge¬
schlechtlich zu verkehren. Zur homosexuellen Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes ist er darum durch¬
aus nicht gezwungen.
Wir fordern auch vom normalen Menschen, dass
er seinen natürlichen Geschlechtstrieb beherrsche und
sich der widerret htlichcn Befriedigung desselben ent¬
halte. Also kann auch der dem Uebelthätcr ange¬
borene Hang nicht das Privilegium erhalten, zum
Schaden anderer zur Geltung zu kommen. Es ist
wohl wahr, dass der normale Mensch nicht absolut
verhindert ist, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen,
sondern nur gezwungen ist, ihn einzuschränken. Dem¬
gegenüber muss sich der Urning in die Rolle des
Kranken zu finden wissen und muss solchen Genüssen,
welche ihm infolge der Natur seiner Erkrankung ver¬
wehrt bleiben, entsagen.
Nun zählte der Vortragende die Gefahren auf,
welche infolge der Uebertragung dieses Uebels das
geistige, körperliche und ethische Wohl ganzer Gene¬
rationen bedroht, und w'ics besonders darauf hin, welche
Gefahren die Schaffung einer männlichen Prostitution
in sich birgt und giebt schliesslich der Ueberzeugung
Ausdruck, dass eine Abänderung der diesbezüglichen
Bestimmungen des Strafgesetzbuches nicht angezeigt
erscheint.
Di sc ussi on :
Fischer: Ich stimme meinerseits vollkommen
mit der Ansicht des Vortragenden überein, dass die
sexuellen Perversitäten überhaupt nicht als Geistes¬
krankheit für sich, ja nicht einmal als das Symptom
einer Geisteskrankheit angesehen werden können, so
lange andere Symptome einer Geisteskrankheit nicht
nachgewiesen werden können. Doch muss ich gegen¬
über der von Salgo vertretenen Ansicht daran fest-
halten, dass die Neigung zum Uranismus in vielen
Fällen angeboren ist. Das wissen wir nicht von den
Sündern seihst, sondern aus dem Munde jener, die
mit der Klage zum Arzte kommen, dass sie seit ihrer
Kindheit von homosexuellen Gefühlen beherrscht
w’erden.
Den Ausführungen des Herrn Vortragenden habe
ich kaum etwas beizufügen, doch muss ich hier er¬
wähnen, dass es auch Heterosexuelle giebt, welche
unter gewissen Lebens Verhältnissen zur vollständigen
Abstinenz gezwungen werden ; so z. B. die Geistlichen,
unter denen es doch auch sicherlich vollständig Ab¬
stinente giebt. Warum sollten wir also nicht auch von
den Homosexuellen vollständige Abstinenz fordern ?
Wenn es aber vorkommt, dass ein Urning in voller
Uebereinstimmung mit einem anderen seinen Ge¬
schlechtstrieb befriedigt und dafür bestraft wird, so
gilt für diesen Fall der alte Satz: Summum jus, summa
injuria.
Szigcti: giebt der Ansicht Ausdruck, dass die an¬
geborene Homosexualität unter allen Umständen den
Beweis dafür liefert, dass der Geisteszustand des Be¬
treffenden bezüglich der Geschlechtssphäre gestört ist.
Nachdem jedoch die Psychiatrie eine isolirte Erkran¬
kung einzelner geistiger Functionen nicht kennt, so
müssen wir logischerweise anerkennen, dass ange¬
borene Homosexualität auf eine allgemeine Geistes¬
störung hin weist. Der Geschlechtstrieb ist der mäch¬
tigste unserer Instincte und wenn derselbe bei je¬
mandem infolge angeborener Disposition eine perverse
Befriedigung erfordert, so bandelt der so bcanlagte
Mann unter dem Einflüsse eines unwiderstehlichen
Zwanges, welcher ihm die Unrichtigkeit seines Han¬
delns nicht einsehen lässt, welcher ihn verhindert, die
Strafbarkeit seines Thuns begreifen zu können; darum
ist er auch nicht strafbar. Von diesen Formen sind
die nicht angeborenen, also auch nicht pathologischen
Formen der Perversität strenge zu scheiden. Diese
verdanken ihren Ursprung verschiedenen moralischen
und materiellen Uebeln und gegen diese Formen der
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
IQ03.1 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 46 }
Perversität ist die ganze Strenge des Gesetzes anzu¬
wenden.
Die auf einer angeborenen contracr-sexuellen
Grundlage beruhende Perversion unterscheidet sich
von der aus moralischer Verkommenheit hervor¬
gehenden Perversität hauptsächlich dadurch, dass:
1. die geschlechtliche Perversion keine Sünde,
sondern eine psychische Anomalie, eine Geisteskrank¬
heit ist, also ein abnormer, pathologischer Zustand;
2. dass der homosexuelle Mann zur Befriedigung
seiner Geschlechtslust keine unerwachsenen (ge¬
schlechtlich unreifen) Kinder, sondern nur erwachsene
gebraucht, während der die gewöhnliche Unzucht
(Perversität) ausübende Mann Knaben oder männ¬
liche Hetären bevorzugt;
3. der contraer-sexuelle Mann nicht fähig dazu ist,
die Päderastie im vulgären Sinne des Wortes (immissio
penis in anum alterius) auszuüben, denn er empfindet
Ekel davor, während sich die Perversität hauptsäch¬
lich in activer oder passiver Päderastie äussert.
(Fortsetzung folgt.)
— Solothurn. Nachdem schon im Jahre 1893,
gestützt auf einen überzeugenden Vortrag des Herrn
Dr. Greppin, Director der Heil- und Pflegeanstalt
Rosegg bei Solothurn, von der kantonalen gemein¬
nützigen Gesellschaft die Gründung eines solothur-
nischen IrrenhilfsVereins angeregt \v<>rden, ist
derselbe nunmehr perfect geworden. Ein erweitertes
Comitee von 30 Personen wurde vom engem Vor¬
stand beauftragt, der Angelegenheit im ganzen Canton
Eingang und Boden zu verschaffen, um den bei uns
wohnenden Geisteskranken und ihren Angehörigen
mit Rath und That beizustehen und für die Hebung
der öffentlichen Irrenpflege zu wirken.
Preisausschreiben. Die Holtenzdorff-Stiftung
setzte für die beste Bearbeitung des Themas : „Die
strafrechtliche Behandlung der sog. vermindert Zu¬
rechnungsfähigen“ einen Preis von 1200 M. aus.
Die Arbeiten sind bis 1. Dez. 1003 an den Schrift¬
führer der Stiftung, Rechtsanwalt I)r. Halle, Berlin, zu
schicken. Das Preisgericht besteht aus den Herren:
1. Medicinalrath Dr. Leppmann, Berlin. 2. Prof. Dr.
van Hamei, Amsterdam. 3. Dr. Jaspar, Brüssel.
Referate.
— V. Cnngres international d’anthro-
pologie criminelle. Amsterdam 9.-14. Sep¬
tember 1901. (Schluss.)
P a r n i s e 11 i (Alexandria, Italien) fand bei Ver¬
brechern Anomalien des Circul. art. Willisii nach Ur¬
sprung, Entwicklung und Verlauf in 65,51 °/ 0 . Diese
können eine schlechtere Ernährung und Entwicklung
des Gehirns zur Folge haben. Bei den Verbrechern
wurde das Gchirngewicht in 73,50 °/ (l zu leicht be¬
funden. In 51,72 °/ 0 davon entsprach das geringere
Gehirngewicht jenen Anomalien des Circulus, wobei
sich sonst noch allerlei pathologisch-anatomische Ver¬
änderungen des Gehirns und seiner Häute zeigten.
Ein zu kleines Herzgewicht hatten 75,80 °/ 0 der Ver¬
brecher, und von diesen wiesen wieder 49,42 0 0 jene
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Anomalien des Circulus, des Gehirns und seiner
Häute auf.
Moll: Der Arzt als Sachverständiger in Sachen
der Sittlichkeitsverbrechen.
Denis (Brüssel) giebl einen historischen Ueber-
blick über die Anschauungen des Socialismus des
XVIII. und XIX. Jahrhunderts, mit Bezug auf die Ent¬
stehung des Verbrechens. Der Socialismus legt das
Hauptgewicht auf die politische und sociale Structur
der Gesellschaft.
Sutherland (Melb<>urne). Bis 1850 deportirte
England seine Verbrecher nach Australien. Die freie
dort eingewanderte Bevölkerung machte nur einen
kleinen Theil aus. Trotzdem weist jetzt Australien
keine grössere Verbrecherstatistik auf als die dviiisir-
testen Staaten. Ja die Provinz Tasmania, die die
meisten Verbrecher aufnahm, steht am günstigsten
von allen übrigen Provinzen. Wie kommt das? Von
den zwei Verbrecherkategorien hat sich der Gclegcn-
heitsverbrechcr den neuen Verhältnissen angepasst,
seine überschüssige Energie ist in die richtigen Bahnen
gelenkt worden, er ist ein guter Bürger geworden.
Ebenso seine Kinder. Die Blutmischung mit der
normalen Bevölkerung hat das übrige gethan. Hin¬
gegen sind die geborenen Verbrecher langsam aber
sicher ausgeschaltet worden. Sic sind von Laster
und Krankheit hingerafft worden, tlieils haben sie sich
gegenseitig selbst aufgerieben, tlieils sind sie hinge¬
richtet worden. Auch hinterlassen sie selten Kinder,
weil die Weiber, mit denen sie verkehren, darnach
sind. Als niederer Typus müssen sie aussterben, wie
die Wilden.
Frl. Poppee (Wien) hebt die Bedeutung der
Graphologie für die gerichtliche Praxis hervor und
fordert eine bessere Ausbildung und Förderung der
Graph* »logen.
Lombroso und Au deni n o machten Blutdruck¬
messungen bei Normalen, Epileptischen, Prostituirten
und geborenen Verbrechern. Resultate unbestimmt.
Carrara und Murgia stellten bei etwa 50
jugendlichen Verbrechern von Cagliari Untersuchungen
an. Diese Stadt hat bei ihren traurigen socialen Zu¬
ständen eine zahlreiche verwahrloste Strassenjugcnd.
Die Hauptvergehen bestanden in Diebstahl und sexu¬
ellen Verirrungen. Nur etwa 10 ° 0 zeigten den Ver¬
brechertypus, und nur 5 °/ 0 hatten Eltern, die schon
im Gefängniss oder in der Irrenanstalt waren. Die
meisten der jugendlichen Sünder werden später ehr¬
liche Menschen.
M m c. G i n a L onibrnso: Die I Iauti eflexc
werden auch bei den Normalen mit dem Alter viel
schwächer, besonders bei den Frauen. Am meisten
gilt das für die Baue hrcflexe, weniger für die Plantar¬
reflexe. Diese Verminderungen sind bei den Ver¬
brechern ausgeprägter. Bei den Kindern treten zu¬
erst die Plantarreflexe auf.
Garnier (Paris): Die Zahl der jugendlichen Ver¬
brecher wächst rascher als die der erwachsenen.
Beim Mord sind die jugendlichen Verbrecher 0 mal
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
464 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT._[Nr. 41.
mehr betheiligt als die erwachsenen, wenn man in
der gleichen Periode die Lebensalter von 16 — 20
und 31—35 Jahren einander gegenüber stellt. Die
Hauptursache dieser Erscheinung ist der Alkoholismus.
Der jugendliche Verbrecher ist gewöhnlich der Sohn
eines Alkoholikers, ein Instinkt-Mensch mit mangel¬
hafter intellectueller und moralischer Entwicklung. Die
Gegenmaassregeln bestehen in der Erziehung, Be¬
kämpfung des Alkoholismus und Unterbringung der
Unverbesserlichen in besonderen Vcrbrecheranstalten.
Berillon hat mit dem Hypnotismus Heilungen
erzielt bei Degenerirtcn, bei denen es sich um Klep¬
tomanie, Onanie, moralische Perversitäten (Charakter¬
fehler, Trägheit) und Onychophagie handelte.
Lombroso: Die neuesten Ergebnisse der Kri¬
minalanthropologie seit 1897.
Falco berichtet über die Reformen, die auf
Grund der Kriminalanthropologie auf Cuba eingeführt
werden.
Zuccarelli (Neapel) empfiehlt die Kastration
der Geisteskranken, Degenerirten, Alkoholiker, Syphi¬
litiker, Verbrecher etc. Eine Kommission entscheidet
darüber, wer sich dieser Procedur zu unterziehen hat-
Bei den Frauen durchtrennt man die Tube und ver¬
näht den uterinen Theil, bei den Männern macht
man entweder die eigentliche Kastration, oder durch¬
trennt das Vas deferens. Diese Methode zieht Vf.
wohlweislich dem Heirathsverbut vor.
Legrain hat in Villc Evrard seit 4 Jahren etwa
1600 rückfällige Trinker gezählt, d. h. 20— 25 ° 0
der Kranken. Er bespricht die socialen und fami¬
liären Ursachen dieses Recidivismus und ihre Ab¬
hülfe.
Sutherland (Melbourne): Jeder ist das Product
von Erblichkeit und Milieu, handelt so, weil er so
handeln muss. Die Gesellschaft hat aber den Be¬
griff der Verantwortlichkeit eingeführt. Dieser ist
eine Fiction, aber für sie nützlich. Wer sich vergeht,
ruft eine entsprechende Reaclion hervor. Die Furcht
vor dieser wirkt als Gegenmotiv. Die Strafe als
Rache hat keinen Sinn.
Tschisch (Dorpat): Um den Einfluss von Rasse
und Nationalität auf die Kriminalität zu untersuchen,
eignet sich am besten Livland. Die socialen, öcono-
mischen, politischen und kulturellen Bedingungen
sind dort die gleichen, während die Bevölkerung
tlieils aus Esten, Nachkommen der Finnen, theils aus
Letten, Nachkommen der Arier, besteht. Die Esten
sind Landbevölkerung. Es zeigt sich nun, dass Kinds¬
mord und Mord bei den Esten doppelt so häufig
vorkommt als bei den Letten (1891—05). Mord meist
aus Hass und Rache. Dasselbe gilt für die Körperver¬
letzungen und die Vergehen gegen das Eigenthum.
Den Grund hierfür sieht Vf. in dem biologischen
Faktor.
Derselbe: Die psycho-physische Schwäche der
Verbrecher äussert sich psychisch in der vorwiegenden
Thätigkeit der niedern Nervencentren , also in der
Vorherrschaft des Instinkts vor der Intelligenz, in der
Arbeitsscheu, in der Unfähigkeit, die Folgen einer
Handlungsweise abzuwägen, im Mangel von jeglichem
Altruismus, jeglicher Reue. Physisch in der Schwäche
und Langsamkeit des Pulses, in der angeborenen
Verengerung der Aorta, in der Arteriosklerose, in
Schädelmissbildung und • Abstumpfung der Hautsensi¬
bilität. Alkoholismus, Geistes- und Nervenkrankheiten
finden sich fast immer in Verbrecherfamilien. All
das stempelt den Verbrecher zu einer pathologischen
Natur.
Voisin: Statistisches aus der Ecole de refonne
der Salpetrierc. Eröffnet 1891 für Mädchen.
A n t o n i n i (Voghera): Nicht jeder Geisteskranke,
der ein Verbrechen begangen hat, soll in die An¬
stalt für geisteskranke Verbrecher gebracht werden.
Nicht das Verbrechen an sich entscheidet, sondern
die Biologie des Verbrechers.
Derselbe: Statistisches über die Vertheilung
v«»n Verbrechen, Degeneration und Geisteskrankheiten
(Epilepsie, Alkoholismus, Pellagra) in der Provinz
Bergamo. Diese Provinz hat 3 Zonen, eine bergige,
hügelige und ebene, was sich auch in jener Statistik
geltend macht.
S t r uc 1 e n s: In Belgien werden jugendliche Per¬
sonen unter 16 Jahren, die sich ein Vergehen zu
schulden kommen Hessen, nicht bestraft, sondern ver¬
mahnt. Auch sonstige Maassnahmen werden er¬
griffen, um Vergehen zu verhüten. Gesetze, die
Kinder gegen den Missbrauch der elterlichen Gewalt
zu schützen, sind in Vorbereitung. Vf. weist vor
allem auf die segensreiche Thätigkeit der Kinderschutz-
vercine hin.
M a r c o Trevcs (Turin): Es giebt geborene
Verbrecher und Epileptiker ohne äussere und innere
Degenerationszeichen. Diese weisen aber alsdann
solche functioneller Natur auf, z. B. Anästhesie, Ge¬
hässigkeit, Empfindungsanomalien des Temperatur¬
sinnes und dergl. Sie finden sich vielfach bei Epi¬
leptikern, die keine Krämpfe und anatomischen De¬
generation szeichen haben.
Derselbe: Bei Kälteanwendung erfolgt reflecto-
risch eine tiefe Inspiration. Dieser Inspirations-Reflex
fehlt manchen geborenen Verbrechern und Epilep¬
tikern.
Derselbe unterscheidet f< »lg. Nagelformen: Do-
licho-, Braehv-, Maero-, Micro- und Plagio-Onychie.
Bei den geborenen Verbrechern und den Geistes¬
kranken kommen morphologische Anomalien der
Nägel häufig vor. Sie sind entweder eine Abweich¬
ung vom ethnischen Nageltypus, oder beruhen auf
krankhaften Prozessen. Ganter.
B e r i c h t i g u n g. In Nr. 37 der psychiatr.-neu-
rolog. Wochenschrift S. 415 links, Spalte 23 von oben
muss es statt „c o n centrisch angelegt“ heissen: „ex ¬
centrisch".
Für den rcdactionellen Thiil verantwortlich: Oberarzt Or. J. BresUer, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerci (Gebr. WoHT) in Halle a. S.
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
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Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice Seine). Andernach. Pertb (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdoccnt, Würzburg.
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redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
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Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke. Von Prof. Dr.
Moeli, Geh. Med,-Rath (Schluss) (S. 4Ö5). — Mittheilungen (S. 470). — Referate (S. 471). — Personalnachrichten (S. 472),
Einiges über die Weiterentwicklung
der Anstalten der Stadt Berlin für Geisteskranke.
Von Prof. Dr. Moeli, Geh. Med -Rath.
(Schluss.)
Ganz so liegt aber die Sache nicht hei einer
Bevölkerung, die aus den Strassen einer Grossstadt
andere räumliche Gewohnheiten mitbringt. Natürlich
muss auch für sie die Anstalt frei liegen, aber das
Eigengebiet der Anstalt muss nur so gross sein, dass
es eine vollkommene Fernhaltung von störenden Ein¬
flüssen seitens der Anlieger gewährt und Raum für
ausgiebige Bewegung in abwechselnder landschaftlicher
Umgehung bietet. Ein grosser Park mit eingelagerten,
nutzbar zu machenden Wiesen, mit Teichen, wo¬
möglich Wasserläufcn mit eventuell nach -einer Seite
hin zu verlegenden Feldern, deren räumlicher Ein¬
druck bekanntlich durch die Landsehaftsgärtnerei sehr
gehoben werden kann, muss verlangt werden. Das
uns zu Gebote stehende Areal z. B. von oo
ha hat sieh allmählich in diesem Sinne so ab-
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wechslungsreich gestalten lassen, dass es nicht nur
Bewegungsgelegenheit genügend bietet, sondern auch
die wohlthuenden Eindrücke der Natur vielfach zu
verbinden und wechselnd zu gestalten erlaubt. Für
die aus der Grossstadt kommenden Kranken der un¬
bemittelten Klassen bietet es zum Ergehen in an-
muthender Umgebung wie zur Beschäftigung im
Freien, was man braucht. Noch freiere Bewegung
kann dann durch „Ausgänge“ stattfinden. Eine grössere
Ausdehnung des Grundbesitzes schadet gewiss nichts.
Wenn man sich aber fragt, was braucht man unbe¬
dingt für diese grossstädtischen Kranken, so wird
man nicht etwa der Ausdehnung des Gebiets gegenüber
der örtlichen Entfernung von der Stadt, der Zugänglich¬
keit u. A. eine allzugrosse Bedeutung beimessen.
Ich würde auch keinen Anstand nehmen, inmitten
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466 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42 .
einer vor Bebauung gesicherten und den Kranken
zugänglichen Umgebung — wenn es sein müsste —
das eigentliche Anstaltsgebiet noch etwas enger zu
begrenzen, wenn dafür bessere Lage und Verkehrs¬
verbindungen gewonnen würden.
Weniger Uebereinstimmung als in den Anschau¬
ungen über die Ausdehnung der nöthigen Bodenfläche
wird wohl über die Grösse der einzelnen Häuser
herrschen. Es besteht zweifellos jetzt eine Vorliebe,
kleinere und für einzelne Kranken - Gattungen nur
einstöckige Gebäude herzustellen. Die Vortheile
solcher Bauart sind ja augenfällig. Schon das Be¬
streben, einen freien und ländlichen Eindruck in der
Anordnung des Ganzen hervorzurufen, führt darauf.
Dieser Character kann durch die Errichtung grösserer
Gebäude leicht eine Einbusse erleiden, namentlich
wenn zu der Grösse der Gebäude noch eine zu regel¬
mässige Anordnung derselben kommt. Immer werden
kleine oder mittelgrossc Häuser in passender Zer¬
streuung im Allgemeinen einen günstigeren Eindruck
machen und das ungewöhnliche, um nicht gar zu
sagen bedrückende einer grossen Gesammtanlage für
die Kranken am ehesten vermeiden lassen. (Auch
hierbei werden sich übrigens die aus gedrängten
Wohnungsverhältnissen und „Miethskasemcn“ kommen¬
den Kranken weniger empfindlich zeigen.)
Diesen unzweifelhaften Vorzügen kleinerer Gebäude
stehen nun gewisse Nachtheile gegenüber. Die Aus¬
dehnung der Anlage wird natürlich grösser. Damit
steigern sich die Kosten, namentlich für Wasserver¬
sorgung und Entwässerung, für den die Heizrohren
bergenden unterirdischen Kanal, für die Wegeanlagen
u. A. Auch kann man in der Zahl mancher Räume
(Theeküchen, Kleiderablagen, Aufenthaltszimmer des
Pflegepersonals, ärztliche und Geräthe-Räume), die
in jedem Hause vorhanden sein müssen, bei Anlage
grösserer Gebäude eine gewisse Ersparnis* erwarten.
Will man den grossen Entfernungen, die durch Ver-
theilung in sehr viele kleine Gebäude entstehen, ent¬
gegenwirken, so läuft man Gefahr, die Häuser zu
dicht aneinander zu rücken, die Gärten zu verkleinern,
gegenseitige Störungen durch Geräusche und Gesichts¬
eindrücke zu begünstigen.
Der Dienst wird auf kleineren Häusern erschwert
durch die geringere Gesammtzahl des Personals und
die Schwierigkeit der Ausgleichung und des Wechsels
im Dienste, durch die Nothwendigkcit, das Essen
nach sehr vielen Stellen zu fahren; dazu kommt die
Zersplitterung der Aufsicht durch erfahrenes Ober-
Pflegepersonal und die Belastung des ärztlichen
Dienstes. Daher hat man sich zu prüfen, für welche
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Kranke ist von der Kleinheit des Hauses bestimmt
so viel mehr Nutzen zu erwarten, dass man diese
Bedenken zurückstellen muss. Dabei wird stets vor¬
ausgesetzt, dass es auch bei grösseren Gebäuden der
Vertheilung und Gruppirung — namentlich dem
Zwischenschieben von kleineren Bauten (Werkstätten,
Badeanstalten und ähnliches) und von reichlichen
Zieranlagen und der Trennung durch hier eher als
bei vielen kleinen Häusern zu Gebote stehende
grössere Zwischenräume — gelingt, eine eintönige
oder gar drückende Wirkung zu vermeiden.
Ist dies der Fall, so wird man für den Theil
der Kranken, welcher durch die Grösse des Hauses
in seinem Befinden voraussichtlich nicht beeinflusst
wird, ausgedehntere Gebäude ohne Schaden ver¬
wenden können. Hieher gehören zunächst Kranke,
die dauernd oder fast dauernd bettlägerig sind.
Wir brauchen für sie hygienisch besonders sorgfältig
ausgearbeitete Räume, zum grossen Theil ebenerdig,
— alle mit doppelseitiger Belichtung und Lüftung,
bequem gelegene Closets und Baderäume u. s. w.
Gegen die Zusammenfassung mehrerer solcher Ab¬
theilungen von etwa je 35 — 40 Plätzen in einem
Gebäude bestehen aber weder hygienische noch spe-
ciell psychiatrische Bedenken. Ist nur recht ausgie¬
biger Raum gewährt, so kann man sehr wohl einen
grösseren Bau etwa in der Art herstellen, wde das in
Buch für die sogenannten Pflegehäuser — die bei
weitem grössten, mit etwa 150 Plätzen — geschehen
ist. Ein fast nur auf einer Seite des Korridors aus-
gebautes Mittelstück enthält den kleineren Theil der
Krankenzimmer, nämlich die für nicht vorwiegend
Bettlägerige, mit einigen Tagesräumen, und alle übri¬
gen Gelasse. An den Enden treten je zwei grosse
Anbauten mit doppelt belichteten Sälen und den zu¬
gehörigen Neben räumen für die vorwiegend bettläge¬
rigen Kranken vor. Das Obergeschoss ist ebenso
gebildet und bestimmt für in der Bewegung weniger
Beschränkte. Es sind also gewissermassen vier Doppel¬
baracken für die Masse der aus verschiedenen Grün¬
den mehr oder weniger Bettlägerigen vorhauden.
Sie sind verbunden worden durch ein Mittelstück von
solcher Länge und Anordnung, dass Licht- und Luft¬
zutritt und Luftwechsel überall gesichert ist Das
Dachgeschoss ist nur z. Th. ausgebaut und aus¬
schliesslich für das Pflegepersonal bestimmt, es ent¬
hält dessen Schlafräume und Aufenthaltszimmer, die
Wohnung des Oberpflegers, die nöthigen Kleider¬
kammern u. s. w. An der freien Seite des Mittel¬
baues befinden sich Veranden. Die nähere Raum-
vertheilung ergiebt sich aus dem Grundriss Nr. 1. Es
ist nicht zu erwarten, dass vorwiegend Bettlägerige
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
467
bei diesen gegenseitige Störungen ausschliessenden
Anordnungen von der Grösse des Baues Nachtheile
hätten. —
Es sei hier gleich — als Einschaltung — die
Unterbringung des Pflegepersonals erwähnt. In der
Lichtenberger Anstalt schläft das Pflegepersonal nicht
in von Kranken benutzten Räumen, sondern soweit
möglich (und abgesehen von den zweistöckigen Land¬
häusern) in den nur theilweise ausgebauten Dachge¬
schossen. Nur ein Bruchtheil der Pfleger muss aus dienst¬
lichen Gründen in kleinen, aber ganz abgeschlossenen
Zimmern, die auf den beiden unteren für die Kranken
Die Errichtung selbständiger Wohnhäuser
für das Pflegepersonal halte ich für unsere Ver¬
hältnisse vorläufig noch nicht für unbedingt nöthig.
Es hat sich gezeigt, dass durch eine möglichst gründ¬
liche Trennung, also durch Verlegung in ein beson¬
deres Stockwerk, es gelingt, den Pfleger in seiner
freien Zeit, namentlich Abends, gewissermaassen aus
der Atmosphäre des aufreibenden Krankendienstes
herauszubringen. Dies meines Erachtens unabweis-
liche Bedürfnis wird ja zweifellos durch Wohnen in
gesondertem Hause noch gründlicher befriedigt. Be¬
sucht man ein nurses liome, wie z. B. das der An-
Gnindriss Nr. 1.
/tfve.
Haus für 150 schwache Kranke der Anstalt für Geisteskranke der Stadt Berlin in Buch.
Erdgeschoss.
a Corridore, auch als Tagesräume zu benützen und auf offene Hallen (H) mündend, b Einfenstrige Zimmer für einzelne Kranke
(Schlafzimmer), b , event. für wegen Infectionsgefahr (massigen Grades) Abzusondernde, für Erregtere oder für dem Anblicke der
übrigen zu Entziehende (Moribunde u. A.). c Tage- und Speise-Räume für die nicht dauernd bettlägerigen Kranken, d Säle
für dauernd oder ganz vorwiegend bettlägerige Kranke, e Schlafräume für nicht dauernd bettlägerige Kranke, f Küchen- und
Anrichteraum, g Sprechzimmer und Vorzimmer, h Zimmer für einzelne Pfleger, welche auf diesem Stockwerk schlafen müssen,
während die grosse Mehrzahl der Pfleger im Dachgeschoss untergebracht ist. Dort befindet sich auch der Aufenthaltsraum für
Pfleger, i Wäsche- und Gerätheraum. k Wasch- und Baderaum. I Raum für verlängerte Bäder, m Aerztliches Untersuchungs¬
zimmer. n Chirurgisches Zimmer, mit besonders grosser Fensterfläche, Fliessenbelag, Entwässerung u. s. w. ausgestaltet. (Im
Obergeschoss können g , m und n als Räume für Beschäftigung u. s. w. verwandt werden.) H Veranden (Hallen).
bestimmten Stockwerken — aber möglichst getrennt von
den Krankenräumen — liegen, schlafen. Nur so erhalten
Pfleger und Kranke ihr Recht: die Vermeidung gegen¬
seitiger Störung. Bei der neuen Anstalt soll dies
noch vollständiger durchgeführt werden, es hat nm
der für Nothfälle gar nicht entbehrliche Theil des
Pflegepersonals Schlafraum im Erd- und Obergeschoss
erhalten.
stalt Gartloch bei Glasgow, so kann über die Vorzüge
solcher Einrichtung an sich kein Zweifel bestehen
bleiben. Für das Pflegepersonal kann nicht leicht
genug geschehen, denn es kann bekanntlich mehr
verderben, als die schönste bauliche Anordnung nützen
kann. Wenn nun trotzdem auf besondere Wohn¬
häuser für die Pfleger zunächst verzichtet ist, so ge¬
schah dies aus mehreren Erwägungen. Dass, um
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4 68 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
einen gar zu grossen Bau und seine Nachtheile —
gerade für diese Personen — zu vermeiden, die Her¬
stellung mehrerer Häuser nothwendig gewesen sein
würde, war kein durchschlagender Grund. Wesent¬
licher aber wirkt der Umstand, dass das Pflegeper¬
sonal bei einem etwas weiter entfernten besonderen
Wohngebäude — und eine gewisse Entfernung wird
sich bei einer sehr grossen Anstalt schwer vermeiden
lassen — manche Unbequemlichkeit mit in den Kauf
nehmen müsste. Ich will kein besonderes Gewicht
darauf legen, dass ein Zusammenwohnen von einigen
2o|Personen, wiejetzt, und die Anordnung entsprechender
man nicht eine Zusammenkunft in grösserer Zahl
durch Vorträge oder sonstige Veranstaltungen schmack¬
haft machen, so zieht die Mehrzahl kleinere Kreise
des Verkehrs vor.
Schliesslich aber kommt die Störung, welche für
die kurzen Dienstpausen im Laufe des Tagesdienstes
durch das Wohnen ausserhalb der Krankenhäuser,
selbst in mässiger Entfernung, entsteht, erheblich in
Betracht. Es soll bei uns einem jeden Pfleger in der
Regel die Möglichkeit gegeben werden, unter wech¬
selnder Ablösung im Dienste, um die Mittagszeit für
etwa 3 /4 Stunden aus den Krankenräumen heraus-
Grundriss Nr. 2.
* S 70 20 30
-O'-“»-- - l 1 ■ J- - 1-
/cW.
Offenes Haus für 100 geordnete Kranke der Anstalt für Geisteskranke der Stadt Berlin in Buch.
Erdgeschoss.
a Tageräume, h Schlafräume, b, Einfenstrige Zimmer für einzelne Kranke oder Pfleger, die Räume für die Mehrzahl der letzteren
liegen im Dachgeschoss, c Für zwei Abtheilungen (also für 30 Kranke) gemeinsamer Speisesaal, d Kleiderablage und Wasch¬
raum für ausser dem Hause Beschäftigte, e Küchen- und Anrichteraum, f Fahrbare Wanne und Gerätheraum (h und f im
Obergeschoss für Ausbesserungen u. s. w.). g Waschräume. Brausebäder u. s. w. h Arztzimmer (im Obergeschoss für häusliche
Beschäftigungen), i Raum für 1 Bett oder einen Pfleger oder fahrbare Wanne (auf verlängerte Bäder wird hier nicht gerechnet).
k Vorhalle. L Lazareth für leicht körperlich Kranke, oder zeitweise der Ruhe Bedürftige (nur im Erdgeschoss vorhanden).
Erholungsräume, vielleicht gemüthlicher sich ausbilden
lässt, als wenn eine drei- bis vierfach so grosse Zahl
unter einem Dache versorgt werden soll. Immerhin
haben wir erfahren, dass sich für die Zeit nach dem
Dienste vorzugsweise kleinere Gruppen im Pflcgeper-
sonale bilden und dass gemeinsame Erholungen und
Gesclligkeitsgelegenheiten für eine grössere Menge bei
dem Pflegepersonal im Allgemeinen nicht besonders
beliebt sind. Ein Kreis wie der oben angegebene
genügt zumeist für den regelmässigen Verkehr. Kann
zukommen. Für die anstrengendere Thätigkeit — in
Lazarethen u. s. w. ist dies durch regelmässige Ab¬
lösung in bestimmtem Wechsel für eine längere Pause
gesichert. (Nur auf den Landhäusern, wo eine Auf¬
sicht über die Kranken nicht verlangt wird, ruht der
Dienst nach Tisch gewissermassen von selbst einige
Zeit.) Es ist leicht ersichtlich, dass sich diese Dienst¬
pause nur bei nicht zu weiter Entfernung des Wohn-
raumes des Pflegers von der Dienststelle befriedigend
durchführen lässt. So ist cs gekommen, dass wir das
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wohnen in den Krankenhäusern, aber möglichst ge¬
trennt von den Kranken, in anderen Stockwerken,
wenn auch unter demselben Dache, vorläufig noch
beibehalten haben.
Eine vollkommene Ausnahme hiervon muss man
aber bei dein Theilc des Personals machen, welcher
den Nacht w a ch dienst in Vollwachen unter
monatlichem Wechsel versieht und daher den grössten
Theil des Tages zur Ruhe verwenden muss. Für diese
Personen ist ein Wohnen ausserhalb des Gebäudes,
wo sic Dienst tluin, nicht nur erwünscht, sondern
auch für den ganzen Dienst in den Krankenhäusern
förderlich. Sie finden hier am Tage nur schwer voll¬
kommene Ruhe und waren bei den für sie noth-
wendigen Ausgängen und Spaziergängen und wegen
des Ruhebedürfnisses, trotzdem ihre Schlafzimmer im
2. Stock möglichst abgesondert gewählt waren, den
Uebrigen nur im Wege. Deshalb haben wir jetzt
diese Pfleger und Pflegerinnen sämmtlich für die
einen Monat betragende Nachtdienstperiode auf
in den Parkanlagen befindliche Landhäuser und
zwar unter möglichster Berücksichtigung ruhiger Unter¬
kunft daselbst verlegt. Sie betreten die Hauptanstalt
nur zum Antritt ihres Dienstes. Natürlich kann man
eine solche Einrichtung auch in einem eigenen Ge¬
bäude bewirken; dass dies liier nicht geschehen ist,
liegt nur daran, dass uns bisher geeignete Räume zu
Gebote standen und dass die Zahl des Nachtwach¬
personals für Vollwacheu — im Ganzen 18 Männer
und 12 Frauen — sich noch ohne Bedenken im
Oberstock je eines Landhauses unterbringen liess. —
Die Herstellung eines eigenen Wohnhauses wird dann
nothwendig werden, wenn man die Durchführbarkeit
weiblicher Krankenpflege auch auf einzelnen Männer-
Abtheilungen bestimmt bejahen kann. —
Nach dieser Abschweifung über das Wohnen des
Pflegepersonals wende ich mich zurück zu den Be¬
merkungen über die Grösse der Kranken-Häuser.
Als eine Probe des in der Ausdehnung dem grossen
Pflegchause am nächsten kommenden Gebäudes ist
der Grundriss Nr. 2 „offenes Haus“ beigefügt. In
diesem Hause, welches ohne besondere Sicherung ist,
sollen loo Kranke von geordnetem Verhalten unter¬
gebracht werden. Es sind dabei Korridore ver¬
mieden. Man fürchtet nun — abgesehen von dem
äusseren Eindruck — von einer übermässigen Grösse
eines Hauses, dass sich die Kranken gegenseitig stö¬
rend beeinflussen. Dies zu vermeiden ist natürlich
um so leichter, je ruhiger und in ihrem Wesen über¬
einstimmend die Kranken sind. Gerade die grossen
Anstalten können wegen der erheblichen Zahl der
Insassen auch in etwas grösseren Gebäuden die Be-
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-} f >0
legschaft eher gleichartig gestalten. Dann aber kommt
es bei der Frage der gegenseitigen Störung durchaus
nicht etwa nur auf die Grösse eines Hauses, sondern in
erster Linie auf die Grösse der einzelnen A bth ei 1 u n g
an. Stehen genügende und mehrfache Tagesräume
für jede Abtheilung zu Gebote, so hat auch hier das
Zusammen fassen mehrerer Gruppen unter einem Dache
keine schädlichen Folgen. Aus der Figur 2 ist nun
ersichtlich, dass eine Gruppirung zu je 25 Kranken
in dem Hause durchgeführt ist, also in einer Zahl,
welche zweifellos eine durch zu grosse Massen her¬
beigeführte Unbehaglichkeit oder gar Unruhe bei so
geordneten Kranken ausschliesst. Andererseits gestatten
die vier Abtheilungen, nicht zusammengestimmte Ele¬
mente zu vertheilen. Es ist sonach die Zahl in einer
Abtheilung eher geringer als die derjenigen Kranken,
welche in einem kleineren Hause für Ruhige, aber
ohne Unterabtheilungen mit einander in Berührung
treten würden. Nur der Speisesaal ist für je 2 Abtheil¬
ungen, also für 50 Kranke, eingerichtet, wie sich dies
uns durchaus bewährt hat.
Wie in diesem sogenannten „offenen Hause“ soll
auch im Aufnahme-Hause keine Abtheilung über 25
Kranke enthalten und dabei in allen Räumen getrennt
sein.
Die Landhäuser als kleinste bauliche Einheiten
bieten etwa je 40 Plätze. Plier, bei nicht mehr be¬
sonders zu beaufsichtigenden Kranken stellt jedes
eine Abtheilung dar. Es konnten auf diesen Häusern
wieder eine grössere Anzahl von Kranken in unmittel¬
bare Berührung, ohne Gliederung in Abtheilungen,
gebracht werden als dort, wo, wie im sog. offenen
Hause der Hauptanstalt, die Auslese in dieser Richt¬
ung noch eine sorgfältigere sein muss.
Dass für diese Kranken über eine gewisse Grösse
des Gebäudes (hier 40 Plätze) nicht hinausgegangen
werden kann, ergiebt sich aus ihrer Eigenart. Einmal
sind es genesende oder in Folge ihrer Besserung der
Entlassung entgegensehende Kranke. PTir sie soll nach
bekannten Grundsätzen möglichst wenig „Anstalt“ und
möglichst viel „Heim“ hergestellt werden. Gerade dieser
durchgreifende Unterschied, der in der Grösse wfie in
der Lage und der Einrichtung der Häuser zum Ausdruck
gelangt, kann übrigens auch ärztlich verwandt werden.
Zu den erwähnten, voraussichtlich in absehbarer Zeit
zur Entlassung kommenden Kranken tritt eine Reihe
von länger der Anstaltspflege bedürftigen, geordneten
Personen, deren Zustand mehr eine zweckmässige
Behausung und Schutz vor den Einwirkungen des
Aussenlebens bedingt als eine eingreifende Behand¬
lung und genaue Ueberwachung. Auch sie finden
zweckmässig in kleineren freiliegenden Häusern Platz.
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HARVARD UNIVERSUM
4?o
Aus dem Gesagten wird sich ergeben, nach welchen
Grundsätzen verfahren worden ist. Die Abschätzung
der verschiedenen Kategorien des Krankenbestandes
ist maassgebend gewesen. Soweit kleine Häuser nütz¬
lich sind, werden sie erbaut. Wo die grosse Menge
der Kranken mit ausgesprochen tiefergreifenden Ver¬
änderungen des Gehirns — also von Paralytischen,
Senilen, an Gefässveränderungen u. s. w. Leidenden,
welche die Grossstadt liefert — oder der aus anderen
Gründen vorzugsweise mit Bettruhe zu pflegenden
Kranken mehr eine Hospitaleinrichtung erforderte, ist
die Zusammenziehung der Abtheilungen zu grösseren
Gebäuden nicht abgewiesen worden.
Wie sich die Familienpflege unter Aufsicht der
Anstalt in Buch gestalten wird, muss abgewartet werden.
Für ihre Einrichtung in einem gewissen Umfange er¬
scheinen die Verhältnisse, bei Heranziehung der an
derselben Vorortlinie liegenden Ortschaften, durchaus
nicht ungünstig. Die Lage der neuen Anstalten, etwas
entfernter von der Stadt, könnte sogar auf den ersten
Blick viel vortheilhafter erscheinen, als die der dicht
an dem eng bebauten Stadtgebiet liegenden älteren.
Indess kommt es bei unserer Familienpflege nicht
in erster Linie auf geringere Wohnungsdichte, ruhige
Umgebung u. s. w\ an, sondern, wenigstens für einen
gewissen Theil der Kranken, auch auf möglichste
Anlehnung an die früheren Verhältnisse. Die Unter¬
bringung in den mehr ländlichen Verhältnissen der
Vororte mit ihrem Gemüsebau u. s. w\ kann daher
für dauerndere Versorgung Vorzüge gegenüber der in der
Stadt bieten, sie wird aber nicht in allen Fällen für
die Anbahnung der Rückkehr in die frühere Beschäf¬
tigung u. s. w. und für die Erreichung einer möglichst
[Nr. 42 .
dem bisherigen Lebensgange entsprechenden Lage ge¬
nügen. Daher wird vielleicht eine Neuordnung der
fachmännisch ärztlichen Aufsicht der Familien pflege,
welche cs gestattet, Kranke, die aus verschiedenen
Anstalten stammen, zusammenzufassen, sich nützlich
erweisen. Die Aufsicht über in Pflege Gelangende
braucht dabei nicht sofort oder in allen Fällen auf
diese Weise geführt zu werden, sondern kann je nach
der Art des Falles auch — vielleicht nur für ge¬
wisse Zeit — noch von der entlassenden Anstalt aus¬
geübt w f erden.
Aus allen obigen Ausführungen ersieht man, wie
die Fürsorge einer so grossen Stadt wie Berlin in
mehrfacher Beziehung, namentlich in der Art der bis¬
herigen Lebensbedingungen der Kranken und in
starkem Ueberwiegen der Aufnahme über die Bestands¬
ziffer Abweichungen gegenüber anderen Stellen dar¬
bietet Trifft letzteres allerdings in besonderem
Maasse für die bestehenden Anstalten zu, so werden
doch auch die künftigen, in w'esentlichen Punkten, den
geschilderten Eigenthümlichkeiten anzupassen sein.
Eine erschöpfende Darstellung des Planes für die
Weiterentwicklung der Berliner Fürsorge war, wie der
Titel dieses Aufsatzes zeigt, hier nicht beabsichtigt.
Bei dieser Aufgabe w r ürden noch andere Fragen,
die ebenfalls durch die Eigenthümlichkeiten einer rein
grossstädtischen Bevölkerung besondere Bedeutung er¬
langen , namentlich die zweckmässige Unterbringung
solcher mit zahlreichen Delicten im Vorleben behaf¬
teter Kranker, bei denen erneute Gesetzesverletzungen
ausserhalb der Anstalt zu erwarten sind, eine ein¬
gehendere Erörterung zu erfahren haben.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Bemerkungen zu dem Referat des Herrn
Frimararzt Dr. Epstein übermein Buch „Die Träume“.
Zu den wohl wollenden Besprechungen, welche die
deutschen Collegen meinem Buche „Die Träume“
gewidmet haben , ist jetzt noch die von Herrn Dr.
Epstein, in No. 22, 1902 der „Psychiatrisch-Neu¬
rologischen Wochenschrift“ hinzugetreten. Es sei mir
hier gestattet, zu einigen kritischen Bemerkungen, die
auch von anderer Seite in Deutschland gemacht wurden,
mit wenigen Worten Stellung zu nehmen.
Ich sagte, dass der Traum Ursache einer Geistes¬
krankheit sein kann; Herr Dr. Epstein behauptet, dass
dies schwer anzunehmen und dass ihm eine durch
einen Traum bedingte Psychose noch nicht begegnet
ist.
Ein anderer kritischer Punkt wäre die Frage der
T raumäquivalente.
Diese beiden Punkte sind es, w’elche auch Herr
Dr. Möbius in seiner Vorrede zur deutschen Ausgabe
meines Buches beanstandet hat.
Dass der Traum manchmal Geistesstörung hervor¬
ruft, ist eine allen älteren und neueren Irrenärzten
bekannte Thatsache. In meinem Buche habe ich
über einen Theil der einschlägigen Litteratur berichtet.
Insbesondere bei den französischen Autoren finden
sich mehrere Beobachtungen registrirt, welche deutlich
zeigen, w as Herr Dr. Epstein bestreitet. Aber vielleicht
soll es heissen, dass, wenn der Traum auch einen
krankhaften Geisteszustand erzeugen kann,
er noch nicht eine Geisteskrankheit im eigentlichen
Sinne des Worts entstehen zu lassen braucht. — Hier
befinden wir uns in der That auf dem Gebiet jener
psychiatrischen Nomenclatur, welche Möbius in meinem
Buche als wenig sichre bezeichnet. Als ich „Die
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 471
Träume“ (italienische Ausgabe) schrieb, herrschte bei
den italienischen Psychiatern keine völlige Ueberein-
stimmung über die Nomcnclatur und Classification der
Psychopathien. Jede Klinik und jede Anstalt hatte
ihre eigenen gewohnten Bezeichnungen; z. B. stellte
inan hier und da nie die Diagnose Paranoia, weil
man sich ohne Weiteres nach der Klassifikation von
Verga richtete; in Rom z. B., wo das Lehrbuch
von Schüle noch massgebend war, dagegen stellte
man mit Vorliebe diese Diagnose. Jetzt ist das anders.
Die letzten Ausgaben des Kraepelin’schen Buches
sind auf diese Aenderung der Anschauungen von
grossem Einfluss gewesen, wie man auf dem Congress
der italienischen psychiatrischen Gesellschaft im Jahre
1901 constatiren konnte.
Wie dem auch sei, ich nahm an, dass, während
der Traum häufig krankhafte Geisteszustände, acute
oder subacute, verursachen kann, er seltener auch
chronische Psychosen paranoischer Natur hervorrufen
könne. Ich hatte schon in früheren Veröffentlichungen
über damit übereinstimmende klinische Beobachtungen
berichtet und nach mir haben es auch andere Forscher
gethan.
Wenn Herr Dr. Epstein solche Beobachtungen
nie gemacht hat, so kann das nur beweisen, dass der
Vorgang ein seltener ist. Seine negativen Erfahrungen
können meine positiven nicht abschwächen. Dass sich
ein Zweifel erheben kann, ob ein bestimmter Traum
die U r s a c h e der Krankheit, oder das Symptom
einer schon vorher bestehenden, noch nicht deutlich
zum Ausbruch gekommenen ist, habe ich schon in
meinem Buche erörtert.
Die Frage der Traumäquivalente nervöser Zufälle,
von mir im Jahre 1897 auf dem hypnologischen
Congress in Brüssel behandelt, ist sicherlich noch
complicirter, zumal da, wie ich in meinem Buche be¬
merkte, der Begriff der Aequivalenz in der Nerven-
pathologie nicht sehr klar ist. So gut es möglich,
suchte ich ihn jedoch zu erklären und zu bestimmen,
bevor ich die von mir als Traumäquivalente inter-
pretirten klinischen Thatsachen beschrieb.
Herr Dr. Epstein sagt, dass mein Begriff des Traum-
äquivaler.ts z. Th. demjenigen des epileptischen Aequi-
valents entspricht. Gut: epileptisches Aequivalent,
aber onirisches! Für mich besteht kein Zweifel,
dass der epileptische Anfall in manchen Träumen
der Epileptiker ein Aequivalent findet. Nach mir
haben, wenn auch unter anderen Namen, Fe re,
Ducoste, Foumier und auch italienische Psychiater
dies nachgewiesen. Ist es vielleicht das Traumäqui¬
valent des hysterischen Anfalls, das man in Zweifel
ziehen will? Ich gebe zu, dass der auf Seite 101
meines Buches erwähnte Fall auch als Fall von Epi¬
lepsie gedeutet werden kann, namentlich, da ich bei der
summarischen Beschreibung nicht mitgetheilt habe,
dass die Kranke ohne Bromkur heilte; aber das be¬
einträchtigt nicht meine Schlussfolgerung, dass auch
bei der Hysterie Traumäquivalente Vorkommen können;
ich führte zum Nachweise noch andere klinische Fälle
an.
Herr Dr. Epstein wundert sich über einige meiner
klinischen Ausdrücke auf Seite 149. Im italienischen
Text lauten sie so: „e certo che alla visione onirica
cenestesica si deve quella ceita prescienza che talora
is sogno ci da circa gli avvenimenti che si verifiche-
ranno nel nostro corpo in un tempo piu o meno lon-
tano, e quella reminiscenza talvolta meravigliosa di
avvenimenti accaduti in noi e dalla coscienza della
veglia completamente ignorati“. Nun, diese Behauptung
bietet nichts Neues. Ich will damit nur sagen, dass
während des Schlafs unser allgemeines Empfindungs¬
vermögen so fein sein kann, dass es 1. körperliche
Veränderungen, z. B. beginnende Krankheiten, uns
wahrnehmen lässt, die im Wachen nicht wahrnehm¬
bar sind; 2. solche Veränderungen, die in Wirk¬
lichkeit in uns vor sich gegangen, aber im Wachen
von uns gänzlich ignorirt worden sind, im Traum
als neues Erlebniss oder als Erinnerung auftauchen
macht. „Visione onirica cenestesica“ ist ein neuer
Ausdruck, der bedeutet Projectionen der gewöhnlichen
oder allgemeinen oder inneren Empfindungen in das
Traumbewusstsein. Aber gerade wegen seiner Neu¬
heit sagte ich „wenn es der Ausdruck gestattet“, ob¬
gleich er sehr leicht verständlich ist. Uebrigens, wenn
jene meine Behauptung, für sich allein gelesen und
betrachtet, zweideutig erscheinen sollte, so möge man
das Vorausgehende und Nachfolgende lesen. Vielleicht
Hessen sich in der deutschen Uebersetzung die im
italienischen Original ausgedrückten Ideen nicht immer
naturgetreu wiedergeben, und vielleicht finden daher
die deutschen Leser Manches dunkel, was an sich
klar und gemeinverständlich ist.
Rom, 20. December 1902.
Prof. Sante de Sanctis.
— Dortmund, Die Unterbringung der Geistes¬
kranken hat sich für Dortmund in letzter Zeit zu
wahren Kalamitäten herangebildet. Zeitweise mussten
solche Kranke bereits in Gefängnissräumen unterge¬
bracht werden, da die für diesen Zweck vorgesehenen
Räume auf der Station für Irre nicht ausreichten,
weshalb sich infolgedessen für die hiesige Verwaltung
die Nothwendigkeit herausgestellt hat, der Frage näher
zu treten, ob die Stadt oder die Provinz zur Unter¬
bringung der Geisteskranken verpflichtet sei. Für die
bedürftigen Kranken fällt diese Pflicht ohne weiteres
der Provinz zu, dagegen sind die gesetzlichen Be¬
stimmungen darüber nicht ganz klar, wer für die
Unterbringung der begüterten Geisteskranken zu sorgen
hat. Die hiesige Verwaltung steht auf dem Stand¬
punkt, dass dieses Sache der Provinz sei und hat sich
unter Darlegung des Sachverhalts an das Oberpräsidium
gewandt
Referate.
— Die Dipsomanie. Eine klinische Studie
von Dr. Robert Gaupp, Privatdozent an der Uni¬
versität Heidelberg. Verlag von Gustav Fischer,
Jena 1901.
Für die Klinik der Epilepsie ein bedeutsames
Buch, wenn der Verfasser mit seinen Anschauungen
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472 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
Recht behält! Denn er beabsichtigt nicht mehr und
nicht weniger als „der Dipsomanie das klinische
Bürgerrecht als einer Form psychischer Epi¬
lepsie zu verschaffen.“
Von vornherein muss anerkannt werden, dass der
logische Aufbau der Gaupp’schen Beweisführung
durchaus zwingend und geradezu mustergiltig ist. Der
Beweis kann also als erbracht angesehen werden, wenn
die anderweitige Nachprüfung die von Gaupp ver¬
werteten klinischen Thatsachen als solche durchweg
bestätigt.
Verfasser stützt sich auf die durch Kräpclin und
Aschaffen!>urg ausgebildcte Lehre von den epileptischen
Verstimmungen. Solche Verstimmungen treten bei
Epileptikern nach der anschaulic hen Schilderung in
Kräpelin’s Lehrbuch (0. Auflage, Seite 461) ohne
äussere Veranlassung aus innerer Ursache auf.
Sie dauern Stunden bis Tage lang und kennzeichnen
sich entweder nur als gemütliche Spannung ohne Be¬
wusstseinstrübung oder es treten zu derselben auch
vereinzelte Sinnestäuschungen hinzu, so dass ein flicsson¬
der Übergang zu den bekannten Formen epileptisc her
Delirien existirt. Während dct Dauer der Ver¬
stimmung kann jedes Krankheitsgefühl fehlen; nach
ihrem Verschwinden hat der Kranke Einsicht für das
Pathologische seines Verhaltens: er konigirt die im
Verstimmungs-Anfall gemachten Aeusscrungen bezw.
Handlungen; die Verstimmung erscheint ihm selbst
nachher fremdartig.
Die Erwähnung, welche bisher in der Litteralur
die Kräpelin’sche Lehre von den epileptischen Ver¬
stimmungen gefunden hat, ist durchweg eine zu¬
stimmende gewesen, so neuerdings bei Pfister.
Eine besondere Nachprüfung dieser Lehre von
anderer Seite ist bisher, soweit ich sehe, nicht erfolgt.
Gaupp selbst aber kann aus eigener Anschauung die
Angabe Aschaffenburg’s bestätigen, dass die Mehrzahl
der in der Heidelberger Klinik behandelten, durchweg
geisteskranken Epileptiker solche Verstimmungen
darbietet. Er theilt uns auch (seine Gruppe II) die
Krankengeschichten einer Reihe solcher Patienten
mit, welche an periodischen Verstimmungen leiden
und bei denen sich ausserdem andere epileptische
Anfälle psychischer oder somatischer Art finden.
Gaupp schildert ferner (seine Gruppe I) eine
Reihe von Fällen reiner Dipsomanie. Bei diesen
Fällen bildet regelmässig eine spontan auftretende
Verstimmung die Einleitung des dipsomanischen An¬
falls. Der Verstimmung folgen die Trunkexccsse etc.
Waren diese Dipsomanen in der Anstalt internirt, so
traten die Verstimmungen in ganz gleicher Weise auf,
wenn auch aus äusserem Zwange ihnen das Trinken
nicht folgen konnte.
Gaupp führt uns dann einen Schritt weiter: Er
schildert eine 3. Gruppe von Kranken, welche ausser
den dipsomanischen Attaquen vereinzelt auch andere
anerkannt epileptische Anfälle darboten, wie Krämpfe,
Schwindelanfälle, Dämmerzustände etc.
Hier werden die meisten Kliniker auch die von
Gaupp angeführten Thatsachen aus eigener Erfahrung
bestätigen können, insbesondere wie oft in der Anam¬
nese mancher Dipsomanen vereinzelte Krampfanfälle,
Absencen der Kinderzeit figuriren. Aber sollten wir
nicht gerade in dieser Gruppe theoretisch ein reich¬
licheres Thatsachenmaterial fordern dürfen ? Wir
kennen alle den unheilvollen Einfluss des Alkohols
auf epileptische Gehirne. Die Dipsomanie nun pflegt
nac h längerem Bestehen nach Gaupp’s eigener treff¬
licher Schilderung meist mit chronischem Alkoholismus
sich zu combiniren. Wenn die Dipsomanie, beziehent¬
lich die ihr zu Grunde liegende Gehirn Veränderung
nichts als eine besondere Form der Epilepsie ist,
dann müssen wir als Endstadium der Dipsomanie
häufig echte Epilepsie mit ihren ausgesprochenen Er¬
scheinungen, (mit Krämpfen, geistigem Rückgänge etc.)
anzutreflen erwarten. Vielleicht fehlten Gaupp aus
äusseren Gründen (Material der Klinik) derartige Be¬
obachtungen.
Ich glaubte der Sac he am ehesten zu dienen, ge¬
wiss auc h im Sinne des Verfassers, wenn meine Be¬
richterstattung besonders die Punkte heraushebt, an
denen meines Erachtens die weitere klinische Forschung
sich mit den Gauppschen Ergebnissen zu beschäftigen
haben wird.
Bezüglich des übrigen Inhalts der Arbeit möge
die Bemerkung genügen, dass an der Hand eines
reichen Materials und eingehendster Berücksichtigung
der Litteratur die Dipsomanie hier in allen ihren
klinischen Einzelheiten und Beziehungen eine sorgfältige
Schilderung gefunden hat, so dass die Lektüre des
Büchleins auch ausserhalb ihrer geschilderten Haupt¬
tendenz vielfache Anregung und Belehrung bietet.
B r a t z - Wuhlgarten.
Personalnachrichten.
— Personal Veränderungen an den Pommer¬
sch en Pro vin zial - Irren ans talten.
Der kommissarische Assistenzarzt Dr. Voll heim
in Lauenburg i. Pom. ist zum Assistenzarzt ernannt.
Der Volontärarzt Dr. Balz er daselbst ist mit dem
r. September 1902 aus dem Provinzialdienste ge¬
schieden, an seine Stelle ist der praktische Arzt Dr.
Erwin Lauschner aus Leipzig getreten. In Uecker¬
münde ist Dr. Heinrich Overhof als Volontärarzt
und der kommissarische Assistenzarzt Paul Meyer
als Assistenzarzt angestellt.
— Unserem sehr verehrten Herrn Mitherausgeber,
Privatdocent Dr. Sehultze, wurde das Präclicat als
Professor verliehen. — In Marburg habilitirte sich
Dr. Jahrmärker für Psychiatrie.
Herr Professor Dr. Pick-Prag ersucht uns zur
Kcnntniss zu bringen, dass er keine Veranlassung
habe, auf die Entgegnung des Herrn Director Dr.
Pfausler weiter zurückzukommen.
Für den redactionelleu Theli verantwortlich: Oberarzt Dr. J. JJrc&lcr, Kraschnitz (Schlesien).
Krscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Ilevnemann’sehe Pmchdruckerci (Gehr. WoitT) in Halle a S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von *
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Nr. 43. 24. Januar. 1903.
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Inhalt. Originale: Goethe über Irrenanstalten und Geisteskrankheiten. Von Geh. Med.-Rath Dr. F. Fischer-Pforzheim (S. 473).
— Mittheilungen (S. 476). — Referate (S. 479).
Goethe über Irrenanstalten und Geisteskrankheiten.
Von Geh. Medicinalrath Dr. F. Fischer- Pforzheim.
^Jnterm 17. März 1830 berichtet Eckermann fol¬
genden Ausspruch Goethes: „Die Welt ist so
voller Schwachköpfe und Narren, dass man nicht
nöthig hat, sie im Tollhause zu suchen. Hierbei fällt
mir ein, dass der verstorbene Grossherzog, der meinen
Widerwillen gegen Tollhäuser kannte, mich durch
List und Ueberraschung einst in ein solches einführen
wollte. Ich roch aber den Braten noch zeitig genug
und sagte ihm, dass ich keineswegs ein Bedürfniss
verspüre, auch noch diejenigen Narren zu sehen, die
man einsperre, vielmehr schon an denjenigen voll¬
kommen genug habe, die frei umhergehen. „Ich bin
sehr bereit“, sagte ich, „Euer Hoheit, wenn es sein
muss, in die Hölle zu folgen, aber nur nicht in die
T o 11 h ä u s e r.“ “ Dazu bemerkt Ludwig Geiger in
seiner neuen Ausgabe derEckermann’schen Gespräche:
„Die folgende sehr merkwürdige Aeusserung kann
durch kein damaliges Zeugniss belegt werden, weder
in Werken noch Briefen wird von Irrenhäusern ge¬
sprochen.“
Vielleicht gehört diese Aeusserung Goethes auch
zu jenen „Gedächtnissverwirrungen und Verwechs¬
lungen“, von denen er sagt, dass sie wohl einmal
Vorkommen und dass Wohlwollende sie verzeihen
werden. Er schreibt nämlich von Ilmenau aus (während
einer Reise mit dem Herzog Carl August) am 5. Juli
1781 an Frau v. Stein: „(Wir) haben im Zucht-
und Tollhaus (Eisenach ?) merkwürdige Gestalten ge¬
sehen.“ Darnach war er mit dem Herzoge in einem
„Tollhause“. Auch den Inhalt eines Gespräches mit
Riemer am 1. Februar 1813 kann ich nur mit dieser
Annahme verstehen (Biedermann III, 74):
„Das Ungeheuere in der Kultur ist dies, dass wir
unser Publikum wider seinen Willen und zu unserm
Schaden zur Ironie erheben, indem wir seine Leiden¬
schaften reinigen dadurch, dass wir alles zur Ansrhau-
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474
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 43 -
ung bringen, selbst den Wahnsinn und die Irren¬
häuser und Narrenhospitäler. Denn was kann von
dem allen das Resultat sein, als dass es dieses sonst
für das Gefühl und die Empfindung so Zer¬
reissende auc h nur als einen Zustand kennen lernt,
als ein Pathologisches, demgegenüber cs sich besser,
erhabener fühlt und mit dem es zuletzt spielen lernt.“
Geisteskranke und Irrenhäuser haben für Goethe
etwas „für das Gefühl und die Empfindung Zcrreis-
sendes“, dieser Eindruck kann nur aus der leben¬
digen Anschauung empfangen sein.
Der Begriff „Tollhaus, Irrenhaus“ wird ausser¬
dem von Goethe häufig gebraucht. Gerade in dem
eingangs erwähnten Gespräche vom 17. März 1830
erzählt er eine Unterredung über den Wert her' mit
dem Bischof von Derby, Lord Bristol, dem er
u. A. verwirft: „Und ferner, wenn Ihr durch Eure
Predigten über die Schrecken der Ilöllenstrafen die
schwachen Seelen Eurer Gemeinden ängstigt, soriass
sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges
Dasein zuletzt in einem Tollhause endigen!“
An Schiller sc hreibt er am 28. Juni 1708: „Desto
entschiedener ist der Brief, den Sie zugleich erhalten
und ein herrliches Muster einer Tollheit ausser dem
Toi lha use, denn das Kriterium, warum man einen
solchen Mensc hen nic ht einsperrt? möchte schwer an¬
zugeben sein. Das einzige, was vor ihn spricht, möchte
die Unschädlichkeit sein und das ist er nicht* sobald
er uns näher kommt. Da ich ihn aber nicht ein¬
sperren kann, so soll er wenigstens ausgesperrt w erden“.
Auch folgender Vers mag hier als weiterer Beleg
angeführt werden:
„Mit Narren leben wird Dir gar nicht schwer,
Versammle nur ein To 11 haus um Dich her,
Bedenke dann — das macht Dich gleic h gelind —
Dass Narrenwärter selbst auch Narren sind.“
In einem Briefe vom 5. August 1812 an Christiane
findet sich folgende Stelle: „Von Arnims nehme ich
nicht die mindeste Notiz, ich bin froh, dass ich die
Tollhänslcr los bin“.
Ueber den offenbar geisteskranken Einsiedel
schreibt er am 4. November 1781 an den Herzog
Carl August: „Ich habe indess als moralischer Leib¬
arzt einen verworrenen Handel (denn wenig mensch¬
liche Dinge endigen sich, ausser durch den allgemeinen
Schluss) doch bis zur Entwicklung führen helfen.
Eine alte Krankheit zerrüttet die Einsiedclische Fa¬
milie, der häusliche, politische, moralische Zustand
hat auf den Vater gewirkt, dass er nahe an Toll¬
heit, wahnsinnige, wenigstens schwer erklärliche
Handlungen vorgenommen hat, endlich zu Hause
durchgegangen ist und seinen Sohn hier aufgesucht
hat. Ich habe mich, um kurz zu sein, des Alten be¬
mächtigt und ihn nach Jena in das Sc hloss gebracht, wo
ich ihn unterhielt, bis seine Söhne ankamen, die indess
zu Hause mit Mutter und Onkel negotiirt und die Sache
auf einen Weg geleitet hatten. Die ganze Woche
ist mir auf diese Besorgnisse aufgegangen, und ich wollte
Ihnen nicht eher schreiben, bis ich dem Ausgang
näher wäre, worauf ich jeden Tag hoffte“.
Von ganz besonderer Bedeutung ist Goethes Mit¬
arbeit bei der Gründung der Irrenanstalt in Jena.
Am ig. März 1802 schreibt er (damals in Jena)
in sein Tagebuch : „Landschaftliches Cirkular wegen
Combination des Irrenhauses“.
In einem Briefe vom 6. September 1803 an Pro¬
fessor Johann August Reichardt in Jena steht folgende
bedeutsame Stelle: „Wenn nun die hiesigen medici-
nischen Anstalten durch das, nicht bloss für die Auf¬
bewahrung, sondern zugleich für die Kur der Kranken
errichtete Irrenhaus einen neuen Umfang gewinnen,
wenn ... so geht auf das deutlichste hervor, dass
es unserer Akademie weder an Thätigkeit, noch an
Antheil fehle“.
Also schon im Jahre 1803 verlangte Goethe, dass
die Irrenanstalt in Jena nicht nur Pflege-, sondern
auch Heil-Anstalt werde und sah in der Benutzung
derselben als Unterrichtsanstalt eine Förderung der
Interessen der Universität. Wenn die amtliche Thätig¬
keit Goethes nach dieser Richtung aus den Akten
erschlossen werden könnte, würde manche Seite des
Goetheschen Wesens wohl in anderer Beleuchtung
erscheinen, als bisher. Ich hoffe, dass wir auch
dieses Gesc henk von dem Goethe-Schiller-Archiv der¬
einst erwarten dürfen.
Auf der Reise nach Teplitz gelangte Goethe nach
Pirna, wo er am 25. April 1813 in sein Tagebuch
schreibt: „Der Sonnenstein gegenwärtig grosse An¬
stalt eines Irren-, Kranken- und Besserungshauses“
und von Teplitz aus schreibt er am 21. Mai 1813
an Christiane: „Seitdem Torgau zur Festung bestimmt
ist, so hat man den Sonnenstein, ein weitläufiges
Schloss gleich über Pirna, zum Irren-, Kranken- und
Besserungshaus mit grossen Kosten eingerichtet, an¬
sehnliche Gärten ummauert pp. Die Anstalt soll vor¬
trefflich sein und von einem geschickten Arzte Biniz
besorgt“.
Also auch hier zeigt Goethe Interesse für die Irren¬
anstalt.
Characteristisch für Goethes Auffassung der Geistes¬
krankheiten (siehe Wilhelm Meister Wanderjahre) ist
ein Brief, den er an Johann Christian Reil in Halle
am 15. August 1803 schrieb, als Dank für die Ueber-
sendung der bekannten „Rhapsodien über die An-
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•Oo.v]
wendung der psychischen Kurmethode auf Geistes¬
zerrüttungen“ :
„Das von Euer Wohlgeboren mir übersandte be¬
deutende Werk habe ich mit vielem Antheil und
zu meiner Belehrung durchlescn, es war mir lim so
willkommener, indem Sie darin die wichtigsten Punkte
der Naturforschung berühren und ihre eigene Ueber-
zeugung dabei an den Tag legen. Führt mich das
Glück wieder in Ihre Nähe, so wird durch eine solche
vorläufige Bekanntschaft das Gespräch schneller ein¬
geleitet und belebt. Worauf ich mich im voraus freue.
Erlauben Sie, dass ich einen Versuch beilege, wie
ich das, was sie p. 58 ff so schön vortragen, poetisch
ausztisprechen gewagt habe.“
Nach der Weimarer Ausgabe ist die Beilage höchst
wahrscheinlich das Gedicht „Die Metamorphose der
Pflanzen“ und pg. 58 ist in der zweiten Auflage von
Reifs Rhapsodien 1818 pg. 60.
Noch einige weniger bekannte, sinngemäss hier
sich anschliessende Aussprüche Goethes, die seine
Gedanken über Geisteskrankheiten verratheil, hebe
ich hervor:
An Behrisch schreibt er am 2. November 1767:
„Aber kein Kranker kann durch eines unempfindlichen
Arztes grausames „es hat nicht viel zu sagen“ mehr
geängstigt werden, als ein See len kranker durch einen
gefühllosen Freund. Ein zurücktretendes Uebelist das
gefährlichste und es muss zurücktreten und für
Schrecken zurücktreten, wenn der Kranke eine warme
sanfte Hand zu fassen hofft und eine kalte, kalte zu
fassen kriegt“.
In den Unterhaltungen mit dem Kanzler Müller
lesen wir am 13. Juni 1823: „Vom Wahnsinn gab
er die einfache Definition: dass er darin bestehe, wenn
man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände
und Verhältnisse, mit denen man es zu thun habe,
weder Kenntniss habe, noch nehmen wolle, diese
Beschaffenheit hartnäckig ignorirc.“ (s. Sprüche in
Prosa Hcmpel No. 349.)
Bei Eckermann lesen wir am 18. Oktober 1827:
„Da lobe ich mir das Studium der Natur, das eine
sohhe Krankheit (Geisteskrankheit) nicht auf-
kommen lässt... Auch bin ich gewiss, dass mancher
dialektisch Kranke im Studium der Natur eine
wohlthätige Heilung finden könnte.“
Am 3. Mai 1814 sagte Goethe zu Riemer: „Hy¬
pochondrisch sein heisst nichts anders, als ins
Subjekt versinken“ lind bei Frau von Stein spricht
475
er am 1. Juni 1789 von der „hypochondrisch
quälenden Kraft der traurigen Vorstellungen.“
Die Pflanzenmetamorphose scheint Goethe zu
einer Zwangsidee geworden zu sein. Zum Kanzler
von Müller sagt er am 2Ö. Februar 1832 : „Ihr andern
habt es gut, ihr geht in den Garten, in den Wald,
beschaut hannlos Blumen und Bäume, während ich
überall an die Metamorphosenlehre erinnert werde
und mit dieser mich abquäle“
In einem Briefe an Knebel vom 30. Mai 1817
lesen wir: „Menschen, die Talent und Thätigkeit haben,
zugleich aber verrückt sind, thun den grössten
Schaden.“
Nicht unerwähnt lassen möchte ich, wenn dies
auch nicht streng genommen hierher gehört, folgende
Stelle aus einem Briefe an Herder vom 27. Decembcr
1788: „Deine Frau seh’ ich von Zeit zu Zeit und
öfter, wenn der geistige Arzt nöthig sein will. Ich
habe manche Dose moralischen Cremor tartari ge¬
braucht, um die Schwingungen ihrer E 1 e k t roanischen
Anfälle zu bändigen“.
Schliesslich empfehle ich noch die Briefe Goethes
an den „hypochondrisch allzu weichen“ Joh. Friedrich
Krafft aus den Jahren 1778 bis 1783 zur eingehenden
Lektüre allen, die sich über Goethes Auffassung neu¬
ras then isc her Zustände unterrichten wollen.
Was Goethe in Briefen und Gesprächen sagt, ver¬
mittelt oft in sehr wesentlichen Punkten das Ver¬
ständnis für das in den Werken Ausgeführte. Das
gilt allgemein und im Besonderen für das viele Psy¬
chiatrische in Goethes Schriften.
Unsere kleine ausgewählte Zusammenstellung zeigt,
wie viel hier noch zu thun ist. Möchte dieselbe
Manchem eine Anregung zur. Mitarbeit an dem grossen
Werke der Darstellung von Goethes psvehiatrischer
Anschauung nach der Seite der Naturwissenschaft
und der Kunst bringen.
Solange noch nicht alle Briefe, Tagebücher, amt¬
liche Schriftstücke veröffentlicht sind, kann es sich
nur darum handeln, möglichst viel Material zusammen*
zutragen und zu ordnen.
Möbius hat in seinem vortrefflichen Buche „Uebcr
das Pathologische bei Goethe“ den Versuch gemacht,
das umfangreiche pathologisc he Material hauptsächlich
in den Werken Goethes zu bewältigen. Ein vollstän-
ständiger Abschluss erfordert aber noch unübersehbare
Arbeit.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
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4;6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.5.
M i t t h e i
— Die traurige Angelegenheit der Kronprin¬
zessin von Sachsen ist bereits Gegenstand so
vieler psychologischer Erörterungen gewesen, dass
eine fachärztliche Aeusserung dazu wohl gestattet sein
dürfte. Die Liebe der Ehefrau zu einem anderen
Manne zu erklären, bedarf es nicht des Nachweises
von Krankheit oder krankhafter Veranlagung, wofür
übrigens auch keine Anhaltspunkte Vorlagen. Bis da¬
hin handelte es sich um eine sittliche Verirrung. Die
Sachlage änderte sich indess durch den Zustand der
Schwangerschaft. Diese beeinflusst ja bekanntlich die
Gemüthslage seelisch völlig gesunder Frauen in un¬
verkennbarer Weise. Wäre nun trotz der Neigung
zu einem Anderen die Schwangerschaft eine legitime,
so würde jener Einfluss sich zwar in gesteigertem
Grade, aber in günstigem Sinne geltend gemacht
haben, d. h. in dem Abbruch der verbotenen Beziehungen,
in der sittlichen Einkehr. Bei der Illegitimität aber
der Schwangerschaft treffen die normalen körperlichen
und seelischen Wirkungen der letzteren ein durch innere,
sittliche Kämpfe bereits zerrüttetes Gemüth, dessen Träge¬
rin sich selbst und die Umgebung vielleicht noch lange
über den wahren Seelenzustand hinwegtäuscht. Von
Schwangerschaft und Wochenbett ausgelöste Geistes¬
störungen, die ihre tieferen Ursachen in Erschüt¬
terungen der Seele haben, sind nichts Seltenes; man
hätte Besonderes darin nicht finden können, wenn
bei der Kronprinzessin ein Verfall in schwere, offen¬
kundige Geisteskrankheit erfolgt wäre. Thatsächlich
ist eine solche bis jetzt nicht eingetreten, wenn auch
in letzter Zeit wiederholt etwas von Depression ver¬
lautete. Aber wen die Erfahrung zu Vorsicht und
Geduld bei der Erschliessung zweifelhafter Geistes¬
zustände geführt hat, der wird nicht geneigt sein, fn
einer Reihe auffallender, anscheinend mit Besonnen¬
heit ausgeführter Handlungen den Beweis unge¬
schwächter Verstandes- und Urtheilskraft zu sehen.
Er wird u. A. zunächst die gänzliche Ausschaltung
fremder Einwirkung, hier also derjenigen Girons, als
selbstverständliche Voraussetzung betrachten für die
Erkenntniss, in welchem Umfange sonderbare Ent¬
schlüsse und anstössige Handlungen eigenes Geistes-
w'erk der zu Beurtheilenden waren. Von diesem
Gesichtspunkte aus muss man auch alle bisherigen
# psychologischen Betrachtungen des Gegenstands als
vergebliche bezeichnen, da ihnen diese Voraussetzung
fehlt. Eine Frau, die ihre selbstverschuldete traurige
Lage zu überschauen und ohne äusseren Zw'ang, mit
voller Verstandes- und mit sittlicher Kraft sich zu
entschliessen und soweit möglich wieder aufzurichten
im Stande gewesen w'äre, hätte unter den gegebenen
Verhältnissen nicht den jämmerlichen Ausweg ge¬
wählt, durch die Verbindung mit dem Geliebten
ihrem Thun den Schein psychologischer Consequenz
nach aussen, der Stimme ihres Gewissens ein Gegen¬
gewicht zu verschaffen,— eine kranke Frau allein
aber hätte zu diesem Schritte nicht einmal die nöthige
Energie gehabt.
Alles in Allem: Die Dinge liegen bei der Kron¬
prinzessin, soweit sie überhaupt der Oeffentlichkeit
1 u n g e n.
bekannt sind, noch viel zu wenig klar zu Tage, um
ein definitives fachärztliches Urtheil zu gestatten ; es
ergiebt sich aber nach dem oben Ausgeführten als
rein menschliche Pflicht, den Seelenzustand der Kron¬
prinzessin aufs Eingehendste prüfen zu lassen. Es
will uns scheinen, als wird dann neben dem vielen
Verdammensw'erthen Manches zu Tage treten, wofür
sie nicht oder nicht voll verantwortlich zu machen ist.
In dem zweiten Theil des Dramas handelt es sich
unzweifelhaft um die raffinirte Beeinflussung und Aus¬
nützung einer nicht völlig dispositionsfähigen, schwange¬
ren Frau. —
Zum Schluss sei an dieser Stelle dem lebhaften
Bedauern darüber Ausdruck gegeben, dass gegenüber
der Kronprinzessin, ohne dass über ihren Geisteszu¬
stand Genaueres bekannt geworden, die Verbringung
in die Irrenanstalt als ultima ratio bezeichnet w erden
konnte. Das Publikum muss glauben, dass in schlicht
bürgerlichen Fällen dieser Art auf gleiche Weise ver¬
fahren wird. Die Irrenanstalt wäre übrigens auch bei
einer ernsten Geisteskrankheit für die Kronprinzessin
bei den gegebenen Umständen kaum der ausschliess¬
lich geeignete Ort. Da in dem Zusammenhang mit
dieser Angelegenheit auch vom Kloster die Rede war,
so drängt sich Einem die Frage auf, wieviele unglück¬
liche weibliche Wesen mit zweifelhaften oder krank¬
haften Geisteszuständen dort festgehalten und moralisch
gemisshandelt werden mögen. Man sollte die Klöster
daraufhin einmal (und öfter) einer gründlichen Revi¬
sion unterziehen lassen.
— II. Landes - Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc-
tober 1902, Nachm.) Fortsetzung.
Nachdem der echte Urning also niemals mit unent¬
wickelten (unreifen) männlichen Individuen (Knaben)
Unzucht treibt, sondern ausschliesslich mit Erwach¬
senen verkehrt und nachdem er niemals Präderast im
vulgären Sinne des Wortes ist, so ist es zweifellos,
dass die Handlung, welche das ungarische Strafge¬
setzbuch als widernatürliche Unzucht bezeichnet und
mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft, nicht
aus moralischer Verkommenheit hervorgeht, keine Un¬
zucht (Perversität) im gewöhnlichen Sinne des Wortes
ist, sondern bloss eine perverse Handlung, die aus
einem angeborenen contraer-sexuellen Triebe hervor¬
geht, also pathologischen Ursprunges ist.
Weil aber der echte Urning niemals Knaben zur
perversen Handlung verführt, nachdem bloss Er¬
wachsene und nicht unreife Kinder in ihm die libido
sexualis erwecken und er die Perversio sexualis auch nur
mit Erwachsenen und deren Einwilligung und nie¬
mals mit Anwendung von Gewalt ausübt, ist dieser
echte Urning der menschlichen Gesellschaft nicht ge¬
fährlich und ist seine Unterbringung in einer Irren¬
anstalt nicht nur nicht nothwendig, sondern nicht
einmal gerechtfertigt.
Die Streichung des § 241 ist nicht nothwendig,
ja nicht einmal angezeigt. Damit jedoch infolge
dieses Gesetzartikels nicht auch die aus einer patho¬
logischen contraer-sexuellen Empfindung hervorge-
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HARVARD UNiVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 477
hende Perversion bestraft werde, ist es nothwendig,
dass immer, bevor die Anklage wegen eines Delictes
gegen den § 241 erhoben wird, der Geisteszustand
des Angeklagten durch einen sachverständigen Psy¬
chiater untersucht werde.
Salgo dankt dem Vortragenden im Namen des
Congresses für seinen eindringlichen und die Frage
vollständig erschöpfenden Vortrage.
7. Karl Schaffer: Weitere Mittheilungen
zur corticalen Topographie der Paraly se.
Der Vortragende hat vor 2 Jahren dem I. Landes-
Congresse der Irrenärzte die Ergebnisse seiner ersten
Studien über die paralytische Degeneration der Ge¬
hirnrinde vorgelegt. Seither hatte der Vortragende
Gelegenheit, das Gehirn von fünf Paralytikern zu
untersuchen und auf grossen, durch die ganze He¬
misphäre hindurch geführten Schnitten, welche nach
der Weigert’schen Haematoxylin-Färbung gefärbt
waren, den Ausfall der markhaltigen Fasern zu stu¬
dieren.
Von den fünf zur LTntersuchung gelangten Fällen
waren 3 einfache Fälle von Paralysis progressiva,
2 waren mit Tabes complicirt; es muss betont werden,
dass auch in diesen Fällen von Taboparalyse die
Paralyse selbst durch progressive Verblödung und
durch schwere Sprachstörungen characterisirt war. Die
Erfolge seiner Untersuchungen fasst der Vortragende
in folgenden Punkten zusammen:
1. Die im Verlaufe der typischen Paralyse auf¬
tretende Markfasem-Degeneration tritt an bestimmten,
nach einem gewissen Typus angeordneten Rinden¬
gebieten auf und verschont andere wieder regelmässig
angeordnete Rindengebiete entweder vollständig oder
doch in auffallendem Maasse.
Die der Degeneration unterworfenen Rindengebiete
sind folgende:
a) Pol und Basis des Stimlappens.
b) Der Parietallappen auf der Convexität der
Hemisphäre.
c) Die 2. und 3. Windung des Stimlappens voll¬
ständig, von der ersten Windung nur der dem Pole
des Schläfelappens näherliegende Antheil.
d) Der frontale Theil des Gyrus fomicatus.
Die freibleibenden Rindengebiete sind folgende:
a) Die Central-Windungen; nur die hintere leidet
mitunter ein wenig unter der Degeneration.
b) Die Convexität des Stimlappens und zwar
umso mehr, je näher der betreffende Theil zur vor¬
deren Central-Windung liegt.
c) Der Occipitallappen, hauptsächlich jedoch der
Cuneus.
d) Die tiefliegende und die erste Windung des
Schläfelappens.
e) Das Ammonshom und der Gyrus lingualis.
2. Die soeben angegebene und beschriebene Ver-
theilung der Degeneration entspricht der Flechsig -
sehen Rindeneintheilung; von der Degeneration be¬
freit blieben die centralen, sensiblen Felder, während
die Flechsigschen Associations-Centren degenerirten.
3. Bei den atypischen Fällen von Paralyse, bei
der Lissauerschen Paralyse degeneriren in strictem
Gegensatz zur typischen Paralyse, gerade die senso¬
rischen Felder der Rinde, klinisch ist in solchen
Fällen die Geistesschwäche weniger auffallend.
4. Die regelmässige Vertheilung der Markfasem¬
degeneration beweist die Electivität des paralytischen
Rindenprocesses. Doch kommen auch unregelmässige,
vasculäre Heerde in der Rinde der Hemisphäre vor,
das sind bloss superponirte, nicht wesentliche Ver¬
änderungen.
5. Es scheint, dass in verschiedenen Fällen typi¬
scher Paralyse die Flechsig’schen Associations-Centren
nicht allesammt erkranken, oder doch wenigstens
nicht alle in gleichhohem Maasse. So leidet z. B.
das occipitale Associations - Centrum fast gar nicht
oder doch nur in geringem Maasse unter der Dege¬
neration; am schwersten ist die Degeneration im
Stirn- und Schläfen-Associations-Centrum, während
das Centrum des Parietallappens in viel milderer Form
zu erkranken pflegt.
8. Arthur Sarbo: Die Rolle des Achilles¬
sehnenreflexes bei der Paralysis progres¬
siva.
Der Vortragende erwähnt, dass die Untersuchung
dieses Reflexes bis in die jüngste Zeit hinein sehr
vernachlässigt wurde. Der Vortragende hat an Ge¬
sunden eine Reihe von Untersuchungen angestellt,
welche ergaben, dass dieser Reflex bei nicht nerven¬
kranken Personen immer leicht auszulösen ist Unter
900 Nervenkranken fehlte dieser Reflex in 109 Fällen
und zwar bei Alcoholismus, Poliomyelitis, Tabes und
Paralysis progressiva, also bei solchen Erkrankungen
des Nervensystems, bei welchen wir mit vollem Rechte
voraussetzen können, dass anatomische Veränderungen
vorliegen. Hierauf bespricht S. das Verhalten des
Achillessehnenreflexes bei der progressiven Paralyse.
In 31 °/ 0 der Fälle fehlt dieser Reflex vollständig, in
einer grossen Anzahl der Fälle ist er auffallend leb¬
haft, bei einem kleinen Theil der Fälle verhält er
sich normal. Manchmal fehlt er früher als das Knie¬
phänomen.
Wichtig ist das Verhalten dieses Reflexes vom
differenzial-diagnostischen Standpunkte aus, besonders
gegenüber der Neurasthenie; die Untersuchung dieses
Reflexes ist ebenso wichtig und ebenso wenig zu
unterlassen, wie die des Kniephänomens.
Discussion:
Donath: Achtet schon seit ziemlich langer Zeit
auf den durch die Achillessehne ausgelösten Reflex
und findet, dass — wie das der Vortragende schon
erwähnte — jede Combination vorkommt. Trotzdem
die französischen Autoren behaupten, dass bei der
Tabes der Achillessehnenreflex früher verschwindet
als der Kniereflex, beobachtete D. Fälle, in welchen
kein Kniereflex mehr vorhanden war, während der
Reflex der Achillessehne noch bestand. Es hängt
das eben davon ab, wo die Tabes ihre Zerstörungen
beginnt.
Schaffer: schliesst sich den Ausführungen des
Vortragenden an, da seine eigenen klinischen
Erfahrungen die Erfahrungen des Vortragenden be¬
stätigen. Was die Bemerkungen Donath’s, dass der
Kniereflex manchmal früher verschwindet als der
Achillessehnenreflex, anbelangt, so ist das eine
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478 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43
natürliche Erscheinung, denn das Verschwinden des
Reflexes hängt immer mit dem Sitze der anatomischen
Veränderungen zusammen. Das pathologisch-histolo¬
gische Material, welches Sch. zur Verfügung steht,
zeigt, dass der pathologische Process häufiger im
lumbo-sacralen, als im lumbo-dorsalen Segmente auf-
tritt, darum ist das Ausbleiben des Kniereflexes häu¬
figer als das Ausbleiben des Achillessehnenreflexcs.
Sarbo: will gegenüber Donath nur soviel be¬
merken, dass er es nicht als Regel hinstellte, dass
der Achillessehnenreflex früher verschwindet, als der
Kniereflex, denn er selbst hat ja Fälle erwähnt, in
welchen die Reihenfolge eine umgekehrte war. Er
wollte nur betonen, dass in der Mehrzahl der Fälle
der Achillessehnenreflex früher verschwindet, als der
Kniereflex. Der Schwerpunkt der Ausführungen des
•Vortragenden liegt darin, dass das Verschwinden des
Achillessehnenreflexes für sich allein wohl weder
Tabes, noch Paralysis progressiva bedeutet, dass aber
Fehlen des Achillesschnenreflex bei Vorhandensein
des Argill-Robcrtsohn'schen, Phänomens z. B. schon
auf Tabes oder Paralyse hinweist, dass also i'as Ver¬
halten des Achillessehnenreflexcs dieselbe Bedeutung
hat, als das Verhalten des Kniereflexes.
9. Julius Donath: Durch Spiritismus ver¬
ursachte Hystero-Epil epsi e.
Die Ministerial-Verordnung des kön. ung. Mini¬
steriums des Innern vom 19. December 1890, welche
das Hypnotisiren nur Aerzten und nur zu Heilzwecken
und auch so nur in Anwesenheit einer dritten Person
gestattet, ist sehr heilsam, weil auf diese Weise Ge¬
fahren, welche die durch Laien ausgeführte Hypnose
mit sich bringt, vermieden werden und weil so die
Hypnose in verbrecherischer Absicht oder zum Zwecke
öffentlicher Schaustellungen nicht missbraucht werden
kann. Auch der Arzt ist auf diese Weise gegen
böswillige und grundlose Verleumdungen seitens der
hvpnotisirtcn Person geschützt. Doch geht die Ver¬
ordnung zu weit, indem sie den Fachmann im Studium
dieses Phänomens hindert. Wir müssen nämlich be¬
denken, dass wir die Heilwirkung, die individuelle
Dosirung des Hypnotismus nur durch sehr genaue
und gewissenhafte Untersuchungen feststellen können.
Während diese Verordnung aber dem ärztlichen
Forscher die Hand bindet, bleibt im Lande der
Hypnotismus in geheimen Zusammenkünften v<>n
Laien ungestört, berüchtigte Hypnotiseure treiben ihr
Handwerk wie ehedem, als es noch keine diesbezüg¬
liche gesetzliche Verfügung gab.
Was nun die Beschäftigung mit spiritistischen
Ideen und Handlungen anbelangt, so können die
dabei so häufigen Aufregungen und seelischen Er¬
schütterungen solcher Personen, welche zur Neuro¬
pathie neigen, leicht gefährlich werden.
I11 dem Falle, welchen der Vortragende auf seiner
Abtheilung im St. Stephans-Spitale beobachtete, traten
bei einem bis dahin vollständig gesunden Mädchen,
welches auf Befehl seines Dienstgebers an spiritistischen
Sitzungen als Medium theilnahm, plötzlich schwere
hystero - epileptische Krämpfe, Aphonie, concentrische
Gesichtsfeldeinschränkung, Angstzustände, Hallucina-
tionen und Schlaflosigkeit auf.
In einem zweiten Falle traten bloss mildere
hysterische Erscheinungen auf. Die junge Frau wurde
durch die vierwöchentliche Beschäftigung mit dein
Spiritismus sehr reizbar, sie fürchtete sich vor den
cilirten Geistern und litt an Schlaflosigkeit.
Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass nicht
nur der Hypnotismus, sondern auch der Spiritismus
zu schweren Störungen des Nervensystems, besonders
zu Hvstero-Epilepsie führen kann. Es ist zweifellos,
dass neuropathisch beanlagte Individuen leichter zur
Beschäftigung mit dem Spiritismus neigen, doch muss
betont werden, dass in dem erwähnten Falle bei dein
kräftigen Bauernmädchen überhaupt keine neuro¬
pathisch e Belastung nachweisbar war.
Wir haben die Ausübung des Hypnotismus seitens
Unberufener verboten, die religiösen Wunder unserer
Zeit werden — wenn sie nur die kleinste Störung
der öffentlichen ()rdnung bedingen — gewaltsam
unterdrückt, trotzdem sie der Gesundheit nicht schäd¬
lich sind. Der Vortragende meint, dass wir keinen
Augenblick zögern dürfen, auch den Spiritismus,
Sitzungen und Zusammenkünfte, diesen ganzen be¬
schämenden Cultus unserer Zeit, welcher auch der
Gesundheit schädlich ist, durch ein gesetzliches Ver¬
bot einzuscliränken.
Der Vortragende legt dem Landes - Congresse
folgende Anträge zur Beschlussfassung vor:
1. Das Ministerium des Innern werde aufgefordert,
die Verordnung, welche Laien die Ausübung des
Hypnotismus untersagt, mit voller Strenge zu hand¬
haben.
2. Der Minister erlasse eine Verordnung, welche
die spiritistischen Zusammenkünfte auf das strengste
untersagt.
D i s c u s s i o n :
Hajos: erwähnt einen Fall, in welchem ein In¬
dividuum, welches sich erst in v< »rgerückteni Alter
mit spiritistischer Lectüre zu befassen anfing, an Se¬
ancen niemals theilnahm, mit der Zeit irrsinnig wurde ;
im Irrenhause trat Besserung ein. Nach der Ent¬
lassung beschäftigte sich der Patient wieder mit dem
Spiritismus und gelangte infolgedessen baldigst wieder
in die Anstalt zurück.
R a 11 s c h b u r g: schliesst sich dem Anträge des
Vortragenden an, weil die durch den Spiritismus ver¬
ursachten Geisteskrankheiten durchaus nicht zu den
Seltenheiten gehören. Doch müssen wir auch auf
gesellschaftlichem Wege durch Aufklärung zu wirken
suchen. Es ist zu bedauern, dass in unserem Vater¬
lande gerade Aerzte eine führende Rolle in der spiri¬
tistischen Bewegung einnehmen, während der Arzt
diese Bewegung bekämpfen müsste.
Tel eg di: Der Spiritismus ist eine Form, welcher
sich Geisteskrankheiten gerne bemächtigen, wie die
Hallucinationen unserer Kranken, welche noch nie
ein Telephon gesehen haben, sich mit Vorliebe an
das Telephon an knüpfen. Jetzt ist der Spiritismus
in Mode, er wird schon wieder selbst aus der Mode
gehen. Auf administrativem Wege kann man nichts
gegen ihn thun.
Donath: dankt für das seinem Vortrage ent¬
gegengebrachte Interesse und würdigt besonders
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1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Ranschburg’s Bemerkungen. Vortr. glaubt selbst nicht
daran, dass man auf administrativem Wege diese
Uebel gänzlich vertilgen kann, doch würden durch ge¬
eignete Maasregeln besonders die hypnotischen Sean¬
cen eingeschränkt werden. Auf die Bemerkung
Telegdi’s sei nur so viel erwidert, dass es schon von
Vortheil ist, wenn das grosse Publikum durch das
gesetzliche Verbot der Seancen davon Kenntniss er¬
langt, dass die medicinische Welt diese Seancen ver-
urtheilt und das allein würde dem Publikum schon
zum Nutzen gereichen.
io. Rudolf Bai int: Die diactctische Be¬
ll a n d 1 u n g d c r E p i 1 e p s i e.
Der Vortragende recapitulirt zuerst kurz alles, was
er über die Erfolge der von ihm vorgcschlagenen
chlorarmen Diät im kön. urig. Aerztevcrcin sagte und
damals im „Orvosi Iletilap“ mitthcilte. Es stellte sich
schon damals heraus, dass es eine Reihe von Fragen
giebt, welche durch die damaligen Versuche keine
befriedigende Losung fanden. Eine solche offene
Frage war die, ob es möglich ist, die chlorfreie Diät
längere Zeit hindurch fortzusetzen, wenn ja, wie diese
Diät beschaffen sein muss, um nicht unerträglich zu
werden; ob keine Bromintoxication auftritt. Die Ant¬
wort auf diese Fragen suchte B. in Experimenten,
welche 1 1 3 Jahre hindurch fortgesetzt wurden, zu
finden. Hierauf citirt der Vortragende die Ergebnisse
der Untersuchungen anderer Forscher, welche ebenso
wie er selbst, gute Erfolge sahen. In 5 Fällen, in
welchen die Beobachtungsdauer eine längere — 7
Monate bis 1 1 2 Jahre — war, wurde die Diät so
modificirt, dass der Patient von chlorfreier Diät lang¬
sam zur gewöhnlichen Diät überging, jedoch so, dass
alles ohne Kochsalz zubereitet und mit Bromnatrium
gesalzen wurde. Diese Fälle wiesen noch bessere Er¬
folge auf, als andere 3 Fälle, welche B. im Armen¬
hause beobachtete. Auch Broinvergiftung trat manch¬
mal auf, doch hat dieselbe bei gehöriger ärztlicher
Aufsicht und Behandlung nichts zu bedeuten. Sie
bildet sich rasch zurück und ist sogar zu vermeiden.
Die Psyche der Kranken änderte sich während der
Behandlung nicht. Auf Grund dieser Beobachtungen
empfiehlt B. diese Heilmethode aufs wärmste, doch
ist wöchentliche Gewichtsmessung und beständige ärzt¬
liche Aufsicht unbedingt nothwendig.
Discussio n.
Konrad: Ich habe mich viel mit derartigen Ex¬
perimenten beschäftigt und bin neuen therapeutischen
Methoden gegenüber sehr skeptisch geworden. Vor
einigen Jahren erschien jedoch ein Artikel des Herrn
Vortragenden, der so viel Vertrauenerweckendes ent¬
hielt, dass ich seither dennoch mit der salzarmen
Diät cxpcrimcntirc. Ich wählte 27 Epileptiker aus,
dieselben erhielten täglich 1—8 gr. Bromkalium.
Ich liess die salzfreie Kost besonders hersteilen, ausser¬
dem bekamen meine Kranken 2 gr. Bromkali pro die,
1 gr. im Brode, 1 gr. im Gemüse. Ich wendete diese
Diät 4 Monate hindurch an und stellte die . epilep¬
tischen Anfälle des ganzen Jahres in einer übersicht-
lieben Tabelle zusammen, so dass das erste Drittel
des Jahres zur Bromtherapie, das zweite Drittel zur
479
diaetetischeii Therapie verwendet wurde, das dritte
Drittel stellt den Zeitabschnitt nach der salzfreien
Kost, in welchem zur normalen Diät zurückgekehrt
wurde, dar. Von 27 Kranken zeigte sich bei 9 ein
bestimmter Erfolg.
Fall
1.,
II.,
III. Drittel
I.
7
0
24 Der Pat. stirbt im Status epilcpticus.
ir.
L 3
/
,, „ ,, ,, „ „
in.
22
7
0 Hier trat noch Nachwirkung auf.
IV.
ö
1
18
V.
33
3
20
VL
27
8
8
VII.
14
2
20
VIII.
47
0
5
IX.
20
8
25
Da ich nun einmal ein Skeptiker bin, glaube ich,
dass man insbesondere in der Therapie der Epilepsie
sich vor dem Principe des „post hoc“ sehr in Acht
nehmen muss. Darum durchforschte ich bei diesen
Kranken auch die älteren Tabellen und fand, dass
es Zeitabschnitte gegeben hat, in welchen bei diesen
Kranken ohne jede Therapie eine Verminderung der
Zahl der Anfälle eintrat, dieselben sogar gänzlich aus¬
blieben. Darum will ich noch kein abschliessendes
Urtheil über die salzfreie Diät fällen, sondern will
Control-Versuche anstellen, welche die Zeit von einigen
Jahren beanspruchen. Im Zusammenhänge mit diesen
Versuchen müssen quantitative Harnuntersuchungen
auf Harnsäure und die Menge der Salze im Harne
angestellt werden, lieber meine Erfolge werde ich
seinerzeit berichten. (Fortsetzung folgt.)
— Der „Astral-Feind.“ Zu einem tragischen
und geheimnisvollen Tode haben einen französischen
Erfinder seine wahnsinnigen Theorien geführt. Albert
Quelle aus Meudon bei Paris, ein vermögender Mann,
gab sich in seinen Mussestunden wissenschaftlichen
Untersuchungen hin. Besonders beschäftigte er sich
mit dem Studium des Spiritismus und Occultismus.
Er widmete sich so eifrig den Fragen nach dem Un¬
bekannten, dass sein Verstand zerrüttet wurde und
er glaubte, von einem Astralgeist verfolgt zu werden.
Um sich gegen die Angtiffe seines unsichtbaren
Feindes zu verteidigen, fertigte Quelle einen merk¬
würdigen Metallapparat in der Art des Helmes an,
wie ihn Taucher unter Wasser tragen. Sein erster,
vor zwei Jahren gemachter Helm befriedigte ihn je¬
doch nicht, und seitdem arbeitete er an einem anderen,
den er am vorigen Mitwoch zum ersten Mal erproben
wollte. Er schrieb an einen Arzt in Paris und bat
ihn, der Probe beizuwohnen; aber der Doktor er¬
suchte den Erfinder, den Versuch bis Freitag aufzu¬
schieben, und versprach, dann anwesend zu sein.
Als an jenem Tage der Doctor nun an die Thilr des
kleinen Pavillons in Mendoii, den Guelle bewohnt,
klopfte, erhielt er keine Antwort und als nun die
Thür gewaltsam geöffnet wurde, bot sich seinen Augen
ein schrecklicher Anblick. Guelle lag leblos auf dem
Fussboden seines Laboratoriums, und der Kopf war
mit dem seltsamen Astralhelm bekleidet. An dem
Apparat war ein Behältniss mit Chloroform befestigt,
das durch eine Röhre tropfenweis auf die Lippen des
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 43 -
480
Erfinders fiel. Auf dem Tische lag ein Brief, in dem
der Verstorbene erklärte, er könne die Angriffe seines
„Astral-Feindes“ nicht länger ertragen.
— Das Rauchen in den Irren- und Nerven¬
heil s t ä 11 e n. Dass geistige Getränke in unseren
Anstalten als Genussmittel nicht zu dulden sind, da¬
rüber herrscht, von einer geringen Zahl noch Anders¬
denkender abgesehen, unter den Anstaltsärzten Ueber-
einstimmung. Der Alkohol ist eben das gefährlichste
und verbreiteste Gift für das Nervensystem und da¬
rum muss er vor allem von den Nervenkranken fern¬
gehalten werden. Auch das Nikotin ist ein starkes
Nervengift, wenngleich seine Gefährlichkeit der des
Alkohols nicht im Entferntesten gleichkommt, was
aber nur an der geringen Menge des gewöhnlich
beim Rauchen aufgenommenen Nikotins liegt; denn
das letztere selbst ist von etwa der gleichen Giftigkeit
wie Blausäure. Speciell durch Nikotin bedingte Geis¬
tesstörungen ernsterer Natur sind selten beobachtet
worden. Es ist denn auch bisher keine Stimme da¬
hin laut geworden, dass man das Rauchen ganz ge¬
nerell in der Anstalt verbieten müsse; übermässiger
Tabakgenuss wird selbstverständlich nicht geduldet. —
Es giebt aber doch eine ganze Reihe von Anstalts¬
insassen, die besonders wegen einer abnorm gestei¬
gerten Ansprechbarkeit der Herz- und Gefässnerven
nicht rauchen dürfen, jedenfalls das Nikotin besser
meiden. Was thun ? Den Genuss geistiger Getränke
haben wir unseren Patienten schon entzogen, sollen
wir ihnen auch das Rauchen verbieten ? Wollen wir
consequent sein, dann müssen wir auch hier jede
Concession an eingewurzelte Gewohnheiten und Vor-
urtheile verdammen und müssen sagen: „Los vom
Nikotin!“ Glücklicher Weise ist es nun aber durch
die Geh. Rath Prof. Dr. med. Gerold’sche Erfindung,
eine Methode, durch welche das Nikotin unschädlich
gemacht wird, ermöglicht, unseren unglücklichen
Kranken, die ja auf so vieles verzichten müssen, die
Erfüllung unserer Forderung zu erleichtern. Diese
Erfindung ist trotz vielfacher Empfehlungen lange zu
wenig beachtet gewesen, bis San. Rath Dr. Fürst und
Dr. Cowl das Gerold’sche Verfahren im physiologischen
Laboratorium des Instituts für medizinische Diagnostik
in Berlin mittelst einer Reihe von Versuchen und
Parallel versuchen an Menschen und Thieren einer
wissenschaftlichen Nachprüfung unterwarfen, deren
Ergebniss durchaus günstig war. Auf der 73. Ver¬
sammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Hamburg berichtete Fürst über diese Untersuchung
unter Demonstration der mit dem v. Basch’schen
und Dudgeon’schen Apparate gewonnenen sphyg-
mographischen Curven.
Es stellte sich heraus, dass der Blutkreislauf durch
den Rauch der nicht präparirten- Cigarre stark alterirt,
durch den Rauch der präparirten Cigarre unter gleichen
Bedingungen nicht beeinflusst wird, dass irgend eine
Nikotin Wirkung nach dem Rauchen der präparirten
Cigarren selbst durch empfindliche automatisch-gra¬
phische Methoden nicht mehr zur Anschauung zu
bringen ist („Die ärztliche Praxis“, 1901 Nr. 22 ), dass
daher diese nikotin-neutrale Cigarre vom hygienischen
Standpunkte aas als ein rationeller Ersatz für die
bisher gewohnte Cigarre und demgemäss als ein Fort¬
schritt zu bezeichnen sei. Auch Professor Dr. Stern,
sowie eine Reihe praktischer Aerzte sprechen sich —
ersterer ebenfalls auf Grund von physiologischen La¬
boratoriumsversuchen — sehr günstig über diese Ci¬
garre aus. Das Verfahren besteht darin, dass die
Tabakblätter vor der Verarbeitung mit einer Lösung
von Tannin und einer Abkochung von Origanum
vulgare behandelt werden. Das Nikotin wird dadurch
neutralisirt, das specifische Aroma bleibt aber er¬
halten. Die fabrikmässige Herstellung dieser nikotin-
neutralen Cigarren besorgt die Firma Wendt’s Ci¬
garrenfabriken Aktiengesellschaft in Bremen.
Ich glaube, dass es sich hier um ein Produkt
handelt, dessen Einführung in den Bestand des An¬
staltsmagazins man anstreben muss. Jedenfalls wäre
es erwünscht, wenn in den Anstalten Versuche grösse¬
ren Umfangs damit gemacht und wenn die pracüschen
Erfahrungen grösseren Stils in diesem Blatte zur Er¬
örterung gebracht würden. Dr. B r e s 1 e 1.
Referate.
— Der Zusammenhang von Nerven¬
erkrankungen mit Störungen in den weib¬
lichen Geschlechtsorganen. Von Dr. A.
Theilhaber in München. Verlag von Carl Marhold
in Halle a. S., 1902. Preis Mk. 0,80.
Verf. stellt 2 Hauptsätze in dieser Brochüre auf, dass
1) Nervenleiden Störungen in den Genitalien
hervorrufen können, und zwar beträfen diese am
häufigsten die Periode,
dass 2) umgekehrt auch Abnormitäten der
weiblichen Geschlechtsorgane Erkrankungen
des Nervensystems, als Hysterie, Nervosität im allge¬
meinen, Neurasthenie, Neuritis und Psychosen, zur
Folge haben.
Was Satz 1 anbetrifft, so entstehen die Menstrua¬
tionsanomalien entw’eder durch cerebral bedingte Blut¬
druckverminderung (Amennorrhoe) oder durch Blut¬
drucksteigerung (Menorrhagie).
Die Entstehung der in Satz 2 erwähnten Er¬
krankungen des Nervensystems führt der Verf. meist
auf Anomalien im Blut zurück und nicht auf eine
Reflcxneurose.
Dr. Heinicke -Grossschweidnitz.
Druckfehlerberichtigung.
Die Firma Eduard Speiser, welche die Matratzen-
theile zu den in No. 37 beschriebenen Krankenbetten
für unreinliche Geisteskranke liefert, befindet sich nicht
in Soncheim, sondern in Sinsheim (Kr. Heidelberg).
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hcyncntann'sche Buchdruckerei (Gebr. WolflF) in Halle a* S.
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Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Mcerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geb. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. üitti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : M arh o Id V er lag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 44 . 31. Januar. 1903 .
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6595), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Pflege und Krziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director
Dr. Josef Krayatsch, Maucr-Ochling (S. 481). — Mittheilungen (S. 484). — Referate (S. 487).
Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger.
Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich).
Geschichtliches.
ach einem Vortrage des Primararztes Dr. Ludwig
Pfleger, welchen derselbe am i. Februar 1882
im Wiener medicinischen Doctoren-Collegium abge¬
halten hatte, wurden zur Zeit Kaiser Josef II. auf
Vorschlag van Swieten’s beschlossen, in ganz Oester¬
reich Krippen für blödsinnige Kinder zu errichten.
Dieser Plan kam nicht zur Ausführung, doch wurden
damals in Spitälern und Klöstern kleine Abthcilungcn
zur Unterbringung von Idioten geschaffen.
Als die erste wirkliche Anstalt, welche überhaupt
zur Erziehung von Idioten errichtet worden ist, wird
die des Lehrers Guggenmos in Salzburg, welche im
Jahre 1828 entstand, bezeichnet.
Trotz ihrer befriedigenden Erfolge musste sie im
Jahre 1835 mangels der behördlichen Unterstützung
aufgelassen werden.
In Niederösterreich bestand in der alten, mit der
Versorgungsanstalt vereinigt gewesenen Irrenanstalt zu
Ybbs eine Schule für Idioten, für welche ein eigener
Lehrer bestellt war. Als die Anstalten getrennt und
neu aufgebaut bezw. umgebaut wurden, kaufte die
Kommune Wien daselbst das sog. Tonder’sche Haus,
welches von 1864 an zur Aufnahme von blöden und
epileptischen Kindern bestimmt und zur Unterbringung
von 40 solchen Kindern eingerichtet wurde. Die
Kinder erhielten vom Beneficiaten der Anstalt einen
den Fähigkeiten entsprechenden Unterricht und
konnten bis zum 14. Lebensjahre daselbst verbleiben.
Die von Dr. Friedmann und Glinsky in den
Sechzigerjahren zu Zwölfaring errichtete Idiotenan¬
stalt, welche später nach Kierling übersiedelte und aus
den älteren, nachmaligen Objecten der Irrenanstalt
bestand, hatte auch geistesschwache Kinder in Obhut,
welche auf Landeskosten vom niederösterreichischen
Landesausschus.se in Pflege gegeben wurden.
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482
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 44.
Die Anstalt wurde ira Jahre 1872 wegen der dort
Vorgefundenen argen Missbräuche behördlich ge¬
schlossen und die Pfleglinge im Hartl-Hause, als An¬
hang der n. ö. Landes-Irrenanstalt in Klosterneuburg
und selbständige Idiotenabtheilung, unteigebracht.
In diese Abtheilung wurden nur die pflegebedürf¬
tigen Idioten aufgenommen.
Um aber den immer grösseren Bedürfnissen nach
einer Anstalt für erziehungsbedürftige Pfleglinge theil-
weise Abhilfe zu schaffen, wurde der Landesausschuss
ermächtigt, mit der Idiotenanstalt zu St. Ruprecht bei
Bruck a. Mur wegen Uebemahme von 40 erziehungs¬
fähigen, schwachsinnigen Kindern einen Vertrag ab-
zusch Hessen.
Gleichzeitig constituirte sich in Wien ein
Verein zur Beschaffung von Mitteln im Wege der
Privatwohlthätigkeit behufs Gründung einer Idioten¬
anstalt, welches Bestreben die Erbauung eines Asyles
für schwachsinnige Kinder in Biedermannsdorf unter
dem Namen „Stefan ie-Stiftung“ zur Folge
hatte.
Dennoch genügten die zur Verfügung stehenden
Betten nicht und es langten immer mehr Gesuche
um Aufnahme pflegebedürftiger idiotischer Kinder
ein, so dass der Landesausschuss gezwungen war,
durch Errichtung einer selbständigen Idiotenanstalt für
Kinder Abhilfe zu schaffen.
Der Landtag von Niederösterreich hat
sich wiederholt mit der Frage der Idiotenfürsorge be¬
schäftigt und im Jahre 1880 in Klosterneuburg eine
kleine, aber unzureichende Idiotenanstalt errichtet.
Im Jahre 1882 hat der Landtagsabgeordnete
Monsignore Kn ab, welchem die glänzenden Erfolge
der Cretinenanstalt Ecksberg in Bayern vorschwebten,
im Landtage den Antrag auf Errichtung einer Anstalt
für schwachsinnige Kinder gestellt und der Regierungs¬
rath Dr. Moritz Gauster, Director der Irrenanstalt
in Wien, ein diesbezügliches Programm ausgearbeitet,
welches jedoch aus financieilen Gründen die Zustim¬
mung des Landtages nicht finden konnte.
Im Jahre 1894 griff der nieder-österreichische
Landtagsabgeordnete Monsignore Dr. Scheicher aber¬
mals die Idee auf und stellte einen entsprechenden
Antrag, welcher vom Landtage angenommen, vom
Landesausschusse sofort verwirklicht wurde; demselben
wurde zunächst vom Landtage der nöthige Credit und
die Uebemahme der Verpflegskosten für zahlungsun¬
fähige Kinder zugesichert.
Zum Studium der bestehenden auswärtigen Idioten¬
anstalten wurde im Jahre 1894 der Director der
nieder-österreichischen Landes-Irrenanstalt Dr. Josef
Krayatsch (Berichterstatter) nach Deutschland und
in die Schweiz ehtsendet, welcher seine gesammelten
Erfahrungen hinsichtlich der baulichen Anlagen solcher
Anstalten und deren Einrichtung in seinem Reisebe¬
richte über den Besuch einiger deutscher Idioten¬
anstalten niedergelegt hat.
In Würdigung der ärztlichen Forderungen und
aus Rücksicht einer einfachen Verwaltung beschied
der Landtag das zu errichtende Institut einer schon
bestehenden Irrenanstalt anzugliedem und entschloss
sich hierbei für die Anstalt Kierling-Gugging, weil die
Umgestaltung des Pavillons IV dieser Anstalt zur
Idiotenanstalt am geeignetsten erschien.
Die Errichtung der Pflege- und Beschäftigungs¬
anstalt für schwachsinnige Kinder setzte zunächst die
Kenntniss der Ziffer der im schulpflichtigen Alter
stehenden Kinder Niederösterreichs voraus, welche
infolge einer angeborenen oder erworbenen Geistes¬
störung vom Schulbesuche enthoben sind. Nachdem
eine solche Ziffer durch Zählung jener Kinder in der
zur Verfügung stehenden Frist nicht zu erreichen
war, so wurde es nothwendig, das Ergebniss ähnlicher
Zählungen, wie solche in Württemberg, Dänemark
und im Canton Zürich vorgenommen wurden, zu be¬
nutzen. — Nach diesen kommt ein Schwachsinniger
auf 500 Einwohner.
Demnach würde Niederösterreich bei einer Ein¬
wohnerzahl von 2800000 rund 5000 Schwachsinnige
zählen, von denen im Veigleiche mit dem König¬
reiche Sachsen, welches von 3880 Blödsinnigen 635
solche im Alter von 5—15 Jahren in öffentlichen und
Privatanstalten verpflegt, 913 Blödsinnige im Alter
von 5—15 Jahren stehen dürften. Die Zahl der
schulpflichtigen Kinder auf 100 Einwohner schwankt
durchschnittlich zwischen 15—20, daher dürfte die
Zahl der schwachsinnigen Kinder im Alter von 5 bis
15 Jahren, vorausgesetzt, dass Niederösterreich 5600
Schwachsinnige überhaupt aufweist, zwischen 840 und
1120 zu suchen sein.
Weit geringer ist jedoch diese Ziffer nach der
Volkszählung vom Jahre 1890. Nach derselben
kommen anf Niederösterreich 3000 Idioten und
Cretins mit etwa 400 Köpfen im schulpflichtigen Alter.
Diese Zahl wird, wie Professor von Wagner in
seinen Untersuchungen des Cretinismus in Steiermark
nachgewiesen hat, nur theilweise der Wahrheit ent¬
sprechen. Bestätigt wird diese Annahme dadurch,
dass im Jahre 1899 in den niederösterreichischen An¬
stalten für Pflege und Erziehung schwachsinniger
Kinder 284 Knaben und 181 Mädchen, zusammen
schon 465 Kinder verpflegt wurden.
Projektirt wurde zunächst die Errichtung zweier
Villen mit je acht Erziehungs-, beziehungsweise Pflege-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
483
1903-]
gruppen, welche den Pavillon IV mit dem Speisesaal,
der Küche, den Arbeitszimmern, Wohnzimmern für
die Schwestern flankiren sollten. Das Projekt wurde
zu theuer befunden und die Erweiterung des Pa¬
villons IV durch Anbau beschlossen. Dieses Projekt
erfüllte allerdings auch die geforderte Unterbringung
der Pfleglinge nach Erziehungs- beziehungsweise
Pflegegruppen und räumliche Trennung der Knaben
und Mädchen, doch sind die Tagräume trotz der
Einsprachen der ärztlichen und administrativen Ex¬
perten gelegentlich der Besprechung des Projektes und
seiner baulichen Ausführung zu klein ausgefallen.
Der erste Spatenstich wurde Ende 1895 gemacht
und die Anstalt schon am 17. August 1896 feierlich
eröffnet.
Da nach dem Statute die unterrichtsfähigen, schwach¬
sinnigen Kinder an Anstalten unter pädagogischer
Leitung abzugeben sind, hatte die Anstalt nur den
Zweck, die in den pädagogisch nicht bildungsfähigen
Kindern vorhandenen geistigen Fähigkeiten erziehlich
auszubilden.
Es wird bei solchen Kindern das Hauptgewicht
nicht auf den Unterricht, sondern auf die Erziehung
und Beschäftigung gelegt, während die vollständig ver¬
blödeten Kinder eine menschenwürdige Pflege er¬
fahren.
Um allen diesen Forderungen Rechnung tragen
zu können, wurde bei der baulichen Anlage der An¬
stalt derart Vorsorge getroffen, dass 96 Knaben, 96
Mädchen, im Ganzen 12 Gruppen, das ist in je drei
Erziehungs- und je drei Pflegegruppen geteilt, Unter¬
kunft finden können.
Jede Gruppe von 10 bis 16 Kindern, welche unter
der unmittelbaren Aufsicht zweier Schwestern, von
denen in der Erziehungsgruppe eine Kindergärtnerin
ist und den erziehlichen Teil zu besorgen hat, während
die andere eine Pflegeschwester ist, bewohnen ge¬
meinsam einen Schlafsaal und einen Tagraum.
Zwei benachbarte Gruppen verfügen über eine
gemeinsame Waschstelle und Rumpelkammer und eine
viersitzige Abortanlage. Allen Gruppen steht ein
grosser Speisesaal und ein gemeinsamer Baderaum
mit fünf Kupferwannen und ein gemauertes Bassin
zur Verfügung. Im ersten Stockwerke befindet sich
die Wohnung der Vorsteherin, ein Betsaal, Speise-
und Gastzimmer für die Schwestern. Ausser den
bereits angeführten Räumlichkeiten sind noch vorhan¬
den zwei Beschäftigungsräume, zwei Einzelzimmer,
ein Zimmer für zwei kranke Schwestern, eine ent¬
sprechend eingerichtete Küche, eine Mehlspeisküche,
ein Gemüseputzraum, Schlafzimmer für das Küchen¬
personal, ein Raum für reine, ein Raum für schmutzige
Wäsche, ein ärztliches Zimmer, ein Besuchszimmer,
ein Materialmagazin, ein Kohlenkeller, ein Gemüse-
und Krautkeller, ein Victualien-Depot, ein Eiskeller,
eine Fleischkammer, ein Holzkeller, zwei Dienerwoh¬
nungen, ein Heizkesselraum, eine Petroleumkammer.
In dem für Mädchen und Knaben abgetheilten
Garten befindet sich ein geräumiges, heizbares Garten¬
haus, welches mit Tumgeräthen ausgestattet ist und
bei schlechtem Wetter zum Aufenthalte und ausser¬
dem zum Abhalten von Bewegungsspielen und Turn¬
übungen dient
Die Hauptaufgabe der Pflege- und Beschäftigungs¬
anstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling-Gugging
geht dahin, die ihr zugewiesenen Kinder zu pflegen,
zu erziehen und zur Arbeit heran zu bilden, aber
auch diejenigen, welche erwiesenermassen unterrichts-
fähig sind, in einer Vorschule zu unterrichten, damit
diese zu ihrer weiteren Ausbildung den zur Verfügung
stehenden Anstalten in Banck a. M. und in Bieder¬
mannsdorf zugeführt werden. Sie soll ja eine beschei¬
dene Familienerziehung ersetzen, weshalb die Kinder
einer Gruppe nach Thunlichkeit gleichartig und immer
von denselben Pflegerinnen gepflegt beziehungsweise
erzogen werden. Die Pflege geschieht durch auf¬
opferungsvolle Pflegerinnen, die Erziehung durch er¬
fahrene Kindergärtnerinnen, welche auch in der Ver¬
suchsabtheilung die Anfangsgründe im Unterrichte,
Religion inbegriffen, ertheilen.
Die Beschäftigung der dazu fähigen Pfleglinge er¬
folgt u. zw.: die der Mädchen in der Näh- und Strick¬
stube, in der Küche und beim Waschtrog, die der
Knaben in den Werkstätten, im Gemüsegarten und
bei der Landwirtschaft. Sowohl in der Knaben- als
auch in der Mädchenabtheilung befindet sich je ein
Arbeitszimmer, welches mit den nöthigen Behelfen
als: Wandtafeln zum Religions- und Umschauungs-
unterricht, Harmonium zum Gesangsunterrichte aus¬
gestattet sind.
Ein lehrplanmässiger Unterricht wurde deshalb in
das Erziehungsprogramm nicht aufgenommen, weil
die unterrichtsfähigen Pfleglinge in die Anstalt zu
Biedermannsdorf oder Banck a. M. abgegeben werden
und weil erfahrungsgemäss die erziehungsfähigen Pfleg¬
linge mit Erfolg zu leistungsfähigen, landwirtschaft¬
lichen Dienstboten erzogen werden können.
(Fortsetzung folgt.)
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4tS4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44.
Mittheilungen.
— Göttinger psychologisch-forensische Ver¬
einigung. 2. Sitzung am 18. December 1902. Vor¬
sitzender: Landgerichtspräsident Heinroth. Schrift¬
führer: Privatdoeent Dr. med. Weber.
Prof. Dr. jur. von Hippel: Willensfreiheit
und Strafrecht.
Hauptsächlich vom Standpunkte des praktischen
Criminalisten bespricht Referent die Frage, ob die
Begriffe der Verantwortlichkeit, Schuld, Zurechnungs¬
fähigkeit, Vergeltung und Strafe, an die Annahme
einer Willensfreiheit gebunden sind, oder sich auch
als die Grundlagen der derzeitigen Strafgesetzgebung
halten lassen, wenn man von der Möglichkeit einer
Willensfreiheit absieht und auf einem rein determini¬
stischen Standpunkt steht. Referent betont, dass
zwischen beiden Anschauungen ein scharfer Gegen¬
satz besteht, der keine vermittelnde Stellung zulasse.
Andererseits wird die Bedeutung dieses Gegensatzes
nicht selten übertrieben. Es handele sich nicht um
verschiedene Weltanschauungen; man könne z. B.
sowohl auf dem Boden des reinen Materialismus, wie
des gläubigen Christenthums stellend, für den Deter¬
minismus oder für die Willensfreiheit cintrcten. Es
handele sich nur um verschiedene Anschauungen
über das Zustandekommen der einzelnen mensch¬
lichen Handlungen. Die Vertreter der Willensfrei¬
heit behaupten, dass derselbe Mensch unter genau
denselben Verhältnissen nach Belieben das eine oder
andere wollen und demgemäss so oder anders han¬
deln könne, indem sic annehmen, dass die äusseren
Verhältnisse bei dem Zustandekommen eines Ent¬
schlusses nur „sollicitiren“, nicht „nccessitiren“.
Der Determinismus bestreitet die Möglichkeit des
„anders handeln könnens“ unter gleichen Verhält¬
nissen, da die Willenshandlungen der Menschen wie
alles Geschehen, dem Gesetze vom zureichenden
Grunde unterliegen; die sic hervorbringenden Fac-
toren sind einerseits die körperliche und geistige Eigen¬
art des Thäters, andererseits die jeweilige äussere
Situation. Derselbe Mensch in derselben Situation
konnte nur diesen, nicht einen andern Entsc hluss
fassen. Hierin liegt keinerlei Leugnung der Macht
der menschlichen Persönlichkeit, der Mensch wählt
auf Grund verstandesgemässer Erwägung und fasst
danach seinen Entschluss. Aber er kann nur wählen,
was ihm auf Grund seiner Eigenart als das R ich-
tigste erscheint, nicht ad libitum Gegcnthciligcs.
Das die Handlung spontan, d. h. unwillkürlich be¬
gleitende Freiheitsgefühl, erklärt Ref. mit Ho che als
das Bewusstsein von dem ungestörten Ablauf der
Willensvorgänge. Das auf Reflexion beruhende Ge¬
fühl der Freiheit aber, welches wir bei der Betrach¬
tung zukünftiger oder vergangener Situationen
haben, ist lediglich ein Möglichkeitsurtheil, welches
darauf beruht, dass wir zur Zeit nicht alle pro et
contra wirkenden Bedingungen richtig übersehen
können.
Ref. zeigt nun weiter, wie innerhalb dieses deter¬
ministischen Standpunktes sich die Begriffe des Ge¬
wissens, der Reue, Verantwortlichkeit, Schuld, Zu¬
rechnungsfähigkeit, Vergeltung und Strafe erklären
lassen, und betont, dass diese Grundbegriffe des heu¬
tigen Strafrechts sich mit einer deterministischen Auf¬
fassung nicht nur sehr wohl vereinigen Hessen, son¬
dern dass allein der Determinismus, nicht die Willens¬
freiheit, diese Begriffe befriedigend zu erklären ver¬
möge.
In der Diskussion
bemerkt Exc. Geheimrath Flank, dass er nicht völlig
auf die Willensfreiheit verzichten könne. Im Allge¬
meinen unterliege ja das menschliche Handeln, wie
alles Geschehen, dem Causalgesetz. Daneben habe
aber der Mensch die Möglichkeit, nach bestimmten
Motiven zu handeln; diese aber seien nicht so zwingend,
wie es das Causalgesetz fordere.
Auch Geheimrath von Bar betont, dass bei
aller Anerkennung der Gründe des Determinismus
ein „gewisser Rest von Verantwortlichkeit“ als Grund¬
lage der menschlichen Handlungen übrig bleibe.
Von verschiedenen Seiten wird auf den § 51, Str.-
G.-B., eingegangen und hervorgehoben, dass der Be¬
griff der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit für
die Praxis nothwendig einer Erläuterung oder Grund¬
bestimmung bedürfe. Dazu sei aber der Zusatz von
der freien Willensbestimmung nicht geeignet. Auch
das Vorhandensein oder der Mangel des Verständ¬
nisses für das Strafbare der Handlung genüge nicht,
ebensowenig die Motivirung der Strafthat aus dem
Geisteszustand.
Prof. Gramer hebt hervor, dass der sachver¬
ständige Arzt von seinem naturwissenschaftlichen Stand¬
punkte überhaupt keine Willensfreiheit, die ein Be¬
griff der Ethik und Metaphysik sei, anerkennen könne.
Er stehe auf dem Standpunkte, die Frage nach der
freien Willensbestimmung als Sachverständiger über¬
haupt nicht zu beantworten, sondern höchstens auf
Befragen seine persönliche Meinung diesbezüglich zu
äussern. (Weber- Güttingen.)
— II. Landes - Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest (II. Sitzung vom 26. Oc-
tober 1902, Nachm.) Fortsetzung.
Pandy und seine Schüler haben eine Reihe von
Versuchen mit der neuen Heilmethode angestellt.
An dieser Methode ist nichts Ueberraschendes,
nichts Wunderbares. Hat doch schon Esquirol be¬
tont, dass die Epilepsie bei jedem neuen Eingriffe
eine gewisse Besserung aufweist. Auch kehrten im
Verlaufe der Experimente die Anfälle bald zurück
und so stellte es sich heraus, dass das günstige Ur-
theil verfrüht war. Toulouse und Riebet schrieben,
dass Brom bei Na Cl-freier Kost 4mal so stark wirkt,
als bei gewöhnlicher Diät. Also giebt Balint 12 gr.,
Konrad 8 gr. Bromkali pro die. Die Cur ist schwer
durchführbar und gefährlich. Zwei der Kranken
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iooU PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 485
starben im Verlaufe des Experimentes. P. ordinirt
auf seiner Abtheilung kein Brom mehr, nur in sel¬
tenen Ausnahmsfällen.
Ranschburg: Eine neue Therapie soll weder
mit Entzücken, noch mit Antipathie besprochen werden.
Das gilt besonders für die Therapie der Epilepsie,
da wir ja wissen, dass die Epilepsie oft von selbst
auffallende Besserungen aufweisst, dass wir hinwieder¬
um in anderen Fällen mit keinerlei Mitteln im Stande
sind, auch nur einen einzigen Anfall hintanzuhalten.
Auch R. versuchte die Toulouse-Richet’sche Methode,
die Erfolge waren so wenig einheitliche, dass es un¬
möglich ist, sich ein abschliessendes Urtheil zu bilden.
In einigen Fällen wurde die Cur so schlecht ertragen,
dass sie aufgelassen werden musste. Das Aufhören
mit der salzlosen Diät verursachte keine auffallende
Verschlechterung. In einigen Fällen zeigte sich wieder
ausgesprochene Besserung, bei einem Knaben so weit
gehend, dass er nun wieder die Schule besuchen kann.
An manchen Tagen giebt R. seinen Kranken normale
Diät, ja sogar gesalzene Speisen.
Sa Igo: Gegen die Epilepsie wurde natürlich sehr
vielerlei versucht. Doch ist die Controlle infolge des
eigenthümlichen Verlaufes der Epilepsie eine so
schwierige, dass es heute kaum möglich ist, ein be¬
ruhigendes Urtheil zu fällen. Casuistik und nicht
Statistik ist dazu berufen, diese Frage zu lösen. Die
grossen schweren Anfälle werden nach einer gewissen
Behandlung seltener, doch behält Meynert, der immer
betonte, dass die häufiger auftretende kleinere Epilepsie
die schlimmere ist, Recht. Ich erinnere mich eines
besonders typischen Falles, den ich während meiner
klinischen Dienstzeit zu beobachten Gelegenheit hatte.
Es war ein Fall, in welchem fortwährende schwere
Anfälle vorhanden waren. Wir reichten Atropin und
die Anfälle sistirten, der Kranke blieb ein Jahr lang
frei von jedem Anfalle. Nun entliessen wir den
Kranken; am nächsten Tage brachte man ihn uns
wieder; er litt unter den heftigsten, mit Tobsucht
einhergehenden Anfällen. Es wurde jede Therapie
vermieden, dennoch hatte der Patient wieder ein
Jahr lang keinen einzigen Anfall. Wir entliessen ihn nach
diesem zweiten auf der Klinik anfallslos zugebrachten
Jahre wieder als geheilt, nun hörten wir nichts von
ihm, bis ihn nach 10— 11 Monaten in der Gesell¬
schaft der Aerzte ein College als durch „Faradisation
geheilt“ vorstellte.
Unter gewissen Verhältnissen bleiben also die epi¬
leptischen Anfälle spontan aus. Dazu kommt nun
noch der Zweifel, ob die Diagnose der genuinen Epi¬
lepsie auch richtig war? Wir fassen unter dem Namen
Epilepsie eine ganze Reihe von Krankheiten zu¬
sammen, trotzdem wir in vielen Fällen die Art der
Veränderungen überhaupt nicht kennen, lieber den
Erfolg oder die Erfolglosigkeit irgend einer Heilme¬
thode lässt sich nur mit der grössten Vorsicht etwas
Bestimmtes aussagen. Die Versuche mit der salz¬
freien Diät sind, da sie unschädlich sind, unbedingt
fortzusetzen.
Poszvek kann auf Grund seiner 19jährigen
Praxis sagen, dass jede Therapie bei der Epilepsie
von suggestiver Wirkung ist. Der Erfolg hängt von
der Individualität des Arztes ab. Das neue Ver¬
fahren ist nur dazu gut, um dem Arzte Geduld, dem
Kranken Aussicht auf Heilung zu verleihen.
Bai int: Die guten Erfolge, welche die Experi¬
mente des Herrn Directors Konracl aufweisen, freuen
mich ausserordentlich. Die Thatsache, dass nach 189
Anfällen des Zeitabschnittes vor der diätetischen Be¬
handlung, im Zeitabschnitte dieser Therapie nur 36
Anfälle auftraten, beweist die grosse Wirksamkeit
dieser diätetischen Behandlung. Mit grossem Inter¬
esse sehe ich den Control versuchen entgegen, trotz¬
dem ich glaube, dass nach dem eclatanten Erfolge,
den die Therapie in den erwähnten 9 Fällen aufwies,
dass Abfallen der Zahl der Anfälle während der diä¬
tetischen Therapie und das rasche Ansteigen der¬
selben, nachdem man mit dieser Therapie aufhörte,
nun keinesfalls mehr dem Zufalle zugeschrieben werden
kann. Auch B. weiss, dass nach dem Aussetzen der
Therapie gehäufte Anfälle auftreten, darum betonte
er die Nothwendigkeit, die Diät durch langsames Ver¬
mindern der Brommengen und langsames Vermehren
der Kochsalzmengen und nicht plötzlich zu ändern.
Der Vortragende kennt den negativistischen Stand¬
punkt Pandy’s schon lange. Sein jetziger Standpunkt
ist jedoch etwas unklar. Pandy sagt einerseits, dass
die Wirkung der therapeutischen Methode durch die
Steigerung der Brom Wirkung bedingt ist, andererseits
schreibt er wieder die ganze Wirkung der Suggestion
zu. Ist denn die Steigerung der Brom Wirkung eine
Suggestion? Zu dieser Suggestionstheorie will der
Vortragende nur bemerken, dass Schlöss Versuche
mit verschiedener Diät anstellte. Warum war nur
bei der chlorfreien Diät eine Verminderung der An¬
fälle zu constatiren ? Und wenn die Suggestion das
heilende Agens ist, warum blieb dann bei den Bckes-
gyulaer Kranken Pandy’s jede Wirkungaus? Haben
diese Kranken so wenig Vertrauen zu der Heilkraft
der bei ihnen angewendeten Therapie? Was den
Fall von Bromvergiftung anbelangt, den P. erwähnt,
so könnte es denn doch noch sehr bezweifelt werden, ob
es sich in diesem beschriebenen Falle um eine wirk¬
liche Bromvergiftung handelte oder nicht. Der Kranke
nahm Jahre hindurch ohne jeden Schaden Brom, nun
wird er für die Dauer von 13 Tagen einer gesteigerten
Bromwirkung ausgesetzt. Nach 13 Tagen wird, weil
der Puls auf 90 steigt, das Brom fortgelasscn, nach
36 Tagen stirbt der Kranke trotz jeder Therapie, ohne
Brom seit dem Auftreten der ersten Symptome auch
nur gesehen zu haben — das kann ich, besonders
ohne Section, durchaus nicht für einen sicheren Fall
von Bromvergiftung ansehen.
Mit Herrn Primarius Salgd stimmt der Vortragende
darin, dass aus einem Falle keine weitgehenden Schlüsse
gezogen werden dürfen, vollständig überein, doch ist
es zweifellos, dass wir die Experimente fortsetzen
müssen, denn der rein negative Standpunkt hat noch
keine Wissenschaft vorwärts gebracht.
(III. Sitzung. 2 7. October 1902).
Vorsitzender: Alexander Szabo, später Gedeon
R a i s z. Schriftführer: S. T e 1 e k y, Gustav V c r u b 2 k.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 44
11. M. Kende: Die Versorgung der
Schwachsinnigen und Blödsinnigen in den
verschiedenen Staaten Europa’s.
Kende beweist durch Zahlen, wie lückenhaft und
unvollkommen die Versorgung der Blödsinnigen selbst
in Culturstaaten ersten Ranges ist; so erhalten in
England, wo alle Geisteskranke entsprechend unter¬
gebracht sind, von 47000 Idioten nur 24000 An¬
staltspflege; in unserem Vaterlande sind von 1900
Idioten beiläufig 150 entsprechend untergebracht.
Dabei sind die meisten Anstalten von privatem
Character und nehmen bloss zahlende Kranke auf,
so dass gerade die Armen von der Pflege in einer
Anstalt ausgeschlossen sind.
Durch entsprechende Institute kann ausserordent¬
lich viel geleistet werden. Diese Institute sollen Ver-
pflegsanstalten für unheilbare, der Bildung unzugäng¬
liche Idioten (75 °/ 0 ) und Lehranstalten und Aushilfs¬
schulen für bildungsfähige Idioten sein, wo die Zög¬
linge sich nicht nur elementare Kenntnisse aneignen,
sondern auch ein entsprechendes Handwerk erlernen
können und damit haben wir nicht nur diese Un¬
glücklichen versorgt, sondern es wird auch die durch
die häusliche Pflege dieser Kranken gebundene
Arbeitskraft frei, die beaufsichtigenden Angehörigen
solcher Kranken können nun ihrer Arbeit nachgehen.
Discus sio n:
Lukäcs erwähnt wieder die von ihm propagirte
Idee der „Idioten-Bewahr-Anstalten“. Der Zweck
dieser Institution wäre, die armen Idioten tagsüber
zu unterrichten, zu pflegen, so dass sie gut versorgt
wären, die Arbeitskraft der beaufsichtigenden Ange¬
hörigen frei würde, was für beide Theile von grossem
Vortheile wäre.
12. Ludwig Hajos: Die wissenschaftliche
Erkennung des normalen psychischen Ha¬
bitus.
Die Psychiatrie beruht zwar auf psychologischer
Basis und verfolgt psychologische Methoden, doch
fehlt ihr die Kenntniss des normalen Seelenlebens.
Das, was wir gewöhnt sind unter Psychologie zu ver¬
stehen, ist zum grössten Theile nichts anderes, als
die philosophische Ausarbeitung subjectiver Daten,
welche introspectiven Ursprunges sind. Die Aufgabe
der Psychiatrie ist nicht nur, die Geisteskrankheiten
zu constatiren, sondern auch zwischen normalem und
pathologischem Geisteszustände zu unterscheiden.
Darum kann sie auch die philosophische Psychologie,
welche die inneren Beziehungen der psychischen Er¬
scheinungen und nicht die äusserlichen Symptome
derselben prüft, kaum als positive Grundlage ge¬
brauchen. Es wäre eine dringende Nothwendigkeit,
sowohl für die theoretische, als für die practische
Psychiatrie, eine auf anthropologischer Basis aufgebaute
Psychologie zu besitzen, welche Psychologie sich nicht
so sehr mit der Lösung von Problemen, als mit der
Beschreibung objectiv leicht zu prüfender Symptome
des Seelenlebens beschäftigen würde.
Jedermann, nicht nur der Psychiater verfügt über
eine gewisse, erfahrungsweise construirte Ifenschen-
kenntniss, welche jedoch sowohl beim Psychiater als
bei dem Nichtpsychiater gleich unwissenschaftlich ist
Eine solche Menschenkenntniss ist nichts anderes als
eine Anhäufung von mehr oder weniger Erfahrung
in unserer Erinnerung und diese kristallisirt sich ihrem
spontanen Ursprünge und ihrer autodidactischen Be¬
arbeitung entsprechend niemals in ein disciplinirtes
System, welches den Austausch der Daten ermög¬
lichen würde, und so wird es zur Unmöglichkeit, all-
gemeingiltige Bilder zu entwerfen und Gesetze fest¬
zustellen.
(Schluss folgt.)
— Dem Tropenkoller will der österreichische
Consular- und Gerichtsarzt in Catjro Dr. Hans Ritter
v. Becker eine Stelle in der Reihe der anerkannten
Geisteskrankheiten geben. Er geht von der Beob¬
achtung aus, welche die Aerzte an den Mitgliedern
der österreichisch-ungarischen Colonie in Cairo ge¬
macht haben. Diese verfallen verhältnissmässig
häufig geistigen Erkrankungen. Becker, der über seine
Beobachtungen und Anschauungen auf dem medici-
nischen Congresse in Aegypten berichtete, bringt die
gesteigerte Zahl der Geisteskrankheiten bei Euro¬
päern in den heissen Ländern in Beziehung zu
Stoffwechsel-Störungen, die eine Folge des heissen
Klimas sein sollen. Unter dem Einflüsse dieser Stoff¬
wechselstörungen soll es zur Bildung von Giften
kommen, welche das Centralnervensystem und damit
die Psyche schädigen. Solche Beeinflussung der Psyche
durch Stoflfwechselanomalien Werde verständlicher, wenn
man bedenke, dass unter gewöhnlichen Verhältnissen
Gelbsucht und Leberleiden bisweilen schwere Miss¬
stimmungen, ja Melancholie verursachen. In das Gebiet
dieser Geisteskrankheiten in Folge Stoffwechselano¬
malien fällt nach Becker auch der Tropencoller, die folie
morale tropicale. Die Aeusserungen des Tropencollers
erwecken schon bei dem Laien den Verdacht, dass
es sich dabei um etwas Krankhaftes handelt, um eine
krankhafte Impulsivität und ein krankhaftes Damieder¬
liegen der ethischen Anschauungen. In der Geschichte
findet man eine Art alkoholischen Typ dieser Krank¬
heitsform in Alexander dem Grossen, dessen Aufent¬
halt in den heissen Euphrat-Niederungen nach den
Strapazen des indischen Kriegszuges in einer fast un¬
unterbrochenen Kette von Thatsachen die Krankheits¬
geschichte eines alkoholischen Tropen wahnsinnigen
darbietet Was durch das Clima und die Verhältnisse
geschaffen wird, ist nach Becker aber nur die Dispo¬
sition für die Tropencoller. Sodann folgt der unleug¬
bare Einfluss der psychischen Tara; nur allzu häufig
sind in der Beobachtungsreihe bereits in Europa mo¬
ralisch minderwerthige havarirte Individuen, denen
der Tropendienst zur letzten Ressource werden sollte.
Um die Krankheit zum Ausbruch zu bringen, müssen
noch Schädigungen hinzukommen. Sie sind in dem
Alcoholmissbrauch, der Malaria, Dysenterie, in Ueber-
anstrengung, mangelhafter Ernährung, in psychischen
Schäden, wie Vereinsamung, dem Gefühle grosser
Verantwortlichkeit gegeben. „Der Character der Er¬
krankung im allgemeinen ist ein rapides Sinken
des moralischen Urtheils und der einzelnen ethischen
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Gck gle
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1903]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
487
Principien bei scharf pointirtem Selbstgefühl, das
manchmal bis ins Prahlen und in Grossthuerei aus¬
artet ; launenhaften, eigensinnigen, sprunghaft
wechselnden Stimmungen; auffallender Reizbarkeit,
rohen, oft unmotivirten Gewaltacten ohne merkliches
Sinken der Intelligenz, ja häufig bei gesteigerter Be¬
obachtungsgabe und regerer Auffassung. Der Zom-
ausbruch wird zur lange dauernden Gleichgewichts¬
störung etc. Reissen sie einen solchen Kranken aus
seinem tropischen Milieu, so finden sie ihn — wie
ich es selber gesehen — vielleicht als simplen Alco-
holiker beim „Apperitif“ oder beim Stammtisch, ja
selbst im Gesellschaftsanzug beim Diner als ange¬
nehmen Causeur — möglicherweise ein bischen selbst¬
bewusst, vielleicht auch ein wenig Tartarin der
Löwenjäger — häufig sogar still und zurückgezogen.
Die ihm zur Last gelegten Brutalitäten sind sämmtlieh
Folgen von Umständen, an die er sich meistens nicht
präcise erinnert, die aber die Sache unumgänglich noth-
wendig erscheinen Hessen — „übrigens sei Alles der
Form nach gesetzlich geschehen“ („Kriegsgericht“,
,»standrechtliche Massregel“, „wohlgemeinte nothwen-
dige Züchtigung“ etc.). Nimmt man alle Symptome
zusammen: die Entwerthung der ethisch-moralischen
Grundsätze, die vermehrte Impulsivität, den AfTect-
choc, die verfeinerte Beobachtungsgabe etc., so erhält
man das Bild einer atavistischen Form des Irrsinns.“
Dr. von Becker will, dass bei der Beurtheilung von
Vergehen und Verbrechen, die von Europäern in
heissen Ländern verübt werden, ein anderer Massstab
angelegt Werden solle, als im Mutterlande von Alters
her Brauch ist. Einer der angesehensten Tropen¬
hygieniker, Plehn, wies schon eindringlich darauf hin,
dass die Aeusserungen des Tropencollers oft genug
nichts anderes als acute Ausbrüche von chronischem
Alcoholismus sind.
Referate.
— R. v. Krafft-Ebing. Psychosis menstrualis.
112 S. Stuttgart, F. Enke.
Der berühmte Wiener Kliniker sendet damit die
erste Arbeit aus seinem Grazer Tusculum, ein Beweis,
dass er das gewählte Otium nicht ohne Htterarische
Betätigung sich denken kann.*) Hier beschäftigt er
sich in Form einer klinisch-forensen Studie mit der
wichtigen Rolle, welche die Menstruation im Nerven-
und Geistesleben des gesunden und kranken Weibes
einnimmt. Ein geschichtlicher Rückblick über die
Arbeiten der wichtigsten Autoren auf diesem Gebiete
führt in das Thema ein.
Sodann findet — r. die primordiale menstruelle
Psychose ihre klinische Darstellung; dieselbe ist als
eine Pubertätspsychose bei erblich Belasteten aufzu¬
fassen, die im Anschlüsse an die erste Ovulation ein¬
setzt und gewöhnlich nach einer Reihe (4—13) von
Anfällen von je 1—2 Wochen Dauer in Genesung
übergeht.
*) Allzufrüh ist unterdessen der hervorragende Mann einem
reichen Schaffen durch den Tod entrissen worden.
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2. Die Ovulationspsychose, die häufigste und
wichtigste Form, die sowohl als einzelner Anfall als
auch, und zwar viel häufiger, als recidivirende und
periodische Form vorkommt. Ersterer trägt den
Character des transitorischen Delirs mit starker Be¬
wusstseinsstörung und Amnesie und lässt ihre Auf¬
fassung als eines Aequivalents der Hysterie, Epilepsie
oder Neurasthenie zu. Als prädisponirende Ursachen
der recidivirenden und periodischen Ovulationspsy¬
chose spielt die erbliche Belastung und die Anlage
des Centralnervensystems die grösste Rolle. Inter¬
essant ist ihr Auftreten auch nach Cessiren der
Menses, im Climacterium. Erkrankungen der Geni¬
talien waren nur selten für die Aetiologie beizuziehen.
Temporär, d. h. für den einzelnen Anfall ist der
Schwerpunct auf die bedeutende, über die auch phy¬
siologisch nachgewiesene, weit hinausgehende Erreg¬
barkeitssteigerung des Gehirns und der Nerven, be¬
sonders auch der vasomotorischen, während des prae-
menstrualen Abschnitts der Welle zu legen. So kommen
sowohl manische (der Wallungshyperämie ent¬
sprechende), wie melancholische (der Gehimanämie
entsprechende) Krankheitsbilder zustande. Der Ein¬
tritt der Psychose war von 54 Fällen praemenstruell
28, menstrual 19 und postmenstrual 8 mal; bei
demselben Individuum kann hierin aber im Verlaufe
der Psychose ein Abwechseln Vorkommen. Die Dauer
der Anfälle wechselt zwischen 5 Tagen und 2 Wochen.
Ausbruch und Abfall sind meist brüsk. Die Manie
wiegt vor (34 von 54 Fällen); des weiteren kommen
vor: Melancholie, Dipsomanie, Paranoia; degenerative
Zeichen jeder Art prägen sich im Verlaufe vielfach
deutlich aus. Die Gesammtprognose ist keine un¬
günstige; von 36 Fällen liefen 25 in Genesung, 11
in geistige Schwäche aus. Gravidität unterbricht
oder heilt die Krankheit; das Climacterium kann die
Genesung bringen. In der Therapie wird das Brom,
weil die Herabsetzung der gesteigerten Gehirnerreg¬
barkeit bewirkend, in Gaben nicht unter 6 gr. vor
Eintritt der Menses als das beste präventive Mittel
gepriesen. Es bewährt sich besonders bei den
manischen Fällen. Für die Kastration wird die In-
dication gestellt, dass jede andere Cur wirkungslos
war und mehr als 15 Anfälle nach längst abge¬
schlossener Pubertät erfolgt sein sollen.
3) Die epochale Menstruationspsychose, wie sie
von Schüle als besondere Form aufgestellt worden ist,
d. h. circuläre Psychosen, die praemenstrual beginnend,
vor und nach dem Intermenstrum ihren Zustands-
character ändern und so neben der biologischen eine
psychopathische Wellenbewegung aufweisen. Wichtig
sind hier die luciden Intervalle, die mitunter den
einen Cirkel vom andern scheiden.
Als wichtiges Schlusscapitel wird dann die forense
Bedeutung der Menstruationsvorgänge sowohl beim
gesunden Weibe, als beim psychopathischen, als be¬
sonders bei den hier dargestellten Menstrualpsychosen
dargestellt und die Berücksichtigung dieses Moments
aufs dringendste empfohlen. Gesteigerte Reizbarkeit,
pathologische Affecte, Zwangshandlungen werden
durch die Menses hervorgerufen. Selbstmord, Brand¬
stiftung, Mord, besonders häufig der eigenen Kinder,
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4B8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44.
Diebstahl sind der Ausdruck und Ausbruch der krank¬
haften Gehirnthätigkeit. Die zum Schlüsse ' aufge¬
stellten Thesen für die strafgerichtliche Untersuchung
weiblicher Inculpaten sind durchaus gerechtfertigt und
beherzigenswerth, damit dem Momente der Menstru¬
ation und seiner Einwirkung auf das Seelenleben des
Weibes die gebührende Beachtung in der Recht¬
sprechung werde.
Eine grosse Reihe von sehr lehrreichen Kranken¬
geschichten bereichern die werthvolle Monographie.
Max Fischer.
— Hoche. Die Freiheit des Willens vom
Standpunct der Psychopathologie (Grenzfragen des
Nerven- und Seelenlebens Heft XIV. Wiesbaden.
1902).
Verfasser geht von der Thatsache aus, dass die
Elemente des psychischen Geschehens beim Geistes¬
kranken dieselben sind, wie beim Geistesgesunden,
wie er auch im Einzelnen nach weist, und wendet die
von medicinischer Seite in der Psychopathologie ge¬
machten Erfahrungen zu einer Analyse des Begriffs
der Willensfreiheit an.
Die Erörterungen des in der Criminalpsychologie
und gerichtlichen Psychiatrie so erfahrenen Autors
sind um so werthvoller, als ihnen auch eine Anzahl
weiterer, interessanter psychologischer Bemerkungen
eingestreut sind. Bei einer Analyse des Freiheitsbe¬
griffes scheidet er zunächst die Einschränkung der
Freiheit der Entschliessung durch äussere Mittel und
durch „inneren Zwang“ (z. B. drohende Todesgefahr)
aus der Besprechung aus. Das Problem der Willens¬
freiheit besteht vielmehr in der Frage, ob wir bei
irgend einer beabsichtigten Handlung vollkommen
frei sind in der Wahl der Motive (psychologische
Freiheit) und ob die eine Entscheidung in dieser
Wahl herbeiführenden psychischen Vorgänge, die da¬
zu nöthigen Vorstellungen und Urtheile, unabhängig
von dem sonst allgemein gütigen Causalitätsgesetze
verlaufen (causale Freiheit). Die älteren philoso¬
phischen Theorien darüber werden kurz erwähnt,
namentlich die Kant-Schoppenliauer sehe Lehre vom
intelligiblen Character. Verfasser aber kommt haupt¬
sächlich auf Grund psychopathologischer Thatsachen
zu einer Verwerfung des Begriffes der Willensfreiheit,
worin ihm die meisten heutigen Psychiater zustimmen
werden.
Verfasser zeigt nun, wie sehr die jeder Willens¬
handlung vorausgehenden psychischen Vorgänge so¬
wohl inhaltlich als formal tief begründet sind in in¬
dividuell verschiedenen, intellectuellen und gefühls-
mässigen Vorgängen, deren Gcsammtheit eben den
Character des Einzelnen bedingen und über die
wir, da sie theils angeboren, theils anerzogen sind,
nicht hinauskommen. Bei diesen Erörterungen werden
eine Anzahl Begriffe in einer auch für Laien
verständlichen Weise erörtert.
Wenn trotz dieser engen causalcn Abhängigkeit
jeder einzelnen Willenscntschlicssung von dem indi¬
viduellen Character vielfach das Problem der Willens¬
freiheit aufrecht erhalten wird, so wird dies vom
Verfasser darauf zurückgeführt, dass unsere meisten
Willenshandlungen von einem lebhaften Freiheits¬
bewusstsein begleitet sind. Eine Analyse des
letzteren, das sich aus einem verstandesmässigen und
einem gefühlsmässigen Theil zusammensetzt, und die
Thatsache, dass es sich auch bei psyrhopathologischen
Zuständen findet, wo doch sicher der Wille unfrei ist,
ergibt aber, dass das Freiheitsbewusstsein nicht zum
Beweiss für das Bestehen der Willensfreiheit heran¬
gezogen werden kann. Es beweist höchstens, dass
bei der Abwägung der Motive der Ablauf der
geistigen Vorgänge nicht wesentlich beeinträchtigt war,
dass also die psychologische Freiheit vorhanden war.
Endlich wird betont, dass die Annahme einer Willens¬
freiheit unvereinbar ist mit der jetzt am meisten an¬
erkannten Hypothese des psychophysischen Parallelis¬
mus; denn wenn man zugiebt, dass der materielle
Ablauf aller Vorgänge sich nach dem Causalitätsge-
setz vollzieht, so muss man dies auch der anderen,
immateriellen Seite des geistigens Geschehens zubilligen.
Dass durch den Wegfall der Willensfreiheit unser
persönliches Handeln und unser Verhältniss zur Ethik
nicht verändert wird, dass dagegen die mit dem
freien Willen rechnenden Strafrechtstheorien Schiff¬
bruch leiden müssen, sind weitere Folgerungen, auf
die Verfasser nur vorübergehend hin weist.*)
(W e b e r -Göttingen).
— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten. Bd. 36 Heft 1.
N ei ss e r (Lubli n i tz). Beitrag zur A etio-
logie der periodischen Psychosen.
Verfasser berichtet zunächst über einen Fall von
periodischer Psychose im Anschluss an einen Schlag¬
anfall, dann über einen solchen, bei welchem Krämpfe
in der Kindheit aufgetreten waren, und bestätigt da¬
mit die Angaben von Pilcz, welcher als neuen ätio¬
logischen Factor für die Auslösung periodischer Psy¬
chosen organische cerebrale Erkrankungen („Hirn¬
narben“) aufgedeckt hat und welcher fand, dass
periodisch Kranke in ihrer Kindheit sehr häufig cere¬
brale Leiden durchgemacht haben („Fraisen, Gehirn¬
hautentzündung“ etc). Ferner erwähnt Verf. kurz
das Vorkommen einer circulären Psychose bei einem
Patienten, der einige Jahre zuvor von einem Blitz¬
strahl getroffen worden war, und macht schliesslich
unter Mittheilung einer Krankengeschichte auf eine
kleine Gruppe von periodischen Psychosen aufmerk¬
sam, welche unmittelbar nach einem Trauma auf-
treten, als Erregungszustände in Einzelanfällen verlaufen
und scheinbar eine günstige Prognose bieten.
. Arnemann, Gross-Schweidnitz.
*) Dass auch die Cfiminalrechtspflege ohne den Begriff der
Willensfreiheit auskommt und dass mit der Verwerfung des¬
selben die Grundlagen des heutigen Strafrechts nicht alterirt
werden, hat kürzlich in einem Vortrag in der Göttinger psycholog.-
forens. Vereinigung Professor Dr. jur. v. Hippel ausgeführt.
(Siehe Sitzungsbericht in dieser Nummer.)
Für den redactionel len Theil verantwortlich: Oberarzt J)r. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnetnann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ii. Edinger,
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Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
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Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien i.
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Nr, 45. ~ 7. Februar. _ 1903,
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3 spaltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director
Dr. Josef Krayatsch, Maucr-Oehling (Fortsetzung) (S. 489;. — Ein wichtiger Moment in der Entwickelung der Fürsorge
für Trunksüchtige (S. 493). — Mittheilungen (S. 496).
Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger.
Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich).
(Fortsetzung.)
II.
Anslal(sfj/äli</kpit vom Jahre 1896 bis vum Jahre
19 OL
Die Aufnahms- und Leistungsfähigkeit der Pflege-
und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder
w;ir durch ihren Belagraum und ihre Organisation in
enge Grenzen gewiesen und konnte den besonders
durch die feierliche Eröffnung der Anstalt am 17.
August 1896 in der Oeffentlichkeit rege gewordenen
und gesteigerten Nachfragen um Aufnahme schwach¬
sinniger Kinder aus der Provinz kaum gerecht werden.
Aus diesem Grunde mussten die Aufnahmsgesuche
aus den anderen Provinzen Oesterreichs und aus
anderen Staaten — Ungarn, Rumänien, selbst aus
der Türkei unberücksichtigt bleiben. Besonders rege
waren die Nachfragen nach Unterbringung epilep¬
tischer, im schulpflichtigen Alter stehender Kinder,
welche wegen der bestehenden, den öffentlichen Un¬
terricht störenden Krampfanfälle vom Schulbesuche
enthoben wurden, jedoch mangels eines schulplan-
mässigen Unterrichtes in der Kinderanstalt, nicht auf¬
genommen werden konnten. Dessen ungeachtet war
die Thätigkeit der in der Kinderanstalt in Verwendung
stehenden Angestellten eine sehr segensreiche, wie
aus den Jahresberichten des niederösterreichischen
Landesausschusses über diese Zeitperiode in erzieh¬
lich-pädagogischer, ärztlicher und administrativer Rich¬
tung zu entnehmen ist.
Seit der Eröffnung der Pflege- und Beschäftigungs¬
anstalt für schwachsinnige Kinder am 17. August
1896 bis zum Ende Juni 1901 wurden 242 Knaben
und 191 Mädchen aufgenommen.
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490 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45.
Tagesordnung.
Zeit
Sonn- und Feiertage
Wochentage.
4
wie an Wochentagen
4
Glockenzeichen 4 Uhr der Nachtwache zum Aufstehen
der Schwestern.
*46—7.7
wie an Wochentagen
*/*<»—‘/*7
Aufstehen der Pfleglinge, Waschen, Haarmachen, Zahnpflege,
Ankleiden.
7,7
wie an Wochentagen
V*7
Glockenzeichen ' 2 7 Uhr. Morgenandacht und Früh¬
stück der Pfleglinge im Speisesaal, Frühstück der
Pflegebedürftigen auf ihren Abtheilungen, Frühstück
der diensthabenden Schwestern mit den Kindern im
Speisesaale und auf der Pflegeabtheilung, das der
dienstfreien im Refektorium nach dem Gottesdienste.
'
wie an Wochentagen
7-8
Bettmachen, Säuberung und Lüftung der Abtheilungen,
Waschen der Gange.
CS
1
00
Gartenbesuch oder
Spiele im Tagraum
8-9
Kindergarten, Beschäftigung, Gartenbesuch, Spiele viele
Stundenplan.
9 —VjIO
Zweites Frühstück nach
dem Gottesdienste
£
c«
T
0
Zweites Frühstück.
x ! t \ö— 7*i 1
1 2 10— 1 2 i 1
Kindergarten, Beschäftigung, Garten besuch, Spiele, Bad
vide Badeordnung.
V,ii--ii
Decken der Tische, Aufenthalt der Pfleglinge in den Tag¬
raumen.
11 —7*12
“ wie an Wochentagen
11 — V * 1 -
Glockenzeichen 11 Uhr. Mittagessen der Pfleglinge
der Beschäftigungsabtheilung im Speisesaalc, der Pflege¬
bedürftigen auf den Abtheilungen
7,12—12
1
V,I2—12
Vor und nach dem Essen kurzes Tischgebet, Waschen des
Mundes, Abräumen der Tische, Aufenthalt der Pfleg¬
linge in den Tagraumen.
12—7,i
12—V 2 I
Glockenzeichen 12 Uhr. 1. Abtheilung d. Schwestern.
1/ T T
/a I — I
Glockenzeichen 12 Uhr. 2. Abtheilung d. Schwestern.
Inzwischen Ueberwachung der Pfleglinge.
I—2
I—2
Säuberung des Geschirres, Gartenbesuch, Bewegungsspiele.
2—3
Gottesdienst — Freizeit
2—3
Kindergarten, Beschäftigung, Gartenbesuch.
3-7,4
■ wie an Wochentagen
3—7*4
Glockenzeichen 3 Uhr. Jause der Pfleglinge im Speise-
saale oder im Garten der Pflegeabtheilungen.
z,4—4
7*4—4
Aufenthalt der Pfleglinge im Garten, inzwischen Jause der
Schwestern abwechselnd im Refektorium.
1
i
| 1.
O
Gartenbesuch Spaziergänge,
Spiele im Tagraum
4—7,6
Gartenbesuch, Spiele im Tagraum oder Garten.
7*6—6
7,6-6
Glockenzeichen 1 / 2 6 Uhr. Abendessen der Pfleglinge
im Speisesaale und in den Pflcgeabtheilungen.
6—7,7
> wie an Wochentagen
6 1 2 7
Herrichten der Schlafräume, Schlafengehen der Pflegebe¬
dürftigen und kleinen Pfleglinge.
*47—7*8
'A/ 1 ;2^
Aufenthalt der erwachsenen Pfleglinge im Tagraum, Abend¬
essen der Schwestern iu 2 Gruppen im Refektorium.
1/0 1 /
/*ö— /*9
, /t8 1 26
Schlafengehen der erwachsenen Pfleglinge, Erholung der
Schwestern.
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HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
491
I 903 -]
Auszug aus der provisorischen Hausordnung.
Aerztliche Visite. Die ärztliche Visite findet zwischen 9 und 11 Uhr statt. Plötzliche Erkrankungs¬
fälle sind dem Journalarzte, besondere Ereignisse nebst Alarmirung der Hausdiener durch das elektrische
Alarmsignal dem Direktor und Verwalter telephonisch zu melden; bei dem Ausbruche eines Brandes ist
nach den Bestimmungen der Feuerlöschordnung vorzugehen.
B a d. Jeder Pflegling erhält wöchentlich ein Reinigungsbad im Centralbade. Die Reihenfolge regelt die
Badeordnung. Die Pflegebedürftigen werden nach ärztlicher Anordnung unter Umständen auch täglich in
den kleinen Badestuben gebadet.
Kindergarten und Beschäftigung regelt der Stundenplan. Die Pflege der Kinder durch die
Schwestern wird im Allgemeinen durch den Unterricht, im Besonderen durch eine kurze Pflegebelehrung bestimmt.
Besuchsordnung. Die Pfleglinge können nur im Besuchszimmer gegen Vorweis der Eintrittskarte
besucht werden.
Besuchsstunden. Wochentags 1 — 5 Uhr Nachmittags. Sonntags l / 2 10—V2 12 Uhr Vormittags und
1—5 Uhr Nachmittags. Die Besucher und Pfleglinge werden durch die Pförtnerin überwacht. Die Besuche
von Pfleglingen in den Schlafsälen und im Krankenzimmer bedürfen der besonderen Erlaubniss des Direk¬
tors. Die Bereitung und Verabreichung der Speisen, sowie die Gebarung mit der Kleidung und Wäsche,
endlich die Handhabung der Heizung, der Ventilationsanlage werden durch besondere Vorschriften geregelt.
Da zur Zeit eine allgemein anerkannte Eintheilung
der verschiedensten Krankheitsformen der psychischen
Schwächezustände im Kindesalter auf Grund gleicher
pathologisch anatomischer Befunde noch nicht mög¬
lich ist, so wurden jene versuchsweise, wie folgt, ein¬
geteilt :
A. Idiotie:
I. alle nicht bildungsfähigen.
B. Schwachsinn höheren Grades:
II. alle erziehungsfähigen.
III. alle beschäftigungsfähigen.
C. Schwachsinn:
IV. alle unterrichtsfähigen Kinder.
Zur Idiotie gehören alle Formen, welche nach
Schiile die Attribute des idiotischen Blödsinnes und
des hochgradigen, nicht bildungsfähigen Schwachsinnes
besitzen, demnach nicht bildungs- bezw. nicht • er¬
ziehungsfähig sind.
Zum Schwachsinn höheren Grades gehören
alle hauptsächlich bildungs- bezw. erziehungsfähigen
Formen, deren Träger Nachahmungstrieb zeigen,
sich ankleiden und waschen lernen, sich geordnet
verhalten, selbst essen, Neigung zur Geselligkeit und
zum Spielen besitzen, sich auch etwas sprachlich oder
durch Zeichen verständlich machen können und im
Stande sind, zusammengesetzte Arbeiten im Kinder¬
garten und in verschiedenen Beschäftigungszweigen
zu erfassen.
Zum einfachen Schwachsinn gehören alle
Schwachsinnsformen, deren Träger unterrichtsfähig
sind.
III.
Fachlich statistischer Theil für die Zielt von der Eröffnung der Anstalt vom 17. August 1896
bis Ende Juni 1901 .
Tabelle I.
Zahl der Schwachsinnigen geordnet nach Diagnosen und Complicationen:
Complicirt mit
Form
1 'S .
. 1
l
e
<u
1
1
1
Im
a;
1 .
..
+->
0
Diagnose
Zahl
Epilepsie
Chorea
Taub-
TD
XS
£
2
3
to
Schwer-
hörigkeit
x:
jjj
0
s
0
.52
a>
&
V
d
cd
erethische
Cretinismus
mongoloi<
Typus
£
'V
c
3
ohnfc
—
cd
ü
'a
6
0
(J
Summa
K I
M
K
M
K
M
|K
M
1 K
M
1 K
| M
K
M
|K
M
K
M
K
M
K
[M
KJ
M
Idiotie.
Schwachsinn höheren
105
77
16
17
2
5
I
—
_
—
—
—
24
x 9
00
1 *0
27
3 1
—
4
1 7
8
105
77
Grades.
59
55
9
18
1
3
5
2
—
4
—
—
12
9
27
t3
4
5
1
1
—
—
59
55
Schwachsinn . . .
78,
59
9
6
6
2
14
9
I I
9
2
2
21
20
1 4
IO
—
—
t
1
—
—
78
59
Summa.
242 |
191
34
4 t
91
jio|
201
11
1 1
13
2
2
57
48
79
50
7
5
6
3
1 7 |
8
242
I9 1
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HARVARD UN1VERSITY
492
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.5-
Tabelle II.
Zahl der Schwachsinnigen geordnet nach den Diagnosen im Veihältnisse zur Nichtbildungs-, Bildungs-,
Beschäftigungs- und Unterrichtsfähigkeit.
Diagnose
Zahl
Nichtbildungs¬
fähig I
Bildungsfähig
II
Beschäftigungs¬
fähig III
II, III und
Unterrichts¬
fähig IV
Summe
K
1 M
K
M
K
M
K
M
K
! M
K
M
Idiotie.
Schwachsinn höheren
105
77
105
77
—
—
—
—
—
—
105
77
Grades.
59
55
—
—
38
22
21
33
—
—
59
55
Schwachsinn . . .
78
59
—
—
—
—
—
—
78
59
78
59
Summe:
242
191
105
77
38
22
21
33
78
59
242
191
433
Tabelle III.
Zahl der Schwachsinnigen im Verhältnisse zur erblichen Belastung.
1
1
Geisteskrank oder
nervenkrank
Potatoren
U A
tr.
1
Diagnose
Zahl
Vater
Mutter
Geschwister
Grosseitem
Seitenver-
wandte
Vater
Mutter
Ohne nachg
wiesene erl
*->
(n
CS
O
PQ
0 )
43
Summa
K
| M
K
; m
1 K
M
1 K
1 M
| K
1 M
K
| M
K
M
K
M
K
M
K
| M
Idiotie.
Schwachsinn höheren
U) 5
77
8
7
9
3
6
1 7
4
1
8
7
7
7\
3
60
45
105
77
Grades.
59
55
7
4
5 j
4
1
3
1
2 1
11
4
7
5
2
25
33
59
55
Schwachsinn . . .
78
59
13
4
12
12 1
1
1 3
2
6
5
9
7!
1 1
1 1
2
34
26
78
59
Summe:
* 4*1
191
28
1 ^
26
19
8
13
7
3
25 I
16
23
1 19
6
2
1 19
104
242
191
433
Tabelle IV.
Krankheitsursachen.
L
a
Hilfe
3
X
<D
O
.2
So
O-
ju
13
fcO
0
3
£
X
cd
£
.22
’w
jd
Q
cT
o
*3
43
ex
■
9
•4-1
*0}
Ja
'S
0
u
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Diagnose
Zahl
<D
fcp
1
Künstl.
<V
'U
‘53
ja
£
w
c
L
r.
r.
w
<U
rj
c
B
3
H
U
cS
O
'S
Ä
0
0
c
is—•
2
&
3
«
'O
c
>
Ü
X
s
3
►4
£
O
Summe
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
|M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
Idiotie.
,o 5
77
—
1
M
7
40
3i
20
13
1
2
15
9
4
3
7
5
1
2
2
2
71
_
_
2
105
77
Schwachsinn höhe-
ren Grades . .
59
55
2
1
6
2
21
19
5
7
2
4
12
3
—
2
1
1
I
1
—
—
—
7
15
59
55
Schwachsinn . .
78
59
2
1
4
23
12
7
2
2
3
22
8
3
3
1
—
—
—
1
—
1
14
22
78
59
Summe :
242
191
4
3
24
15
84
62
32
22
5
9
49
20
7
8
10
6
2
3
3
3
I
1
2 1
39
242
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HARVARD UNIVERSITY
1903 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 493
Tabelle V.
Arten des Abganges.
Diagnosis
Abgangszahl
läusl. Pflege
ildungsanstalt
Besserungs-
anstatt
Colonie
Haschhof
Iirenanstalt
Idioten-
Abteilung
Armen-
Versorgung
gestorben
Blinden-
Institut
Summa
CQ
K
M
K
M
K
M
K
M
K
\I
K |
M
K
M
K
M
K
M
K
M
K
M
Idiotie.
68
22
4
4
—
—
—
—
1
2
57
1
4
5
12
—
—
"
68
22
Schwachsinn höheren
Grades ....
28
30
5
.0
3
—
1
—
4
5
14
—
12
1
3
—
—
,8
30
Schwachsinn . . .
45
46
11
13
28
24
2
3
—
-]
—
—
—
7
1
1
—
I
45
46
Summa:
*4 1
98
20
27
3 i
24
2
—
4
—
1
5 J 7
—
1
2 \
3
7
16
—
I
• 4 •
98
Tabelle VI.
Todesursachen.
Status
1
Marasmus
Lungenent-
T über-
Darm-
Herzfehler
epilepticus
Zündung
kulosis
katarrh
K
M
K ! M
K
M
K j M
K
| M
K 1 M
*
3
1 ! 1
l ”
2
2 7
1 1
t
. 1 2 ! 2
1
1 1
Tabelle VII.
In Anstalten zur Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder geordnet nach dem Intelligenzgrade.
Diagnosis
Im Jahre 1899
verpflegt
K | M
I.
Pflegebedürftig
K | M
11. “
theils bildungs¬
fähig
ui.
theils beschäf¬
tigungsfähig
K | M
IV.
unterrichtsfähig
K i M
Summe
K | M
Idiotie.
ii 7
54
11 7
54
—
.
“7
54
Schwachsinn höheren
Grades.
53
64
53
64
—
53
04
Schwachsinn.
1 14
63
—
—
114
63
“ 4
63
Summe:
284
11 7
54
53
64
1 14
63
-1-
00
181
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Ueber jeden Pflegling und Zögling wird eine ge¬
naue Pflege- bezw. Erziehungsgeschichte geführt, die¬
selbe mit einem Status somaticus und psychicus prae¬
sens eingeleitet und dabei Körpergrösse, Gewicht und
.alle regelwidrigen organischen Aenderungen verzeichnet.
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Eine alle 2 Monate vorgenommene Wägung und
alljährlich vorgenommene Messung der Körpergrösse
unterstützen die ärztliche Ueberwachung des allge¬
meinen Ernährungszustandes und des Wachsthums.
In den Erziehungsgeschichten werden ferner alle auf
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
494 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. {Nr. 45-
die Pflege, Erziehungs-, Beschäftigungs- und Unter¬
richtsversuche gemachten Beobachtungen und die
krankhaften Veränderungen verzeichnet.
Die mehr dem practischen Bedürfnisse Rechnung
tragende und an der Hand der Erziehungsgeschichten
verfasste Zählung der bisher in der Anstalt verpflegten
Kinder nach dem Geschlechte, dem Intelligenzgrade
und den verschiedenen Complicationen schafft allein
sichere Grundlagen, auf welchen der Entwurf die
Organisation einer zu erbauenden Erziehungs- und
Pflegeanstait für schwachsinnige Kinder unter Berück¬
sichtigung der Pflege, der Erziehung, der Beschäftigung,
des Unterrichtes, im Verhältnisse zum Belagraume
beruhen.
Die Tabelle I zählt die 433 Kinder nach dem
Geschlechte, dem Intelligenzgrade und den Compli¬
cationen. Wir lernen die Letzteren kennen, um uns
derselben bei der Gruppirung der Kinder hinsichtlich
der Pflege, Ueberwachung, der Erziehung und des
Unterrichtes zu bedienen.
In erster Linie sind es die mit Epilepsie und
Chorea behafteten Kinder, in Summa 43 Knaben und
15 Mädchen, welche, abgesehen von dem Grade der
Intelligenz und der besonderen Charactereigenschaften,
wegen der periodisch wiederkehrenden Krampfanfälle
eine besondere Pflegeart bei Tag und Nacht in An¬
spruch nehmen und daher eine eigene Gruppirung
für die Pflege und Erziehung nothwendig machen.
Die taubstummen Pfleglinge, 20 Knaben und 11
Mädchen, bedürfen wegen der eigenartigen Erziehung
und des Unterrichtes eine separate Behandlung durch
geschulte Erzieher und Lehrer und müssen wegen
ihrer gemeinsamen Bestrebungen und Ucbungen im
Verkehre eine selbständige Gruppe für sich bilden.
Eine Gruppe von Kindern, die der Schwerhörigen,
11 Knaben und 13 Mädchen, erregte bald die Auf¬
merksamkeit der Aerzte und Lehrkräfte durch ihre
besonderen guten Fortschritte. Sowohl die vor¬
genommene Intelligenzprüfung, als auch die geistige
Entwickelung erbrachten den Nachweis, dass es sich
in den meisten Fällen mehr um eine Ignoranz, als
um eine schwere geistige Abschwächung gehandelt
hat, da die Kinder im Laufe ihrer Lebensjahre
jene Eindrücke entbehren mussten, welche durch
das Gehör vermittelt, deren Wissensschatz be¬
reichern sollten, und deshalb in der geistigen Ent¬
wickelung ihren Geschwistern und Mitschülern gegen¬
über zurückgeblieben sind. In der Schule werden sie
wegen ihres Verhaltens verspottet, und in die Taub-
stummens« hule wegen der allerdings verminderten
Hörfähigkeit ni<hl aufgcnommcn. Ein mehr das In¬
dividuum berücksichtigender Einzelunterricht ist bei
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den Schwerhörigen von grösstem Vortheil und wird
so manchen zu einer tüchtigen Arbeitskraft erziehen.
Die Eintheilung der Schwachsinnsformen in
apathische und erethische giebt Anhaltspunkte für die
Gruppierung der Kinder nach erziehlichen Grund¬
sätzen, da unter den erethischen Kindern der ge¬
steigerte Bewegungsdrang und die Neigung zu sexu¬
ellen Ausschreitungen häufiger zur Beobachtung ge¬
langen und eine besondere Ueberwachung erheischen.
Die Zählung der Cretinen und der Schwachsinns¬
formen mit mongoloiden Typus und der Blinden ist
nothwendig aus ärztlichen und pädagogischen Gründen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Tab. II,
welche die 433 schwachsinnigen Kinder nach dem
Geschlechte, dem Grade der Intelligenz, der Nicht-
bildungs-, Bildungs- oder Erziehungsfähigkeit, Be¬
schäftigungs- und Unterrichtsfähigkeit zählt; die genau
erhobenen Ziffern geben sichere Anhaltspunkte für
die Zahl der Pflege- und Erziehungsgruppen, für die
Grösse der Schul- und Arbeitszimmer. Die Tabellen
III und IV berücksichtigen die Zahl der Krankheits¬
ursachen, der beobachteten Krankheitsformen und
die der erblich belasteten Träger der Letzteren. Die
betreffenden Erhebungen w-urden von den Haus- und
Gemeindeärzten gelegentlich der Ausstellung des ärzt¬
lichen Fragebogens gepflogen, welchen die Angehörigen
dem Aufnahmsgesuche anzuschliessen haben. Diese
Erhebungen dürften so manche Lücken aufweisen,
w'eil die Angehörigen oft Grund genug haben, Unan¬
genehmes zu verschweigen. Um so auffälliger sind
demnach die Ziffern, welche dennoch die Zählung
der erblich belasteten Kinder und der verschiedenen
Krankheitsursachen erbracht hat.
Unter den Grosseltern, Eltern, Geschwistern und
Scitcnverwandten der 433 Kinder befanden sich 152
nerven- oder geisteskranke Personen und ausserdem
42 trunksüchtige Väter und 8 trunksüchtige Mütter,
in Summa 4ö° 0 .
Bei 146 Kindern wird die Eclampsie, bei 80 die
Rbachitis, bei 15 der Keuchhusten, bei 16 der Hv-
drocephalus als Krankheitsursache erwähnt. Es wird
wiederholt ärztlich hervorgehoben, dass die Infections-
krankheiten bei rhachitisch und neuropathisch veran¬
lagten Kindern den Ausbruch der Eclampsie veran¬
lasst haben.
# In 45 Fällen war es die essentielle Kinder¬
lähmung, welche in den meisten Fällen eine schwere
Verblödung mit irreparabler motorischer Störung,
welche die befallenen Kinder meist zu den pflegebe¬
dürftigsten Geschöpfen macht, zur Folge hat.
In 7 Fällen werden die Frühgeburt, in 39 Fällen
die operative Hilfe bei behindertem Geburtsverlaufe
Original fram
HARVARD UNIVERSSTY
1903 ]
als Krankheitsursachen angeführt. Ob der mechanische
Insult z. B. durch die Zange, oder die Asphyxie die
schwere Schädigung des Gehirnes verschuldet, kann
wohl heute noch nicht einwandfrei beantwortet
werden.
Die V. Tabelle bringt die Arten des Abganges
und hiermit die ziffemmässige Bestätigung der Leist¬
ungsfähigkeit der Anstalt.
In die häusliche Pflege wurden 45 Kinder genom¬
men, darunter zumeist Kinder des einfachen Schwach¬
sinns, welche wegen ihrer Beschäftigungsfähigkeit zu
Hause Verwendung finden konnten. Einzelne Eltern
nahmen die Kinder deshalb heraus, weil diese keine
Fortschritte machten. 54 Kinder konnten wegen er¬
hobener Unterrichtsfähigkeit in die Bildungsanstalten
in Biedermannsdorf und in Bruck a. M., übersetzt
werden, in welchen ein schulplanmässiger Unterricht
organisirt ist.
Zwei Knaben kamen wegen ihrer Eignung in
Besserungsanstalten und ein Mädchen in die Landes¬
blindenschule. Mangels geeigneter Pflegeplätze für
nichtbildungsfähige Knaben wurde eine Idiotenab¬
theilung im allgemeinen Krankenhause in Mödling
eröffnet und 71 Knaben dahin übersetzt. Ausserdem
kamen wegen deren besonderen Verhaltens 24
495
Kinder in Armenversorgung und 12 in die Irren¬
anstalt.
Mit der Eröffnung der niederösterreichischen
Landescolonie Haschhoff am 16. März 1899 wurde
es möglich, solche Knaben, welche nach erreichtem
16. Lebensjahre nicht mehr in den Rahmen der
Kinderanstalt gehören, aber sonst die Eignung zu
einer landwirtschaftlichen Beschäftigung nachweisen
und doch nicht in der Lage waren, selbständig einem
Erwerbe nachgehen zu können, in dieselbe behufs
Erziehung zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten zu
übersetzen.
In der Colonic Haschhof befinden sich zur Zeit
4 ehemalige Pfleglinge der Kinderanstalt und sind
in diesem Berufe recht verwendbar. Die Colonie
und Familienpflege in Mauer-Oehling wird auch
weibliche Pfleglinge dieser Categorien zu übernehmen
im Stande sein.
Während der 5 Jahre starben 22 Kinder, das
sind 5 0 darunter 9 an Tuberculosis, welche die
Krankheit bei ihrer Aufnahme bereits nachweisen
Hessen.
Bemerkensw’erth ist die Thatsache, dass unter
den Letzteren sich Idioten mit mongoloidem Typus
befanden. (Schluss folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Ein wichtiger Moment in der Entwickelung der Fürsorge für Trunksüchtige.
Tjurch die Tagespresse ging in dieser Woche die
Nachricht, dass dem Bundesrath eine Novelle
zum Krankenversicherungsgesetz zugegangen sei.
Durch diese Novelle soll die Zeit der Krankenunter¬
stützung auf 26 Wochen und ebenso die Unter¬
stützungsdauer nach einer Entbindung auf 6 Wochen
erhöht werden. Ferner fallen die Vorschriften fort,
welche die Gewährung einer Krankenunterstützung
bei Geschlechtskrankheiten bisher ausschliessen. Wenn
diese Vorlage des Reichsamts des Inneren, woran
nicht gezweifelt werden kann, die Zustimmung des
Bundesraths finden sollte, so wird hierdurch die Lücke,
welche zwischen dem Ende der Kranken- und dem
Beginn der Invalidenunterstützung bisher lag, ausge¬
füllt und gleichzeitig eine Bestimmung beseitigt,
w'elche in unbegreiflicher Verkennung der öffentlichen
Gesundheitspflege und aus überlebten Auffassungen
heraus die Geschlechtskranken von den Wohlthaten
der Krankenunterstützung ausschloss. „Unzweifelhaft
— so heisst es in der anscheinend offieiösen Aus¬
lassung — dürfte es Pflicht des Reichstages sein,
dieses Gesetz mit seinen allseitig freudig zu be-
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grüssenden, bedeutsamen socialen Fortschritten noch
in dieser Session zu verabschieden.“
So sehr wir auch vom psychiatrischen Standpunkt
wegen der vielfachen Folgen mangelhaft behandelter
Syphilis die obligatorische Einbeziehung der Ge¬
schlechtskranken in die Krankenversicherung begrüssen
können, ebenso sehr müssen wir in dieser Ankündi¬
gung die Wegräumung der gleichfalls veralteten Son¬
derstellung der Trunkfälligen vermissen. Nach § 6a
Absatz 2 des Krankenversicherungsgesetzes braucht
jetzt die Kasse Krankenunterstützung auch denen
nicht zu gewähren, welche „sich eine Krank¬
heit durch Trunkfälligkeit zugezogen
haben.“
Diese Bestimmung muss unseres Erachtens gleich¬
falls fallen. Wird auch sie durch die neue Novelle
beseitigt, so ist durch die gesetzliche Verpflichtung
der Kasse, welche nunmehr für ein halbes Jahr
obligatorisch wird, eine financielle Basis für die Be¬
handlung der Trunksüchtigen gewonnen, wie wir sie
in jahrelangen Bestrebungen kaum haben erhoffen
dürfen. Es bleibt dann nur die Errichtung der A11-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
496
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 45.
stalten zu regeln übrig. Wie viel leichter werden
sich dann auch öffentliche Verbände (Provinz, Landes¬
versicherungsanstalt) zur Errichtung solcher Anstalten
entschliessen, wenn die Bezahlung der Verpflegung
der Kranken für ein halbes Jahr gesichert ist.
Es wird danach Sache der Irrenärzte sein, in der
anscheinend sehr knapp bemessenen Frist, innerhalb
welcher die neue Novelle verabschiedet sein soll, für
die Einbeziehung der Tnmksüchtigen in die Gesetzes¬
novelle zu wirken.
Eine wesentliche Mehrbelastung der Kranken¬
kassen würde dadurch nicht herbeigeführt werden,
da bekanntlich die meisten der durch Trunkfälligkeit
entstandenen Krankheiten schon bei der jetzigen
Gesetzeslage als Magen-, Leber-, Nieren- und Ner¬
venleiden auf Kassenkosten zur Behandlung kommen,
ohne dass die Frage der Trunkfälligkeit als der Ur¬
sache seitens der Kassen überhaupt aufgeworfen wird.
Durch eine rechtzeitige Behandlung dieser Grund¬
ursache würde in vielen Fällen jenen Folge-
erkrankungen und ihren Kosten vorgebeugt werden
können. B ra t z - Wuhlgarten.
M i t t h e i 1
— Weitere Erörterungen über den Preussi-
schen Justizministerialerlass vom i. X. 02.
Herr Amtsrichter Dr. Levis (Pforzheim), Auto¬
rität auf dem Gebiete der Entmündigungsfragen,
schreibt in Nr. 1 der Zeitschrift „Das Recht“ vom
10. Januar 1903:
„Auswahl der Sachverständigen im
Entmündigungsverfahren.
1. „Bei den Ermittelungen in Entmündigungs¬
sachen (wird) den Amtsgerichten . . . empfohlen:
. . . Die Wahl der Sachverständigen ist in erster
Linie auf solche Personen zu richten, welche auf dem
Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer Er¬
fahrung besitzen. Sind solche Personen nicht zu er¬
reichen, so ist die Wahl wenn möglich auf einen
Kreisphysikus ... zu richten“. So lautete § 14
Ziff. 2 der allgemeinen Verfügung des preussischen
Justizministers vom 28. November 1899. Durch An¬
ordnung vom 1. Oktober 1902 ist die mitgetheilte
Bestimmung aufgehoben und durch eine neue ersetzt
worden, wo es heisst: „Als Sachverständiger ist ge¬
mäss § Ö53 Abs. 2 in Verbindung mit § 404 Abs. 2
C. P. O. regelmässig der Gerichtsarzt (§ 9 des Ge¬
setzes betr. die Dienststellung der Kreisärzte . . .)
als der für medicinische Angelegenheiten öffentlich
bestellte Sachverständige . . . zuzuziehen. Andere
Personen sollen nach dem angeführten § 404 Abs. 2
C. P. O. als Sachverständige nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände es erfordern“.
Diese Neuerung ist in der Tagespresse vielfach
besprochen und aus Zweckmässigkeitsgründen meist
abfällig kritisirt worden. Sie erregt aber auch bei
einer Betrachtung, die von rechtlichen Gesichtspunk¬
ten ausgeht, nicht unerhebliche Bedenken.
2. Es scheint, dass die Verfügung nichts weiter
beabsichtigt, als die nach den bestehenden Gesetzen
gegebene Rechtslage den Gerichten in Erinnerung zu
rufen. Dafür spricht die Fassung des Erlasses, dem
sichtlich folgender Gedankengang zu Grunde liegt:
a) Dei Kreisarzt ist nach dem am 1. April iqoi in
Kraft getretenen neuen Kreisarzt-Gesetze der für
medicinische Angelegenheiten Öffentlich bestellte Sach¬
verständige.
b) Nach § 404 Abs. 2 C. P. O., der auch im
u n gen.*)
Entmündigungsverfahren anwendbar ist (§ 653 Abs. 2
C. P. O.), sollen, wenn für gewisse Arten von Gut¬
achten Sachverständige bestellt sind, andere Personen
nur dann gewählt werden, wenn „besondere Umstände 4 *
es erfordern. Also ist
c) in Entmündigungssachen, von besonderen Fäl¬
len abgesehen, der Kreisarzt als Gutachter zuzuziehen.
— Dieser Schluss (c) ist m. E. nicht ohne weiteres
zutreffend. Denn er übersieht eine Zwischenfrage,
die sich aufwirft: Bietet nicht vielleicht die
Geisteszustands-Untersuchung im Ent¬
mündigungsverfahren an sich derartige
Besonderheiten, dass hier allgemein die
Wahl möglichst nicht auf den Kreisarzt
zu lenken is t?
Die Beantwortung dieser Frage ist nach der C.
P. O. den Gerichten Vorbehalten. Trotzdem nimmt
der angezogene preussische Erlass Stellung zu ihr.
Denn sichtlich wird jene Frage verneint, indem aus¬
gesprochen wird: der Regel nach sei der Kreisarzt
der geborene Sachverständige in Entmündigungs¬
sachen. Damit greift also die Anordnung in das
richterliche Zuständigkeitsgebiet ein, natürlich ohne
bindende Kraft für den Entmündigungsrichter. Diesem
bleibt vielmehr das Recht und die Pflicht, vor allem
zu prüfen, ob nicht der allgemeine Charakter der
Geisteszustands-Untersuchung die grundsätzliche Be¬
vorzugung des Irrenarztes vor dem Kreisärzte er¬
fordert.
3. M. E. muss diese Prüfung zu der Ueberzeugung
führen, dass der öffentlich bestellte Sachverständige
im Entmündigungsverfahren nur ausnahmsweise als
Gutachter zu brauchen ist.
Zunächst spricht die Entstehungsgeschichte des Ge¬
setzes für dies Ergcbniss. Man wellte durch § 404
C. P. O. keineswegs die ärztlichen Specialisten aus
dem gerichtlichen Verfahren verdrängen. Die Be¬
fürchtung, dass dies die Folge der gesetzlichen Be¬
stimmung sein könnte, w'urde bei den Berathungen
laut. Die Mehrzahl der Reichstags-Justizkommission,
welche den heutigen § 404 Abs. 2 C. P. O. schuf,
vertraute aber offenbar darauf, dass ceteris paribus
der Specialarzt dem öffentlich bestellten allgemein-
medidnischen Sachverständigen vorgezogen werde.
9 Die Hinausschiebung des Schlusses des ungar. Berichts wolle mau mit der Dringlichkeit der vor- wie der nach¬
stehenden Mittheilupgen als en
Digltizedby
st
chuldigt gelten lassen.
e
Original fram
HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
497
1903-]
Dr. Zinn, welcher die fragliche Gesetzesbestimmung
selbst vorschlug, betonte es ausdrücklich, dass, wenn
am Orte, wo der Gerichtsarzt seinen Sitz hat, ein besser
geeigneter Specialist sich befinde, dieser als Sachver¬
ständiger zu wählen sein werde (vgl. Hahn, Mate¬
rialien z. C. P. O., 2. Aufl., S. 637). Die Urheber
des Gesetzes sahen sonach einen „besonderen Um¬
stand“, welcher die Nichtzuziehung des Kreisarztes
rechtfertigt, ganz allgemein im Vorhandensein
eines nicht schwerer erreichbaren Specialisten. Ge¬
wiss wird man also im Entmündigungsverfahren,
dessen grosse Schwierigkeiten eine besonders vertiefte
Sachkunde erfordern, dem naturgemäss besser vorge¬
bildeten und geübten Irrenarzte den Vorzug geben
vor dem Gerichtsarzte.
Für dieses Ergebniss kann man einen gewissen
Anhaltspunkt auch mittelbar aus § 655 C. P. O. ge¬
winnen. Dieser Norm zufolge darf eine Entmündi¬
gung ohne Anhörung von Sachverständigen nicht
ausgesprochen werden. Die Vorschrift kann auf den
ersten Blick überraschen. Giebt es doch sicherlich
Fälle, wo die Entmündigungsreife schon für den
Richter so klar zu Tage tritt, dass man eines Sach¬
verständigen entrathen könnte. Trotzdem ist die ge¬
setzliche Anordnung heilsam und wohl begründet
Denn es können auch bei dem scheinbar einfachsten
Falle Schwierigkeiten vorliegen, die aber nur das
sachkundige Auge erblickt. Beim Entmündigungs¬
verfahren, welches ganz ungewöhnlich tief in die per¬
sönlichen Verhältnisse des Betroffenen eingreift, muss
darauf Bedacht genommen werden, auch derartige
verborgene Schwierigkeiten, wenn sie vorhanden sind,
zu entdecken. Ob sie vorhanden sind, lässt sich
zum voraus niemals sagen. Man muss daher in jedem
Falle mit ihnen rechnen. Das thut § 655 C. P. O.,
indem er stets die Zuziehung eines Sachverständigen
fordert. Und es liegt in der Consequenz dieser Be¬
stimmung, dass man in jedem Falle auf die aller¬
grössten Schwierigkeiten sich vorbereitet und des¬
halb stetshin denjenigen Sachverständigen wählt, der
auch diesen möglichst gewachsen ist; also die stete
Zuziehung des möglichst best vorgebildeten Gut¬
achters liegt im Geiste des Gesetzes. Und diese
Eigenschaft kommt in erster Reihe dem Irrenarzte zu.
4. Dass der Irrenarzt, der sich mehr oder weniger
ausschliesslich der Nerven- und Irrenheilkunde ge¬
widmet hat, auf diesem seinem Arbeitsfelde dem All¬
gemein- und damit auch dem Gerichts-Arzte über¬
legen ist, bedarf wohl nicht erst des Beweises. Es
ist ja gewiss freudig zu begrüssen, dass man neuer¬
dings auf die psychiatrische Ausbildung der beamteten
Aerzte, wie der Aerzte überhaupt, grössere Sorgfalt
verwendet. Aber das Können des Gerichts-Arztes
auf diesem Felde muss infolge verhältnissmässig ge¬
ringer klinisch-psychiatrischer Erfahrung ein halb¬
wüchsiges bleiben, und sollte deshalb bei Maassregeln
von der Bedeutung der Entmündigung nicht den
Ausschlag geben. Dafür fehlt auch dem Laien nicht
das nöthige Verständiss. Und es ist deshalb zu be¬
fürchten, dass die öffentliche Meinung es nicht ruhig
aufnimmt, wenn man im Entmündigungsverfahren die
sachkundigeren Irrenärzte ausschliesst. An und für
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sich begegnet ja in weiten Volkskreisen unser Ent¬
mündigungsverfahren lebhaften Anfeindungen, im All¬
gemeinen, wie ich glaube, mit Unrecht. Aber trotz¬
dem sollte man sich hüten, neue Angriffe hervorzu¬
rufen, und überdies noch solche, denen man eine
innere Berechtigung nicht absprechen kann. Schon
aus diesem Grunde empfiehlt es sich wenig, die Ge¬
richtsärzte als Sachverständige im Entmündigungsver¬
fahren zu bevorzugen. Denn ein solches Vorgehen
wird, wie die Auslassungen der Presse über den neuen
preussischen Erlass deutlich zeigen, derartige Angriffe
gewiss zur Folge haben.
5. Und wer hätte von einem solchen Vorgehen
Vortheile? Die Gerichtsärzte? Noch nicht einmal sie.
Im Gegentheile: ihre Bevorzugung im Entmündigungs¬
verfahren wird sich eher als ein privilegium odiosum
erweisen. Auffallenderweise scheint die Gefahr, welche
sie laufen, von den Gerichtsärzten selbst gar nicht be¬
achtet zu werden. Ist doch auf ihre Veranlassung, auf
Anregung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins
nämlich, die neue preussische Verfügung erlassen worden.
Indessen berücksichtige man doch, wie häufig sich be-
bedauerlicherweise zwischen Richtern und ärztlichen
Sachverständigen ein gespanntes Verhältnis entwickelt.
Die Hauptgründe hierfür interessiren uns an dieser
Stelle freilich nicht, aber auf einen mitwirkenden
Grund ist hinzuweisen: auf ein hier und dort beim
Richter auftretendes gewisses Misstrauen in die rechte
Sachkunde des Gutachters. Dieses Misstrauen lässt
sich darauf stützen, dass man sagt: das Arbeitsfeld
des Kreisarztes ist ein so grosses, dass es ganz un¬
möglich ist, es wirklich zu beherrschen. Auf allen
Gebieten der Heilkunde soll der beamtete Arzt auch
bei den schwierigsten Fragen Bescheid wissen; es
wird von ihm häufig, so namentlich bei sanitätspoli¬
zeilichen Gutachten, genügendes Verständniss für
technische und volkswirtschaftliche Fragen verlangt,
und sodann ist auch das juristische Wissen, welches
ein tüchtiges gerichtliches Gutachten erfordert, kein
ganz geringes. Woher soll der beamtete Arzt die
Zeit nehmen, um all die notwendigen Kenntnisse
und Erfahrungen zu sammeln, zumal er durch Warten
beim Gerichte und dienstliche weite Gänge oft genug
Stunden und halbe Tage einfach verliert ? Man muss
sich diese Frage nur vorlegen, um einzusehen, dass
es ganz unmöglich ist, den Anforderungen wirklich
zu genügen, welche an den Kreisarzt gestellt werden.
Wird nur einmal den Gerichtsärzten die Wahrheit
bewusst, dass sich in der Beschränkung erst der
Meister zeigt, so werden sie selbst am meisten be¬
strebt sein, nicht auch noch mit den besonders grossen
Schwierigkeiten der Entmündigungsgutachten belastet
zu werden. Der Gerichtsarzt hat ja selbst das grösste
Interesse daran, nicht einer Aufgabe gegenüber ge¬
stellt zu werden, welcher er nicht unbedingt gewachsen
ist. Dies Interesse des amtlichen medicinischen Sach¬
verständigen darf beim Entmündigungsrichter auf sorg¬
fältigste Beachtung rechnen. Liegt es doch jedem ge¬
wissenhaften Richter an, dem gerichtlichen Sachverstän¬
digen das volle Zutrauen aller Betheiligten zu schaffen
und zu erhalten. Nur zu leicht wird aber dies Ver¬
trauen eingebüsst, wenn der Gerichtsarzt mit zu vielen
Original from
HARVARD UNIVERSITY
4U8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.5.
oder zu verschiedenartigen Geschäften befasst wird
und daher seinen Aufgaben nicht überall genügen
kann.
6. Darum dient man denn nicht zum wenigsten
den Interessen des Kreisarztes, wenn man diesen nur
ausnahmsweise im Entmündigungsverfahren heranzicht
Thut man dies, so vermeidet man weiter eine un-
nöthige Erschütterung des Gefühls der Rechtssicher¬
heit im Volke. Und gleichzeitig handelt man nach
den Anforderungen der Zweckmässigkeit und im Geiste
des Gesetzes. Man verletzt hierbei auch durchaus
nicht die Vorschrift des § 404 Abs. 2 C. P. O.; wenn
die preussische Verfügung vom 1. Oktober 1902 von
dem gegentheiligen Standpunkte ausgeht, so kann
ihrer Auffassung nicht beigepflichtet werden. Das ist
das Ergehniss der vorstehenden Erörterung.
Pforzheim. Amtsrichter Dr. Otto Levis.“
Herr Landrichter a. D. Ernst Mumm schreibt in
„Der Tag“ vom 6. XI. 1902 zu diesem Gegenstand:
„Die Neuerung hat grosses Aufsehen erregt und
namentlich in den Kreisen der Irrenärzte eine arge
Verstimmung hervorgerufen. Gewiss nicht mit Un¬
recht. Es versteht sich doch ganz von selbst, dass
man zum Sachverständigen die Person wählt, die am
sichersten das betreffende Fach beherrscht, die eben
am besten „die Sache versteht“. Der Kreisarzt nun,
dessen Kenntniss der gerichtlichen Psychiatrie auf
dem oft nicht allzu gründlichen Universitätsstudium,
günstigstenfalls auf einer kurzen Assistententhätigkeit
an einer psychiatrischen Klinik beruht und der in
seinem Berufe immer nur vereinzelt mit psychiatri¬
schen Fällen zu thun hat, besitzt gar nicht genügend
Gelegenheit, sich in der Psychiatrie diejenige prak¬
tische Erfahrung und wissenschaftliche Durchbildung
zu verschaffen, die zu der eminent schwierigen Be-
urtheilung „zweifelhafter 44 Geisteszustände erforderlich
ist. Solche Erfahrung hat allein oder doch in aller¬
erster Linie der Irrenarzt. Deshalb ist er der rechte
Sachverständige, und deshalb sollte man grundsätzlich
ihn und nicht den Kreisarzt als Gutachter hören.
Die Verfügung vorn 7. Oktober bedeutet eine so
offenbare Verschlechterung der bestehenden Verhält¬
nisse, dass man gar nicht begreifen kann, welche Er¬
wägungen wohl für ihren Erlass bestimmend gewesen
sein mögen. Schliesslich ist man auf die Idee ver¬
fallen, der Zweck der Verordnung sei allein der: das
magere Gehalt der Kreisärzte aufzubessern. Diese
Annahme geht sicher fehl. Aber kann man ange¬
sichts des Inhalts der neuen Bestimmung es jemanden
verargen, wenn er an dergleichen denkt?
Und ein anderes noch: Der Ministerialerlass vom
1. Oktober ist geeignet die Psychiater in dem Glau¬
ben zu bestärken, die Beamten der Justiz kämen
ihnen mit Misstrauen entgegen und schenkten ihren
Gutachten nicht die Beachtung, die ihnen im Inter¬
esse der Rechtssicherheit gebührte. Das ist ein
schlimmer Verdacht. Man sollte sich hüten, ihm
neue Nahrung zuzuführen.
Landrichter a. D. Ernst Mumm.“
Eine andere an die Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift gerichtete Zuschrift führt Folgendes
aus:
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„Wenn an dieser Stelle nochmals das Wort ergriffen
wird zu der bekannten und viel besprochenen Ver¬
fügung des Herrn Justizministers vom 1. X. 02, so
geschieht das weniger, um die sachliche Befähigung
der hierbei in Betracht kommenden Sachverständigen,
der Kreisärzte auf der einen, der Irrenärzte auf der
anderen Seite, gegeneinander abzuw'ägen. Hierauf
kann ja schon deshalb verzichtet werden, w-eil
diese Frage Amtsrichter Otto Levis in einem längeren
Artikel des Rechts Nr. I, 1903 ebenso ausführlich
w'ie objectiv besprochen hat. Levis hat sich zu
Gunsten der Irrenärzte entschieden, und das ver¬
dient um so mehr gewürdigt zu werden, als Levis,
der Verfasser einer umfassenden, w r ohl der ausführlich¬
sten Monographie über die Entmündigung Geistes¬
kranker, als einer der zuständigsten Sachverständigen
in diesem Kompetenzkonflikt angesehen werden darf.
Es sei hier vielmehr kurz die rechtliche Seite der
Frage nochmals angeschnitten. Bekanntlich w'urde
der Erlass der Verfügung motivirt mit der Aenderung
der Sachlage, die durch das Kreisarztgesetz geschaffen
sei. Der Frage, ob das wirklich so ist, ist bisher
nur wenig näher getreten w r orden. Wohl ist in
einigen politischen Zeitungen die Ansicht ausge¬
sprochen und auch begründet worden, dass von einer
Aenderung der Sachlage kaum die Rede sein könne ;
indess scheinen diese Ausführungen w r enig Beachtung
gefunden zu haben. Darum sei es gestattet, eine
Verfügung des Landgerichtspräsidenten in Marburg
an die ihm unterstellten Amtsrichter hier abzudrucken;
Medieinalrath Dr. Heinemann hat sie in einem „Dienst-
eid-Sachverständigeneid“ betitelten kleinen Aufsatz in
der Zeitschrift für Medic.-Beamte 1902, Nr. 10, pag.
337 zum Abdruck gebracht.
„Nachdem bei mir die Frage angeregt worden
ist, ob die Kreisärzte bei ihren Vernehmungen als
Sachverständige jedesmal besonders zu vereidigen
sind, wenn sie nicht in dem Verzeichnisse der ein
für alle Mal vereidigten Sachverständigen eingetragen
sind, oder ob bei ihnen die Bezugnahme auf ihren
Diensteid genügt, theile ich dem Königl. Amtsge¬
richte meine Ansicht über diese Frage mit.
Das Reichsgericht hat in feststehender Praxis
(vergl. Entsch. in Strafsachen, Bd. 3, S. 321, Bd. 8,
S. 357, Bd. 30, S. 33) angenommen, dass der
Diensteid der Kreisphysiker in Preussen bezw. der
Oberamtsärzte in Württemberg, obwohl er vor einer
Verwaltungsbehörde geleistet sei, für Gutachten inner¬
halb des Amtskreises der Medicinalbeamten auch als
ein für alle Mal geleisteter Sachverständigeneid zu
betrachten sei. Es gründet diese Ansicht darauf, dass
der Diensteid das Gelöbniss der Beamten enthalte,
alle vermöge seines Amtes ihm obliegenden Pflichten
nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, und
dass zu ihren Dienstpflichten namentlich die Ge¬
schäfte der gerichtlichen Medicin, die des Gerichts-
arztes gehören. Dies gelte sowohl für die Straf- als
für die Zivilrechtspflege.
An dieser Auffassung ist auch nach der neuen
Gesetzgebung bezüglich der Kreisärzte festzuhalten.
Der Kreisarzt ist nach § 9 des Gesetzes vom 16.
Sept. 1899 (Ges. S., S. 174) der Gerichsarzt seine s
Original fram
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1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 49g
Amtsbezirks, und Alles, was das Reichsgericht bezüg¬
lich der Kreisphysiker angeführt hat, gilt demnach
auch für ihn.“ — — — —
Daraus ergiebt sich also Folgendes: Der Dienst¬
eid der Kreisphysiker deckte den Eid, den er als
Sachverständiger für die Straf- oder Civilrcchtspflegc
zu leisten hat; denn zu seinen Dienspflichteii ge¬
hören namentlich die Geschäfte der gerichtlichen
Medicin, die des Gerichtsarztes. Er gehört also zu
den Personen, die nach $ 73, Abs. 2 St. P. O. und
$ 404 Abs. 2 C. P. O. für gewisse Arten von Gut¬
achten, liier die gerichtlich-mcdicinischen , als Sach¬
verständiger öffentlich bestellt sind.
Der Landgerichtspräsident stellt aber ebenso aus¬
drücklich fest, dass diese Auffassung der Stellung der
Medicinalbeamten auch bezüglich der Kreisärzte gilt.
Daraus ergiebt sich, dass von einer Aen-
derung der Sachlage, die durch das Kreisarzt¬
gesetz geschaffen sei, nicht die Rede sein kann.
Ist unsere Auffassung richtig, so ist die eingangs
erwähnte Verfügung auch vom juristischen Standpunkt
aus nicht einwandfrei und unbedenklich; vor Allem
lag dann für den Justizminister kein zwingender An¬
lass vor, den Bitten des Vereins der Medicinalbe-
amten nach dem Inkrafttreten des Kreisarztgesetzes
nachzugeben.“
Eine Auffassung, die sich über den in Rede
stehenden Erlass befriedigend äussert, befindet sich
in dei „Zeitschrift f. Medicinalbeamte“ No. 21, 1902:
--Damit ist in dankenswerther Weise einem be¬
rechtigten Wunsch der Medicinalbeamten Rechnung
getragen, dessen Erfüllung auch durchaus mit den
gesetzlichen Bestimmungen in Einklang steht. Nach
§ 4 des Kreisarztgesetzes ist der „Kreisarzt der Ge¬
richtsarzt seines Amtsbezirks“ und demgemäss nach
§ 73 Abs. 2 der Str. P. O. und nach § 404 der
C. P. O. von den Gerichten als Sachverständiger zur
Beantwortung aller gerichtsärztlichen Fragen heranzu¬
ziehen ; andere Sachverständige sollen nur dann ge¬
wählt werden, „wenn besondere Umstände es fordern“.
Früher mögen solche „besonderen Umstände“ in der
theilweise ungenügenden psychiatrischen Vorbildung
mancher Kreisphysiker gefunden sein, heute liegen
dagegen derartige Bedenken in Folge der seit dem
Jahre 1896 gerade auf psychiatrischem Gebiete ge¬
steigerten Anforderungen im Physikatsexamcn und
der seitdem eingeführten psychiatrischen Fortbildungs¬
kurse für die im Amte befindlichen Medicinalbeamten
nicht mehr vor; denn dadurch ist eine genügende
Ausbildung derselben in der Psychiatrie gewährleistet.
Es ist auch nicht erklärlich, w'arum im Entmündigungs¬
verfahren derselbe Kreis- oder Gerichtsarzt versagen
sollte, der im Strafverfahren bei zweifelhaften Geistes¬
zuständen meist als Sachverständiger fungirt, als Ge-
fängnissarzt häufig solche Zustände zu beobachten und
zu beurtheilen hat, dem ferner hauptsächlich die Be¬
gutachtung von Geisteskranken behufs Aufnahme in
eine Irren- u. s. w. Anstalt zufällt und der somit
dauernd auch durch seine überwachende Thätigkeit
gegenüber den privaten Irrenanstalten, Gelegenheit
hat, weitere Erfahrungen auf psychiatrischem Gebiete
zu sammeln und sich nach dieser Richtung hin fort¬
zubilden. Wenn von anderer Seite die Ansicht aus¬
gesprochen wird, „der Zweck der neuen Bestimmung
sei kein anderer, als das vielfach sehr magere Ein¬
kommen des Kreisarztes aufzubessem, sic bedeute
demgemäss auch eine Benachteiligung der grossen
Masse der ausübenden Zivilärzte“, so ist diese An¬
sicht eine durchaus irrige. Der pekuniäre Erfolg,
der ausserdem für den einzelnen Kreisarzt nur ein
verhältnissmässig geringer ist, kommt hierbei gar nicht
in Betracht; massgebend ist unseres Erachtens ledig¬
lich die sachliche Erwägung gewesen, dass der zu¬
ständige Kreis- oder besondere Gerichtsarzt auf einem
zu seiner Sachverständigen-Thätigkeit gehörenden und
von ihm völlig beherrschten Gebiete künftighin nicht
mehr bei Seite geschoben werden soll und dass der
behandelnde Arzt (Anstaltsarzt) ebenso wie bei den
Obduktionen auch im Entmündigungsverfahren wohl
gehört und zugezogen w-erden kann, aber nicht mehr
den alleinigen Sachverständigen bildet, wie dies bisher
sehr häufig der Fall war. Die Sicherheit des Ent¬
mündigungsverfahrens wird dadurch nicht gefährdet,
sondern im Gegentheil wesentlich erhöht.“
Der Herausgeber dieser selben „Zeitschrift für
Medicinalbeamte“, Regierungs- und Medicinalrath Dr.
Rapmund in Minden, ist allerdings im J. 1900
anderer Ansicht gewesen, denn er schreibt in „Der
beamtete Arzt und ärztliche Sachverständige“ von Dr.
O. Rapmund, Berlin 1900, Theil I, S. 7:
„ . . . Dass Jemand z. B. während seiner Studien¬
zeit eine Vorlesung über gerichtliche Medicin gehört
und eine psychiatrische Klinik während eines Halb¬
jahres mit Erfolg besucht, künftighin vielleicht auch
die durch die neue medicinische Prüfungsordnung
eingeführte Fachprüfung in gerichtlicher Medicin und
Psychiatrie bestanden hat, sollte unseres Erachtens
nicht als ausreichend für die Zulassung zur kreisärzt¬
lichen Prüfung erachtet, sondern eine längere, prak¬
tische Thätigkeit in einem gerichtlich - medicinischen
und pathologisch-anatomischen Institute sowie an einer
öffentlichen, nicht ausschliesslich für Unheilbare be¬
stimmten Irrenanstalt verlangt werden; desgleichen
müsste die mündliche Prüfung noch nach der prak¬
tischen Seite hin erweitert werden. — — — —“
(Bei der Begutachtung von Geisteskranken behufs
Aufnahme in eine Anstalt verfügt der Kreisarzt nach
Obigem über nicht wesentlich mehr Kenntnisse als
viele praktische Aerzte besitzen, aber über geringere
praktische Erfahrung als letztere, da er ja für ge¬
wöhnlich nicht Praxis betreibt; worüber er verfügt,
das ist sein amtlicher Charakter. Dieser wird
gegenüber der Fachkenntniss der Leiter von Privat¬
anstalten, welche zweijährige Vorbildung in der Psy¬
chiatrie aufweisen müssen, nicht schwer in die Wag¬
schale fallen. Ob das ausreichend ist, dass im Straf¬
verfahren bei zweifelhaften Geisteszuständen der Kreis¬
arzt meist als Sachverständiger fungirt, ist nach Obigem
leicht zu beurtheilen —).
Hierher gehört auch eine Aeusserung des Prof.
Dr. med. Rieh. Ko ekel in seiner Antrittsvorlesung
vom 11. 6. 98: Die gegenwärtige Bedeutung der ge¬
richtlichen Medicin (Leipzig, Verlag v, S. Hirzel) S. 11:
„ . . . . Erinnern wir uns, dass zur sachgemässen
□ igitized by Google
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
500
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 45.
Erledigung aller, aus dieser umfangreichen Thätigkeit
des beamteten Arztes sich ergebenden Fragen genaue
specialistische Kenntnisse erforderlich sind in der Hy¬
giene, der Medicinalpolizei, der inneren Medicin, der
Geburtshülfe und Gynäkologie, der Chirurgie, der Psy¬
chiatrie, der pathologischen Anatomie, sowie ausserdem
noch der bezüglichen Bestimmungen des Strafgesetz¬
buches, des bürgerlichen Gesetzbuches und der Un¬
fall-Gesetzgebung, so wird kaum jemand verlangen, dass
ein Arzt alle diese Gebiete vollkommen beherrscht.
Die immer weiter fortschreitende Erweiterung und
Vertiefung der eben genannten wissenschaftlichen Dis-
ciplinen muss im Laufe der Zeit dahin führen, dass
in noch viel ausgedehnterem Maasse als bisher die
Wahrnehmung der bezirksärztlichen Funktionen von
der der gerichtsärztlichen getrennt wird.
Bleibt doch dann dem Gerichtsarzt noch eine
solche Fülle von Obliegenheiten, dass es manchmal
nöthig sein könnte, auch hier eine weitere speciali-
stische Scheidung eintreten zu lassen.“
und ferner eine juristische und auf Juristen bezügliche
Aeusserung, die aber auch auf den Kreisarzt Anwendung
finden kann: aus „Die Handlungsfähigkeit der Geistes¬
kranken nach dem B. G.-B.“ von Dr. Brunswig
(Leipzig, 1901, Deichert’s Verlag, S. 3):
„.Und gesetzt den Fall, es wäre möglich,
eine gründliche Kenntniss der medicinischen Lehre
von den Geisteskrankheiten zu erwerben, was wäre
damit gewonnen ? Zum wirklichen Sachverständigen
ist doch der Richter damit noch lange nicht geworden;
dieses Ziel lässt sich nicht durch ein noch so fleissiges
Studium von wenigen Semestern erreichen; dazu ge¬
hört vielmehr jahrelang andauernde Beschäftigung mit
der irrenärztlichen Praxis; klinische Beobachtung und
ununterbrochene Fühlung mit den Fortschritten der
psychiatrischen Wissenschaft; lauter Erfordernisse,
deren absolute Unerlässlichkeit ebenso selbstverständlich
ist, wie die Unmöglichkeit, dass der Richter sie erfülle.“
Ferner geben wir noch folgender Aeusserung in
der „Nationalzeitung“ Raum (vom 2. XI. 02):
„Die Presserörterungen über den Justizministerialerlass
betr. Zuziehung der Kreisärzte als Sachverständige
im Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit
oder Geistesschwäche hatten in der „Nordd. Allgem.
Ztg.“ eine Erläuterung dahin zur Folge gehabt, dass
der Erlass weiter nichts sei, als ein aus dem Gesetz
betr. die Dienststellung des Kreisarztes vom 16. Sep¬
tember 1899 sich ergebender Hinweis auf den ge¬
setzlichen Stand der Sache, und dass es auch fernerhin
dem Ermessen des Richters überlassen bleibe, ob er
in dem Vorhandensein eines Facharztes und in
sonstigen Verhältnissen einen „besonderen Umstand“
erblickt, um von der Wahl des Kreisarztes abzusehen
und einen Spezialarzt zuzuziehen. Mit Bezug hierauf
wird uns von ärztlicher Seite geschrieben: „Die Er¬
örterungen über den Erlass haben die Wirkung gehabt,
dass sie an einem Beispiel (denn was für das Spezial¬
fach der Psychiatrie gilt, trifft doch auch für die
übrigen Spezialdisziplinen der Medizin zu) zeigten,
wie bedenklich im Allgemeinen die Bestimmung des
Kreisarztgesetzes ist, dass der Kreisarzt, der doch in
der Hauptsache der hygienische Beamte
des Kreises ist, in der Regel als der öffentlich
bestellte ärztliche Sachverständige für die Gerichte gilt.
Denn er wird unmöglich die verschiedenen Spezial¬
gebiete der Medizin so beherrschen können, um in
jedem einzelnen als voller Sachverständiger anerkannt
zu werden. Das Interesse der Rechtsprechung, welche
über die mannigfaltigsten medizinischen Dinge die
ärztliche Wissenschaft zu befragen und zur Beweis¬
führung zu benützen, häufig sich genöthigt sieht, er¬
fordert vielmehr, dass in der Regel der Specialge¬
lehrte, sofern er als zuverlässig bekannt ist, als voller
Sachverständiger betrachtet werde und der Kreisarzt
erst dann in Frage kommt, wenn ein Specialfachmann
nicht vorhanden oder nur mit besonderen Schwierig¬
keiten zu erreichen ist. Dem gegenüber hätte die
Rücksicht auf die Gehaltsbezüge der Kreisärzte bei
den maassgebenden Factoren s. Z. nicht ausschlag¬
gebend sein sollen, und eine Aenderung dürfte sich
bald als nothwendig erweisen.““
Auch die folgende Stelle aus der „Köln. Volks¬
zeitung“ spricht sich gegen den Erlass aus:
„Die Irrenärzte haben sich dank ihrer Vorbildung
und eingehenden beruflichen Beschäftigung mit krank¬
haften Geisteszuständen der ihnen seither zufallenden
Aufgabe durchaus gew achsen erwiesen; auch nach der
rein wissenschaftlichen Seite hin sind sie es gewesen,
die zur Entwicklung der Disciplin der gerichtlichen
Psychiatrie beigetragen haben. Alles das dürfte für
den Kreisarzt nicht zutreffen. Das Mindestmaas der
Vorbildung besteht in dem Besuch einer psychi¬
atrischen Klinik für ein Semester, was, nebenbei ge¬
sagt, die neue Prüfungsordnung für jeden Mediziner
vorschreibt. Im Examen selbst überwiegt die theo¬
retische Prüfung, wenn auch ein Geistesgestörter vom
Kandidaten begutachtet werden muss. Falls nicht
besondere günstige Umstände vorliegen, wird den
Kreisarzt sein Amt nur selten mit Geisteskranken in
Verbindung bringen. Und dennoch sollte er nach
der Meinung des Justizministers der bessere Sachver¬
ständige sein? Das ist doch nicht anzunehmen. Viel¬
fach neigt man der Ansicht zu, dass man so das
Einkommen der Kreisärzte erhöhen wollte. Mangels
eines anderen Motivs erscheint diese Annahme vor¬
läufig auch berechtigt. Aber wenn die Regierung
damit indirect zugiebt, dass der Kreisarzt financiell
besser gestellt werden muss, war es dann nothwendig,
zu diesem Mittel zu greifen? Wir sehen davon ab,
dass der Stand der Irrenärzte, deren Los wirklich
nicht das beste ist, damit unverdientermaassen vor
den Kopf gestossen wird. Viel wichtiger erscheint
die Erwägung, dass die neue Verfügung aus den oben
kurz skizzirten Gründen dazu angethan erscheint, das
Gefühl der Rechtsunsicherheit beim Publikum zu er¬
höhen. Und das bedauern wir in der Rheinprovinz
um so lebhafter, als das Zutrauen zu den Irrenan¬
stalten und Irrenärzten sich zu bessern beginnt, nach¬
dem es im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahr¬
hunderts durch die sattsam bekannten Prozesse un¬
berechtigterweise aufs äusserste erschüttert war. Wir
wollen hoffen, dass der Justizminister diesen allzusehr
berechtigten Befürchtungen Rechnung trägt und recht
bald die neue Verfügung wieder auf hebt.“
OU-rarzt Dr. J. Uresler, Kraschnitz (Schlesien).
Für den redaktionellen Theü verantwortlich
Erscheint iec\en Sonnaben
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Schluss der Inseratenannahme 3 läge vor der Ausgabe. — Verlag von C
Hevnemann’sche Ruchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S.
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rl Marhold in Halle a. S
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Psychiatrisch ^Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
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Dr. med. et phil. W. Weygandt,
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Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 46. 14- Februar. 1903.
Die Psychiatrisch -Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
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Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger. Von k. k. Regierungsrath Director
Dr. Josef Krayatsch, Mauer-Oehling (Schluss) (S. 501). — Mittheilungen (S. 507). — Referate (S. 511).
Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und Schwachsinniger.
Von k. k. Regierungsrath Director Dr. Josef Krayatsch , Mauer-Oehling (Niederösterreich).
(Schluss.)
Skixxen xur Anlage einer neuen Erxiehungs -
und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder in
Niederösterreich.
Die statistischen Erhebungen haben zur Genüge
bewiesen, dass die dermaligen Einrichtungen hinsicht¬
lich der Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder
in Niederösterreich den thatsächlichen Anforderungen
an Erziehungs- und Pflegeplätzen nicht genügen und
dringend zur Errichtung einer grossen Erziehungs¬
und Pflegeanstalt mit allen ärztlichen und pädago¬
gischen Hilfsmitteln mahnen.
Die Anstalt würde durch Errichtung von Zahlplätzen
I. und II. Klasse sich auch eine bedeutende Ein¬
nahme sichern, da bisher zumeist die schwachsinnigen
Kinder bemittelter Eltern im Auslande untergebracht
Digitized by Google
werden und die Anstalt auch vielen Ansuchen aus
anderen Provinzen und dem Auslande, besonders den
Balkanstaaten, gerecht werden könnte.
Die zu errichtende Erziehungs- und Pflegeanstalt
für schwachsinnige Kinder sollte mindestens einen
Belagraum von 1000 Betten besitzen und ausserdem
noch erweiterungsfähig sein.
Im Momente der Inbetriebsetzung der mit einer
vollständigen Unterrichtsabtheilung ausgestatteten An¬
stalt werden sicher alle, die den Unterricht der öffent¬
lichen Volksschulen stören, die epileptischen und
choreatischen Kindern dieser Specialanstalt zugeführt
werden.
Eine einschlägige Frage über die Verhältnisse im
Königreiche Sachsen wurde dahin beantwortet, dass
daselbst von 3 700 000 Einwohnern 3 800 Blödsinnige
Original from
HARVARD UNIVERSITY
502 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46.
und unter den Letzteren 782 Kinder im Alter von
5 bis 15 Jahren gezählt wurden.
Von diesen Kindern wurden 635 in öffentlichen
Specialanstalten erzogen und verpflegt. Ausserdem
werden von 705112 schulpflichtigen Kindern etwa
3500 schwachsinnige Kinder gezählt, welche in den
Hilfsschulen in Leipzig, Plauen, Zwickau etc. sepa¬
raten Unterricht erfahren; demnach eines Anstalts¬
unterrichtes entbehren.
Nach dem Ergebnisse der Tabelle VII dürften
sich unter 1000 jugendlichen Idioten und Schwach¬
sinnigen beiderlei Geschlechts 600 Knaben und 400
Mädchen befinden, darunter:
I. Pflegebedürftige 257 K. 120 M. = 367
II. Bildungsfähige 102 „ 140 „ =2,52
III. Unterrichtsfähige 241 „ 140 ,, = 381
1000.
Da die bildungsfähigen Kinder gleich den unter¬
richtsfähigen dieselbe Gruppencrzichung erfahren, so
muss für 600 derlei Pfleglinge in eigenen Pavillons
Rauin geschaffen werden, deren bauliche Anlage eine
sorgfältige Gruppirung ermöglicht.
Die 400 pflegebedürftigen Kinder werden in eigens
konstruirten Pavillons untergebracht, welche eine be¬
sondere Pflege und Uebcrwachung gestatten. Auch
der Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalt für Geistesschwache in Langenhagen bestätigt
obiges annähernde Zahlenverhältniss der Knaben zu
den Mädchen. In der Anstalt wurden nämlich im
Jahre 1890 und 1900 417 Knaben und 280 Mäd¬
chen verpflegt.
Der auf dem Gebiete der Idiotenpflege sehr er¬
fahrene Dr. Wildermuth verlangt:
I. Gebäude für bildungsfähige idiotische Kinder
auf der Vorschulstufe,
II. Gebäude für schulpflichtige idiotische Kinder,
III. Gebäude für halb erwachsene arbeitsfähige
Idioten,
IV. Gebäude für landwirthschaftlich thätige Idioten,
V. Pflegehäuser für Bildungsfähige,
VI. Lazareth,
VII. Infectionskrankenhaus,
VIII. Leichenhaus.
Die neue Erziehungs- und Pflegeanstalt sollte nur
bei Wien, wenn nicht in Wien gelegen sein, damit
dieselbe die Vortheile der Grossstadt in Anspruch
nehmen kann, da sowohl die Aerzte als auch die
Pädagogen durch den innigen Contact mit der Uni¬
versität und Lehranstalten sich auf der erforderlichen,
wissenschaftlichen Höhe erhalten und die Pfleglinge
zur Forschung und Schulung der Aerzte und Lehrer
herangezogen werden können. Eine grössere Ent-
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fernung der Anstalt von einer Stadt erschwert den
Besuch der Pfleglinge, die billige Deckung der An¬
staltsbedürfnisse macht das Leben in der Anstalt für
die Bediensteten eintönig und wird für dieselben bei
dem Mangel jeglicher, wenn auch noch so beschei¬
denen Zerstreuung auf die Dauer unerträglich.
Für die Idiotenanstalt mit dem beantragten Um¬
fange sind an Aerzten nothwendig: I Director, 2 Ab¬
theilungsärzte, 1 Lazaretharzt.
Es wird wohl heute kein Laie mehr daran zwei¬
feln, dass die verschiedensten Formen des angeborenen
Schwachsinns und die Epilepsie Krankheiten des Ge¬
hirns sind und dass demnach Anstalten, welche sich
mit der Pflege, Erziehung, Beschäftigung und dem
Unterrichte solcher Kranken im jugendlichen Alter
beschäftigen. unter Wahrung jener pädagogischen,
sittlich religiösen Grundsätze, nac h welchen Geistliche
und Lehrer bei ihrer Thätigkcit als Erzieher dieser
Pfleglinge vorgehen müssen, nur unter der Leitung
psychiatiisch geschulter Aerzte stehen können.
Auch kann die Erziehung und der Unterricht der
idiotischen und ncuropathischcn Kinder nur auf
Grundlage der Erkenntniss der verschiedenen Krank-
heitspr» u esse, auf welchen die Krankheitsformen be¬
ruhen, erfolgen.
Nur der Psvchiater, der auch Kinderarzt sein
muss, kann dieser Aufgabe gerecht werden; oft er¬
heischen plötzlich auftretende Erregungs- und Däm¬
merzustände, verschiedene Krampfanfälle, periodisch
wiederkehrende Stiinmungsänderungen, das rasche Ein¬
schreiten eines Facharztes. Die Behandlung und
Pflege der zahlreichen Leiden, von welchen die Kin¬
der im Allgemeinen, die zur Unsauberkeit neigenden
Kinder besonders befallen werden, die häufigen Ver¬
letzungen, Gefahren durch Fremdkörper u. s. w. er¬
fordern schon allein einen ärztlichen Permanenzdienst,
abgesehen davon, dass das Studium der Idiotie für
die Hirnpathologie und für die Prophylaxis von be¬
sonderer Wichtigkeit ist.
Der Nutzen einer fachärztlich gut geleiteten An¬
stalt wird für die Gesellschaft ein sehr greifbarer
werden.
Die mit pädagogischen und gewerblichen Hilfs¬
mitteln ausgestattete Erziehungsanstalt wird auch von
vielen neuropathisch veranlagten, moralisch und gei¬
stig defecten Kindern aufgesucht werden, welche wegen
ihres Verhaltens weder in der öffentlichen Schule,
noch in der Familie beziehungsweise Gesellschaft, be¬
sonders wegen der geringen Aufsicht in grossen Städten,
nicht haltbar sind.
Die individualisirende Behandlung und Aufsicht,
die sichere Abhaltung von schlechten Beispielen, Mei-
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
1903-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 503
düng von Alkohol, eine entsprechende Anhaltung zur
Arbeit werden für diese Minderwerthigen im Kindes¬
alter von grossem Nutzen sein und vielleicht verhüten,
dass sie spater mit ihren rücksichtslosen Ansprüchen
die Eltern und die Gesellschaft behelligen und durch
unbeugsame Genusssucht zum Verbrechen oder zum
dauernden Insassen einer Irrenanstalt werden. Für
die Gesellschaft besonders gefährliche Schädlinge
dieser Entarteten müssen Zeit ihres Lebens in An¬
stalten gehalten werden. Der verhütete Schaden und
die Vermeidung krankhaft veranlagter Nachkommen
wiegen die verausgabten Verpflegskosten unvs viel¬
fache auf.
An Lehrkräften sind ausser dem Anstaltsseelsorger
erforderlich: 3 Lehrer und 3 Lehrerinnen, darunter
je eine Lehrkraft für den Taubstummenunterricht.
Ein Lehrer ist der Leiter der Unterrichtsabtheilung
und ist dem Director \ erantwortlich. Die Zahl der
Lehrkräfte entspricht der Zahl der Lehrer, welche in
ähnlichen Anstalten im Auslände benöthigt werden.
Der Unterricht erfolgt nach erprobten Lehrmethoden,
welche in der einschlägigen deutschen Litteratur sich
vorfinden und dürfte sich erfahrungsgeinäss in VI
Klassen gruppiren:
I. Klasse Vorschule. Kindergarten.
II. „ Beginn mit dem Lesen und Schreiben.
Versuchsklasse.
III. „ eigentliche Schule mit Religionsunter¬
richt.
IV. „ Formenlehren.
Beendigung des Unterrichtes.
Die Verwaltung einer Idiotenanstalt gleicht der
einer Irrenanstalt und soll mit Ausnahme der Rech-
nungs- und Kasseführung, für welche der erste Ver¬
waltungsbeamte allein verantwortlich ist, dem Director
untergeordnet sein. An Beamten sind ndthig: 1 Ver¬
walter, je ein Beamter für das Material, für die
Kasse, für die Regie, 1 Kanzleibeamter und 1
technischer Beamter.
Kindergärtnerinnen und Pflegepersonen.
Die Frage, ob zur Erziehung und Pflege schwach¬
sinniger Kinder die Kindergärtnerinnen und Pflege¬
rinnen aus den weiblichen Ordensverbindungen oder
aus dem weltlichen Personale entnommen werden
sollen, ist auf Grund der in der Pflege- und Be¬
schäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Gug-
ging gesammelten Erfahrungen klar zu beantworten.
Es wäre eine Verleugnung von Thatsachen, wenn
nicht die grosse Opferwilligkeit und Leistungsfähigkeit
der Kreuzschwestem auf dem Gebiete des Kinder-
□ igitized by Google
gartens, der weiblichen Handarbeiten, der Vorschule
und der Kinderpflege anerkannt würde.
Wenn sich aber zu gewissen Zeiten, z. B. wäh¬
rend des Scharlachs im Frühjahre 1901, Schwierig¬
keiten ergaben, so waren diese meist darauf zurück¬
zuführen, dass die strenge Erfüllung der Congregations-
pflichten mit der Erfüllung der ärztlichen Verfügungen
kollidirten.
Diese Schwierigkeiten lassen sich aber durch ge¬
naue Verträge und umfassende Instructionen ver¬
meiden. Die Schwestern unterstehen direct der Dis-
ciplinargewalt einer vom Ordenshause ernannten Vor¬
steherin und mehr oder weniger indirect auch der
des Anstaltsleiters, welchem vertragsmässig die Ent¬
scheidung über die geistige und körperliche Eignung
der Ordensschwestern zur Krankenpflege Vorbehalten
sein muss. Wie wichtig ein klarer Vertrag zwischen
der Anstaltsleitung und der zur Pflege in Aussicht
genommenen Congregation ist, geht aus der That-
sache hervor, dass z. B. die Constitution eines in
Oesterreich ausgebreiteten Ordens, den Schwestern,
welche sich der Krankenpflege widmen, es verbietet,
männlichen Kranken Dienste zu leisten, welche ohne
Verletzung des Anstandes nicht verrichtet werden
können. Daraus ist zu entnehmen, dass eine allzu¬
scharfe Auslegung dieser Constitutionsbestimmung
durch eine Vorsteherin die Krankenpflege überhaupt,
wie es vorgekommen ist, illusorisch macht.
Vielen Ordensschwestern mangelt ferner die Kennt-
niss der grossen Gefahren, welche aus dem Verkehre
mit den an ansteckenden Krankheiten leidenden
Pfleglingen erwachsen und sind deshalb wenig oder
gar nicht mit den hygienischen Grundsätzen bei der
Krankenpflege vertraut.
Ist der klagelose Dienst durch Verträge und In¬
structionen gesichert, so sind die Ordensschwestern
als Kindergärtnerinnen mul Pflegerinnen schon wegen
ihrer berufsmässig anerzogenen Pflichten und des beschei¬
denen Wesens als recht brauchbar zu bezeichnen.
Die relativ geringeren Löhne, die Disciplin, der Weg¬
fall der Verpflichtung einer Altersversorgung, der ge¬
ringe Wechsel im Personalstande sprechen auch aus
wirtschaftlichen Gründen für ihre Verwendung in
der Kinderpflege.
Nur erscheint es, wegen sicherer Verhütung der
Verschleppung von infectiösen Krankheiten, rathsam
zu sein, die Ordensschwestern nur in der Erziehungs-,
Unterrichts- und Pflegeanstalt zu verwenden, dagegen
im Lazarethe und in der Infectionskrankenabtheilung
nur weltliche Pflegepersonen. Auch ist es erfahrungs-
gemäss zweckmässig, den Gruppen erwachsener
Original frnm
HARVARD UN1VERSITY
5°4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 46.
Knaben, gewöhnlich solche nach überschrittenem 12.
Lebensjahre, männliche Pfleger zuzuweisen.
Für jede Erziehungs-(Unterrichts-) Gruppe zu 16
Kindern genügen 2 Personen, eine Kindergärtnerin
und eine Pflegerin. Von den Ersteren sollen min¬
destens 2 auch mit dem Taubstummenunterricht ver¬
traut sein.
Die Gruppe erwachsener Knaben könnte ja einem
Ehepaare, von denen die Pfleger gewisse gewerbliche
Fertigkeiten aufzuweisen hätten, unterstellt werden.
In der Pflegegruppe, in welcher
hauptsächlich hinfällige, unreine
Kinder eingestellt sind, fällt eine
Pflegeperson auf 5 Kinder.
Die Art der Bekleidung und
Verköstigung hätte nach den Grund¬
sätzen der n. ö. Landes-Pflege- und
Beschäftigungsanstalt für schwach¬
sinnige Kinder zu erfolgen.
Das ganze Anstaltsgetriebe wird
durch ein Statut, durch eine Haus¬
ordnung und durch besondere In¬
structionen geregelt.
Bauliche Anlage.
Die hygienischen Anforderungen
an Luft und Licht, die leichtere
Gruppirung der Kinder nach dem
Grade der Pflegebedürftigkeit und
dem der Bildungs- und Unterrichts¬
fähigkeit, endlich die Isolirungsfähig-
keit von inficirten Gruppen und die Einschränkung
von Brandkatastrophen fordern entschieden den Pa¬
villon- oder Blockstyl, in welchem die Idiotenanstalt
zu errichten ist.
Die Lage der Pavillons zum Directionsgebäude,
zur Kapelle, zu den Schulen, zur Küche, zum Laza-
rethe und Infectionskrankenpavillon ist bis auf die
Entfernung ziemlich belanglos, nur muss mit Rück¬
sicht auf den grossen Parteienverkehr das Directions¬
gebäude an der Stirnseite der Anstalt gelegen sein.
Da die Idiotenanstalt schon infolge der grösseren
Inanspruchnahme durch Wien in der Nähe der Gross¬
stadt situirt werden dürfte und daselbst aber nur
wenige entsprechend grosse, aber theuere Baugründe
zu erwarten sind, so dürften ca. 30 ha Bau-, Park-
und Gartengrund, welcher nach Abzug desjenigen für
Garten- und Weganlagen noch beiläufig 6 ha für Ge¬
müse und Obstkultur erübrigt, genügen. Die Kinderan¬
stalt in Kierling-Gugging verfügt in ihrem Gemüsebau
über eine äusserst lucrative Einrichtung, welche
mehreren Knaben eine anregende Beschäftigung bietet
und nicht nur allein den ganzen Bedarf an Gemüse
zu decken vermochte, sondern auch noch einen be¬
trächtlichen Ueberschuss an die Irrenanstalt abgab.
Die Anstalt soll gegen die herrschende Windrich¬
tung geschützt, soll nach Thunlichkeit in der Mitte
des Gebietes derart liegen; dass das Getriebe der
Anstalt und das Verhalten der Kinder den Anrainern
keine Veranlassung zu Beschwerden giebt
Besonders ist darauf Bedacht zu nehmen, dass
nicht auf dem Anstaltsgebiete Servituten, wie Strassen-
benutzung oder wasserrechtliche Lasten haften, welche
Planskizze A für
4 Erziehungsgruppen
ä 16—18 Kinder.
Pavillon für bildungsfähige Kinder.
Type A.
Derselbe ist einstöckig . und enthält im Erdge¬
schosse und im ersten Stocke je 4 Wohngruppen für
je 16 Kinder. Diese Zahl gestattet erfahrungsgemäss
Depot.
Bade und Waschzimmer.
Pflegezimmer.
Cabinet.
■ = Fensteröffnungen.
Maassstab 0,5 cm
5 «= Schlafraum für 16— 18 Kinder.
6 = Tagraum.
7 = Veranda.
8 = Aborte.
|lj <= Thüröffuungen.
2 m.
das spätere Anstaltsleben zu beeinträchtigen vermögen.
Auch soll die Lage der Anstalt den Besuch billig
und leicht ermöglichen, den Bediensteten immer die
nöthige Ausbildung und Zerstreuung gestatten, die
Erziehung der Anstaltskinder nicht erschweren und
die Beschaffung der Beleuchtung, des Trink- und
Nutzwassers und die Abfuhr der Schmutzwässer er¬
leichtern.
Zahl und Arten der Kinder-Pavillons.
Zur Unterbringung der verschiedenen Kategorien
von Kindern sind zwei Arten von Pavillons noth-
w’endig und hat der Verfasser für die Erbauung dieser
zwei Arten beiliegende Plantypen A und B ent¬
worfen, welche allen Anforderungen vom ärztlichen,
administrativen und pädagogischen Standpunkte ent¬
sprechen.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 505
noch die individualisirende Erziehung wie in einer
vielköpfigen Familie.
Zwei Stiegenanlagen ermöglichen im Bedarfsfälle
die Isolirung der Gruppen ohne Störung, wie solche
z. B. beim Ausbruche von Infectionskrankheiten regel¬
mässig nothwendig werden.
Jede Wohngruppe besteht aus:
Nr. 8 . Abortanlage mit 2 Sitzen und einem kleinen
Rumpelraum,
Veranda, 9X 2 m >
Tagraum, 7X9
Schlafraum, 8 X *3 m,
Einzelzimmer, 2,5X5 m (Krankenzimmer),
Pflegerzimmer, 2,5X5 m,
Bade- und Waschzimmer, 3X5 m >
Depot, 3X5 m -
Planskizze B. für
2 Pflegegruppen
ä 20 Kinder.
1 = Depot.
2 = Badezimmer.
3 = Raum für schmutzige Wäsche
und Rumpelkammer.
4 = Aborte.
5 = Cabinet.
6 = Veranda.
7 = Tagraum.
8 = Wachsaal.
■ = Fensteröffnungen. {;
Maassstab: 0,5 cm
9 = Aerzte-Zimmer.
10 — Depot.
11 = Stiegenhaus.
12 = Verbindungsgang.
13 = Schlafzimmer für Pfleger.
14 = Speisezimmer für Pfleger.
15 = Spülküche.
16 = Abort für Pfleger.
JlJ == Thüröflfnungen.
2 m.
Im Untergeschosse befinden sich die Zentral-Heiz-
anlagen und die Kohlenkeller, Depots für Holzge¬
schirr und Schmutzwäsche. In der Mansarde sind
Bodenräume und Arbeitszimmer mit Abortanlagen zu
errichten. Die Verlegung von Wohnungen der Be¬
diensteten mit Familien in diese Pavillons sind grund¬
sätzlich zu vermeiden.
Pavillon für pflegebedürftige Kinder.
Type B.
Der Pavillon ist einstöckig und enthält in jedem
Geschosse 2 Abtheilungen. Jede dieser Abtheilungen
ermöglicht die Unterbringung von 20 pflegebedürftigen
Kindern in hell belichtetem Wachsaal’8. Ausser dem
Wachsaal wird ein Tagraum 7 zum Aufenthalte für
die sogenannten Sitzkinder während der kalten Jahres¬
zeit und eine Veranda während des Sommers be-
nöthigt. Letztere ist überhaupt zur Dauerlagerung
anämischer und besonders unreiner Kinder von un¬
schätzbarem Werthe.
Jede Pflegegruppe besteht aus:
Nr. 8 Wachsaal, ioX x 5
„ 7 Tagraum, 5X 10 m >
„ 6 Veranda, 3 X x 5
Nr. 5 Einzelzimmer, 2,5X5 m >
„ 4 Abort mit 4 Sitzen, 4X5
„ 3 Rumpelkammer, 2X5 m >
„ 2 Bade- u. Waschraum, 5 X 5 m >
„ 1 Depot, 3X5
Zwischen den beiden Pflege¬
gruppen liegt
Nr. 11 das Stiegenhaus oder der
Raum für eine Steigbahn,
6X 11
„ 14 Besuchszimmer, gleichzeitig
das Speisezimmer der Pfleger,
5X5 m .
„ 15 Spülküche mit einer Abort-
anlage, 3X5 m .
„ 9 ärztliches Zimmer, 2,5X5 ni,
im Erdgeschoss,
„ 10 Depot, im I. Stock,
„ 12 Verbindungsgang, 3X6 m,
„ 13 Schlafzimmer für 8 Pfleger,
6X<> m >
„ 16 Abortanlage.
Im Kellergeschoss Zentralheiz¬
anlage, Kohlenkeller, Raum für
Schmutzwäsche, Depot für Holzgeschirr.
Nach dieser Type B sind erforderlich :
für 247 pflegebedürftige Knaben 3 Pavillons
„ 120 „ Mädchen 2
Nach dieser Type sind erforderlich:
für 353 bildungs- u. unterrichtsfähige K.
280
□ igitized by
M.
3 Pavillons
2
Summa: 5 Pavillons.
Google
Summa: 5 Pavillons.
Für Pensionäre I. Klasse müssten 2 separate
Villen errichtet werden. Die Pflegebedürftigen könn¬
ten die Wohnräume im Erdgeschosse, die Unterrichts¬
fähigen im I. Stocke erhalten.
Für Pensionäre II. Klasse genügt die reichere
Ausstattung einer Abtheilung in den Plänen A und
B und die Einstellung von zehn Pensionärbetten.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
Oh PSYCHIATRISCH-NKUROLC
L az a r e th.
Bei einem Verpflegsstande einer Idiotenanstalt
von 1000 Kindern ist die Errichtung eines Lazareths
mit einem Belagraum von 30 Betten dringlich.
In demselben sind ein Operationssaal, ein ärzt¬
liches Zimmer, ein Pflegerzimmer für 4 Pflegerinnen,
eine Wohnung eines Tractpflegerpaares, ein kleiner
Tagraum, zwei anstossende Krankenzimmer mit Ve¬
randen für Knaben und Mädchen, einige aus den
Krankenzimmern zu erreichende Einzelzimmer, ein
Bad, ein Depot, eine Abortanlage mit 4 Sitzen, eine
Rumpelkammer für Schmutzwäsche unterzubringen.
Ein mustergiltiges Lazareth besitzt die Landes-
Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling.
Infectionskrankenabt Heilung.
Das häufige Vorkommen von infectiösen Krank¬
heiten unter den Kindern macht die Anlage eines
Pavillons zur Unterbringung von inficirten Kindern
— Grösse und Ausstattung nach dem Plane des
Infectionskrankenhauses in Mauer-Oehling — nöthig.
Kapelle — Festsaal.
Die Bestrebungen, die schwachsinnigen Kinder
einer sittlich religiösen Erziehung zuzuführen und den
Bediensteten Gelegenheit zu geben, ihren religiösen
Pflichten nachkommen zu können, macht die Errich¬
tung einer Anstaltskapclle mit einem Fassungsraum
für 600 Personen nothwendig. Der Festsaal kann in
das Schulgebäude verlegt werden.
Küche — Wäscherei.
Die Küche (eine moderne Dampfkochküche) mit
einer Leistungsfähigkeit, Einrichtung, wie solche die
Küche der Kaiser Franz Josef-Landes-Heil- und
Pflegeanstalt in Mauer-Oehling besitzt, wird für die
Idiotenanstalt mit 1000 Pfleglingen vollkommen ge¬
nügen.
Nur wäre eine Aendcrung des Planes dahin in
Vorschlag zu bringen, dass in das erste Stockwerk
die Speisezimmer für 600 erziehungsfähige Zög¬
linge verlegt werden, um den Transport der Speisen
aus der Küche in die Pavillons und das Reinigen des
Essgeschirres in den Letzteren zu ersparen. Speise¬
aufzüge aus der Küche in das erste Stockwerk, halb¬
gedeckte Wandelgänge von den Pavillons zu der
Küche, welche bei regnerischem Wetter auch sonst
zum Spazieren der Kinder Verwendung finden könn¬
ten, wären dann allerdings nothwendig. Die Ausspei¬
sung der Kinder in den Pavillons für Pflegebedürftige,
im Lazarethe und in der Infektionskrankenabthei¬
lung müsste auf den Abtheilungen erfolgen. Die
Reinigung der oft sehr besudelten Wäsche erfolgt in
einer Dampfwäscherei, welche mit Plätt- und Näh¬
stuben reichlich ausgestattet ist.
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IISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4^.
Schulgebäude — Werkstätte.
Die Anzahl und Grösse der Schulzimmer hängt
von der Zahl der Kinder ab, welche während einer
bestimmten Unterrichtszeit ohne Schädigung der mehr
individualisirenden Unterrichtsmethode von Fachleuten
noch zugestanden wird.
Gezählt werden 240 unterrichtsfähige Knaben und
140 Mädchen.
Gewöhnlich werden 20 Kinder, in reich ausge¬
statteten Anstalten auch weniger, in einem Schulzim¬
mer unterrichtet.
Am zweckmässigsten empfiehlt sich ein separates
Schulhaus mit Turnhalle und Spielplatz.
Die Idiotenanstalt in Dalldorf verfügt zur Beendi¬
gung einer schulplanmässigen Erziehung über sechs
Klassen. Ausserdem werden die Knaben zu Hand¬
werkern, als Buchbinder, Tischler, Schuster, Schneider,
Korbflechter, Gärtner, Hausarbeiter, die Mädchen in
allen weiblichen Hausarbeiten unterwiesen. Ein Werk¬
stättenhaus nach dem Plane eines solchen in Mauer-
Oehling genügt.
Wasserversorgung.
Da der Wasserbedarf mit Rücksicht auf die be¬
sondere Körperpflege der schwachsinnigen Kinder ein
sehr grosser sein wird, andererseits der Gemüsebau
und die Strasscnbcspritzung, die Closetanlagen, viel
Wasser beanspruchen, so ist der tägliche Bedarf auf
4000 hl nicht zu hoch bemessen.
Zur Sicherung der Pavillons vor Feuersgefahr
müssen innerhalb und ausserhalb der Objecte gut
functionirende Feuerhydranten angebracht und in der
Anstalt selbst eine Löschabtheilung organisirt und die
in der nächsten Nähe befindliche Feuerwehr jedes
Jahr zu Ucbungen im Anstaltsgebiete herangezogen
werden.
Kanalisation und Abort an läge.
Die Fäkalien- und Schmutzwasserabfuhr erfolgt
nach dem behördlich genehmigten Muster in der
Landes-Heil- und Pflcgeanstalt in Mauer-Oehling.
Die Aborte daselbst sind ebenfalls mustergiltig.
Bad- und W a s c h e i n r i c h t u n g.
Muster in Mauer-Oehling.
Turnhalle — Freibad.
Ein gedeckter Spielplatz ausgestattet mit einfachen
Turngeräthen ist in jeder Idiotenanstalt zu finden.
Ein kleines Freibad macht den Kindern grosse
Freude.
Gartenanlagen — Warmhaus.
Eigentliche mit Zäunen versehene Gärten sind
überflüssig, weil sich die Kinder in ihren Gruppen
bald daran gewöhnen, die Grenzen der für sie be¬
stimmten Gärten nicht zu überschreiten.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 507
iW-]
Leichen haus mit Tod ten Wächter
ist nach dem Muster in Mauer-Oehling zu errichten.
Zahl der Obj ecte:
Directionsgebäude i,
Kapelle i,
Schulgebäude mit Festsaal und Turnhalle i,
Werkstättenhaus i,
Küche mit Speisesaal i,
Wäscherei mit Trockenboden i,
Maschinenhaus mit Centralbad i,
Warmhaus i,
Pavillons für pflegebedürftige Knaben, nach Plan¬
skizze B 247 Knaben, 3,
Pavillons für pflegebedürftige Mädchen, nach Plan¬
skizze B 120 Mädchen, 2,
Pavillons für erziehungs- und unterrichtsfähige
343 Knaben, nach Planskizze A, 3,
Pavillons für erziehungs- und unterrichtsfähige
280 Mädchen, nach Planskizze A, 2,
Pensionärvilla für Knaben 1,
„ „ Mädchen 1,
Lazareth 1,
Infectionskrankenabtheilung 1,
Central- und Freibad 1,
Leichenhaus 1,
Schwestemheim 1.
Anmerkung.
Die Errichtung einer grossen Idiotenanstalt in Niederöster¬
reich ist geplant und wurde im Landtage durch den Landes-
Ausschuss-Referenten Steiner, den verdienstvollsten Reformer
auf dem Gebiete der Irrenfürsorge, eine einschlägige Vorlage
eingebracht.
M i t t h e i
— II. Landes - Congress der ungarischen
Irrenärzte in Budapest. (III. Sitzung. 27. October
1902). Schluss.
LudwigHajos: Die am besten entwickelten Zweige
der normalen Menschenkenntniss sind diejenigen, welche
sich auf solche Individuen beziehen, welche in zwangs¬
weiser socialer Isolirung oder in grosser Abhängigkeit
von einander leben, so z. B. Soldaten, Seeleute, Sträflinge
oder auch Völker, welche in einem primitiven Cultur-
zustande leben. Doch auch diese Zweige der Menschen¬
kenntniss sind noch nicht zum Niveau der wissen¬
schaftlichen Psychoanthropologie erhoben. In den
naturhistorischen Disciplinen wurde die Arbeit der
Datensammlung auf diesem Gebiete nur ganz spora¬
disch unternommen. Und wo die wissenschaftliche
Qualification der Forscher keinem Zweifel unterlag,
wie z. B. bei den criminalpsychologischen Unter¬
suchungen, dort haben die erreichten Erfolge darum
keinen genügend hohen anthropologischen Werth, weil
sich diese Untersuchungen nicht auf den normalen,
sondern auf den verworfenen Menschen beziehen.
Trotzdem sich die Geschichtsschreiber und Biographen
nicht mit Massenuntersuchungen, sondern mit der
Analyse einzelner Individualitäten beschäftigen, wird
der Werth ihrer Daten vom anthropologischen Stand¬
punkte aus darum sehr herabgesetzt, weil sie sich
wieder nicht auf normale, sondern auf in gewissem
Sinne hervorragende Individuen beziehen.
Im Sammeln von normal psychologischen Kennt¬
nissen sind die Pädagogen und Psycho-Physiker —
abgesehen von der Verallgemeinerung der Erfolge
dieser subjectiven Introspection — am weitesten vor¬
aus. Die ersteren sammeln ihr Material allerdings
nur in den einzelnen Stadien der Entwickelung und
können so das ganze Gebiet der Psycho-Anthropologie
nicht beleuchten. Das verringert jedoch den Werth
ihrer Daten nicht in dem Maasse, als der Umstand,
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1 u n g e n.
dass die Gesichtspuncte ihrer Beobachtung einer
naturwissenschaftlichen Basis im strengen Sinne des
Wortes entbehren und nur berufen sind, der Er¬
ziehungkunst zu dienen. Die Untersuchungen der
Psycho-Physiker besitzen in jeder Hinsicht vollen
wissenschaftlichen Werth. Dass die Psycho-Anthro¬
pologie ihre Daten dennoch nicht genügend ver-
werthet, findet seine Erklärung darin, dass diese Un¬
tersuchungen den Verhältnissen der grossen mensch¬
lichen Gesellschaft gegenüber bloss die Bedeutung
microscopischer Forschung haben; sie sind kaum dazu
geeignet, die Psychologie eines einzelnen Menschen
in kleinen Bruchstücken erkennen zu lassen, wie
könnten sie daher dazu berufen sein, zur Erkenntniss
der psychischen Constitution und der psychischen
Typen der ganzen Menschheit zu führen?
Zur Erkenntniss der normalen psychischen Con¬
stitution und deren Typen können nur gross ange¬
legte Untersuchungen führen. Die Elemente dieses
Bestrebens sind in der Erkenntniss der genauen
Biographie sehr vieler normaler Durchschnittsmenschen
zu suchen. Es sind also solche Biographien anzu¬
häufen, welche nur das objectiv Festzustellende ent¬
halten und auch das nur mit der gewohnten Gründ¬
lichkeit der psychiatrischen Untersuchungen, mit der
eindringlichen Beachtung der psychischen Symptome
und der Verhältnisse des Organismus aufzunehmen.
Die Aufgabe dieser Untersuchungen ist folgende:
1. Die Erkenntniss der psychischen Normaleigen¬
schaften, welche der ganzen Menschheit eigen sind.
2. Die Erkenntniss der enger begrenzten Gattungs-
Varietäten.
3. Die Erkenntniss der psychischen Rasseneigen-
thümlichkeiten bei den gemischten Rassen.
4. Die Trennung der socialen Kunstproducte von
den allgemein menschlichen und den Rassen-Eigen-
heiten.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
508 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46.
5. Die Trennung der individualen und Gattungs-
Varietäten von der Degeneration.
6. Die Unterscheidung der normalen und dege-
nerirten Typen und der einzelnen Formen der Geistes¬
krankheiten.
D iscussion:
Ranschburg: Wir pflegen zu sagen, dass die
Medicin eine exacte Wissenschaft ist. Doch sind
wir in unseren Studien oft durchaus nicht exact. Wir
kennen die pathologischen Erscheinungen, ohne von
den normalen etwas zu wissen, die Beurtheilung der
letzteren geschieht — besonders in der Psychiatrie
— auf Grund individueller Anschauungen. Ich ver¬
misse im Vortrage die Anleitung dazu, auf welche
Weise das normale psychische Leben studirt werden
soll. Die Untersuchung an grossen Massen zu be¬
ginnen, während wir noch nicht einmal im Stande
sind die Psyche eines einzelnen Individuums zu er¬
kennen, grenzt an Unmöglichkeit.
Es wäre zu wünschen, dass die Psychophysik den
Werth der Microscopie hätte (wie das der Vor¬
tragende erwähnte), wir besässen dann wenigstens ein
werthvolles Untersuchungs-Instrument, um die Gehirn-
und Seelenfunction eines einzelnen Individuums zu
analysiren. Es soll betont werden, dass in erster
Reihe das Psychicum des einzelnen Individuums
untersucht und erkannt werden muss.
Haj 6s: Er nannte die Psychophysik darum eine
Microscopie, weil sie sich nur mit den einzelnen
Functionen einzelner Individuen befasst und nicht
mit der Gesammtheit; unter allen unseren gegen¬
wärtigen Untersuchungsmethoden ist sie demnach die
exacteste. In der Untersuchung muss — wie allge¬
mein in der Sociologie — mit grossen allgemeinen
Bildern begonnen werden.
13. Stephan Hollos: Mittheilungen über
die Paralysis progressiva in Ungarn.
Der Vortragende constatirt die consternirende
Thatsache, dass die Paralyse in Ungarn so verbreitet
ist, wie nirgends anderswo im Auslande. In sämmt-
lichen ungarischen Staats-Anstalten bildete die Para¬
lyse in den letzten fünf Jahren 33 w / 0 der Fälle,
während im Auslande in mehr als hundert Instituten
im Durchschnitte nur 15—20% von Paralyse unter¬
gebracht waren. Mit Hülfe verschiedener Methoden
schliesst der Vortragende aus der Zahl der Fälle,
welche in Instituten untergebracht sind, auf die Er¬
krankungsverhältnisse der ganzen Bevölkerung und
kommt zu dem Schlüsse, dass die Erkrankung bei
uns beiläufig doppelt so häufig auftritt als im Aus¬
lande.
Im zweiten Theile des Vortrages forscht der
Vortragende nach den specifisch ungarischen Verhält¬
nissen, welche die grosse Ausbreitung der Paralyse
zu erklären im Stande wären. Der Lues und der
Heredität kommt bloss eine seeundäre Bedeutung zu.
Nach einem kurzen historischen Rückblicke führt H.
aus, dass unsere Mittelklasse eine derartige geistige
Arbeit verrichtet, dass sie einen besonders günstigen
Boden zur Verbreitung der Paralyse abgiebt. Das be¬
zieht sich hauptsächlich auf die geistigen Arbeiter der
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Provinzial-Städte, auf Richter, Ingenieure, Advokaten,
Aerzte, Kaufleute. Diese Annahme unterstützt dor
Vortragende durch statistische Tabellen, welche von
14 040 Kranken aufgenommen wurden.
Discussio n:
v. Sarbo hat eine Reihe von Bedenken gegen¬
über den Schlüssen, zu welchen der Vortragende ge¬
langte; es muss zugegeben werden, dass die Zahl der
Paralytiker zunimmt, aber ob das auch wirklich in
dem Maasse geschieht, wie der Vortragende annimmt?
Es ist eine Thatsache, dass bei uns die Zahl der
Paralytiker in den Instituten im Verhältnisse zu
anderen Kranken eine grössere ist als im Auslande,
doch hat der Vortragende w'ohl nicht daran gedacht,
wie viel Percent aller Geisteskranken bei uns, wie viel im
Auslande in Anstalten untergebracht sind ? Dass bei uns
78 °/ 0 der Fälle dem Richterstande angehörten, be¬
weist nur so viel, dass der Staatsbeamte leicht Auf¬
nahme in die Anstalt findet; gerade der Richter ver¬
fügt über eine Ferialzeit, die der Vortragende fordert.
Dass der Vortragende bei Paralytikern 29 °/ 0 Lues
fand, bei nicht Paralytikern nur 4 u /o> spricht dafür,
dass der Lues bei der Paralysis eine aetiologische
Rolle zukommt.
Der Vortragende zählt zu den Ursachen der
Paralyse auch den Kampf um die Existenz, das „hoch
hinauswollen“. Diese Gebrechen der modernen Ge¬
sellschaft können w'ohl Neurasthenie, Wahnideen,
Melancholie erzeugen, aber doch keine organischen
Veränderungen. Uebrigens beweist ja schon die
häufige Complication der Paralysis mit der Tabes, dass
es sich nicht nur um geistige Ueberanstrengung handelt;
jenes Agens, welches anatomische Veränderungen
hervorruft, ist auch als Ursache der Demenz anzu¬
sehen. Und wenn wir bei anderen Erkrankungen
zugeben, dass es toxische Agentien giebt, welche
seeundäre Degenerationen zu verursachen im Stande
sind, warum sollen wir das gerade bei der Lues
leugnen. Die luetischen Veränderungen innerer
Organe können wir manchmal nicht einmal am Se-
cirtische als solche erkennen wenn w’ir unsere klinischen
Erfahrungen nicht zu Hilfe nehmen.
Saig 6 weist ebenfalls darauf hin, dass die Lues
Paralyse und Tabes zu erzeugen im Stande ist Doch
hat die Paralyse auch andere Ursachen. Wenn der
Richterstand ein so grosses Contingent von Paraly¬
tikern liefert, so ist das sicherlich nicht der gewöhn¬
lichen richterlichen Thätigkeit zuzuschreiben. Es
müssen andere, mit der richterlichen Thätigkeit nicht
zusammenhängende Arbeiten sein, welche eine solche
Neigung zur Erschöpfung erzeugen. Gegenüber den
Ausführungen Sarbo’s muss erwähnt werden, dass
auch Erschöpfung im Stande ist, tiefere Veränderungen
in der Materie zu erzeugen.
v. Ol ah versuchteeinst die Paralyse aus socialen
und politischen Verhältnissen — wie sie bei uns
nach dem Jahre 1848 zu finden waren — zu er¬
klären. Er hat seine Ansicht seither geändert und
sich davon überzeugt, dass diese Verhältnisse bloss
zur Neurasthenie führen; er hat gesehen, wie die
Paralyse gesunde, sorglos lebende Individuen befällt,
Original from
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1903]
5°9
während der Neurastheniker kaum je zum Paralytiker
wird. Der Neurastheniker wird gesund, wenn er aus¬
ruht, der Paralytiker niemals. 1—2 Percent aller
Luetischen wird paralytisch. Darum kann die Para¬
lyse dennoch nicht ausschliesslich auf Rechnung der
Lues geschrieben werden. Es ist anzunehmen, dass
der Lues eine aetiologische Rolle zukommt, ausserdem
giebt es jedoch noch eine ganze Reihe aetiologischer
Momente, die nicht im individuellen Leben, sondern
weit entfernt von demselben zu suchen sind.
H ollos: Der Zusammenhang zwischen Lues und
Paralyse ist ein sehr heikler Punct. Die Paralysis
geht ihren Weg, sie läuft ab, sie macht Remissionen,
ohne dass wir wüssten, warum ? Die Fälle, in welchen
wir in der Anamnese Lues finden, sind häufig, noch
häufiger sind jene Fälle, in welchen wir von psychischen
Einflüssen hören. Es ist möglich, dass Lues mit Pa¬
ralyse einhergeht, manchmal finden wir auch den
Alcoholismus neben der Paralyse, darum zu behaupten,
dass diese Erkrankungen die Paralyse verursachen,
wäre eine so weitgehende Schlussfolgerung, zu welcher
wir nicht berechtigt sind. In vielen Fällen lässt sich
die Lues absolut nicht nach weisen — hier müssen
wir also eine andere gänzlich unbekannte Ursache
annehmen.
14. Emst Frey: Histologische Präparate
eines Falles von Idiotie.
Was immer die Ursache des Idiotismus auch sein
mag, derselbe stellt immer ein einheitliches klinisches
Bild dar. Die anatomischen Veränderungen im Ge¬
hirne sind jedoch je nach der verschiedenen Aetio-
logie verschieden. Am häufigsten beobachten wir
den Idiotismus, welcher sich der cerebralen Kindes¬
lähmung zugesellt und bei welchem wir die ausge-
breitetsten anatomischen Veränderungen beobachten.
Der macroscopische Character dieser Veränderungen
ist der, dass das Gehirn in seiner Entwickelung zurück¬
bleibt, kleiner und leichter wird als beim normalen
Menschen. Auch die äusserliche Configuration ändert
sich, die Windungen werden schmäler und flacher,
die Furchen tiefer und breiter. Die feineren histo¬
logischen Veränderungen zeigt der Vortragende in
einer Serie von frontalen und horizontalen Schnitten.
Als Ergebniss seiner Untersuchungen fand der Vor¬
tragende, dass das anatomische Substrat der Idiotie
darin besteht, dass im Rindengebiete der Flechsig’-
schen Associationscentren, sowohl die supraradiären,
als auch die tangentialen Fasern verkümmert oder
überhaupt nicht zur Entwickelung gelangt sind.
★ *
*
Nachdem die Tagesordnung des Congresses hier¬
mit erschöpft ist, werden die gestellten Anträge ver¬
lesen , darunter derjenige des Secretärs Ladislaus
Epstein, welcher die Schaffung eines ständigen
Ausschusses beantragte. Dieser Antrag w'ird dem
Vorbereitungs-Comite zugewiesen, damit dieses bis
zum nächsten Congresse die Statuten dieser Com¬
mission ausarbeite.
Hierauf würdigte der Vorsitzende Gedeon Raisz
in schwungvollen Worten die Erfolge der Berathungen
und schloss den Congress. Epstein (Budapest).
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— Königsberg. Die psychiatrische Abtheilung
an der städtischen Krankenanstalt hat bis jetzt unserer
Universität als psychiatrische Klinik gedient. Es kam
dieser Benutzung der Umstand zu gute, dass der
zeitige Director des Krankenhauses, Herr Professor
Dr. Meschede, einen ausgezeichneten Ruf als
Psychiater genoss und dass infolgedessen die Ab¬
theilung stets sehr stark belegt war, während die
Stadt eine Verpflichtung zur Aufnahme von
Geisteskranken, namentlich aber zu ihrer Behandlung,
nicht hat. Da Herr Professor Dr. Meschede zum
1. April aus seiner Directorstellung scheidet, hat sich
im Aufträge des Unterrichtsministeriums der Herr
Oberpräsident als Kurator der Universität an die
Stadt mit der Anfrage gewandt, ob auch fernerhin
die psychiatrische Abtheilung der Anstalt für Unter¬
richtszwecke zur Verfügung stehe und ob auch bei
der Ausschreibung der neu kreierten Stelle eines
leitenden Arztes der inneren Abtheilung eine psychi¬
atrische Vorbildung verlangt worden sei. Das letztere
ist nicht der Fall, wohl aber hat die Stadt ihre Ge¬
neigtheit ausgesprochen, im Interesse der Universität
und um der medicinischen Fakultät den psychiatrischen
Lehrstuhl zu erhalten, auch künftig bis zum Neubau
einer psychiatrischen Universitätsklinik die psychiatrische
Abtheilung des Krankenhauses zu Lehrzwecken zur
Verfügung zu stellen und dem jeweiligen Inhaber
des Lehrstuhles die Leitung der psychiatrischen Ab¬
theilung zu übertragen. Auf dieser Grundlage sollen
nun weitere Unterhandlungen geführt werden.
(Hartungsche Ztg.)
— Occultismus in Schlesien. In einer der letz¬
ten Sitzungen der breslauer Gesellschaft für psychische
Forschung gab der Vorsitzende, Rechtsanwalt Dr.
Bohn, ein Bild der occultistischen Bewegung in
Schlesien. „Er begann, wie die Schles. Ztg. vom 8. Nov.
in ausführlichem Bericht mittheilte, seine Darstellung
mit dem Jahre 1853, in welchem der americanische
Spiritismus in Deutschland eindrang, während die
Zeit vorher ohne Einfluss auf unsere jetzigen Zu¬
stände geblieben ist.
Im Jahre 1848 brach in Hydesville (America) die
Epidemie des Tischrückens aus. Dieses bestand da¬
rin, dass sich mehrere Personen an ein Tischchen
setzten, es durch Auflegen der Hände zum Rücken
brachten und dadurch mit Geistern in Verbindung
zu treten glaubten. 1853 fand der Cult des Tisch¬
rückens in Deutschland und insbesondere in
Schlesien Eingang. Den Mittelpunct der Bewegung
bildete Nees von Esenbeck, der in der Presse dafür
eintrat; und der mystische Sport wurde in zahlreichen
Familienzirkeln betrieben. Zur Bildung eines Vereins
kam es indess noch nicht. Bald ebbte die Fluth ab,
und nur im Geheimen blieben einige Cirkel bestehen.
Mit einem derselben wurde 1863 ein Maurermeister
Laugwitz in Breslau bekannt, der dann ein gutes
„Schreibmedium“ in einem Maurer namens Wagner
entdeckte. Laugwitz selbst war Anhänger der Rein-
carnationslehre, und sein Medium brachte selbstver¬
ständlich Geisterkundgebungen in diesem Sinne zu¬
stande. 1865 bekehrte Laugwitz den Arzt Dr.
Grossmann zum Spiritismus und zu seinen Ansichten.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
5 io PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46 .
Grossmanns Sohn sowie ein Tischler August Kleiner,
entwickelten sich zu vorzüglichen Schreibmedien.
Dieser Kreis eultivirte indess nicht den americanischen
Spiritismus, sondern eine in Frankreich entstandene
und von dort aus in Deutschland verbreitete Variation
desselben, den Kardecismus — so benannt nach
einem französischen Gelehrten und Spiritisten Allan
Kardec, der Anhänger der Reincarnationslehre war
und behauptete, in einem früheren Leben Allan Kardec
geheissen zu haben. Ein Anhänger Kardecs, Con-
stantin Delhez, hatte in Wien einen spiritistischen
Verein gegründet, trat auch mit Dr. Grossmann in
Verbindung, und wohl unter Delhez’s Einfluss kam
1869 dis Gründung des „Spiritistischen Vereins in
Breslau“ zu stände. Der Verein hatte bald 20 Mit¬
glieder, darunter einen Somnambulen, zwei Sprech¬
raedien, vier Schreibmedien und zwei Medien für
Psychographie. Aber schon nach wenigen Monaten
widerfuhr ihm das Schicksal, dass ein Geistlicher, der
den Sitzungen beigewohnt hatte, sich in einem Ar¬
tikel in der „Gartenlaube“ dahin aussprach, dass in
diesem Vereine „tollster Aberglauben“ getrieben werde.
Diese öffentliche Blamage wirkte natürlich vernichtend
auf den Verein. Aber 1871 constituirte er sich aufs
neue und man beschloss, nunmehr „wissenschaftlich“
vorzugehen. Die Geister trieben indess dort nach
wie vor ihr Wesen, und 1877 führte die Lehre eines
americanischen Spiritisten Namens Davis zu so tief¬
gehenden Differenzen unter den Mitgliedern, dass
der Verein endgültig einging.
Aus dem noch vorhandenen und im Besitze des
Vortragenden befindlichen Vereinsarchiv lässt sich er¬
kennen, dass der Verein eigentlich eine religiöse Secte
bildete. An der Spitze des „Bundes* 4 stand ein
„Führer 14 , dem ein Comitee von sechs Mitgliedern
zur Seite gestellt war. Die Mitglieder nannten sich
„Brüder* und „Schwestern 44 . Der Zweck des Bundes
war: „alle Thatsachen aus spiritistischen Erfahrungen
zu studiren und auf das moralische Seelenleben in prac-
tische Anwendung zu bringen“. Zu diesem Zweck
nahm man in wöchentlichen, für die profane Mitwelt
mit dem Schleier des tiefsten Geheimnisses umgebenen
Sitzungen durch Medien Rathschläge der „Geistigen
Brüder“ entgegen. Dabei ging es sehr feierlich zu.
Der „Führer“ rief bei Beginn Gott den Vater um
Segen und Erleuchtung an. Vor ihm stand ein drei¬
beiniger Tisch, auf dessen Platte ein Papierbogen mit
12 Kupferstiften befestigt war. Auf diesem Bogen
standen das Alphabet, die Ziffern, eine Paraphrase
des Vaterunsers und die Worte: „Heilig ist Gott der
Vater, Amen“. In der Mitte befanden sich ein elfen¬
beinernes Crucifix und ein sogenannter Storch¬
schnabel. Das Medium setzte sich an den Tisch,
legte die Hand auf den Storchschnabel, fiel in
Krämpfe, und der Storchschnabel fuhr nun von einem
Buchstaben zum andern. Daraus setzte man Wörter
und Sätze zusammen, die man für Geisteroffenbarungen
hielt. Es handelte sich offenbar um hysterische oder
suggestible Personen, bei denen im Traumzustande
sich Persönlichkeitsspaltung und der psychische Auto¬
matismus in seinen verschiedenen Formen entwickelten.
Ihre characteristische Färbung erhielten die Mani-
Digitized by Google
festationen durch die Suggestionen Grossmanns, der
der einzige Academiker des Zirkels 'war. Aber er
und seine Anhänger verstanden von Psychologie nichts,
und daher wurde den psychopathischen Zuständen
eine spiritistische Deutung gegeben.
Etwa zur selben Zeit, als in Breslau die franzö¬
sische Richtung des Spiritismus Boden gewann, ent¬
stand im bunzlauer Kreise eine mystische Bewegung,
die durch ein einfaches Bauernmädchen hervorgerufen
wurde. Hermine Schul, die Tochter des Erb- und
Gerichtsschulzen Schul in Neuhammer, Kreis Bunzlau,
war im Jahre 1867 erkrankt, gleichzeitig starb ihr
Bruder, und diese beiden Ereignisse lösten in ihr
einen eigenartigen psychopathischen Zustand aus, der
wahrscheinlich hysterischer Somnambulismus war.
Traumerscheinungen religiösen Characters versetzten sie
in Exstasen, in denen sie sich für eine „Weckstimme“
aus dem Geisterreich erklärte, ihre Visionen ver¬
kündete und unter Mahnungen zur Buse eine nahende
Schreckenszeit prophezeite. Von den Landleuten
machte sich ein Theil über sie lustig, ein grosser
Theil aber glaubte an sie, zumal auch ein Geistlicher
sie für eine Abgesandte Gottes erklärte. Sie zog von
Dorf zu Dorf und redete nachweisbar in zwölf ver¬
schiedenen Ortschaften. Der Andrang zu ihren Pre¬
digten war ungeheuer. Von 1869 bis 1872 fehlen
Nachrichten von ihr. 1872 heirathete sie einen
Hutmacher Schnelle. Sie prophezeite nun, man müsse
nach dem Kaukasus ausziehen, wenn man der
Schreckenszeit entrinnen w r olle. Ihre Gläubigen folgten
ihr, und die ganze Gesellschaft wanderte wirklich nach
dem Kaukasus — in Noth und Elend hinein. Ein
Theil staib; einige wenige, darunter die Prophetin
selbst, kehrten nach Schlesien zurück. Sie soll jetzt
noch in Breslau leben und in einem Anhängerkreise
besonders am Charfreitage Sitzungen geben.
Bestimmend für die weitere Gestaltung des Occul-
tismus in Schlesien wurde dann die Lehre eines
americanischen Schusters Jackson Davis, der von
Geistern erleuchtet zu sein behauptete. 1847 gab er
ein Buch „The principles of nature“ heraus, von 1850
bis i8öo ein sechsbändiges Werk „The great har-
monia“. In diesem gab er ein vollständiges philoso¬
phisches System, in dem sich die warmherzige Ver¬
kündung socialer Ideen mit krassem Unsinn mischte.
In Deutschland nahm sich der alte Naturphilosoph
Nees von Esenbeck des americanischen Autodidacten
an und begann 1869 gemeinsam mit Dr. Wittig eine
Uebersetzung der Davis’schen Werke, ohne jedoch
breitere Massen dafür interessieren zu können. Erst
1881 brachte ein americanischer Wundermann Namens
Cyriax, die Sache auch hier in Fluss. Als Apotheker¬
lehrling war er einst von Nordhausen ausgewandert;
als Professor, Dr. med., Medium und Tranceredner
kam er zurück. In America hatte er Davis und —
den americanischen Humbug kennen gelernt, und
beides verwerthete er hier mit ausbündiger Charlata-
nerie. Er gründete sich ein Organ, „Neue spiritu-
alistische Blätter“, das dreisten Schwindel und Blöd¬
sinn mit frömmelnder Tunke übergossen darbot, fand
in gewissen Volkskreisen zahlreiche Anhänger, und
die neue geistige Epidemie griff besonders in Sachsen
Original fmm
HARVARD UNIVERSUM
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 511
— dem Centruin der Bewegung — so um sich, dass
die Obrigkeit einsehreiten musste.
In Schlesien gab die neue Lehre den Anstoss zu
einer umfangreichen Sectenbildung unter der Weber¬
und Bergmannsbevölkerung. Die Entwickelung dieser
Sectenbildung ist allerdings schwer zu verfolgen, weil
es an Quellen mangelt und natürlich alles geheim
gehalten wird. Zunächst entstand in* Kunzendorf,
Kreis Neurode, ein „Verein für harmonische Philo¬
sophie.*' Das Centrum dieser Bewegung aber liegt
im waldenburger Gebirge. 1884 wurde dort in Seiten¬
dorf eine „Spiritualistische Vereinigung Himmelsbot¬
schaft“ gegründet, die erst im October 1895 an die
Oeffentlichkeit trat. Der Verein begab sich dann
unter die Aegidc des berliner spiritistischen Vereins
„Psyche** und liess sich 1896 von Berlin einen spiri¬
tistischen Redner Karl Wald kommen, dessen Vorträge
dem Verein so gewaltigen Zuwachs brachten, dass er
in Altwasser, Waldenburg und Dittersbach Zweigvereine
gründete, So wurde denn am 6. December 1896
in Altwasser der „Spiritistische Verein Nächstenliebe“
gegründet, der in demselben Monat in Dittersbach
gegründete Verein nannte sich „Spiritualistischer Ver¬
ein Treue Freundschaft“. 1897 entstand der „Verein
für harmonische Philosophie“ zu Muskau-Weiss wasser,
der es auf über 100 Mitglieder brachte. Im Laufe
der letzten Jahre wurde schliesslich noch der Verein
„Himmelsbotschaft“ in Niderhennsdorf, Kreis Wal¬
denburg, ins Leben gerufen. Auch Jägerndorf O.-S.
besitzt seit 1897 eine „Harmonische Gesellschaft“.
Es ist ein psychologisches und ein sociales Problem,
das diese Vereine darbieten. Sie lassen sich im
wesentlichen als Seelen characterisnen, deren Dogma
der Glaube an G<»tt und einen Verkehr mit den Geistern
ist, und die aus diesem Glauben die Forderung eines
sittlichen und religiösen Lebenswandels herleiten. So
bezeichnet das seitendmfer Statut es als Vereinszweck,
„den wahren Glauben an ein Weiterleben nach dem
Tode zu fördern und die gegenwärtige Schwester- und
Bruderliebe zu pflegen**. Der Verein in Altwasser be¬
zweckt ausserdem, „die Erforschung der spiritistischen
und verwandten Erscheinungen“ zu fördern. Sehr
bezeichnend fürden Ursprung der Bewegung lautet § 1 des
Statutes des Vereins Muskau-Weisswasser: „Der Verein
bezweckt die Fortbildung und allseitige Veredelung, so¬
wie die Hebung und Verbreitung nützlicher Kennt¬
nisse zur Entfaltung wahrer Selbsterkenntnis nach
den Grundpiincipien unumstösslicher Naturgesetze im
Sinne der literarischen Schöpfungen der „Grossen
Harmonie“ und der ihnen verwandten Zweige des
reinen Spiritismus und Spiritualismus im allgemeinen
anzubahnen und zu fördern“. Der jägerndorfer Verein
hat auch die Förderung einer „naturgemässen Lebens-
und Heilweise** in sein Programm aufgenommen.
Die Mitglieder dieser Vereine gehören meistens
den ärmeren Kreisen an. Man versammelt sich
wöchentlich und begrüsst sich mit „Gelobt sei Jesus
Christus“ oder „Gott grüsse dich Bruder (oder
Schwester)“ oder „Gott zum Gruss“. Dann eröffnet
der Vorsitzende die Sitzung „durch Gesang und Ge¬
bet, in frömmster Harmonie nach besten Kräften“.
Digitized by Google
Unterdessen verfällt eine und die andere Person in
einen krampfartigen (Trance-)Zustand, wird scheinbar
leblos, und angebliche Geister beginnen durch sie mit
fremder Sprache zu predigen und Offenbarungen zu
geben. Mit Gesang und Gebet schliesst man die
Sitzung.
Das Ganze wirkt auf den Neuling ungemein ver¬
blüffend. Die Medien reden in einer von ihrer gewöhn¬
lichen Ausdrucksweise ganz verschiedenen Sprache, und
auch der Inhalt ihrer Reden scheint über die Fähigkeiten
gewöhnlicher Leute hinauszugehen. Auf Grund seiner
mit drei waldenburger Medien angestellten eingehenden
Untersuchungen erläuterte der Vortragende den psy¬
chischen Zustand der Medien dahin, dass es sugge-
stibel veranlagte Personen und meistens auch ausge¬
sprochene Hysteiiker sind. Durch Lectüre oder den
Einfluss der Umgebung wird leicht in ihnen der
Glaube erzeugt, dass sie zu Medien berufen seien,
besonders wenn sie von Hause aus hallucinatorisch
veranlagt sind. Sie beginnen dann „hellsehend“ zu
werden, und allmählich stellt sich der sogenannte
Trancezustand ein, der ein Mittelding zwischen hyp¬
notischem und hysterischem Anfall zu sein scheint.
In diesem Zustande bilden die Medien sich ein, von
Geistern besessen zu sein, und personificiren dieselben.
Wie der unwissende Wilde glaubt, im Traume mit
Geistern zu verkehren, so hält der kritiklose Spiritist
seine im Dämmerzustände des Traumes gehaltenen
Reden für Geisteroffenbarungen. Diese Medien sind
also unglückliche Kranke, welche die Unwissenheit zu
Propheten gestempelt hat.
So bedauernswerth solche Zustände sind, so lässt
sich doch diesen Secten eine segensreiche sociale Wirk¬
samkeit nicht absprechen. Sie haben sich in Gegenden
entwickelt, in denen ein zahlreiches Proletariat zum
Theil unter sehr ungünstigen Existenzbedingungen
lebt, wo der Alcoholismus und starke Criminalität
herrschen, und dort wirken sie als Vereinigungen,
deren Statuten den Mitgliedern einen sittlichen und
religiösen Lebenswandel, Einfachheit, Zufriedenheit
und Gemeinsam zur Pflicht machen.“
Referate.
— Bloch: Beiträge zur Aetiologie der
Psychopathia sexualis. II. Band. Dresden,
Dobru, 1903. 400 Seiten, 10 M.
In glänzender Diction, bei ungeheurer Belesenheit,
schildert Verf. in diesem 2. Bande des Näheren zu¬
nächst den Sadismus und Masochismus, weist deren
Wurzeln im Verhältniss von Mann zu Weib auf, zählt
die verschiedenen Aetiologien und Arten her und
weist vor allem auf ihr ubiquitäres Vorkommen hin.
Ein interessantes Kapitel wird speciell dem Flagellan¬
tismus gewidmet. Die 2. Hälfte des Werkes bespricht
die „komplicirten Perversitäten und Perversionen“.
Hier werden in ähnlicher Weise wie oben, unter
Anderem die „voyeurs“, die Mixoskopie, die Aphra-
dosiaca, der Cunuilingus, fellatio, der Fetischismus,
die Scatologie, der Incest, der Lustmord, die Nekro¬
philie, die Statuenliebe etc. abgehandelt. Zuletzt giebt
Verf. noch ein Resume des Ganzen. Nach ihm darf
Original fram
HARVARD UNIVER5ITY
512 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46.
die Degeneration nicht „als heuristisches Princip in
der Erforschung, Erkenntniss und Beurtheilung der
geschlechtlichen Verirrungen und Perversionen verwen¬
det werden“. Als letzte Ursache derselben sieht er
vielmehr „das dem genus homo eigenthümliche ge¬
schlechtliche Bedürfniss, welches als eine physiologische
Erscheinung aufzufassen ist und dessen Steigerung zum
geschlechtlichen Reizhunger die schwersten sexuellen
Perversionen erzeugen kann“. So erklärt sich die
Prostitution, als „Erfolg der ursprünglich aus letzterem
(das Variationsbedürfniss) hervorgegangenen Promi¬
skuität“. Die 2. wichtige Thatsache für Verf. ist die
leichte Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes durch
äussere Einflüsse. Alle Perversionen etc. sind häufig
erworben oder künstlich gezüchtet. Die häufige
Wiederholung derselben geschlechtlichen Verirrung
ist ferner sehr wichtig, wie auch Suggestion und Nach¬
ahmung; ebenso der Unterschied zwischen Mann
und Frau bez. der Geschlechtsempfindung. Die
sexuellen Anomalien sind also nicht klinisch-patho¬
logisch zu betrachten, da sie sammt und sonders sehr
häufig bei Gesunden Vorkommen. Verf. verlangt
weiter die Einführung der „verminderten“ Zurechnungs¬
fähigkeit bei sexuellen Vergehen. Er meint, dass es
sich stets (? Ref.) feststellen lässt, ob ein Delikt allein
durch starken geschlechtlichen Affekt erzeugt ist, oder
durch andere Motive. Die Hauptprophylaxe gegen
die geschlechtlichen Verirrungen sieht Verf. endlich
in möglichster Abhaltung der äusseren Reize. —
Soweit der anregende Verf. Genau so, wie im
1. Band, Hessen sich auch hier aber viele Einwen¬
dungen gegen Einzelnes erheben. Bloch ist mit sei¬
nen Beweisen nur zu leicht zufrieden, vor allem scheint
ihm aber besonders bez. der Homosexualität, eine
eigene grosse Erfahrung abzugehen. Hier will ich
nur einige principiell wichtige Punkte andeuten.
Bloch verwechselt immer Perversion mit Perversität.
Ersteres Wort sollte am besten nur für angeborene,
letzteres nur für erworbene Zustände gebraucht werden.
Wohl die meisten erfahrenen Autoren stimmen jetzt
darin überein, dass die wahre Homosexualität, der
Sadismus, Masochismus, Fetischismus etc. angeboren
sind, auch die sog. tardiven Fälle. Selbst wenn man
der psychologischen Theorie anhängt, kommt man
ohne ein angeborenes Moment nicht weg; das also
ist stets die Hauptsache! Allen diesen angeborenen
Anomalien gegenüber — die Homosexualiät möchte
Ref. sogar als natürliche Varietät und Geschlechtstrieb
hinstellen — sind nun dieselben äusseren Hand¬
lungen auch erworben, oder durch Gewohnheit, Nach¬
ahmung geradezu ethnologisch, wie besonders Bloch
aufzeigt. Hier aber ist die Psyche eine total
andere! Der echte Homosexuelle bleibt stets so,
ab ovo, und wechselt nicht mit heterosex. Sadismus
etc. Der „angeborene“ Sadist, Masochist empfindet
nur geschlechtliche Befriedigung in den betreffenden
Handlungen, ohne zum Actus zu schreiten, also
nicht als Reizantrieb! Wie ganz anders dagegen
der erworbene Sadist etc. Ganz dasselbe gilt vom Feti¬
schismus etc. Bloch dagegen leugnet ganz oder meist
das Angeborensein dieserGeschlechstriebsbethätigungen.
Medicinalrath Dr. P. Näck e - Hubertusburg.
— Psychiatrische en neurologische Bla¬
den. 1901. No. 6.
Kolk, Pathologisch-anatomisch onderzoek van
den Thalamus opticus in verband met haardverschi-
juselen in cerebro, eene bijdrage tot de Studie der
secundaire veranderingen.
Verfasser studierte die secundären Veränderungen
von einem Fall von Apoplexie. Es bestand eine
primäre Läsion fast des ganzen Ammonshorns, des
Subiculum cornu ammonis, des Lobus lingualis und
fusiformis. Dabei war zerstört das Tuberculum ante-
rius und der vorderste Theil des medialen Kerns des
Thalamus. Da andere Läsionen, die diese Atrophie
hätten zustande bringen können, fehlten, so darf man
schliessen, dass diese Ganglien des Thalamus mit
jenen Theilen in Verbindung stehen.
Mit Sicherheit ist nicht zu entscheiden, inwiefern
das Tuberculum anterius von einem jener Theile ab¬
hängt. Am wahrscheinlichsten ist, dass es mit dem
Ammonshom in Beziehung steht, da das Tub. ant. zu
den Riechcentren gehört, gerade wie das Ammons¬
horn. Vermutlich stehen die medialen Kerne mit
dem Lobus fusiformis und lingualis und der Nucleus
anterior mit dem Ammonshorn im Zusammenhang.
Wie ist nun die Verbindung zwischen Tub. ant.
und Ammonshom? Der Fall löst diese Frage nicht
vollständig. Es war das breite Stratum zonale, das
vom Nucleus ant. nach der innem Kapsel läuft, atro-
phirt. Vielleicht ist das die Verbindung. Diese
Bahn liess sich nicht weiter durch die innere Kapsel
verfolgen.
Rütte, Onderzoek, van J. B., van beroep veed-
rijver, beschuldigt van het feit strafbaar volgens Art.
247 W. v. S.
Der 1867 geborene Viehtreiber B. hatte kleinen
Mädchen unter die Röcke gegriffen und die Ge-
schlechtstheile betastet. Nach dem Gutachten des
Vf. handelte es sich um einen Imbecillen. Frei¬
sprechung und Einweisung in die Irrenanstalt.
Schermers, Eenige anthropologische maten by
krankzinnigen en niet krankzinnigen onderling ver-
geleken.
Verfasser hat nach der Methode von Manouvrier
von 200 Geisteskranken und 100 Normalen die
Schädelmaske genommen. Die Geisteskranken gehörten
den verschiedensten Kategorien an, 20 Epileptiker
und 30 Idioten w'aren darunter. In zahllosen, Unge¬
heuern Zahlenreihen und in den verwickelsten Kurven
hat Verfasser seine Resultate niedergelegt Sie lassen
sich nicht in einem Referat zusamraenfassen.
Meij ers, Ferri’s cursus over Crimineele Sociologie.
Eine Inhaltsangabe von Ferri’s Vorträgen. Ferri
behandelt die Physiologie und Psychologie des Ver¬
brechers , bespricht den Einfluss des Milieus, die An¬
schauungen über Bestrafung und Erziehung und der¬
gleichen. Ganter.
Für den redactioncllen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Jj. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Emst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice i Seine). Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesiern.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.- Adresse : Marbold Verlag. Hallesaale Fernsprecher 2}|.
Nr. 47 . 21. Februar. 1903 .
Die Psiatrisch- Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Ouartai 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Xr. 6 >05), sowie die. Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ^sp.iltigc Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), ru richten.
Inhalt. Originale: Volksheikstättcn für Nervenkranke. Von Dr. Max Neumann, Nervenarzt in Karlsruhe (Baden) (S. 513).
— Mittheilungen (S. 521). — Bibliographie (S. 523).
Volksheilstätten für Nervenkranke.
Referat, erstattet auf der 33. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte zu Stuttgart, am 1. November 1902.
Von Dr. Max Neumann, Nervenarzt in Karlsruhe (Baden).
Meine Herren !
^rotzdem ich zu der Minorität gehörte, die auf der
letztjährigen Versammlung gegen die Wahl un¬
seres heutigen Discussionsthemas gestimmt hat, fühle
ich mich doch gewissermassen dafür verantwortlich,
weil ich durch meinen damaligen Vortrag*) den An-
stnss dazu gegeben habe. Dieses Verantwortungsge¬
fühl entstammt der Befürchtung, dass wir die schwierige
Frage einem practischen Ende nicht näher bringen
werden durch eine Wiederholung dessen, was vor
3 Jahren schon unsere Sohwcstcrvcrsainmlung in der
Rheinprovinz und im letzten Jahre unsere südwest¬
deutsche Versammlung selbst in langer Discussion
*) Neumann, ,,Volksheilstätten fiir Nervenkranke 4
Aerztliche Mitthedgggen aus unc| für Baden, December 1901
□ igitized by LjQGQie
und I
S 1 '
berathen hat. Hoffen wir, dass meine Befürchtung
sich als unbegründet erweisen möge!
Mit der historischen Entwicklung der Heilstätten¬
frage will ich Sie nicht noch einmal behelligen. Sie
dürfte Ihnen nachgerade genugsam bekannt sein.
Zur Bedii r f nissf r age hat sich diese Ver¬
sammlung bereits in der letztjährigen Disc ussion inso¬
fern bejahend geäussert, als kein einziger Redner das
Beciürfniss nach Volksnervenhcilstälten bestritt! Den
zah Ic n mässigen Nachweis zu erbringen, dass für
eine bestimmte Art von Nervenkranken eine besondere
Fürsorge in Gestalt von Specialhcilstälten nothwendig
ist, fällt nicht leicht. Das statistische Material, das
wir darüber besitzen, ist noch zu spärlich und vor
allem sind die Gesichtspunkte, von denen die ein¬
zelnen Statistiken ausgehen, zu verschieden.
Original from
HARVARD UN1VERSITY
514 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47 .
Ich will, um Zeit zu sparen, das in der Litteratur
niedergelegte Zahlenmaterial hier nicht im Einzelnen
wiedeigeben. Auf Wunsch bin ich bereit, dies im
Verlauf der Discussion zu thun. Ich selbst habe
versucht, aus den Berichten der L a n d c s Versicher¬
ungsanstalten Anhaltspunkte für die Zahl der
minderbemittelten Nervenkranken im Reiche zu ge¬
winnen. Die Ausbeute war zwar keine grosse, da
viele Jahresberichte eine Aufstellung über die einzelnen
Krankheitsformen überhaupt nicht enthalten und eine
gesonderte Aufführung der an functioneilen Nerven¬
krankheiten Leidenden in keinem der Berichte zu
finden war. Eine interessante Thatsachc lehrte mich
aber das Studium der Jahresberichte kennen: Dass
nämlich die Zahl der Rentenempfänger unter den
Nervenkranken unverhältnissmässig viel grösser zu sein
pflegt als die Zahl der Fälle, in denen ein Heilver¬
fahren eingeleitet wurde. Für die Landesversicher¬
ungsanstalt Baden gestaltet sich das Verhältnis
zwischen Heilverfahren und Invalidisierung in toto
wie 2:3, für die Nervenkranken *) wie 2 : 7. Hingegen
für die Lungentuberculose wie 2:1! Und weiterhin:
Während bei den Heilverfahren erst auf 10 Tuber-
culöse I Nervenkranker kommt, entfällt bei den
Rentenempfängern bereits auf jeden 2. Tuberculösen
ein Nervenkranker! Das spricht erstlich für die grosse
absolute Zahl der Nervenkranken, zweitens aber ist
es geradezu verblüffend, daraus zu ersehen, wie leicht
die Landesversicherungsanstalt sich bei Nervenkrank¬
heiten zur Renten bewi lligung enlschliesst und
wie selten zur Einleitung eines Heilverfahrens! Ich
kann mir dieses gewiss befremdliche Missverhältnis
nur erklären durch den Mangel an geeigneten Heil¬
stätten für Nervenkranke. Einen Beleg für die Rich¬
tigkeit dieser Ansicht sehe ich in den Verhältnissen
der Landesversicherungsanstalt Berlin. Dort kamen
im letzten Jahre die Heilverfahrenfälle den Renten¬
fällen nicht nur gleich, sondern waren sogar in der
LTcberzahl. Dass diese Erscheinung zum guten Theil
auf die Existenz der Ncrvenheilstätte „Haus
Schönow“ zurückzuführen ist, geht deutlich hervor aus
zwei Thatsachen: Einmal hat von den im letzten
Jahre in „Schönow“ verpflegten Nervenkranken die
Stadt Berlin genau die Hälfte gestellt. Und zweitens
sind — eine Thatsache, die meines Erachtens am
meisten Beweiskraft hat, — bei der Landes Ver¬
sicherungsanstalt Berlin die Heilverfahrenfälle wegen
Nervenkrankheiten in den letzten 4 Jahren um das
*) Unter Einschluss jemals der Hälfte der Anämisch-Chlo-
rotischen und der an „Muskelrheumatismus“ Leidenden, da
man mindestens 50 °/ 0 dieser beiden Krankenyattungcn zu den
„Nervösen“ rechnen kann.
□ igitized by Google
4 fache und darüber gestiegen. Sie beliefen sich im Jahre
1897 auf 53, im Jahre 1901 auf 235! Die Gründung
des Hauses Schönow fällt in das Jahr 1899. —
Die Stellungnahme der Krankenkassen, Berufsge¬
nossenschaften und Landesversicherungsanstalten ist
für die Beantwortung der Bedürfnissfrage von grosser
Bedeutung. Denn diese Institute treten, nächst den
Aerzten, am frühesten und am häufigsten in Be¬
ziehung zu den Kranken, für welche die supponirten
Anstalten mit in erster Linie bestimmt sein sollen.
Am meisten interessieren uns hiervon wiederum die
Landesversicherungsanstalten, da sie Instanz für die
Heilverfahren sind.
Zwecks genauer Orientierung habe ich an sämmt-
liche Versicherungsanstalten des Reichs einen Frage-
b< >gen geschickt nach dem Muster des hier herumge¬
reichten. Die Antworten sind nach verschiedener
Richtung hin interessant. (Ich sehe dabei ab von
dem Curiosum, das die Landesversicherungsanstalt
Oberbayern dadurch lieferte, dass sie als Zahl der
Heilvcrfahrenfälle 176 angab mit dem Bemerken, dass
darin auch die Fälle von Gelenkrheumatismus inbe¬
griffen seien !) Zuvörderst muss bei Vergleichung der
Fragebogen auffallen, dass die Antworten auf die
Frage nach der Zahl der Heilverfahren wegen Krank¬
heiten des Nervensystems im Jahre 1901 bei den
einzelnen Anstalten so ungemein differieren. Diese
Zahl bewegt sich nämlich zwischen o und 235 Fällen.
Dabei kann man 2 Hauptgruppen gegeneinander ab¬
sondern, eine kleinere mit sehr vielen und eine bei
weitem grössere mit auffallend wenigen Heil verfahr en-
fällcn. 4 Anstalten gaben mehr als 100 Fälle an,
15 erreichten nicht einmal die Zahl von 20 Fällen.
Diese auffallende Differenz kommt zweifellos nicht
allein von der verschiedengrossen Zahl der Ver¬
sieh erungspflichtigen bei den einzelnen Anstalten.
Sonst könnte nicht die Landesversicherungsanstalt
Baden über 100 Fälle aufweisen, während die —
sicher grössere — von Elsass-Lothringen mit ganzen
18 Fällen figuriert. Der Grund liegt vielmehr in der
verschieden weiten Fassung des Begriffs „Krankheiten
des Nervensystems.“ Wenn man darunter nur die
Erkrankungen „einzelner Nerven und Nervenbezirke“
versteht, wie dies bei vielen Anstalten der Fall ist,
dann ist es nur natürlich, wenn hohe Zahlen nicht
erreicht werden. Wie zu erwarten, gehören zu den
Anstalten, welche die Bedürfnissfrage bejahen, vor
allein die mit hoher Fällczahl. Im ganzen kann
man sagen, dass diejenigen Anstalten, aus deren Ant¬
worten ein richtiges Verständniss für die nervösen
Erschöpfungskrankheiten spricht, der Errichtung von
Nervenheilstätten im Princip auch wohlwollend oder
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1903]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
515
entschieden befürwortend gegenüberstehen. Es sind
dies die Anstalten von Thüringen, Hannover, Rhein¬
provinz, Baden, Kgr. Sachsen und Schwaben. Diese
Anstalten, mit Ausnahme der Badischen, sagen auch
eventuelle pecuniäre Unterstützung zu. Die Anstalt
Berlin äussert sich reserviert, hat aber vor einigen
Jahren bereits die Zehlendorfer Heilstätte hypo¬
thekarisch reichlich belieben.
Herr Sanitätsrath Wildermuth hat schon des
Näheren ausgeführt, für welche Art von Kranken die
Heilstätten gedacht sind. Ich kann mich ihm daran
nur vollständig anschliessen. Als leitender Gesichts¬
punkt muss m. E. stets gelten, dass die Nervenheil -
Stätten Heilstätten für nervös Erschöpfte sein
sollen. So einfach und so trivial das vielleicht klingt,
so ist es doch von der grössten Wichtigkeit, sich diesen
Satz allezeit gegenwärtig zu halten. Denn dadurch
allein lassen sich die endlosen und schliesslich doch
unfruchtbaren Erörterungen über die inbetracht¬
kommenden Krankheitsformen vermeiden. Und weiter¬
hin entscheidet dieser Satz auch die Frage nach dem
Character der zu errichtenden Anstalten, sowohl hin¬
sichtlich der Geschlechter wie auch des therapeutischen
Betriebs.
Unter „nervös Erschöpften“ verstehe ich alle die¬
jenigen, welche durch erschöpfende Thätigkeit, er¬
schöpfende Krankheit oder erschöpfende Erlebnisse
an der Widerstandsfähigkeit ihres Nervensystems ge¬
schädigt worden sind. Ich rechne hierzu sämmtliche
Formen erworbener Neurasthenie, gleichviel, ob es
sich um vorher intacte oder von Hause aus schon
minderwerthige Individuen handelt. Vor allem schliesse
ich aber auch diejenigen Personen ein, bei denen sich
als die Folge oder Begleiterscheinung passagerer
körpe rlicher Schwächezustände Störungen functioneil
nervöser Natur entwickelt haben, in erster Linie die
nervös geschwächten Reconvalescenten und das Heer
der Anaemisch-Chlorotischen. Diese werden sogar
ein sehr bedeutendes Contingent zur Füllung der
Heilstätten stellen. Ich kann Pohl darin nur bei¬
pflichten, wenn er die Chlorose mit leichten nervösen
Symptomen den „Spitzenkatarrh“ Nervenkranker nennt.
Und leichte nervöse Symptome haben wohl alle
Chlorotischen. — Wenn ich vorhin zu den nervös
Erschöpften auch die psychopathisch Minderwerthigen
mit erworbener Neurasthenie rechnete, so that ich
das im Gegensatz zu den rein constitutionell Ner¬
vösen. Diese halte ich bei der schlechten Prognose,
die ihr Zustand giebt, entschieden für nicht geeignet,
in den supponierten Anstalten behandelt zu werden.
Hinsichtlich der Psychosen und der orga¬
nischen Nervenkrankheiten habe ich dem von
Digitizedby CjOOQIC
Herrn Sanitätsrath Wildermuth Gesagten nichts
hinzuzufügen. Ich kann auch darin nur wieder auf
meine letztjährigen Ausführungen *) zurückkommen:
Geisteskranke und schwere Epileptiker sind auszu-
schliessen, desgleichen solche an organischen Ner¬
venkrankheiten Leidende, die völlig und dauernd
fremder Hilfe und Wartung bedürfen. Bezüglich
leichter Fälle von Epilepsie und der leichteren De¬
pressionszustände ist es wohl am ratsamsten, dem je¬
weiligen Ermessen des dirigirenden Arztes einigen
Spielraum zu lassen.
Eine leidige, immer wieder zu Controversen An¬
lass gebende Frage ist die nach der Stellung den
Alcoholisten gegenüber. Ich bekenne, dass ich
die Smith’sehe Auffassung von der alcoholo-
genen Natur der meisten functionellen Neurosen
nicht theilen kann. Diese würde uns hier auch
practisch wenig fördern. Unter Bciseitelassung aller
pathogenetischer Theorien haben wir hier die Frage
zu entscheiden, ob sich zur Aufnahme in die suppo¬
nierten Nervenheilanstalten auch chronisch Alcohol-
tüchtige, vulgo Säufer eignen, mit anderen Worten,
ob die Nervenheilstätten gleichzeitig auch Trinker-
asyle sein sollen.
Meiner Ansicht nach sollen die Fragen: Volks-
nervenheilstätten und Trinkerheilstätten vollständig ge¬
trennt von einander behandelt werden und zwar
aus verschiedenen Gründen. Trinkerasyle sind eine
unumgängliche Nothwendigkeit, die Menge der An-
stalts-, aber nicht Irrenanstaltsbedürftigen Trinker ist
so gross, dass eine besondere Fürsorge für dieselben
von ärztlich-humanem und von social-hygienischem
Standpunkte aus absolut erforderlich ist. Würden
nun die Volksnervenheilstätten ausdrücklich gleich¬
zeitig auch Trinkerasyle werden, so w'ürden sie, zu¬
mal in Ländern ohne, oder mit unzulänglicher
Trinkerfürsorge, unter ihren Pfleglingen bald ein ganz
beträchtliches Contingent reiner Potatoren aufw'eisen.
Das würde bald gesonderte Abtheilungen für die
Trinker nothwendig machen, da habituell Alcohol-
süchtige, auch wenn sie nicht ausgesprochen geistes¬
krank sind, nun doch einmal einer strammeren Haus¬
ordnung etc. bedürfen, als einfach nervös Erschöpfte.
Von rein öconomischen Gesichtspunkten aus böte die
Combination von Trinker- und Nervenheilstätten
vielleicht gewisse Vortheile. Aber es würde sich dann
dieselbe Schwierigkeit wiederholen, die sich bereits
bei der Erwägung, die Nervenheilstätten an die
Irrenanstalten anzugliedern, herausgestellt hat: Die
Anstalten würden beim Publicum sehr bald als An¬
stalten für Säufer gelten und als solche verrufen
*) 1. c.
Original from
HARVARD UN1VERSITY
5«
werden. Ausserdem habe ich aus rein ärztlichen
Rücksichten meine Bedenkengegen eine Verschmelzung
zweier in ihrer therapeutischen Tendenz doch natur-
gemäss so verschiedenen Heilinstitute. Kein Theil
würde vom anderen etwas profitieren können. Be¬
sonders ^erwarte ich mir von einem etwaigen günstigen
moralischen Einfluss der nicht alcoholistischen
Nervösen auf die Trinker, den man vielleicht zu
Gunsten kombinierter Anstalten ins Feld führen
könnte, gar nichts. Im Gegcntheil. Die Nervösen
würden die Trinker in der Regel einfach als Menschen
zweiter Klasse betrachten und danach behandeln.
Aus all diesen Gründen bin ich, wie gesagt, für
eine Trennung der Nerven- und Trinkerheilstätten¬
frage. Ganz etwas anderes ist die Erwägung, ob man
die zu errichtenden Nervenheilstätten nicht von vorn¬
herein grundsätzlich alcoholfrci halten soll. Dafür
trete ich entschieden ein, obgleich ich mir bewusst
bin, dass — besonders in den weintrinkenden Gegen¬
den Süddeutschlands — das Abstinenzprincip bei dem
die Anstalten frequentierenden Publicum keineswegs
Gegenliebe finden wird.
Nicht ganz leicht ist es, sich zu einem Stand¬
punkte den U n f a 11 s n c r v e n k r a n k e n gegenüber zu
entscheiden. Da werden bis zu einem gewissen
Grade pecuniäre Rücksichten mitzusprechen haben.
Will man die Unfallskranken ausschliessen, so muss
man von vornherein auf eine Subventionirung von
Seiten der Berufsgenossenschaften verzichten. Dies
wird man freilich umso eher thun können, als eine
nennenswerthe Unterstützung von dieser Seite nur
dann zu erwarten wäre, wenn die Heilanstalten als
eine ihrer Hau p t aufgaben die Behandlung von Unfalls¬
nervenkranken betrachten würden. Dies ist aber
ihrer ganzen Tendenz nach ausgeschlossen. Der
kleinste Theil der Unfallsneurosen gehört zu den
nervösen Erschöpfungszuständen. Meist handelt es
sich um krankhafte Suggestionen, wobei der bewusste
oder unbewusste Wunsch nach Rente oft eine nicht
geringe Rolle spielt. Hier müssen ganz andere Be-
handlungsprincipien Platz greifen als bei den er¬
schöpften Nervösen. Wenn hier überhaupt Anstalts¬
behandlung indiciert erscheint, — mit der meiner
Ueberzeugung nach bei Unfallskranken gar viel¬
fach gesündigt wird, — so kann hier nur das
„Arbeitssanatorium“ in Betracht kommen, das ich im
übrigen als Panacee für Nervenkrankheiten über¬
haupt keineswegs anerkennen kann. Entschieden am
rationellsten sind specielle Sanatorien für Unfall¬
nervenkranke in der Art, wie die von den sächsischen
Berufsgenossenschaften gegründete „Unfallnervenklinik
Lössnitz“. Dieses Institut scheint sich bis jetzt gut
Digiitized by (jQOQIC
[Nr. 47 .
zu bewähren. — Alles in allem glaube ich, dass man
Unfallskranke nicht grundsätzlich und rigoros von der
Aufnahme ausschliessen soll, dass aber von dieser
Kategorie von Kranken nur frische Fälle, bei denen
es sich um wirklich Ruhe- und Erholungsbedürftige
handelt, zuzulassen sind und dass vor allem solche
Kranke lediglich zur Behandlung und niemals zur
blossen Beobachtung zwecks Erstattung eines Gut¬
achtens aufgenommen werden dürfen. —
Es ist oft darüber discutiert worden, ob Anstalten
in gleichem Maasse für beide Geschlechter erforderlich
sind, und ob — zutreffendenfalls — gemischten oder
geschlechtlich getrennten Anstalten der Vorzug zu
geben ist. Vielfach herrscht die Ansicht, dass Heil¬
stätten für männliche Kranke ein entschieden grösseres
Bedürfniss sind als solche für weibliche. Diese An¬
sicht wird vertreten von Moebius, ferner von den
Directorcn der badischen Irrenanstalten in deren
Denkschrift über die Irrenfürsorge in Baden, desgleichen
von Fuchs in seiner Broehürc über „staatliche Pro¬
phylaxe in der Psychiatrie“. Immerhin mehren sich
auch die Stimmen, die ein grösseres Bedürfniss auf
Seiten des weiblichen Geschlechts erblicken, oder
zum mindesten für beide Geschlechter in gleicher¬
weise eintreten. Pohl ist ein eifriger Verfechter
der Anstalten für weibliche Kranke, und ich selbst
bin der Ansicht, dass nach Zahl der Kranken und
nach dem Grade der Pflegebedürftigkeit, vom rein
humanen wie vom wirtschaftlichen Standpunkte aus,
das weibliche Geschlecht dem männlichen sicherlich
gleichstehen, voraussichtlich dasselbe noch überwiegen
wird. Eine grosse Anzahl von Krankenhausdirectoren,
Bezirksärzten und Ortskrankenkassen in Baden haben
sich auf eine Anfrage der Landesregierung hin eben¬
falls in dem Sinne geäussert, dass das Bedürfniss
nach Nervenheilstätten für beide Geschlechter in
gleicher Weise vorhanden sei. Schliesslich wird
die Entscheidung dieser Frage ganz davon abhängen,
welche Principien man in der Begrenzung der Krank¬
heitsformen verfolgt. Schliesst man die nervös er¬
schöpften Chlorotischen mit ein, so wird sich ein
grösseres Bedürfniss auf Seiten des weiblichen Ge¬
schlechts ergeben, während sich z. B. bei Ausschluss
der Chlorotischen und bei Einschluss der Unfalls¬
nervenkranken aller Wahrscheinlichkeit nach das
Verhältnis umkehren würde. Und wenn auch die
bereits gemachte practische Erfahrung ein Wort mit¬
reden soll, so spricht diese für eine gleichmässige
Verkeilung des Bedürfnisses auf beide Geschlechter:
Haus Schönow hat im letzten Berichtsjahre ziemlich
gleichviel männliche und w-eibliche Patienten verpflegt.
Ob man gemeinschaftliche oder geschlechtlich ge-
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1903]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
517
trennte Anstalten ins Leben rufen soll, das ist m. E.
in erster Linie eine Geldfrage: Reichen die Mittel
für mehr als eine Anstalt, dann ist einer Trennung
der Geschlechter unbedingt der Vorzug zu geben.
Wenn ich Ihnen nun in Kürze den jetzigen Stand
der Heilstättenbewegung skizzieren werde, will ich bei
der drängenden Zeit gar nicht eingehen auf die schon
recht ansehnliche Litteratur über unseren Gegenstand,
und nur über das Thatsachenmaterial berichten.
Im Grossherzogthum Baden hat sich die Landes¬
regierungselbst der Sache angenommen und mittelst einer
sehrgründlichen und vielseitigen Enquete die Bedürfniss-
frage klarzustellen versucht. Diesbezügliche Aeusserungen
wurden eingeholt von den Verwaltungen der grösseren
Städte, den Krankenhausdirectoren, den Bezirksärzten.
Ferner aber auch von den Organen der socialen Ge¬
setzgebung, den Vorständen der Landes Versicherungsan¬
stalten, der meisten Orts- und Betriebskrankenkassen und
einzelner Berufsgenossenschaften. Es wäre ungemein
interessant, des Näheren die eingegangenen Antworten
hier zu erörtern. Aber es warten andere Redner, und
so muss ich mir versagen, die vielen Pro’s und Con-
tra’s, die theils mit, theils ohne besondere Motivierung
dem -Ministerium unterbreitet wurden, im Einzelnen
Ihnen vorzutragen. Manches Beherzigensw r erthe findet
sich darunter, zum Theil werthvolles statistisches
Material. Aber auch mancher Beweis mangelnden
Verständnisses und einseitiger Beurtheilung und manche
unfreiwillige Comik liegt da bei den Acten. — Eine
Thatsache hat mich an der Enquete der badischen
Regierung befremdet: dass zwar die Directoren der
internen, nicht aber die der psychiatrischen Universi¬
tätskliniken um ihre Meinung befragt worden sind,
noch auch die Leiter der Landesirrenanstalten. Letz¬
teren wurde freilich Gelegenheit geboten, ihre Ansicht
darzuthun in der von ihnen gemeinsam verfassten,
oben erwähnten Denkschrift, die im Aufträge der Re¬
gierung ausgearbeitet und dem Landtage gelegentlich
der Irrenanstaltsdebatte vorgelegt wurde. In dieser
Denkschrift treten die Verfasser sehr warm für die
Errichtung einer Volksnervenheilstätte ein und
kommen zu dem Ergebniss, dass die Angliederung
derselben an die Landesirrenanstalt Illenau am ge¬
botensten erscheine.
Das practische Ergebniss der Vorarbeiten im
Grossherzogthum Baden ist noch kein sehr aussichts¬
reiches. In der Commissionsberathung des Landtags
erklärte der Minister des Innern es als zweifelhaft,
ob der Staat in nächster Zeit in der Frage der Er¬
richtung einer staatlichen Nervenheilanstalt Vorgehen
könne. —
Auch im G^sherzogthum Sachsen-Weimar
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befasste sich die Landesregierung mit der Heilstätten¬
frage und zwar bis jetzt mit ebenso „dilatorischem“
Resultate wie in Baden! Den Anstoss gab ein Vorschlag
von Professor Binswanger an die thüringische Landes¬
versicherungsanstalt, durch ein Darlehen von 40000
Mark die Gründung einer Nervenabtheilung der psy¬
chiatrischen Klinik zu ermöglichen. Da die Regierung
es ablehnte, diese Summe für den gedachten Zweck
in den Etat der Landesversicherungsanstalt einzustellen,
schlug Prof. Binswanger vor, die Landesversicherungs¬
anstalt solle sich eine eigene Nervenheilstätte gründen,
deren ärztliche Leitung von der Klinik aus, gleichsam
durch Personalunion, besorgt werden solle. Ein (aus¬
führlicher) Bauplan liegt bereits vor, doch scheiterte
die Realisierung bis jetzt an den der Landesver¬
sicherungsanstalt zu hohen Baukosten, die sich im
Voranschlag auf 155000 Mk. belaufen. In aller¬
jüngster Zeit habe ich erfahren, dass die Carl Zeiss-
Stiftung in Jena sich für die Errichtung einer Volks¬
nervenheilstätte auf thüringischem Gebiet lebhaft in¬
teressiert. Herr Dr. Czapski, der sich als Vertreter
der Stiftung mit mir in Verbindung gesetzt hat, theilt
mir mit, dass, wenn sich eine geeignete Organisation
für die Verwaltung und den Betrieb der Anstalt
herausbilde, die Stiftung das Capital zur Errichtung
der Anstaltsgebäude oder doch einen erheblichen
Beitrag dazu stellen würde. Leider liegt auch hier
die Verwirklichung des Planes noch sehr im Weiten.
Dr. Czapski selbst meint, dass es dazu noch mehrerer
Jahre bedürfe. Es soll nämlich vor Errichtung einer
Nervenheilstätte erst eine Badeanstalt mit Schwimm¬
halle gegründet werden, da es, wie es in dem be¬
treffenden Briefe heisst, „eine richtigere Politik sei,
in erster Linie den Erkrankungen vorzubeugen, als
nur daran zu denken, für die bereits Erkrankten zu
sorgen.“
Meine Herren! Diese Aeusserung ist ungemein
bezeichnend für die Stellung vieler Laien- und auch
mancher Aerztekreise der Heilstättenfrage gegenüber.
Immer und immer wieder bin ich der irrthümlichen
Auffassung begegnet, dass in der Erstellung ambu¬
latorischer hydrotherapeutischer Einrichtungen ein
zweckmässiges und dabei viel weniger kostspieliges
Aequivalent für complete Nervenheilanstalten gegeben
sei. So finden sich z. B. in der badischen Enquete
mehrfach Aeusserungen von Krankenhausdirectoren
dahingehend, dass von besonderen Nervenheilstätten
getrost abgesehen werden könne, sofern nur ihr
eigenes Institut mit einer genügenden hydrotherapeu¬
tischen Abtheilung versehen würde. Ich denke
natürlich nicht daran, dass hierbei jemals Interessen
pro domo die Triebfeder waren! Aber es handelt
Original trom
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 47.
5 *°
sich doch um eine recht beträchtliche Ueberschätzung
der Hydrotherapie und eine bedenkliche Verkennung
der thatsächlichen Verhältnisse, wenn man glaubt,
eine Bädereinrichtung könne eine Nervenheilstätte er¬
setzen, oder ein Schwimmbad besitze so bedeutenden
prophylactischen Werth, dass es in vielen Fällen den
Ausbruch von Nervenkrankheiten hintanhalten könne.
Die Nervenheilstätten sollen doch wahrlich auch
keine Siechenhäuser, sondern Vorbeugungsinstitute im
eigentlichen Sinne des Wortes sein!
Im Grossherzogthum Hessen hat sich unter
Ludwigs rühriger Initiative der werkthätige Irren¬
hilfsverein längst auch der nicht geisteskranken Ner¬
vösen aus den unbemittelten und gering bemittelten
Ständen angenommen. Dieser Verein, der von vorn¬
herein den Grundsatz verfolgt hat, aus sich selbst
heraus, ohne primäre Betheiligung des Staates, seiner
humanen Aufgabe gerecht zu werden, veröffentlicht
in seinem jüngsten Jahresbericht einen Entwurf zur
planmässigen Fürsorge für unbemittelte Nervöse und
geistesgesunde Epileptiker. Der Entwurf stammt aus
der Feder Ludwigs. Vorläufig sollen vom Verein
aus in geeigneten Fällen auf Antrag Heilverfahren
eingeleitet werden unter Zuhilfenahme der schon be-
stehendeh Sanatorien etc. Das Endziel ist die Er¬
richtung einer eigenen Anstalt nach dem Vorbilde
des Hauses Schönow. Zur Beschaffung der nöthigen
Mittel ist der Verein bestrebt, die private Wohl-
thätigkeit zu ausgiebiger Betheiligung anzuregen. Dies
geschieht durch einen in der Tagespresse publicierten
Aufruf. Für das laufende Jahr hat der Verein ver¬
suchsweise eine Summe von 9000 Mk. zur Verwen¬
dung für solche bedürftigen Nervenkranke ausge¬
worfen, die nach ärztlichem Ermessen als heilbar
oder doch erheblich besserungsfähig erscheinen.
Gleichfalls durch Vereinsthätigkeit hat die Heil¬
stättenbewegung Förderung erfahren in der Rhein¬
provinz. Nachdem der dortige psychiatrische Ver¬
ein sich im Jahre 1899 in gleicher Weise wie wir
heute mit der Frage beschäftigt und die Bedürfniss-
frage einstimmig bejaht hatte, nahm sich der ber-
gische Verein für Gemeinwohl mit grosser
Energie der Sache an. In seiner letztjährigen General¬
versammlung verhandelte er fast ausschliesslich über
das Thema „Volksnervenheilstätten“. Die Gründung
einer Anstalt wurde im Princip beschlossen, Re¬
gierung und Landesversicherungsanstalt sagten ihre Hilfe,
letztere in Gestalt einer Capitalüberweisung, zu. Leider
haben nun die Vorarbeiten eine unliebsame Unter¬
brechung erfahren durch die Düsseldorfer Ausstellung.
Inzwischen aber ist der bergische Verein in ähnlicher
Weise wie der hessische Hilfsverein mit bestem Er-
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folg bestrebt, möglichst vielen bedürftigen Nerven¬
kranken Gelegenheit zur Erholung zu bieten in ver¬
schiedenen Anstalten des Landes, vorzüglich aber in
den eigenen Reconvalescentenhäusem des Vereins.
Dem Ziele schon näher als alle bisher genannten
Landesbezirke ist die Stadt Frankfurt a. M. Diese
hat die Errichtung einer Viliencolonie für Nerven¬
kranke beschlossen und als Bausumme für die ersten
6 Villen 400000 Mk. bewilligt Die Vorarbeiten für
den Bau sind bereits im Gange. Die Colonie ist
sowohl für Communal- und Kassenkranke, als auch
für selbstzahlende Patienten des Mittelstandes be¬
stimmt —
Der einzige Ort, der sich rühmen kann, das pro¬
phetische Wort von Moebius, „Nervenheilstätten
werden entstehen“, verwirklicht zu haben, ist Berlin.
Von der Zehlendorfer Anstalt Haus Schönow brauche
ich Ihnen Einzelheiten nicht zu berichten; Sie alle
haben ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt
So ist Ihnen auch allen bekannt, dass es sich hier
um ein Werk privater Wohlthätigkeit handelt. Dass
die Anstalt einem dringenden Bedürfniss entsprach,
beweist ihre Krankenfrequenz. Diese belief sich im
Jahre 1901 auf 445 Kranke. Der Durchschnittsver¬
pflegungssatz von 4 Mk. pro Tag characterisirt die
Anstalt zunächst als Mittelstands-Sanatorium. Die
Erfahrung lehrt, dass sich das Bedürfniss nach
solchen Anstalten oft noch empfindlicher fühlbar
macht als Heilstätten für die ganz Unbemittelten.
Höchst beachtenswerth sind die Bestrebungen zu
Gunsten der Erholungsbedürftigen aus den arbeitenden
Klassen in der Schweiz. Dort geht die Nerven-
heilstättenbewegung Hand in Hand mit der Abstinenz¬
bewegung. Der „Züricher Frauenverein für
Mässigkeit und Volkswohl“, der seit dem
Jahre 1893 in Zürich bereits sieben alcoholfreie
Wirthschaften gegründet hat, eröffnete im Jahre
1900 ein eigenes, ad hoc gebautes, ansehnliches
Curhaus mit 60 Betten. Der ausdrückliche Zweck
desselben ist, Erholungsbedürftigen aller Bevölkerungs¬
klassen, in erster Linie „schwächlichen, nervenleidenden
Personen“ einen zweckmässigen und billigen Cur-
aufenthalt zu bieten. Der Pensionspreis beträgt 3 bis
3,50 Frs. Die Anstalt steht nicht unter ärztlicher
Leitung. Wie der oflidelle Name „alcoholfreies Cur¬
haus“ besagt, herrscht das Princip völliger Abstinenz.
Ueber die Finanzierung der Gründung werde ich
nachher kurz berichten. Das von Moebius und
G rohmann inaugurierte Unternehmen „Colonie
Friedau“ hat Herr Sanitätsrath Wildermuth bereits
eingehend gewürdigt. Wenn sich das dort Ange¬
strebte auch nicht ganz mit dem deckt, was mir als
Original from
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
5i9
1903.]
nächste Aufgabe der Volksheilstätten vorschwebt, so
würde ich eine Verwirklichung des Projects doch mit
Freude begrüssen. —
Damit glaube ich Ihnen im Grossen und Ganzen
ein Bild vom heutigen Stand der Heilstättenbewegung
gegeben zu haben.
Wie hat sie sich nun in der Zukunft zu ge¬
stalten ?
Da stehen wir vor den beiden Cardinalfragen des
Wo und Wie. Diese Fragen sind nicht gelöst da¬
durch, dass wir uns zu einer Resolution einigen des
Inhalts etwa: Es ist zu wünschen, dass in jedem
Bundesstaate so und so viele Nerven hei Istätten nach
Maassgabe seiner Grösse etc. in waldreicher Gegend
von Staatswegen errichtet werden! Denn: Die wald¬
reiche Gegend wird zwar nicht schwer zu finden sein,
wohl aber der dazu gehörige anstaltenerrichtende
Staat! Das lehrt die Praxis, wie wir es an den Bei¬
spielen von Baden und Sachsen-Weimar gesehen
haben. Wenn wir nun selbständige Neugründungen
von Staatswegen nicht erwarten dürfen, so lassen sich
vielleicht schon bestehende staatliche Einrichtungen
in zweckmässiger Weise zu Nervenheilstätten erweitern,
bezw. mit solchen verbinden. Man wird da zunächst
denken an die Landesirrenanstalten, des weiteren an
die Universitätskliniken. Beide Anstaltsgattungen
sind schon zu dem gedachten Zwecke ins Auge ge¬
fasst worden; das Resultat war bis jetzt in jedem
Falle ein negatives. Dies wird sich in der Zukunft
vielleicht ändern. Die Bedenken, die sich gegen die
Angliederung der Nervenheilstätten an die staatlichen
Irrenanstalten erheben, sind zu oft discutiert worden,
als dass ich sie hier noch einmal zu wiederholen
brauchte. Ich möchte meinen Standpunkt gegenüber
den sog. „offenen Abtheilungen“ dahin fixieren, dass
ich in einer offenen Abtheilung einer Irrenanstalt
und in einer Nervenheilslätte zwei grundsätzlich ver¬
schiedene Dinge erblicke: Beides Einrichtungen von
grösstem therapeutischem Werthe, von denen aber die
eine die andere nicht ersetzen kann und — eben
im Interesse ihres therapeutischen Werthes — auch
nicht ersetzen soll. Die offene Abtheilung den
Irrenreconvalescenten, die Nervenheil¬
stätten den nervös Erschöpften und Erhol¬
ungsbedürftigen!
Gegen die Verbindung der Nervenheilstätten mit
den Universitätskliniken ist im Principe nichts einzu¬
wenden, sofern die localen Verhältnisse nicht dagegen
sprechen. Dass aber durch gesonderte Nervenheil¬
stätten den Kliniken das Lehrmaterial verkürzt würde,
wie Erb es befürchtet, ist kaum anzunehmen. Die
Pfleglinge der Anstalten grösserem Umfange zu
klinischen Demonstrationszwecken heranzuziehen,
halte ich im Interesse der Kranken nicht für
wünschenswerth.
Die städtischen Krankenhäuser kommen als
Mutterinstitute für unsere Heilstätten wohl kaum ernst¬
lich in Frage.
Sollen sich diese überhaupt an bereits be¬
stehende Krankenanstalten anlehnen, so sind dafür
m. E. nur die ländlichen Reconvalescenten-
häuser ins Auge zu fassen. Dahin ging auch im
letzten Jahre mein Vorschlag. Diese Institute eignen
sich schon ihrer Tendenz nach am besten für den
gedachten Zweck. Meist befinden sie sich in
wenigstens einigermassen günstigem landschaftlichem
Terrain und werden jetzt schon vielfach — faut de
mieux — als Erholungsstätten für nervös Erkrankte
benutzt, so z. B. von den Land es Versicherungsanstalten,
von denen manche im Besitze eigener Reconvales-
centenhäuser sind. Freilich bieten von diesen Häusern
bis Jetzt nur die allerwenigsten einigermassen einen
Ersatz für Nervenheilstätten. Vor allem fehlt den
meisten jede ärztliche Leitung, von specialistischer
gar nicht zu sprechen. Und specialärztliche Leitung
muss für die Nervenheilstätten natürlich unbedingt
verlangt werden. Schwierig bei einer event. Umwand¬
lung schon bestehender Genesungshäuser in Nerven¬
heilstätten wird nur häufig sein, die jeweiligen Be¬
sitzer der Reconvalescentenhäuser zu dieser Um¬
wandlung zu veranlassen. Die Besitzer sind sehr
heterogen: Theils gemeinnützige Vereine und Stiftungen,
theils Versicherungsanstalten, theils Gemeinden und
Staat Vor allem aber: Wer wird hier das treibende
Element sein? Diese Frage, meine Herren, ist der
Angelpunkt der ganzen Heilstättenfrage. Und diese
spitzt sich zu zur Deckungs-, zur Geldfrage: Wer
sorgt für die Beschaffung der nöthigen Mittel? Wenn
dieses Problem erst gelöst ist, dann ist es ganz
einerlei, ob die Heilstätten an schon bestehende
Einrichtungen, etwa an Reconvalescentenhäuser ange¬
gliedert werden, oder ob gesonderte Anstalten ad hoc
gegründet werden, was ich — nebenbei bemerkt, —
immer noch für das wünschenswerteste halte.
Theoretisch betrachtet, können die Kosten zur
Errichtung von Volksheilstätten getragen werden vom
Staat, von den Organen der socialen Gesetzgebung,
von Gemeinden und schliesslich von Privaten. Ein
Zusammenarbeiten mehrerer der genannten Factoren
ist natürlich ebenfalls denkbar.
Vom Staat ist erfahrungsgemäss nicht viel zu er¬
warten. Füglich kann man auch nicht alles von
ihm verlangen.
HARVARD UNIVERSITY
520 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47
Was die Institute der socialen Gesetzgebung be- boten hält, Volksheilstätten für Nervenkranke zu
trifft, so ist von mehreren Landesversicherungs¬
anstalten und — je nach der Stellung zur Unfall¬
krankenfrage — auch von einer Reihe von Berufs¬
genossenschaften, financielle Unterstützung wohl zu
erwarten. Auf die Krankenkassen wird vorläufig
wenig zu rechnen sein. Klar sein müssen wir uns
aber über eine sehr wesentliche Thatsaohe: Mögen
Landesversicherungsanstalten, Berufsgenossenschaften
u. s. w. zu financieller Unterstützung immerhin be¬
reit sein, eine Initiative ist von dieser Seite nicht
zu erwarten. Eher schon von Seiten einzelner Ge¬
meinden, wie das Beispiel von Frankfurt a. M. lehrt.
Ob diesem Beispiele aber in absehbarer Zeit andere
und zumal weniger gut situierte Stadtgemeinden fol¬
gen werden, ist sehr zweifelhaft. Keinesfalls darf
man sich mit dieser unsicheren Erwartung bescheiden.
Per exclusionem kommen wir auf die Beschaffung
der Mittel durch Private. Um zwei Wege kann
es sich dabei handeln: Einmal um reine private
Wohlthätigkeit, wobei also der, bezw'. die Geber einen
materiellen Nutzen von ihrer Geldleistung nicht haben,
und dann um Unternehmungen privater Natur, bei
denen die aufgebrachten Geldmittel einen Nutzen
für den Geber abwerfen, zunächst in Gestalt von
Verzinsung. Für eine Combination dieser beiden
Arten privater Leistung haben wir ein Beispiel in der
Zehlendorfer Anstalt. Sie ist fundiert auf eine milde
Stiftung von 230000 Mk. und ein Darlehen von
200000 Mk. Eine ähnliche Combination liegt der
Finanzierung des Curhauses auf dem Zürichberge zu
Grunde. Dort wurde der grössere Theil des nöthigen
Capitals durch Emission 3 % iger Obligationen auf¬
gebracht, der kleinere wurde durch Schenkungen ge¬
deckt. (Dort liegt freilich noch das besondere Ver-
hältniss vor, dass der Unternehmer, der Züricher
Frauenverein, in der günstigen Lage ist, aus den Ein¬
nahmen seiner sehr Iucrativen alcoholfreien Wirt¬
schaften eine beträchtliche Summe zuschiessen zu
können.)
Eine weitere Form des privaten Unternehmens ist
die A cti enges e Ilse ha ft. LTm eine solche handelt
es sich bis zu einem gewissen Sinne bei der „Colonic
Friedau“. Wie mir Prof. Moebius mittheilt, sind
für diese bis jetzt 75000 Frcs. gezeichnet worden.
Sie sehen, m. H., Beispiele, wie aus privater Ini¬
tiative ohne primäre Mitarbeit von Staat und staat¬
lichen Institutionen, Unternehmungen in unserm
Sinne entriert werden können, sind vorhanden. Diese
Beispiele sollen uns zur Lehre dienen. Nicht un-
thätig abwarten wollen wir, bis der Staat cs für ge-
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gründen. An uns Aerzten ist es, unsere längst ge¬
wonnene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
solcher Anstalten aus unserm Kreise hinaus in die
breite Oeffentlichkeit zu tragen. Verständniss werden
wir dort sicher finden, und das ist die unerlässliche
Vorbedingung zu werkthätiger Hilfe. Verständniss
werden wir aber nur dann finden, w-enn wir unter¬
einander dem grossen Publicum gegenüber einig
sind. Ueber Einzelfragen streiten, heisst die Haupt¬
frage verkennen. Auf zw'ei Dinge kommt es doch
nur an: Das Bedürfniss nach Volksheilstätten als ab¬
solut vorhanden anzuerkennen und die Geldfrage zu
lösen! Wenn auch keine Einigung erzielt ist über die
Fragen, ob die Anstalten alcoholfrei sein sollen oder
nicht, ob Unfallkranke aufgenommen werden sollen
oder nicht, ob die Anstalten Arbeitssanatorien sein
sollen oder nicht: Lassen Sie übeihaupt erst eine
Anstalt erstehen, — gefüllt, ja überfüllt wird sie nur
zu bald sein. Nur lau sein dürfen wir nicht Wir
Aerzte dürfen keinen Augenblick nachlassen jn der
Propaganda und müssen, jeder so w'eit er kann, auch
Geldopfer bringen. Eine gewisse Begeisterung
muss da sein; ohne die kommen wir nicht zum
Ziele. Man muss — und dies gilt vor allem den
beatis possidentibus gegenüber! — dem grossen
Publicum die Ueberzeugung beibringen, dass ein nam¬
haftes Opfer für eine gute Sache viel mehr werth
ist, als eine unentschlossene und polypragmatische
Zersplitterung der Wohlthätigkeit! Und es soll sich
auch gar nicht allein nur um selbstlos gebende Mild-
thätigkeit handeln: Gar viele, die ein Unternehmen
zur Errichtung einer Volksnervenheilstätte unterstützen,
werden damit direct ihr eigenstes Interesse wahren.
Ich denke dabei an den ganzen breiten Mittel¬
stand. Denn, wie ich im letzten Jahre besonders
betont habe, sollen die angestrebten Sanatorien nicht
nur für die ganz Armen, sondern auch für die
Minderbemittelten der gebildeten Klassen
bestimmt sein, in der Art, wie wir es im Haus
Schönow verwirklicht sehen. Man wird also beim
Sammeln von Geldmitteln einem grossen Theile derer,
die als Geber in Betracht kommen, mit gutem Ge¬
wissen zurufen können: Tua res agitur!
Meine Herren! Glauben Sie nicht etwa, dass ich
mir denke, die Mitglieder der heutigen Versammlung
sollten nun nach Art der Bettelmönche im Lande um¬
herziehen und Beiträge für die Errichtung einer
Volksnervenheilstätte sammeln! Die Mobilisierung der
privaten Wohlthätigkeit muss natürlich nach sorgfältig
erw ogenem Plane geschehen. Ich halte die Gründung
von H ei lstätten verein cn für den gangbarsten
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIET.
Weg. — Es gehört dies aber nicht mehr in den
Rahmen unserer heutigen Aufgabe.
Für heute haben Herr Sanitätsrath W il d e rm u th
und ich uns entschlossen, Ihnen folgende Thesen zur
Abstimmung vorzulegen:
1) Die Versammlung südwestdeutschcr Irrenärzte
erachtet die Errichtung von Volksnervenheilstätten
als eine Nothwcndigkeit.
2) Es ist die Errichtung von selbständigen
Instituten zu dem genannten Zwecke anzustreben.
M i t t h e i
— Der Rheinische Prov.-Landtag hat in voriger
Woche die nachfolgende Vorlage genehmigt.
„Bericht und Antrag des 'Pro vin zialaus-
Schusses, betreffend Verbe s s c r 11 n g
der Verhältnisse der Irrenärzte.
Seit einer Reihe von Jahren ist die Wahrnehmung
gemacht worden dass sich zu den Stellen der Assi¬
stenz- und Volontaiiärzte an den Provinzial-IIeil- und
Pflegeanstalten trotz aller Ausschreibungen in den
Fachblättern auflallend wenig, zuweilen auch gar keine
Bewerber meldeten. Dieselbe Erscheinung zeigte sieh,
wie die ungestellten Ermittelungen ergeben haben,
in allen anderen Provinzen. Es konnte somit ge¬
schlossen werden, dass Umstände vorliegen mussten,
welche den jungen Medicinern den Eintritt in die
psychiatrische Laufbahn als nicht erstrebensweith er¬
scheinen Hessen, zumal nach den inzwischen gemachten
Erfahrungen anzunehmen ist, dass es sich hierbei
nicht um zufälligen und vorübergehenden Mangel an ge¬
eignetem Nachwuchs, sondern um tiefer begründete und
weit verbreitete Anschauungen über den irrenärztlichen
Beruf und die den Anstaltsärzten unter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen gebotenen Aussichten handelt.
Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung,
dass die Sicherung eines durchaus tüchtigen, für die
ihm gestellten schwierigen und hohen Aufgaben von
innerem Interesse beseelten und begeisterten Acrzte-
personals eine der vornehmsten Aufgaben der Ver¬
waltung auf dem Gebiete des Irrenwesens sein muss,
wenn nicht die ausserordentlichen Opfer, welche grade
zur Hebung dieses Verwaltungszweiges gebracht worden
sind und noch weiter gebracht werden müssen, mehr
oder weniger verloren sein sollen.
Zur Erreichung dieses Zieles ist es nothwendig,
1. zunächst die Ursachen klar zu erkennen,
welche zur Zeit der Gewinnung eines aus¬
reichenden Angebots befähigter Aerzte ent¬
gegenstehen und
2. ferner, so weit als möglich diejenigen Mittel
zu ergreifen, welche zur A b h iil fe des jetzigen
Uebclstandes geeignet erscheinen.
I.
Als Ursachen der Abneigung gegen den Eintritt
in den Dienst als Irrenanstaltsarzt sind im Wesent¬
lichen folgende anausehen: t
Digitized by 0,0 QÖ l£
3) Die Versammlung erwählt aus ihrer Mitte eine
Commission, deren Aufgabe es ist, die Bewegung zur
Errichtung von Volksnervenheilstätten im geographi¬
schen Bereiche der Versammlung zu fördern. Die
Commission hat über ihre Thätigkeit nach Ablauf
von zwei Jahren an die Versammlung zu berichten. *)
*) Nach der dem Referate folgenden längeren Discussion
wurden alle drei Thesen einstimmig angenommen. In die
Commission wurden gewählt: Bieberbach-Heppenheim,
H ecke r - Wiesbaden , N eutn a n n - Karlsruhe, Vorster-
Stephansfcld und W ildermut h-Stuttgart.
«— - -
1 u n g e n.
1. die im Publicum noch immer weit verbreitete
ungünstige Meinung über Irrenanstalten im Allge¬
meinen und über Irrenärzte im Besonderen. Dieses
unheilvolle, oft bekämpfte und bei den vorzüglichen
Einrichtungen unserer modernen Irrenanstalten gänz¬
lich unbegründete Vnrurthcil findet leider immer wieder
neue Nahrung durch die Angriffe vorzugsweise solcher
Personen, die dem heutigen Irrcnwcsen persönlich
ganz fremd gegenüber stehen, und verleidet naturge-
inäss dem angehenden Mcdicincr leicht den Gedanken,
grade diese Specialwissenschaft zu seinem Lebensbe¬
ruf zu machen.
2. Die eigenartige Thätigkeit des Irrenarztes in
dem engeren Bereiche des Anstaltslcbens, welches
nicht jedem zusagt und jedenfalls ein so lebendiges
Interesse an der Psychiatrie voraussetzt, dass dagegen
manche Beschwerlichkeiten, ja Gefahren des Dienstes
und manche Entbehrungen gern in den Kauf ge¬
nommen werden.
3. Vor allem die ungünstigen Aussichten auf
Avancement und materielle Verbesserung. Die Stellen
der Direktoren sind w enige; sie zu erreichen, ist nur
Einzelnen beschicden. In den Rheinischen Anstalten
ist zwar manches geschehen, um die Lage der älteren
Anstaltsärzte unter dem Direktor zu heben; es sind
in jeder Anstalt ausserdem Direktor an beamteten
Aerzten mit Familienwohnung und Pensionsberechtig¬
ung auf Lebenszeit eingestellt: ein () b c r a rz t mit 4200
bis 5400 Mk. und ein sogenannter 3. Arzt mit 2700 bis
3900 Mk. Gehalt. Die weiteren ärztlichen Kräfte, deren
je eine auf 100 Kranke gerechnet wird, werden durch
Assistenz- und V o 1 o n t a i r ä r z t e gestellt. Auch
deren Stellung ist (Haushaltsplan für 1901/1902) ver¬
bessert w orden, indem sie jetzt mit 1500 Mk. anfangen
und alle 2 Jahre um 200 Mk. bis 2500 Mk. steigen.
Aber auch diese Regelung gewährt dem jungen
Psychiater nicht die gewünschte Aussicht. An einer
Anstalt von 700 Betten — der durchschnittlichen
Rheinischen Belegung — befinden sich jetzt 3 be¬
amtete Aerzte und 4 Assistenzärzte. Letztere werden
bei einem normalen Anfangsalter von 25-—20 Jahren
ihr Höchstgehalt als Assistenzärzte mit 33—3ö Jahren
erreichen. Sie sind auch dann nicht im Stande, sich
einen eigenen Haushalt zu gründen, da sie keine Fa-
milienw'ohnung erhalten; sie stehen wesentlich
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47.
ungünstiger, als beispielsweise der Rendant oder Ver¬
walter derselben Anstalt, die in diesem Lebensalter
in der Regel längst fest angestellt und im Genuss
einei Familienwohnung mit Garten, Brand, Licht und
Arznei sind.
4. In den von dem Landeshauptmann berufenen
regelmässigen Directoren-Conferenzen, wie auch in ver¬
schiedenen Zeitschriften, ist endlich darüber Klage er¬
hoben, dass z. Zt. den Anstaltsärzten nicht ausreichende
Mittel zu Gebote stehen, um sich wissenschaftlich
fortzubilden durch gelegentlichen Besuch von Fort¬
bildungskursen, psychiatrischen Vorträgen, Beschaffung
von Lehrmitteln und dergl.
II.
Vorstehende Gesichtspunkte können nach den zahl¬
reichen Auslassungen der Fachlitteratur als die ent¬
scheidenden und maassgebenden für die Beurtheilung
des geringen Andranges zur Psychiatrie angesehen
werden.
Hinsichtlich der Mittel zur Abhülfe ist im Ein¬
zelnen Folgendes zu bemerken und vorzuschlagen:
1. Das Misstrauen des Publikums gegen die Irren¬
anstalten und die Irrenärzte kann nicht besser be¬
kämpft werden, als durch die Fortsetzung des einge¬
schlagenen Weges: Verbesserung aller Einrichtungen
und Hebung des Aerzte- und Pflegepersonals.
2. Es muss danach gestrebt werden, nur tüchtige
Kräfte, die aus Liebe zur Sache in den Anstaltsdienst
eintreten, zu gewinnen. Zu diesem Zwecke müssen
allerdings zunächst
3. die materiellen Verhältnisse der Anstaltsärzte
günstiger gestaltet werden.
Dies wird sich am sichersten dadurch erreichen
lassen, dass die Anzahl der beamteten Aerzte ver¬
mehrt und dafür diejenige der Assistenzärzte ver¬
ringert wird. Es wird deshalb in Vorschlag gebracht,
in den grösseren Anstalten von mehr als 600 Kranken
(mithin unter Ausschluss von Andernach) zu dem
vorhandenen Oberarzt noch einen zweiten Oberarzt
mit den im Besoldungsplan vorgesehenen gleichen
Bezügen (4200—5400 Mk.) nebst Familienwohnung
einzustellen. Da hierfür ein Assistenzarzt mit durch¬
schnittlich 2000 Mk. fortfällt, so ist die financielle
Mehrbelastung nicht so schwerwiegend, während dafür
der erzielte dauernde Gewinn an guter ärztlicher Ver¬
sorgung ein ausserordentlich bedeutender sein wird.
An einmaliger Ausgabe würde die Gestellung einer
Familienwohnung erforderlich werden, für welche die
nöthigen Mittel in der vorgesehenen 2. Anleihe für
die Zwecke des Irrenwesens aufgeführt sind. (Druck¬
sachen. Nr. 29.) Es ist selbstverständlich, dass das
Auf rücken der jüngeren Aerzte in die Stellen der
beamteten Aerzte nur dann stattfindet, wenn es sich
um wirklich tüchtige und bewährte Kräfte handelt.
4. Zur Förderung der wissenschaftlichen Aus¬
bildung der Psychiater wird die Einstellung kleinerer
Summen in die Anstaltshaushaltspläne (von 500 Mk.
bei den grösseren Anstalten, 400 Mk. bei Andernach)
behufs Verwendung nach besonderer Anordnung des
Landeshauptmanns vorgeschlagen.
Wenn diese Maassnahmen getroffen sind, so wird
mit Sicherheit ajlqi berechtigten Anforderungen Ge-
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nüge gethan sein und auch der erwünschte Erfolg
nicht ausbleiben.
Es wird hiernach beantragt:
,,Der Provinziallandtag wolle beschliessen:
Zur Verbesserung der Verhältnisse der Irrenärzte
an den Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalten
1. die Einrichtung der Stelle eines zweiten
Oberarztes bei den Provinzial - Heil- und
Pflegeanstalten zu Bonn, Düren, Galkhausen,
Grafenberg und Merzig zu genehmigen;
2. der Einstellung der erforderlichen Mittel zur
Herstellung von Familienw'ohnungen für diese
Beamten in die vorgesehene 2. Anleihe für
die Zwecke des Irrenwesens u. s. w. (Druck¬
sachen. Nr. 29) zuzustimmen;
3. die in den Haushaltsplänen der einzelnen
Provinzial - Heil- und Pflegeanstalten unter
Titel II am Schluss vorgesehenen Ausgaben
von 500 bezw. 400 Mk. zur wissenschaft¬
lichen Fortbildung der Anstaltsärzte zu be¬
willigen.“
D üsseldorf, den 1. October 1002.
Der Pr o vi n z ia 1 a us s c h u s s:
O. Graf Beissel von Gymnich, Dr. Klein,
V orsitzender. Landeshauptmann.“
— Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten. Sitzung vom 12. Januar 1903.
Vorsitzender: Jolly. Schriftführer: Bernhardt.
1) Jacobsohn: Demonstration eines Gips¬
modelles der menschlichen Grosshimhemisphäre.
Vortr. demonstrirt Gipsmodelle, die nach folgender
Methode angefertigt sind. Nach Entfernung der
Pia werden sämmtliche Furchen mit flüssigem Paraffin
(50—6o°), nachdem ihre Wände auseinandergebogen
sind, ausgegossen ; dasselbe erstarrt momentan und
giebt so einen getreuen Abdruck. Alsdann wird ver¬
flüssigter König’scher Lack über die ganze Fläche
gegossen, der einen festen Mantel der Oberfläche
bildet. Aus diesem Negativ wird die Hemisphäre,
was leicht gelingt, entfernt. Das Positiv wird dann
mit kalt angerührtem Gipsbrei hergestellt. Ist der
Gips völlig erstarrt, bringt man ihn mit dem Negativ
in heisses Wasser, in dem sich Paraffin und Lack
wiederum lösen. Die dann noch nöthigen kleinen
Reparaturen werden an dem Positiv am besten an
der Hand des inzwischen conservirten Objects vor¬
genommen. Vortr. glaubt, dass eine grössere Anzahl
so hergcstellter Modelle am natuigetreuesten eine
vergleichende Betrachtung der Furchen Verhältnisse
des menschlichen Hirns ermöglicht, besser als con-
servirte Präparate das gestatten. Auch wird hier¬
durch eine einigermassen exacte Messung der Ober¬
fläche der Hemisphäre möglich.
2) Benda: Markscheidenfärbung der peripheri¬
schen Nerven.
Vortr. empfiehlt eine schon vor I 1 / 2 Jahren von
ihm in der physiologischen Gesellschaft für das Cen¬
tralnervensystem beschriebene Färbung als besonders
geeignet für peripherische Nerven. Gefrierschnitte
von in io 0 ^ Formalin gehärtetem Material (das nicht
' Origiralfrom
HARVARD UNIVERSITY
1903 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
mit Alcohol vorbehandelt sein darf) werden mit
Böhmer’schem Haematoxylin überfärbt (mindestens
2 4 Std.), dann mit einer oxydirenden Flüssigkeit, am
besten Weigert’schem Gemisch von Borax blutlaugen-
salzlösung differencirt. Alsdann Entwässerung in
steigendem Alcohol, Aufhellung mit Creosot, Abtrock¬
nung, Ueberspülung mit Xylol, Einschliessung in Bal¬
sam. Nachfärbungen der Kerne und der Ganglien¬
zellkömungen gelingen mit Anilinfarben, denen sich
dann die Entwässerung u. s. w. anschliesst. Zerfal¬
lene Markscheiden können mit Fettfarben (Scharlach,
Sudan) dargestellt werden, alsdann ist Einschliessung
in Glycerin erforderlich. Mit dieser Methode kann
man schon 2—3 Tage nach Gewinnung des Materials
Markscheidenfärbung erzielen. Die Methode ist für
periph. Material besser und sicherer als für centrales.
Die Differencirung kann fortgesetzt werden, bis der
ganze Schnitt fast farblos resp. gelb erscheint. Man
thut gut vor Abschluss der Differencirung den Schnitt
noch in Wasser unter dem Microscop zu controlliren.
Vortr. demonstrirt eine Reihe von normalen und
pathologischen Präparaten, die das Verfahren illu-
striren.
3) Discussion über den Vortrag der Herren von
Leyden und Grunmach (vgl. Sitzung vom December
1902).
Lewy-Don demonstrirt eine grössere Reihe
von Röntgenbildern, an denen er zeigt, dass auch bei
gesunden Individuen die Wirbelsäule sehr verschieden
schattirt erscheint, und dass die verschiedensten Mo¬
mente am aufgenommenen Object und ebenso eine
Reihe von technischen Momenten Verschiedenheiten
bedingen, die von Grunmach nicht genügend gewür¬
digt erscheinen. Er hält daher die Bilder des letz¬
teren nicht für hinreichend beweisend, um Schlüsse
auf Osteoporose zu ziehen. Redner demonstrirt die
verschiedenen Entwicklungsphasen, das Aussehen der
erwachsenen Wirbelsäule bei wechselnden Arten der
Aufnahmen, besonders Bilder der Lcndenwirbelsäule,
zeigt, dass der Rückenmarkskanal sich gamicht selten
deutlich ausprägt und demonstrirt schliesslich ver¬
schiedene pathologische Bilder (Erweiterung der Len¬
denwirbelsäule bei Hydromyelus, Spina bifida, halb¬
seitige Kreuzbeindefecte), ausserdem Osteoporose bei
tabischen Fussgelenken, an den Hautknochen u. a.
Grunmach bemerkt, dass er Bilder, wie die
eben demonstrirten bei normalen Individuen zwischen
dem 20. und 60. Lebensjahre (vor- und nachher
kommen normalerweise Aufhellungen vor) nicht gesehen
habe und glaubt, dass Herrn Lewy-Don technische
Fehler untergelaufen seien. Er habe bei der Deutung
seiner Bilder mit allen Cautelen gearbeitet, stets mit
gleichen Röhren gearbeitet und sich nie auf eine
Aufnahme beschränkt, sondern der Controlle halber
stets mehrere gemacht.
4) Reich: Zur feineren Anatomie der Nervenzelle.
Vortr. spricht über die feinere Anatomie der
Zellen der Schwann’schen Scheide der peripherischen
Nerven. Er demonstrirt an den Kernen derselben
(Ranvier’sche, Remak’sche Kerne) Kernmembran-,
Kerngerüst- und Kernkörperchen, ferner den Zellen
eigcnthümliche, mit basischen Farbstoffen sich inten-
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siv färbende Granulationen, die, wie sich aus ihren
färberischen und chemischen Eigenthümlichkeiten er¬
weist, aus einem dem Protogon der Nerven nahe¬
stehenden Stoffe bestehen. Eine andere Art von
Körnern (schon von Aisholz näher beschrieben)
dieser Zellgebilde haben die Eigenschaft, sich mit
sauren Anilinfarbstoffen zu färben. Zusammengehalten
werden diese unter pathologischen Verhältnissen ver¬
mehrten Körnchen durch ein einfaches wabiges Netz,
das an der Peripherie der Zelle unmittelbar in die
innerste Nervenscheide übergeht und durch Aufspal¬
tung der sonst structurlosen Membran entstanden zu
denken ist.
Die basiphilen Granula wie auch das Netzwerk
treten bald nach der Pubertätszeit in den Nerven auf
und finden sich auch bei Thieren, sind also wohl
physiologische Bildungen.
Die Befunde des Vortr. sprechen dafür, dass es
sich bei den Zellen der Schwann’schen Scheide nicht
um bindegewebige, sondern um specifische nervöse
Gebilde handelt. Martin Bloch (Berlin).
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Ol live: Le medecin legiste. Nantes 1902.
Erscheint Wdi
ictionellrn I heil verantwortlich: Oberarzt i )r, J . ürcsler, Kraschnitz (Scb*f^|et^J|.
Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag yoruCarl M^rhold in Halle a. S
HD 1 -J vEKblTr
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Moerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazsrini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Emst Schultse, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice ^Seine). Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 48 . 28. Februar. __ 1903 ,
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), su richten.
Inhalt. Originale: Ueber Behandlung der Epilepsie nach der Methode Toulouse-Richet. Von den Assistenzärzten Dr. Jenö
Halmi und Dr. And. Bagarus (S. 525). — Mittheilungen (S. 530). — Referate (S. 532). — Personalnacliricht (S. 532).
Ueber Behandlung der Epilepsie nach der Methode Toulouse-Richet.
Auf Grund von Versuchen an der Irrenabtheilung des allgemeinen Krankenhauses des Bekeser Comitats
(Primararzt Dr. K. Pandy).
Von den Assistenzärzten Dr. Jenö Halmi und Dr. And. Bagarus.
r\ie auf die Heilung der Epilepsie gerichteten Ver-
suche bestätigen in den letzteren Jahren immer
mehr jene hundertjährige Erfahrung, dass wir die
Epilepsie nur lindem, jedoch nicht heilen können.
Die von Jahr zu Jahr als wirkungsvoll gepriesenen
Heilmethoden haben sich der Reihe nach als wirkungs¬
los, bezw. nicht besser als die alten, ja sogar des
öfteren als gefährlich erwiesen. Insbesondere gelangte
man zu traurigen Erfahrungen mit einer der letzten,
der Flechsig’schen, mit Opium combinirten Brom-
Behandlung, welche seit 1893 seitens mehrerer Au¬
toren für eine werthvolle Medication erklärt wurde.
Im Jahre 1897 mahnte Flechsig*) selbst, den Werth
der Cur nicht zu überschätzen, erklärte sogar, dass
sein Schüler Salzburg, welcher zu allererst ein-
*) Ncurol. Central-Blatt.
gehendere Mittheilungen gemacht hatte, seinen Artikel
mit einem etwas jugendlichen Enthusiasmus geschrie¬
ben habe. Linke, der vordem das Verfahren an¬
empfohlen, sah später ebenfalls seine Täuschung ein
und als später mehrere rasch aufeinander folgende
Todesfälle als Resultat der neuen Heilmethode ver¬
zeichnet wurden, wurde es zweifellos, dass man sich
getäuscht habe.
Diese in der Geschichte der Heilung der Epilepsie
seit Galenus sozusagen gesetzmässig sich wiederholen¬
den Täuschungen ermuthigten, in Anbetracht auch
noch der allemeuesten Daten Sinkler’s, nach wel¬
chen die epileptischen Krämpfe auf verschiedene
Veranlassungen 2 bis 29 Jahre ausbleiben können,
um dann wieder zurückzukehren, ferner des Um¬
standes, dass die Anempfehler der neueren Mittel
□ igitized by Google
Original fram
HARVARD UNiVERSITY
526 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4S.
nur von 3—4 monatlichen, höchstens von einjährigen
Erfahrungen Rechnung geben können, nicht sehr
zum Versuche des allerneucstcn Heilverfahrens.
Näcke empfahl jedoch auf Grund der an Ort und
Stelle gewonnenen Eindrücke die sogenannte Tou¬
louse-Richet’sche Cur der Epilepsie so warm an,
dass wir, eben mit Rücksicht darauf, dass „Epilcpsia
casus tristissimus“, mit derselben dennoch Versuche
anstellten.
Die Methode besteht bekanntlich darin, durch
Entziehungen des Kochsalzes aus der Nahrung für
die Wirkung des Brom in dem Organismus günstigere
chemische Verhältnisse zu erzielen; das Brom nimmt
in gewissem Maasse die Stelle des in den Geweben
befindlichen Chlors ein und wirkt es so bei dieser
Diät nicht nur stärker, sondern verbindet es sich mit
dem Organismus auch inniger und wirkt hierdurch
zugleich beständiger.
Wir glaubten den Werth des zu untersuchenden
Heilverfahrens in folgenden Criterien zu erkennen:
1. wenn wir mittelst desselben Leidende mit
öfteren Anfällen und Kranke in grösserer Anzahl
heilen können;
2. wenn die allfällige Besserung die zweifellose
Folge der Behandlung ist, unabhängig von spontanen
Remissionen und von anderen mit der Cur indirect
zusammenhängenden Heilfactoren; endlich
3. wenn die Wirkung des Heilverfahrens längere
Zeit dauert und die bisher erzielten Erfolge über¬
trifft.
Bei unseren Versuchen bedienten wir uns jener
Anfallsverzeichnisse, welche in unserer, Ende 1809
eröffneten Irrenanstalt (Präsenzstand 358) seit 1. Mai
1 c )öo über durchschnittlich 03 Epileptiker systematisch
geführt werden. — Wir begannen mit der Heilme¬
thode am 1. Mai 1901; 15 Kranke unterwarfen sich
der Cur, worunter 9 mit mehr als 12 und 6 mit
3 — 6 Anfällen monatlich. Bei den ersteren kam bei
regelmässiger Bromtherapie jeden zweiten bis dritten
Tag ein Anfall vor, bei den Letzteren jeden fünften
bis sechsten Tag ein Anfall.
Aus unserer Tabelle ist ersichtlich, dass bei diesen
15 Kranken bei regelmässiger Bromtherapie, bezw.
auch ohne jede Veränderung derselben, hochgradige
spontane Schwankungen vorkamen. So variirt z. B.
bei unserem Kranken 1. A. S., der zum Versuche
am zweckmässigstcn erschien, während 6 Monaten
die Zahl der monatlichen Anfälle zwischen iq und
31, ja es blieben sogar einmal die Anfälle einen
Monat lang gänzlich aus, bald wieder hatte er monat¬
lich nur 3 Anfälle. — Aehnlich ist der Fall IV;
ja es sind mehr-weniger alle unsere Fälle ähnlicher
Art, indem bei einzelnen Kranken die Zahl der An¬
fälle monatlich zwischen. 1 bis 7 und zwischen 3 Bis
104 variirt. — Unsere Tabelle mahnt uns natürlich
daran, dass die unter der Toulouse-Richet’schen CTir
sich ergebende Besserung, bezw. die Verminderung
der Zahl der Anfälle nur in dem Falle der Cur bei¬
gemessen werden kann, wenn die Besserung bei der
überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Fälle sich
ergiebt. Und dass wir selbst in diesem Falle nicht
unbedingt sicher sind, beweist dieselbe Tabelle, welche
zeigt, dass die Gesainmtzahl der Anfälle in einzelnen
Monaten ohne jede Veränderung der Therapie zwi¬
schen 164 und 365 variirt, ja es haben sich sogar
im Januar unter 15 Fällen 9 spontan gebessert.
Die II. Abtheilung unserer Tabelle bezieht sich
auf die durch Entziehung des Brom erfolgten Ver¬
änderungen. Wir haben bei unseren Kranken näm¬
lich zwei Monate vor Beginn der Toulouse-Richet-
schen Cur die Verabreichung des Brom eingestellt,
theils um uns von dem Werthe der bisher befolgten
Bromtherapie zu überzeugen, theils auch deshalb, da¬
mit das im Organismus sich angehäufte Brom mög¬
lichst entfernt werde und auf diese Weise ein solches
Verhältnis» zu Stande komme, als wenn man die
neue Methode bei solchen Kranken versuchen würde,
die bisher kein Breun genommen-haben. -
Aus den derart erhaltenen Daten ergiebt sich
ohne Zweifel, dass in Folge Entziehung des Brom die
Zahl der Anfälle anstieg; bei 15 Kranken ist die
Zahl auf 483 bezw\ 521 angestiegen, während früher
im Laufe von 10 Monaten die grösste monatliche
Zahl der Anfälle 365 betrug.
Es darf aber nicht ausser Acht gelassen werden,
dass in Folge der Entziehung des Brom die Zahl
der Anfälle bei 3 Kranken sich verminderte und bei
7 (1. A. S., 2. B. J., 6. L. M., 7. P. M., 9. St. J.,
14. P. Zs, 15. St. E.) sich bloss bedeutend steigerte.
Hingegen sind bei dem Kranken Nr. 4 in Folge
Entziehung des Brom die Anfälle von 70 auf 157
bezw*. 198 gestiegen; als w ? ir aber bei diesem Kranken
das die Haut zu durchbrechen beginnende necro-
tische, einer spontanen Schenkelfraktur entstammende
Knochenstück resecirten, fiel die Zahl der Anfälle
bei gänzlicher Entziehung von Brom monatlich auf
3—6.
Dieser Theil unserer Tabelle bezeugt, dass es
sich bloss bei Epileptikern mit sehr zahlreichen An¬
fällen und auch bei diesen nicht immer der Mühe
lohnt, die bis jetzt übliche Bromtherapie anzuw r enden.
Sydney-Short und Völker sind jüngst zu glei¬
chen Resultaten gelangt.
Was nun eigentlich unsere auf die Toulouse-
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152 | 121
5^8
Richet’sche Cur bezughabenden Erfahrungen anbe¬
langt, so schicken wir voraus, dass wir den Kranken
täglich 2 1 Milch, 2 Eier, den Männern 750, den
Frauen 500 g ungesalzenes Brot verabreichen Hessen,
ausserdem bekam jeder Kranke 2 Wochen hindurch
täglich 2 Löffel der bei uns üblichen 10 °/ 0 Erlen-
mayer’schen Bromsolution, was beiläufig 3 g Brom
entspricht.
Nach zwei Wochen verminderten wir diese Brom¬
portion auf die Hälfte.
Aus der III. Abtheilung unserer Tabelle ist zwei¬
fellos zu ersehen, dass während der auf diese Weise
durchgeführten neuen Heilmethode die Anfälle bei
7 Kranken sich verminderten und bei 6 sich ver¬
mehrten ; 2 Kranke sind gestorben. — Die Gesammt-
summe der Anfälle während des ganzen Versuchs¬
monats betrug 273, somit in der That beinahe die
Hälfte als während der Zeit, in welcher das Brom
entzogen wurde; ein ausschlaggebender Werth darf
indessen dieser Veränderung, unserer Meinung nach,
nicht zugeschrieben werden, da die I. Abtheilung der
Tabelle zeigt, dass die Zahl der gesammten Anfälle
bei regelmässiger Diät und Bromtherapie unter 10
Monaten sechsmal eine geringere war, als während
dieser Zeit. — Wenn man aber die einzelnen, schein¬
bar gebesserten Fälle näher untersucht, so findet man
auch unter diesen keinen einzigen, bei dem die Re¬
missionen auch spontan nicht ebenso gross oder noch
bedeutender gewesen wären.
Als wir zur gewöhnlichen Bromtherapie zurück¬
kehrten, stieg die Zahl der sämmtlichen Anfälle bei
den verbliebenen 13 Kranken auf 324, fiel aber
später, trotzdem wir bei 5 Kranken das Brom gänz¬
lich wegliessen, auf 219, sogar auf 209.
Aus der III. Abtheilung der Tabelle ist zu sehen,
dass bei unserem Kranken Nr. 4, welcher früher
während der Entziehung von Brom monatlich 198
Anfälle hatte, bei der olygochlorischen Therapie die
Zahl der Anfälle in einem halben Monate sich auf
48 verminderte, in der zweiten Hälfte des Monats
blieben die Anfälle gänzlich aus; aus der I. Abthei¬
lung der Tabelle indessen ergiebt sich, dass die Zahl
der monatlichen Anfälle des Kranken zwischen 3 und
106 schwankte. Bei demselben Kranken blieben die
Anfälle in der 3. und 4. Woche gänzlich aus. Man
muss indessen hier berücksichtigen, dass dieser Kranke
in Anbetracht der während der abromischen Zeit an¬
gestiegenen Anfälle dreimal grössere Bromportionen
bekam als die anderen Kranken, anderestheils, dass,
wie bereits erwähnt, nach der Resection des necro-
tischen Knochens, trotz der Entziehung des Brom
[Nr. 48.
und der gewöhnlichen Diät sich die Zahl der Anfälle
monatlich auf 6 — 3 verminderte.
Das Körpergewicht der Kranken hat sich laut
den systematisch geführten Verzeichnissen nicht we¬
sentlich verändert; bei einigen Kranken ist es un¬
bedeutend gestiegen, bei anderen unbedeutend ge¬
sunken.
Abgesehen von der, wie bereits bemerkt, nicht
besonders bedeutenden Abnahme der Zahl der An¬
fälle bei der olygochlorischen Bromtherapie beobachteten
wir eine zweifellos gesteigerte Wirkung auf das Ner¬
vensystem. Unsere Versuchskranken wurden ruhiger,
unempfindlicher; auch früher muntere Patienten sassen
unthätig und niedergeschlagen zwischen den Anderen,
es kam die Verlangsamung der psychischen Processe
bei einzelnen sogar in Gestalt von wahren Stupor
und Delirien zum Ausdruck.
Wir haben bereits oben erwähnt, dass diese, alle
Functionen des Nervensystems herabsetzende und
auch durch Thierversuche erwiesene Wirkung des
Brom bei 2 unserer Kranken eine letale Intoxication
herbeiführte.
Aus der Geschichte eines dieser Patienten (Nr. 10
G. R., 40 J. a., ledig) erwähnen wir Folgendes: An¬
geblich litt bereits ein Onkel an Epilepsie, Patientin
selbst hat seit ihrem ersten Lebensjahre epileptische
Anfälle, welche seit ihrem 35. Jahre sich so ver¬
mehrten, dass sie arbeitsunfähig wurde und nahmen
in Verbindung damit auch ihre geistigen Fähigkeiten
bedeutend ab. — Vom 1. Jan. 1894 bis 25. Jan.
1895 hatte Patientin manchmal täglich auch mehrere
Anfälle, wonach sie 2 — 3 Tage lang ganz verwirrt
war, lachte, weinte, allerlei unsinniges Zeug verübte
und endlich in eine Stunden lang andauernde Apa¬
thie verfiel, während welcher Zeit sie mit cyanotischem
Gesichte zu Bette lag. — Seit 1896 hatte sie monat¬
lich 3 — 34 Anfälle, einmal lag sie zwei Tage hin¬
durch ganz bewusstlos. Wir pflegen sie in unserer
Anstalt seit 13. November 1899; bei uns hatte sie
bei der erwähnten Bromtherapie monatlich 1 — 11
Anfälle. — Am 23. Februar 1901 stellten wir die
Bromtherapie ein, trotzdem vermehrten sich ihre An¬
fälle nicht. — Am 1. Mai begannen wir die Tou¬
louse-Richet’sche Cur mit 3 g Brom. — Bis zum 7.
desselben Monats befand sich die Patientin ziemUch
wohl und hatte keine Anfälle. Am 17. stellten wir
in Folge der eingetretenen Schwäche, Apathie und
stuporösen Zustandes die Verabreichung des Brom
ein, Hessen jedoch die Diät auch weiterhin einhalten,
ergänzten dieselbe sogar um 6 Decil. weissen Kaffee.
Am 24. Mai trat hochgradige motorische Unruhe
auf, Patientin wurde ganz verwirrt, aufgeregt, absti-
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nirt. Von diesem Tage an bekam Patientin täglich
2 Esslöffel einer 10% Kochsalzsolution, was 9 g
Kochsalz entspricht. — Trotz dieser Behandlung
wurde Pat. am ganzen Körper cyanotisch, der Puls
wurde immer frequenter, sehr schwach und trat trotz
der Verabreichung von Digitalis der Exitus ein. Als
Todesursache mussten w*ir eine infolge von Brom¬
in toxication eingetretene Herzschwäche annehmen.
Der zweite letal geendete Fall (Nr. 13. B. J.) be¬
traf eine 42 Jahre alte Frau. — Dieselbe litt an
Epilepsie seit ihrem 18. Lebensjahre, die Anfälle er¬
schienen während ihres Aufenthaltes in der Anstalt
monatlich 10—14 mal. Im Januar 1901 hatte sie
11 Anfälle. — Ende Februar trat in Folge der Ent¬
ziehung des Brom ihre Bromacne zurück, Pat. ver¬
hielt sich ruhig und vernünftig, sie ist orientirt, strickt
den ganzen Tag. Bis 1. Mai vermehrte sich wäh¬
rend der Entziehung des Brom die Zahl ihrer An¬
fälle nicht beträchtlich, bis 6. Mai fühlte sie sich
ziemlich wohl, am 13. Mai beklagte sie sich über
peinliche Halsschmerzen, wurde dann stuporös, der
Puls wurde klein und immer frequenter, pro Minute
96, weshalb wir auch das Brom einstellten und die
Kranke in’s Bett legten. Am 20. Mai wurde Pat.
trotz Entziehung des Brom immer schwächer, ganz
stuporös, sie delirirt, iiess Urin und Stuhl unter sich,
zeitweise erscheint eine hochgradige motorische Un¬
ruhe. — Mit Verdacht darauf, dass diese schweren
Erscheinungen nicht nur von der gesteigerten Brom¬
wirkung, sondern auch von der Entziehung des Koch¬
salzes herrühren könnten, gaben wir der Kranken
täglich auf 3 Dosen vertheilt insgesammt q g Koch¬
salz in Wasser aufgelöst und stellten ihre gewöhn¬
liche, mit Kaffee, Braten und Compot verbesserte
Kost zurück. Trotzdem wurde die Kranke immer
schwächer, bekam tiefen Decubitus, im Urin erschien
in geringer Menge Eiweiss. — Trotz Digitalis waren
wir nicht im Stande, die immer fortschreitende
Schwäche aufzuhalten; an den Extremitäten der Kran¬
ken erschienen Oedeme, es trat mässige Cyanosis
auf und am 18. Juni verschied die Kranke. — Als
Todesursache wurde ebenfalls durch Bromin toxication
verursachte und durch Entziehung von Kochsalz be¬
schleunigte Herzschwäche angenommen.
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Mit der auffallenden Verschlimmerung des Zu¬
standes dieser Kranken hielten wir es für nothwendig,
uns davon zu überzeugen, ob die Bromintoxication
oder die Entziehung des Kochsalzes, bezw. beide zu¬
sammen es seien, die die Erscheinungen verursachten
und versuchten wir infolgedessen die olygochlorische
Milchdiät ohne Verabreichung von Brom bei zwei
nicht epileptischen unserer Kranken. — Bei diesen
Kranken traten nach zwei Tagen allgemeines Un¬
wohlsein und Erscheinungen von allgemeiner Schwäche
ein, so dass wir auch auf entschiedenen Wunsch der
Kranken von der Fortsetzung der Versuche abstehen
mussten.
Wir finden es für nothwendig, ausser dem Obigen
noch zu erwähnen, dass wir bei einem unserer Kran¬
ken, bei welchem von Zeit zu Zeit 8— 10 Tage
dauernde, ausserordentlich starke, mit Brom durch¬
aus nicht zu besiegende psychische Aufregungen er¬
scheinen, auch mit der Verabreichung von olygochlo-
rischen Bromdosen keinen Erfolg erzielten. —
Ende Mai 1901 stellten wir die olygochlorische
Therapie bei unseren sämmtlichen Kranken ein, nicht
nur deshalb, weil wir keine objective Besserung be¬
obachteten, sondern auch deshalb, weil die Kranken
die Fortsetzung der Cur entschieden verweigerten.
Nach alldem können wir unsere Resultate darin
zusammenfassen, dass die Toulouse-Richet’sche Heil¬
methode die Epilepsie weder heilt, noch bessert.
Wohl gelangt die Wirkung des Brom bei künstlicher
Entziehung des Chlor besser zur Entfaltung, doch ist
die stärkere Wirkung mit der Gefahr einer verschie¬
den schweren Brom Vergiftung verbunden und somit
kann die Methode nicht nur nicht empfohlen werden,
sondern ist dieselbe entschieden gefährlich.
Abgesehen hiervon scheitert eine längere Zeit
hindurch währende Anwendung auch an der Weige¬
rung der Patienten und ist die Methode schon aus
diesem Grunde illusorisch.
Nachtrag bei der Correctur.
Selbstverständlich haben wir bei unseren Versuchen sowie
bei der Beurtheilung unserer Versuchsresultate uns bemüht,
womöglich jede Art von Suggestion zu vermeiden.
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5.V> PSYCH IATRISCH- NEUKOL()GISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 48
Mittheilungen.
— Der Preuss. Justiz-Ministerial-Erlass vom
1. October 1902 im preussischen Abgeordneten¬
haus. Sitzung vom 12. II. 1903.
Abgeordneter Dr. Kirsch (Düsseldorf, ('entrinn):
„Meine Herren, ich möchte, eine Verfügung des
Herrn Justizministers aus dem vorigen fahre einer
Critik unterziehen. Dieselbe hat die Gerichte, be¬
sonders also die Amtsgerichte, angewiesen, in Ent¬
mündigungssachen hauptsächlich den Kreisarzt als
Sachverständigen zuzuziehen. Sie hat sich dabei auf
Bestimmungen der Civilprocessordnung bezogen, in¬
dem es im $ 404 heisse, dass, wenn für gewisse
Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt
seien, andere Personen nur dann gewählt werden sollen,
wenn besondere Umstände es erfordern — und cs
wird davon ausgegangen, dass ein derartiger Sachver¬
ständiger der Kreisarzt sei. Meine Herren, ich weiss
nicht, ob diese Heranziehung des § 404 ganz gerecht¬
fertigt ist bezüglich des Kreisarztes, der ja nicht Sach¬
verständiger für eine bestimmte medicinische Frage
ist, sondern der eigentlich für alle derartigen Fragen,
die in seinem Kreise Vorkommen, als Sachverständiger
aufzutreten hat.
Ich habe mir, als ich die Verfügung zunächst zu Ge¬
sicht bekam, gedacht: es solle damit ein gewisses Aus-
kunftsmiltel geschaffen werden, um die Einnahmen des
Kreisarztes zu vermehren, der ja eine, wenn auch
jetzt erhöhte, doch immer noch nicht genügende Be¬
soldung aus der Staatskasse erhält. Andererseits muss
ich aber doch darauf aufmerksam machen, dass durch
die Zuziehung der Kreisärzte vielfach recht erhebliche
Mehrkosten der Staatskasse und auch den Parteien
erwachsen. In sehr vielen Fällen — ich glaube es
ist die Mehrzahl der Fälle — werden die zu Ent¬
mündigenden in Irrenanstalten untergebracht sein, und
dort sind die Irrenärzte meines Erachtens die be¬
rufenen Sachverständigen, die zuzuziehen sind. Mir
sind Fälle bekannt, in denen regelmäßig in der Irren¬
anstalt der betreffende Irrenarzt als Sachverständiger
zugezogen wird, der seine Vorbesuche macht, sein
Gutachten abgiebt und dafür 20 bis 30 Mk. liquidirt,
während, wenn aus der benachbarten Stadt der Kreis¬
arzt kommen sollte, dieser Betrag, sobald der Kreis¬
arzt Reisen unternehmen muss, um die Vorbesuehe
zu machen, sich verdoppeln, ja verdreifachen würde.
Nun ist ja in der Verfügung hervorgehoben : w enn
besondere Umstände es erforderlich erscheinen lassen,
könne der Richter auch andere Sachverständige er¬
nennen. Ich denke, dass eine möglichst weite Aus¬
legung dieser Vorschrift zulässig ist, und dass die
Gerichte, wenn eine erhebliche Kostenersparniss in
Frage steht, namentlich für die Staatskasse — indem
sie an die Oberrechnungskammer denken! — dann
ohne wx-itercs nicht den Kreisarzt, sondern den ge-
wissermaassen auch beamteten Arzt der Irrenanstalt
als Sachverständigen zuziehen. Ich hoffe, dass der
Herr Justizminister mit einer weitgehenden Auslegung
dieser Verfügung einverstanden sein wird.* 4
Der preuss. Justizminister, Dr. Schönstedt er¬
widerte hierzu:
„.. . Der Herr Abgeordnete Kirsch hat dann eine von
mir im September vorigen Jahres erlassene Verfügung
zur Sprache gebracht, die in ärztlichen Kreisen und
in der Presse vielfach angefochten worden ist, und
die sich auf die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger
in Entmündigungssachen bezog. Ich muss noth-
wendigerweise da ein bischen ausholen, um den
Herren klar zu machen, worum es sich eigentlich
handelt, und, wie ich hoffe, sie zu überzeugen, dass
die Justiz Verwaltung in dieser Sache ein berechtigter
Vorwurf nicht trifft.
Es war im Jahre 1899 aus Anlass der durch das
Bürgerliche Gesetzbuch und die Novelle zur Civil-
prozessordnung eingeführten Aenderung im Ent¬
mündigungsverfahren eine allgemeine Verfügung er¬
lassen worden, die den Amtsgerichten eine Weisung
und Winke bezl. des Verfahrens in diesen Sachen gab.
Der § 14 dieser Verfügung begann mit den Worten :
Bei den Ermittelungen in Entmündigungssachen
wird den Amtsrichtern die Beachtung nachstehender
Punkte empfohlen.
Unter diesen empfohlenen Punkten lautet dann
der zweite:
Die Wahl der Sachverständigen ist in erster Linie
auf solche Personen zu richten, welche auf dem
Gebiete der Irrenheilkunde den Ruf besonderer
Erfahrung besitzen. Sind solche Personen nicht
zu erreichen, so ist die Wahl wenn möglich auf
einen Kreisphvsikus (Kreisarzt) oder wenigstens
auf einen zu diesem Amte geprüften Arzt zu
richten.
Diese Verfügung enthielt an sich nichts Neues, sie
stimmte fast wörtlich mit einer älteren Verfügung vom
Jahre 1887 überein.
Nachdem am 1. April 1001 das Gesetz über die
Kreisärzte in Kraft getreten w r ar, wandte sich der
Vorstand des preussischen MedicinalbeamtenVereins
mit einer Beschwerde an den Herrn Minister der
Medi( inalangclegenheiten, in welcher er unter Berufung
auf die Bestimmungen des Kreisarztgesetzes den An¬
spruch erhob, dass nach den Vorschriften der Civil-
prozessordnung auch in Entmündigungssachen an
erster Stelle der Kreisarzt als Sachverständiger zuzu¬
ziehen sei. Nach diesem Gesetz ist der Kreis¬
arzt Gcriehtsarzt seines Bezirks, und in der Be¬
gründung zu dem Gesetze ist der Begriff „Gerichts¬
arzt“ ausdrücklich dahin erläutert: „also der öffentlich
bestellte ärztliche Sachverständige seines Bezirks“.
Darauf stützte sich der Medicinalbeamtenvcrein.
Der § 404 der Civilprozessordnung bestimmt nun:
Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen
und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch
das Prozessgericht. Sind für gewisse Arten von
Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so
sollen andere Personen nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände cs erfordern.
Der Herr Minister der Mcdicinalangelegenheiten
theilte mir diese Eingabe des Medicinalbeamtenvereins
mit. Es haben darüber Verhandlungen zwischen
unseren beiderseitigen Ressorts stattgefunden, die zu
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HARVARD UNiVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 531
dem Ergebniss geführt haben, dass wir den Anspruch
des Vereins als einen berechtigten anerkennen mussten.
Denn in des That liegt die Sache so, dass nach dem
Kreisarztgesetz, wie ich eben schon gesagt habe, der
Gerichtsarzt in ärztlichen Angelegenheiten Sachver¬
ständiger für seinen Bezirk ist, und dass deshalb der
$ 404 der Civilprozessordnung auf ihn Anwendung
findet. Diese Ueberzeugung hat mich bestimmt, im
Einverständniss mit dem Herrn Cultusminister, die
angefochtene Verfügung zu erlassen.
Nun ist in dieser Verfügung irrtümlicherweise
eine Weisung an die Richter erblickt worden. Das
erklärt sich nur dadurch, dass die ursprünglic he Ver¬
fügung, in die dieser neue Satz eingeschoben wurde,
den Lesern selbstverständlich nicht bekannt war. Wenn
sie den Eingang des Satzes, in den dieser Untersatz
einbezogen wird, gekannt hätten, wenn ihnen bewusst
gewesen wäre, dass darin nur stand: es wird den
Gerichten empfohlen —, dann hätte die Meinung
gar nicht aufkommen können, dass es sich um An¬
weisungen gehandelt habe. Eine Anweisung an die
Gerichte ist niemals beabsichtigt, und ich habe dies
sogar in einem Schreiben an den Herrn Cultusminister
ausdrücklich zum Ausdruck gebrac ht, indem ich dem¬
selben unter dem 18. August v. Js. schrieb:
Die Auswahl der Sachverständigen sei lediglich
Sache des richterlichen Ermessens, und dem
Justizminister stehe nicht zu, durch Weisungen
irgend welcher Art einzugreifen; es solle daher
durch Anführung des § 404 Absatz 2 der Civil¬
prozessordnung klargestellt werden, dass nur ein
Hinweis auf dieses Gesetz, nicht aber eine da¬
rüber hinausgehende Empfehlung beabsichtigt
worden ist.
Das ist also der Sinn und die Bedeutung dieser an¬
gefochtenen Verfügung. Ich glaube, dass man das
im Laufe der Zeit in ärztlichen Kreisen erkannt hat.
Wenigstens ist in einer ordentlichen Generalversammlung
des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz, die am
15. November v. J. stattgefunden hat, nach einem
mir von dem Verein selbst zugesandten Protokoll von
den Aerzten, die dort zu Worte gekommen sind —
dieser Punkt stand nämlich auf der Tagesordnung —
von einem ausdrücklich anerkannt worden: der Justiz¬
minister habe nicht anders handeln können. Ein
anderer Arzt hat gesagt: der Erlass sei aus dem Kreisarzt¬
gesetz und der Civilprozessordnung zu erklären. Ein
dritter Arzt, der wahrscheinlich Medicinalbeamter war,
hat erklärt: die frühere, von mir aufgehobene Ver¬
fügung sei ein Misstrauensvotum gegen die Medicinal-
beamten gewesen und sei von diesen als ein solches
sehr schwer empfunden. Der hat sich also vollständig
auf den Standpunkt der Justizverwaltung und der
Medicinalverwaltung gestellt. Die Generalversammlung
ist schliesslich zu dem Beschluss gekommen, die Sache
zunächst nicht weiter zu verfolgen, sondern sie dem
Verein deutscher Irrenärzte zur eventuellen weiteren
Veranlassung zu überweisen. Was daraufhin weiter
erfolgt ist, habe ich bisher nicht erfahren; aber ich
glaube, dass wir gut thun werden, abzuwarten, ob der
Verein der deutschen Irrenärzte sich noch veranlasst
sehen wird, die Verfügung noch weiter anzufechten.
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Mir hat der Gedanke vollständig fcrngelegen, die
Einnahmen der Medicinalbeamten auf diesem Wege
irgendwie zu erhöhen; ich habe aber den Einspruch
gegen den Wortlaut der früheren Verfügung als einen
nach dem Gesetz berechtigten anerkennen müssen,
und deshalb allein habe ich mich für verpflichtet ge¬
halten, die Verfügung so, wie sie lautet, zu erlassen.“
(Abdruck aus dem stenogr. Protokolle.)
— Der Heilwerth der Hypnose. Die auf
Veranlassung des preuss. Cultus-Ministers von der
Acrztekammer eingesetzte Hypnose-Commission, die
sich über den Heilwerth der Hypnose und über den
Umfang und den Erfolg ihrer Verwendung in der
ärztlichen Praxis äussern sollte, hat der Kammer ihren
Bericht vorgelegt.
Die Commission, der Professor Mendel, der Di-
rcctor Dr. Gock-Landsberg a. W., Dr. Munter und
Sanitätsrath Aschenhorn angehören, bestreitet im all¬
gemeinen die Bedeutung des Hypnotismus für die
Heilung von Krankheiten. Es sei von vornherein
ausgeschlossen, dass der Hypnotismus im stände sein
könne, Krankheiten zu heilen, durch welche eine or¬
ganische Veränderung eines Organs bedingt werde.
Auch die Möglichkeit der Heilung der Epilepsie
durch Hypnotismus wird u. a. auch auf Grund früherer
Versuche eines Commissionsmitgliedes bestritten. An¬
gebliche Heilerfolge werden auf falsche Diagnose zu¬
rückgeführt. Ebenso wird in Abrede gestellt, dass
die Hypnose Heilerfolge bei hysterischen Störungen,
bei denen sie bekanntlich eine sehr grosse Rolle
spielen soll, hervorbringen könne. Hysterie sei nur
zu heilen, wenn es gelinge, den Kranken gegen die
erhöhte Suggestibilität widerstandsfähig zu machen,
und bei einer solchen Krankheit könne natürlich ein
Mittel, das Suggestion auf Suggestion häufe, nichts
nutzen. Da endlich auch die functioncllen Geistes¬
krankheiten der hypnotischen Behandlung in der Regel
überhaupt unzugänglich seien, könne auch da von
einem Heilerfolge keine Rede sein.
Etwas anderes sei es mit der Anwendung des
Hypnotismus zur Beseitigung einzelner Symptome einer
Krankheit. Kein verständiger Arzt werde am Kran¬
kenbett auf eine suggestive Wirkung verzichten; dass
die Wachsuggestion und die Hypnose im stände seien,
die verschiedensten Kiankheitssymptome zum Ver¬
schwinden zu bringen — ohne aber die Krankheit
zu heilen — sei nicht zweifelhaft. Der Erfolg werde
bestimmt durch das grössere oder geringere Geschick
des Suggerirenden, durch äussere Umstände und durch
die Suggestibilität des Kranken. Gestehe man aber
der Ilypnotisierung einen Platz in der symptomatischen.
Therapie zu, so dürfe man doch nicht ausser Acht
lassen, dass sie im Gegensatz zu anderen Mitteln der
Suggestion nicht ohne Gefahren sei, theils könnten
geistige Störungen eintreten, theils würden zwar ein¬
zelne Symptome wegsuggerirt, die Krankheit selbst
aber gesteigert. Die Gefahr wachse, wenn der Hyp¬
notismus von Laien angewendet werde, die nicht in
der Lage seien, ungeeignete Fälle von vornherein
auszuschliessen oder begonnene Hypnotisirung im er¬
forderlichen Falle abzubrechen.
Je bekannter übrigens die Methode im Publicum
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532 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 48.
werde, desto geringer seien die Erfolge geworden, da
gerade hier ja eben das Unbekannte, anscheinend
Wunderbare und Uebematürliche wirke, während der
Erfolg mit dem mangelnden Glauben natürlich aus-
bleiben müsse. Nach der allgemeinen Erfahrung sei
es daher ganz unzweifelhaft, dass in letzter Zeit der
Umfang des Hypnotismus sehr erheblich abgenommen
habe.
— Die American Medico-Psychological Asso¬
ciation, welche sich der Vereinigung amerikanischer
Aerzte und Chirurgen angcgliedcrt hat, wird ihre dies¬
jährige Sitzung gleichzeitig mit dieser Vereinigung in
Washington abhalten, deren Congrcss vom 12. bis
15. Mai stattfindet. Nähere Auskunft ertheilt Dr. C. B.
Burr, Secretür der Am. Med.-Psych. Gesellschaft in
Flint, Mich.
Referate.
— Möbius, Ueber die Ekstase. Die Zeit.
32. B. H. 406. Wien, 1902.
Die ekstatischen Erscheinungen haben zu allen
Zeiten und an allen Orten eine wichtige Rolle gespielt,
sie sind eine Wirkung allgemein menschlicher Eigen¬
schaften , unentbehrlich, und haben trotz mancher
Nachtheile die Cultur gefördert. Ekstase heisst: in
einem von dem gewöhnlichen abweichenden Bewusst¬
seinszustande sein. Bewusstsein bedeutet schlechthin
Erinnerungsfähigkeit. Unter Bewusstlosigkeit versteht
man den Zustand, in dem die seelische Fähigkeit auf¬
gehört hat, und andererseits den Zustand, zu dem
keine Gedächtnissbrücke führt. M. meint, eine Zeit,
von der keine Erinnerungen geblieben sind, sei für
uns der gleich, in der sich nichts ereignet hat. (Dem
kann Referent nicht ganz beistimmen.) Unbewusst
nennen wir vorausgesetzte seelische Vorgänge, von
denen wir keine Erinnerung haben. Von Bewusst¬
seinsstörung spricht man, wenn Erinnerungslosigkeit
in irgend einem Grade vorhanden ist. Es handelt
sich dabei um eine Verminderung oder um eine Ein¬
engung des Bewusstseins. Bei Ekstase besteht Ein¬
engung des Bewusstseins, welches an Breite verliert.
Je energischer die Thätigkeit ist, umso stärker ist die
Einengung. So sehr auch die Einengung durch Wider¬
standsunfähigkeit, Suggcstibilität von der durch die Stärke,
durch die Uebermacht von Trieben, durch Leiden¬
schaft oder Genialität verschieden sein mag, der Aus¬
druck Ekstase wird hier mit Recht gebraucht. Der
ekstatische Zustand eingeengten Bewusstseins wird
durch ein starkes Lustgefühl gekennzeichnet. Das
Lustgefühl kann mit verschiedenen Vorstellungen ver¬
bunden sein, aber nur dann darf man von Ekstase
reden, wenn das Lustgefühl überwiegt. Demnach haben
wir zwei Bestandtheile der Ekstase, Einengung des
Bewusstseins und starkes Lustgefühl. ZurNoth könnte
man für die Ekstase mit Bewegungslosigkeit den Aus¬
druck Verzückung gebrauchen, während für die active
Ekstase Begeisterung anzuwenden wäre. Doch geht
eins in das andere über. Das Wesen bei beiden ist
dasselbe. Nach oben hin lässt sich das Lustgefühl
nicht eingrenzen, wohl aber nach unten, wenn auch
die Grenzbildung immer willkürlich ist. Vielleicht
mag man von Ekstase reden, wenn die Freude mit
einem Rauschgefühle verbunden ist. Das Verhältnis
der Einengung des Bewusstseins zum Lustgefühl ist
schwer zu bestimmen. Die Einengung kann ohne stärkere
Gefühle verlaufen, doch jede grosse Lust geht mit
Einengung des Bewusstseins einher. Aber bei dei
Ekstase darf die Lust nicht als Ursache der Eineng¬
ung angesehen werden. In vielen Fällen führt die
Thätigkeit erst zur Einengung und dann zur Lust.
Weit häufiger entsteht die Ekstase durch fremde
Thätigkeit. Mag es auch gelingen, die Beziehungen
zwischen Einengung und Lust in eine einfache Formel
zu bringen, so sind doch bei der echten Ekstase
immer beide Bestandtheile psychisch vermittelt. Das
ist wichtig. Ein beträchtlicher Theil der ekstatischen
Zustände gehört zur Hysterie. Es fehlt aber nie die
psychische Vermittlung, welche gleichfalls organisch
bedingt, für uns aber nur von innen her fassbar ist.
Darin besteht der Gegensatz von psychisch vermittelt
und organisch. Von der echten, psychisch vermittelten
Ekstase sind ähnliche Zustände zu scheiden, die
durch nichtpsychische Einwirkungen auf das Gehirn,
Gifte, verursacht werden. „Diese organisch vermittelten
Zustände mögen der Ekstase so ähnlich sein, wie sie
wollen, sie sind doch principiell etwas anderes. Mag
man sie Pseudo-Ekstasen nennen, nur vergesse man
den Unterschied nicht. In der That kommen be¬
sonders bei der Vergiftung durch narkotische Stoffe,
Alkohol, Opium, Haschisch und ähnliche Stoffe Pseudo-
Ekstasen vor, aber bei ihnen ist das Lustgefühl
mit Verminderungdes Bewusstseins verknüpft,
nicht mit einer einfachen Einengung, die ver¬
mehrte Arbeit liefern kann. Wenigstens ist hier die
Einengung mit paralytischen Zuständen vereinigt, die
eine ernstliche Störung darstellen und vermöge deren
nichts Brauchbares herauskommen kann. Die Ekstase
des Hysterischen kann mit der des Künstlers wesens¬
gleich sein, nur der verschiedene Werth der Persön¬
lichkeiten giebt den Unterschied. Aber die Pseud o -
Ekstase des Betrunkenen hat nichts dabei zu
suchen, sie gehört einfach zuden Gehirnkrank¬
heiten und sie mag mit den ekstaseähnlichen Zu¬
ständen, die man bei den Maniakalischen und bei
Verrückten beobachtet, zusammengestellt werden.“
J. S. Mas eher-Hubertusburg.
Personalnachrichten.
— Der Director der psychiatrischen und Nerven-
klinik und Poliklinik in Halle, ord. Professor Geh.
Medicinalrath Dr. E. Hitzig hat wegen eines Augen¬
leidens einen Urlaub bis Ende September erbeten,
um alsdann definitiv in den Ruhestand zu treten.
Geh. Rath Hitzig wirkt seit 1879 in Halle.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Kraschnitz (Schieden).
F■scheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnornann’sche Buchdruckerei (Gebr. WolfT) in Halle a. S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
Uchtspringe (Allmark). Graz. Zürich. Meereiiberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel. Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
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Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
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Nr. 49 . 7. März. 1903 .
Die Psychiatrisch-Ne ur olo g is che Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro (Quartal 4 Mk.
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Inhalt. Originale: Ueber einige forensisch-psychiatrische Fragen. Von Regierungs- und Sanitätsrath Dr. A. Tilkowsky, Direk¬
tor in Wien (S. 534C — Aus der Geschichte der Epilepsie. Von Privatdocent Dr. Weygandt in Würzburg (S. 539b —
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Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“
Carl Marhold in Halle a. S.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40.
Ueber einige forensisch-psychiatrische Fragen*.)
Von Regiemngs- und Sanitätsrath Dr. A. Tilkowsky , Director in Wien.
Meine Herren!
enn ich in dieser geehrten Versammlung das
Wort zu nehmen mir gestatte, so thuc ich es
nicht deshalb, weil ich mir anmaassen würde, über
sämmtlichc psychiatrische Fragen, welche den Experten
in dem Frageschema über die Voruntersuchung im
Strafverfahren vorgelegt worden sind, Auskunft geben
zu können. Der grössere Theil der Fragen ist eigent¬
lich an die Adresse der Gcrichtspsvchiater geric htet,
und ich bin kein Gcrichtspsvchiater.
Indessen sind manche dieser Fragen von princi-
picllcr Bedeutung und streifen durch ihren Zusammen¬
hang mit wissenschaftlichen Problemen so sehr das
allgemeine Gebiet der Psychiatric, dass, wohl auch
der Anstaltsarzt gehört zu werden verdient.
In dieser Beziehung ist namentlich die letzte
Frage des Schemas von weitgehendem Interesse, welche,
indem sie einen notorischen Ucbelstand der heutigen
Rechtspflege bloslegt, zu einer Fülle von Betrachtungen
Anlass giebt.
Es ist die Frage XXV: „Wie erklärt es sich,
dass auf dem Gebiete einzelner geistiger Erkrankungen,
insbesondere auf dem Gebiete der psychopathischen
Minderwertigkeit so häufig ein Zwiespalt in den Mein¬
ungen der sachverständigen Psychiater zu Tage tritt ?“
„Sind cs Umstände wissenschaftlicher oder auch prac-
tischer Natur, welche einen Erklärungsgrund für diese
Erscheinung geben? Wie ist dieser Dissonanz der
Meinungen abzuhelfen ?“
Ich werde mich zunächst mit dieser Frage etwas
eingehender befassen.
Nach meiner Ansicht liegt der Hauptgrund des
so häufigen Zwiespaltes in den Meinungen der sach¬
verständigen Psychiater in der durch das Strafgesetz
streng gebundenen Form, in welcher die Sachverstän¬
digen ihr Endgutachten abzugeben haben. Mögen
diese noch so zweifeln und schwanken, sie stehen
schliesslich doch vor der entscheidenden Frage: War
der Thäter zur Zeit der Verübung des Deliktes des
Gebrauches der Vernunft ganz beraubt, oder war er
es nicht? Das heisst ins Juristische übersetzt:
War er zurechnungsfähig, oder war er es nicht?
Das Strafgesetz hat es wohlweislich vermieden,
in das Moment der Zurechnungsfähigkeit einen medi-
cinischen Begriff hineinzutragen, und überlässt cs im
*) Vortrag, gehalten in der Kulturpolitischen Gesellschaft
am 16. Januar 1903
Uebrigen den Sachverständigen, sich mit der Franc
abzufinden, ob und in welcher Weise das Beraubtsein
der Vernunft von einer etwa vorhandenen Geistes¬
störung abhängig zu machen sei.
Der Vorsitzende, Herr Hofrath Pelser, hat bei
seiner Expertise in der vorigen Sitzung unter Anderem
auch die Frage der psychiatrischen Sachverständige:!
gestreift und gemeint, der Sachverständige möge sich
auf die Begutachtung des Falles und die Hervorheb¬
ung eventueller krankhafter Momente beschränken,
die Frage der Zurechnungsfähigkeit aber dem Richter
überlassen. Man kann ja dieser Auffassung zustimmen,
obwohl sie nicht von allen Psychiatern getheilt werden
dürfte. Ich meinerseits möchte meinen, die Sach¬
verständigen hätten allen Grund, damit zufrieden zu
sein, dass sie der oft schwierigen Frage der Zurech¬
nungsfähigkeit überhoben sind.
Wird aber ihre Aufgabe dadurch auch nur im ge¬
ringsten erleichtert, dass nicht sie, sondern die Richter
über das Moment der Zurechnungsfähigkeit entscheiden?
Bleibt die Schwierigkeit auf Seite der Sachverständigen
nicht Fortbestehen, wenn das SubstratJ welches sie
dem Richter zur Fällung seines Urthciles liefern, an
das durch das Gesetz geforderte Alternativvotum ge¬
bunden ist? Was nützen ihre subtilsten Analysen der
Seelenthätigkeit, was nützen ihre feinsten Nuancimngen
in der Schilderung der geistigen Individualität des Be¬
schuldigten, endlich müssen sie doch Farbe bekennen,
unter Umständen eine schwere Wahl, denn es giebt
nur grelle Contrastfarben, schwarz oder weiss, krank
oder gesund, ein Mittelding giebt es nicht!
Hierin liegt die Hauptquelle des Uebel's, und
das ist auch nach meiner Meinung, ich will nicht
sagen, der einzige, wohl aber der Hauptgrund des
Zwiespaltes der Meinungen der Sachverständigen.
Betrachten wir die Dinge, wie sie in Wirklichkeit
sind. In der ganzen Natur, wohin Sie blicken, giebt
es keine scharfe Grenzen, sondern nur Uebergänge.
So wenig man den Tag von der Nacht, so wenig
man die heisse von der kalten Zone scharf sondern kann,
so wenig lässt sich die Grenze zwischen geistiger Ge¬
sundheit und Krankheit bestimmen.
Wenn man auch den Standpunkt jener nicht ward
theilen können, welche die Annahme einer partiellen
Geistesstörung und einer partiellen Verantwortlichkeit
befürworten, so ist es doch eine ausgemachte That-
sache, dass sich zwischen geistige Gesundheit und
Krankheit ein weites Grenzgebiet hineinschiebt, w r el-
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 535
ehes alle möglichen Formen von Uebergangszuständen der Minderwerthigkeit aufgestellt haben, nur in den
umfasst. Es werden also einerseits' Fälle zur Beob¬
achtung kommen, in denen dauernd gewisse Störungen
im Geistesleben, gewisse Unvollkommenheiten, krank¬
hafte Schwächen und Willenstriebe zu Tage treten.
Koch hat diese Fälle mit einemsehr bezeichnenden
Namen belegt. Er nennt sie die psychopathisch
AIinderw ? erthigen. Andererseits wird sich an die eben
erwähnte Kategorie jene grosse Gruppe von Fällen
schliessen, welche zeitweilig sehr schwere psychische
Störungen aufweisen, bei denen aber die Beurtheilung
der Zurechnungsfähigkeit in der krankheitsfreien
Zwischenzeit eben wegen der interkurrenten Geistes¬
störung grosse Schwierigkeiten machen kann. Hier¬
her gehören vor allem die Epileptiker und die Hyste¬
rischen. Ferner kommen dazu die Alkoholiker, die
Morphinisten, Cocainisten u. s. w., kurz alle diejenigen,
welche auf dem Wege einer Giftwirkung eine krank¬
hafte Störung ihrer Geistesthätigkeit erlitten haben.
Mit der Aufzählung der genannten Formen ist
aber das Grenzgebiet noch lange nicht erschöpft.
Ohne mich hierbei langer aufhalten zu wollen, möchte
ich nur das grosse Heer der Neurastheniker, der Sexuell-
Perversen, gewisser Querulanten, Hypochonder, Fana¬
tiker, Schwärmer, Sonderlinge u. s. w. erwähnen, bei
welchen die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit im
concreten Falle ebenfalls # schwer beantwortbar sein kann.
Da es nun bei der Beurtheilung dieser Grenzfälle
in der Wesenheit stets auf eine taxative Abschätzung
der krankhaften Momente ankommt, so ist nicht zu
verwundern, wenn diese Abschätzung bei verschiedenen
Begutachtern verschieden ausfiillt, je nachdem die
einen den krankhaften Zügen einen überwiegenden
Einfluss auf das Delikt einräumen, die anderen nicht.
Ja es ist noch weniger zu verwundern, wenn der psy¬
chiatrische Sachverständige mit seinem eigenen Gut¬
achten dadurch gewissermaassen in Widerspruch ge-
räth, dass er trotz Zulassung krankhafter Momente
sich für einen Zustand ausspricht, aus welchem der
Richter die Zurechnungsfähigkeit glaubt ableiten zu
müssen.
Wie ist nun diesem Uebel abzuhelfen?
Hierin gipfelt die practische Bedeutung dieser
Frage.
Die Antwort ist höchst einfach, sie fliesst aus der
Natur der Sache. Man könnte sie sozusagen mathe¬
matisch formuliren. Wenn geistige Gesundheit der
Zurechnungsfähigkeit und Geistesstörung der Unzu¬
rechnungsfähigkeit entspricht, so folgt daraus, dass die
verminderte Gesundheit das Correlat der verminderten
Zurechnungsfähigkeit ist. Man braucht daher die
Zwischenstufe, welche die Psychiater mit dem Begriffe
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juristischen Sinn der verminderten Zurechnungsfähig¬
keit umzuwerthen, und die Hauptschwierigkeit ist be¬
seitigt.
Ich erinnere mich an eine Gerichtsverhandlung,
welche vor nicht langer Zeit — ich glaube, es war
im Frühjahr oder Sommer vorigen Jahres — statt¬
fand. Es handelte sich da ebenfalls um einen soge¬
nannten Grenzfall. Als der psychiatrische Sachver¬
ständige sein Gutachten über den Beschuldigten recht
verklausulirt und mit allerhand Vorbehalten abgab,
forderte ihn der Präsident auf, sich in bestimmterer
Weise zu äussem, denn mit 5 O°/ 0 Zurechnungsfähig¬
keit und 50°/ 0 Unzurechnungsfähigkeit könne er nichts
an fangen.
Nun, meine Herren, der Fall giebt viel zu denken.
Ich führe ihn hauptsächlich gegen die Aeusserung des
Herrn Hofrathes Pelser an, welcher in der Loslös¬
ung der Frage der Zurechnungsfähigkeit von der Com-
petenz der psychiatrischen Sachverständigen die Be¬
seitigung aller Schwierigkeiten zu sehen scheint. In
diesem Falle haben die Sachverständigen die ihnen
vorgezeichnete Grenzlinie gewiss eingehalten, sie haben
sich auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht
eingelassen, sondern haben nur ihrer wissenschaftlichen
Ueberzeugung nach getreu geschildert. Aber dem
Gerichtspräsidenten genügte das Gutachten nicht.
Seine Aeusserung, die wohl eines ironischen Beige¬
schmackes nicht entbehrt, er könne mit 50% Zurech¬
nungsfähigkeit nichts anfangen, ist ein ungemein werth¬
volles Eingeständniss. Sehen Sie, meine Herren,
der Präsident kann mit 50 Procent Zurechnungs¬
fähigkeit nichts anfangen, weil von dieser ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit nichts im Gesetze steht;
damit aber ein dem bestehenden Gesetze gemässes
•Urtheil erfliessen könne, blieb nichts anderes übrig,
als der Appell an die Sachverständigen, ihr Gutachten
der Altemativbestimmung des Gesetzes anzupassen.
Wem springt da nicht eine klaffende Lücke in die
Augen, zwar nicht in der Psychiatrie, denn diese hat
die Lücke mit der Einschiebung der psychopathisch
Minderwerthigen längst ausgefüllt, wohl aber im Straf¬
gesetz, welches mit dieser Zwischenstufe nichts an¬
deres anzufangen weiss, als sie entweder in die Cate-
gorie der Zurechnungsfähigen oder in die der Unzu¬
rechnungsfähigen einzureihen ? Und doch verlangen
sowohl theoretische als auch practische Gründe immer
dringender eine zeitgemässe Reform der Strafgesetz¬
pflege bezüglich dieser Gruppe; sie verlangen, dass
jener grossen Zahl von Minderwerthigen, welche sich
in dem Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit
und Krankheit befinden, eine besondere, auf der Basis
Original frnm
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 49.
der verminderten Zurechnungsfähigkeit gegründete
Rechtsprechung zutheil werde.
Es giebt in der That nur ein Mittel, um aus dem
Gewissenszwange herauszukommen und ein der wissen¬
schaftlichen Ueberzeugung entsprechendes Gutachten
abzugeben, d. i. die Annahme der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit. Es wird dann wenigstens nicht
so leicht Vorkommen können, dass geistig minder-
werthige Personen des Gebrauches der Vernunft für
ganz beraubt erklärt und wegen ihrer Gemeingefähr¬
lichkeit in die Irrenanstalt gesperrt werden, wie das
jetzt so häufig geschieht.
Dieses Mittel der verminderten Zurechnungsfähig¬
keit ist gewiss kein utopistisches. Wie Sie ja wissen,
hat es bereits in die Strafgesetzbücher einiger Länder
thatsächlich Eingang gefunden. Ich erwähne nur das
Bayerische Partikular-Strafgesetzbuch vom Jahre 1861
und das Italienische Strafgesetzbuch. In anderen
Ländern, wie in der Schweiz, wurden Entwürfe vor¬
bereitet, in welchen die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit ebenfalls ihren gebührenden Platz einnimmt.
Ich möchte hier die Kriterien der verminderten
Zurechnungsfähigkeit beiläufig einschalten, welche die
genannten Länder je nach ihrer individuellen An¬
schauung aufgestellt haben.
Das Bayerische Strafgesetzbuch verlangt zur
Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit eine er¬
hebliche Minderung der Urtheilskraft oder der
Freiheit der Willensbestimmung. Das Italienische
Strafgesetzbuch fordert einen Geisteszustand, welcher
die Zurechnungsfähigkeit wesentlich beeinflusst.
Dem Schweizerischen Entwurf genügt jede Be¬
einträchtigung der geistigen Gesundheit oder des Be¬
wusstseins des Thäters.*)
Trotz alledem ist diese Frage noch eine stark um¬
strittene. Während die grosse Mehrzahl der Psychi¬
ater stets warm für die geminderte Zurechnungsfähig¬
keit eintrat und deren Aufnahme in das Strafgesetz
verlangte, wurden von juristischer Seite mannigfache
Bedenken dagegen erhoben und zwar in gänzlich ent¬
gegengesetzter Richtung:
Die einen befürchten eine gewisse Sentimentalitäts¬
praxis, welche dem Ernste der Strafjustiz Eintrag
thun könnte.
Andere wieder sehen Vcrurtheilung zur Strafe und
damit eine ungerechtfertigte Härte in Fällen voraus,
wo jede Bestrafung als unzulässig erscheint, weil selbst
in jenen Grenzfällen das Individuum als unzurech¬
nungsfähig behandelt werden müsse.
*) Dr. Gr et en er: Die Zurechnungsfähigkeit als Gesetz¬
gebungsfrage mit besonderer Rücksicht auf den Schweizerischen
und Russischen Strafgesetzentwurf, Berlin 1897.
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Auch wurde auf die Gefahr hingewiesen, dass
Richter und Ärzte den Begriff der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit als einen bequemen Ausweg be¬
nützen werden, um die Schwierigkeiten des Beweises
zu umgehen. Namentlich wurde der Befürchtung
Ausdruck gegeben, dass die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit nicht nur in den eigentlichen Grenzfällen
von zweifelhafter Geistesstörung, sondern
auch als bequemes Auskunftsmittel in allen Fällen
zw eifelhafter Diagnose benutzt werden könnte,
so dass also auch in solchen Fällen, welche de jure
als unzurechnungsfähig zu erkennen wären, von
schwachen Sachverständigen nur geminderte Zurech¬
nungsfähigkeit angenommen werden würde.
Weiter wurde noch das Bedenken geltend ge¬
macht, dass man nicht wüsste, was man mit den ver¬
mindert Zurechnungsfähigen nach verbüsster Strafe zu
thun hätte.
Von allen diesen geäusserten Bedenken scheint
mir wohl das dritte das am schwersten wiegende zu
sein, weil die Gefahr eines Missbrauches in der That
nicht ausgeschlossen ist. Trotzdem bin ich der An¬
schauung, dass die Rücksicht auf unsichere Sachver¬
ständige von der Befürwortung einer Reform, wenn
sie sachlich begründet ist, nicht abhalten darf. Man
wähle eben nur sichere und verlässliche Sachverständige.
Alle anderen Bedenken aber werden hinfällig, wenn
folgendes erwogen wird. Damit komme ich zu dem
ebenso wichtigen praktischen Theil der Frage.
Meine Herren! Mit der blossen Annahme der
verminderten Zurechnungsfähigkeit ist die Sache nicht
erledigt. Es müsste sich ihr als eine unabweisliche
conditio sine qua non eine qualitative Änderung
des Strafvollzuges beigesellen. An eine blos quanti¬
tative Herabminderung der Strafe in Fällen vermin¬
derter Zurechnungsfähigkeit zu denken, hiesse die
Natur der Minderwertigen und deren Rückwirkung
auf die Gesellschaft verkennen.
Allerdings giebt es eine Reihe von Grenzfällen
mit ganz geringen Abweichungen vom sogenannten
Normalmenschen, willensschwache, leicht beeinfluss¬
bare, excentrische, reizbare Charaktere, leichtere
Schw'achsinnsformen, denen zufolge ihrer verminderten
Zurechnungsfähigkeit eine mildere Strafe im Sinne des
heutigen Strafgesetzes ohne Weiteres wird zuerkannt
werden können.
Anders verhält es sich mit dem Gros jener psycho¬
pathisch Minderwertigen, deren Defekt hauptsächlich
auf ethischem Gebiete liegt, der Defektmenschen mit
verbrecherischen Neigungen, mancher unverbesserlicher
Gewohnheitssäufer, der moralisch Imbecillen, kurz der
Antisocialen aller Art, welche bisweilen eine erheb-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
537
1903-]
lichere Minderung ihrer Geisteskräfte aufweisen, ohne
dass ihre Zurechnungsfähigkeit ganz ausgeschlossen
erscheint Es wäre total verfehlt, bei den Fällen letz¬
terer Art aus dem Grunde der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit auf eine mildere Strafe zu erkennen
und sie bald wieder in die Freiheit zu versetzen, wo
sie ihr altes Spiel von Neuem wieder beginnen
würden. Da mit der verminderten Schuldfähigkeit
in solchen Fällen sehr häufig eine gesteigerte sociale
Gefährlichkeit verbunden ist, so ist es nothwendig,
den Strafvollzug zu ändern und Massregeln anzu¬
streben, durch welche weniger der Begriff der Strafe,
als der der Verwahrung und Besserung, soweit diese
möglich ist, zum Ausdrucke gelangt, also Schutz- und
Besserungsanstalten für psychopathisch Minderwertige.
Meine Herren! Die Ideen, die hier zum Aus¬
drucke gebracht werden, sind nicht neu. Es wurde
hierin bereits von vielen bedeutenden psychiatrischen
Autoren vorgearbeitet, so von Koch und Anderen*).
Wiederholt stand die Frage der geminderten Zurech¬
nungsfähigkeit und der damit im Zusammenhänge
stehenden Maassnahmen an der Tagesordnung psy¬
chiatrischer Vereine. Aber auch in den Kreisen der
Juristen haben sich diese Ideen durchgerungen. Die
„forensisch-psychiatrische Vereinigung in
Dresden“ ist in ihren Verhandlungen zu dem Schlüsse
gelangt, dass den gemindert Zurechnungsfähigen gegen¬
über eine besondere Art von Strafvollzug anzuwenden
sei, und hat daher als Ergänzung zum § 51 des
deutschen Strafgesetzbuches unter anderem vorge¬
schlagen, dass die Strafe an solchen Minderwertigen
in besonderen, zur Vollstreckung von
Strafen an Personen verminderter Zurech¬
nungsfähigkeit bestimmten Anstalten oder
Räumen zu vollziehen sei. Weiters wurde hin¬
sichtlich der unverbesserlichen Minderwertigen folgender
Zusatzantrag gestellt: „Ist der Zustand der vermin¬
derten Zurechnungsfähigkeit ein andauernder oder
seiner Natur nach wiederkehrender, und hat der
Thäter durch wiederholte Bestrafungen Anlass zu der
Befürchtung gegeben, dass er nach Verbüssung der
erkannten Strafe weitere Strafthaten begehen werde,
so kann neben einer Freiheitsstrafe zugleich erkannt
werden, dass der Verurtheilte nach Verbüssung der
erkannten Strafe dem Vormundschaftsgerichte zu über¬
weisen sei. Durch die Ueberweisung erhält das Vor¬
mundschaftsgericht die Befugniss, ihn solange in einer
besonderen, zur Aufnahme von Personen verminderter
Zurechnungsfähigkeit bestimmten Anstalt unterzu-
*) Koch. Die psychopathischen Minderwertigkeiten.
Ravensburg 1891.
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bringen, als die Befürchtung, dass er wieder Straf¬
thaten begehen werde, fortbesteht. <l
Eine ähnliche Idee schwebte Professor Benedikt
vor, welcher in der vorjährigen psychiatrischen Enquete
betreffend die Reform des Irrenwesens in seinem
Referate: „Die Irrengesetzgebung und die Menschen
mit anormaler Lebensführung 1 * lebhaft für die Errich¬
tung solcher Verwahrungsanstalten für unter Vormund¬
schaft zu stellende psychopathisch Minderwertige plai-
dirte und eine Zweitheilung dieser Anstalten in der
Art verlangte, dass die eine Kategorie für minder
gefährliche, noch nicht oder noch nicht schwer ge¬
richtlich compromittirte und nicht besonders gemein¬
gefährliche, die andere für sehr compromittirte und
besonders gemeingefährliche Individuen bestimmt wäre.
Die Frage der Organisation dieser Detentionsan-
stalten für psychopathisch Minderwertige, mag man
sie nun Strafabsonderungshäuser, oder Schutz- und
Besserungsanstalten, oder Verwahrungsanstalten, oder
wie sonst immer nennen, ist hier nicht zu erörtern,
da es sich vor Allem um die Prinzipienfrage handelt.
So viel muss indessen schon jetzt bemerkt werden,
dass eine gedeihliche Lösung nur dann zu erwarten
ist, wenn diese Anstalten unter staatliche Verwaltung
gestellt werden. Der Staat, welcher die Justizgewalt
ausübt, muss folgerichtig auch jene Institutionen in
Händen haben, welche mit der Strafjustiz im Zu¬
sammenhänge stehen.
Wie schon erwähnt, fand im vorigen Jahre eine
von der Regierung ein berufene psychiatrische Enquete
statt, in welcher nebst anderen organisatorisch wich¬
tigen Fragen auch die Frage der Errichtung von
staatlichen Anstalten für geisteskranke Verbrecher
einer lebhaften Discussion unterzogen worden ist.
Die Enquete sprach sich einhellig für die Noth-
wendigkeit solcher Spezialanstalten aus, seien sie nun
als Adnexe an die Strafanstalten, oder als selbststän¬
dige Anstalten gedacht. Unter allen Umständen
müsse aber der staatliche Charakter derselben gewahrt
bleiben. Genau dieselben Gründe, welche dort für
den staatlichen Charakter der genannten Anstalten
geltend gemacht wurden, wären auch für die Ver¬
wahrungsanstalten für psychopathisch Minderwertige
maassgebend.
Die Unterbringung von psychopathisch Minder¬
wertigen in Irrenanstalten ist die denkbar unglück¬
lichste Massregel, obwohl sie als ultima ratio unter
den gegebenen Verhältnissen begreiflich erscheint.
Primararzt B e r z e*) hat diese Frage sehr sachlich er-
*) Dr. Josef Berze: „Gehören gemeingefährliche Minder¬
wertige in die Irrenanstalt?“ Wiener Medicinische Wochen¬
schrift Nr. 26, 1901.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
538 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 49 *
örtert und den von gewisser Seite erhobenen lächer¬
lichen Einwand, als ob die Irrenärzte die unange¬
nehmen Gäste aus Bequemlichkeit femhalten wollten,
treffend widerlegt.
Nicht kleinliche, nicht persönliche Gründe sind
es, welche für die erwähnte Behandlung der gemein¬
gefährlichen Minderwerthigen sprechen; die Gründe
liegen in der Sache, sie sind so schwerwiegend und
berühren so sehr die Interessen der Gesellschaft, ja
die eigenen Interessen der Betroffenen selbst, dass
nur eine Reform der Strafgesetzpflege in der ange¬
deuteten Richtung eine befriedigende Lösung des
fraglichen Problems herbeiführen kann.
Ich gehe nun an die Beantwortung der übrigen
Fragen, bezüglich welcher ich mich so kurz als mög¬
lich fassen will.
Frage XIX. „Sind die gesetzlichen Anforder¬
ungen, betreffend die psychiatrische Vorbildung des
Candidaten der Physikatsprüfung, ausreichend?“
Diese Frage muss mit Nein beantwortet werden.
Zur Qualification eines Gerichtspsychiaters genügt di«
Ablegung der Physikatsprüfung allein nicht. Derselbe
muss vielmehr über ein ausreichendes Maass von
praktischer Erfahrung in psychiatrischen Dingen ver¬
fügen, die er sich nur in längerem Anstaltsdienstc
(wohl nicht unter einem Jahre) sei es in einer Irren¬
anstalt oder in einer Irrenklinik erwerben kann. Ge¬
rade die Vielgestaltigkeit der Psychosen, die vielen
Abstufungen und Varianten, die Unmöglichkeit ge¬
wisse Misch- und Uebergangsformen in ein doktri¬
näres Krankheitsschema zu zwängen, machen ein
lebendiges Erfassen der psychiatrischen Disciplin zur
unabweisbaren Nothwendigkeit. Das kann aber durch
ein blos theoretisches Studium niemals erreicht
werden.
Frage XX. „Durch welche Maassnahmen ist
bei den Kreisgerichten und bei den ländlichen Be¬
zirksgerichten für die Beschaffung psychiatrischer
Gutachten Vorkehrung getroffen? Werden auf dem
Lande auch solche Aerzte zur Abgabe psychiatrischer
Gutachten zugelassen, welche vermöge der alten Stu¬
dienordnung psychiatrische Studien gar nicht absolvirt
haben ?“
Hiezu ist zu bemerken, dass in Ermangelung von
Fachpsychiatem bei den ländlichen Bezirksgerichten
auch Aerzte zur Abgabe psychiatrischer Gutachten
zugelassen werden, welche keine psychiatrischen Stu¬
dien aufzuw'eisen haben. Dass ein solches Gutachten
häufig nicht sachgemäss und den Thatsachen ent¬
sprechend ist, liegt ja auf der Hand. Da aber zur
Abgabe eines psychiatrischen Gutachtens in gleicher
Weise wie bei Vornahme von gerichtsärztlichen Unter¬
suchungen spezialärztliche Kenntnisse und Erfahrungen
nothwendig sind, so würde es sich empfehlen, alle
wichtigeren Untersuchungen nur von Fachpsychiatem
vornehmen zu lassen. Man müsste demnach ent¬
weder einen Kliniker einer etwa nahe gelegenen Uni¬
versitätsstadt oder einen Anstaltsarzt einer nahe ge¬
legenen Irrenanstalt zuziehen.
Frage XXL „Wie lange ist die regelmässige
Dauer der psychiatrischen Untersuchungen durch ge¬
richtsärztliche Sachverständige? Welches sind die Ur¬
sachen der hierbei zu Tage tretenden Verlangsamung
solcher Untersuchungen? Wie sind diese Mängel zu
beseitigen ?“
Frage XXII. „Welche Mittel stehen dem psy¬
chiatrischen Sachverständigen zur Feststellung der
Anamnese im Strafverfahren zur Verfügung? Soll die
Vernehmung der Auskunftspersonen dem Psychiater
ausschliesslich überlassen bleiben und ist hierbei der
Psychiater an die gesetzlichen Beschränkungen der
Strafprozessordnung bei Vernehmung des Beschul¬
digten und seiner nahen Verwandten gebunden ?
Wird die in der Strafprozessordnung verordnete Zu¬
ziehung des Vertheidigers geübt?“
Die Beantwortung dieser beiden Fragen steht aus¬
schliesslich den Gerichtspsychiatern zu, welche be¬
züglich der Voraussetzungen und des Vorganges der
psychiatrischen Untersuchungen wohl am besten in-
formirt sind.
Frage XXIII. „Empfiehlt sich zur Herbeiführung
einer sachgemässen Beobachtung des zu unter¬
suchenden Beschuldigten die lediglich zu Beobach¬
tungszwecken erfolgende Uebergabe desselben an
eine psychiatrische Klinik oder Anstalt, und ist dies¬
bezüglich bei dem jetzigen Stande der Gesetzgebung
eine Handhabe hiefür bereits gegeben?“
Bei der Beantwortung dieser Frage mag sich eine
Divergenz der Anschauungen dahin geltend machen^
dass manche Psychiater die Uebergabe des zu unter¬
suchenden Beschuldigten an eine psychiatrische Klinik
oder Irrenanstalt für empfehlenswerth halten, andere
nicht. Es wurde auch im Anschlüsse an den Vor¬
trag des Professor Wagner auf einen ähnlichen
Vorgang in Deutschland hingewiesen, wo es gestattet
ist, einen Beschuldigten zur Prüfung seines Geistes¬
zustandes bis zu sechs Wochen in der Irrenanstalt
festzuhalten. Ich muss gestehen, dass ich mich für
diesen Modus nicht erwärmen kann. Wenn auch die
Untersuchung an der psychiatrischen Klinik, sofern
diese zugleich Beobachtungsstation ist, ohne Nachtheil
wird vorgenommen werden können, so stehen doch
einer solchen in der Irrenanstalt sehr wichtige Be-
1903]
denken entgegen. Vorerst das Statut, nach welchem
die Aufnahme von nur constatirt Geisteskranken zu¬
lässig ist. Aber man könnte ja das Statut ändern.
Es frägt sich nur, ob dies zweckentsprechend wäre.
Ich sage, nein. Es ist auf keinen Fall empfehlens-
werth, geistesgesunde oder zweifelhafte Elemente mit
notorisch Geisteskranken in de» Irrenanstalt zu ver¬
mischen und dadurch die Gefahr einer unbeab¬
sichtigten oder beabsichtigten Aneignung von Krank¬
heitssymptomen heräufzubeschwören. Wir wissen ja
zur Genüge, dass gerade die Irrenanstalt einen sehr
guten Nährboden für Simulanten abgibt. Es sprechen
aber auch andere Gründe dagegen. Der richtige
Ausweg wäre die Errichtung einer besonderen Beob¬
achtungsabtheilung in einem Adnexe für geisteskranke
Verbrecher an die Strafanstalt.
539
Frage XXIV. „Bei welchen Delikten und De¬
liktsformen ist eine obligatorische Untersuchung des
Geisteszustandes des Beschuldigten zu empfehlen?
Bei welchen Krankheitsformen ist eine solche obliga¬
torische Untersuchung gleichfalls in jedem Falle zu
empfehlen ?“
Der erste Theil der Frage ist nicht zu beant¬
worten, weil alle Arten von Delikten und Delikts¬
formen ebenso von Geistesgesunden, wie von Geistes¬
kranken verübt werden. Hinsichtlich des zweiten
Theiles der Frage wird es sich empfehlen, in allen
sowohl manifesten als auch zweifelhaften Fällen den
Geisteszustand zu untersuchen, -und namentlich auf
die Delikte der Epileptiker, der schweren Alkoholiker,
der sexuell Perversen und der senilen Personen sein
besonderes Augenmerk zu richten.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Aus der Geschichte der Epilepsie.
Von Privatdozent Dr. mcd. et phil. Weygandt in Würzburg:
]hs i st fraglos, dass kaum eine medicinische Disciplin
den Ucbcrgriffen von Seiten der Laien derart
ausgesetzt ist, wie die Psychiatrie. Von den verschie¬
densten Seiten her, von Juristen, Theologen u. s. w.
werden alltäglich psychiatrische Dinge beurtheilt, als
ob der sogenannte gesunde Menschenverstand in
diesen Fragen dieselbe Competenz verleihe, wie wir
sic erst durch langjähriges Specialstudium zu erringen
suchen. Vor kurzem traf ich z. B. in der Vorbereit¬
ung eines Gutachtens beim Actenstudium die Aeusser-
ung eines Anwalts, der die Wahrnehmung eines als
Zeugen vorgeladenen Geistlichen ganz besonders be-
werthet wissen wollte, da dem Pfarrer „doch gewisse
psychologische und psychiatrische Kenntnisse nicht
abgesprochen werden können.“
Besonders aber die Behandlung der Geisteskranken
liegt immer noch zu einem guten Theil in Laien¬
händen, so dass mit Recht noch von einer Pastoral-
psychiatric gesprochen werden kann. Ein wichtiger
Zweig der Psychiatrie, die Idiotenforschung, leidet be¬
sonders unter diesen Verhältnissen. Von den 75—80
Idiotenanstalten Deutschlands stehen mindestens ein
Drittel, und darunter grade die grössten und besuch¬
testen, unter der Herrschaft confessioneller Gesell¬
schaften und unter der Direction von Geistlichen.
Zu den Auswüchsen dieser Pastoralpsychiatrie gehören
weiterhin die Epileptikeranstalten unter geistlicher
Leitung, die von psychisch Abnormen vielfach frequen-
tirten Gebetshcilanstalten u. m. a.
Digitized by Google
In der Regel suchen sich die Irrenärzte beim
Hinblick auf jene Missstände durch die Ausrede
zu trösten, es sei in der kurzen Entwicklungszeit der
Psychopathologie und des modernen Anstaltswesens
begründet, dass das Laienelement sich derart vordränge,
dem ja grosse Verdienste um die Beschaffung von
Mitteln zur Irrenfürsorge nicht abgesprochen werden
dürfen. Dem gegenüber lohnt es sich gerade in un¬
serer, historischen Betrachtungen abholden Zeit, doc h
ab und zu wieder einmal einen Blick auf die Ge¬
schichte unseres Fachs zu werfen.
Vor mir liegt das Buch des Hippokrates über die
uqu voao$ y das im 2. Band der Uebersctzung von
Robert Fuchs*) seit den letzten Jahren bequem zu¬
gänglich ist.
Es ist allgemein bekannt, wie genau die Alten
mit den Symptomen der Epilepsie vertraut waren.
Hippokrates beschreibt treffend die Anfälle mit der
Aura, dem Hinstürzen, oft unter einem Schrei, der
Bewusstlosigkeit und den Erstickungsanfällen, mit den
Zuckungen aller Art, Augcnvcrzcrren, Zähneaufein-
anderbeissen, Händezusammenkrampfcn, Umeinander¬
schlagen mit den Füssen, nicht selten unter Urin- und
Kothabgang. Die Migräncanfälle waren dem grossen
*) Hippokrates sämmtiiehe Werke, 2. Band. München,
Verlag von Lüneburg 1897.
NB. Die Autorschaft des H. selbst wurde von einer Seite
bestritten, die Zugehörigkeit zur koischen Schule des H. ist je¬
doch durchaus zugestandeu.
Original from
HARVARD UNiVERSITY
540
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 49
Arzt bekannt, ebenso die psychischen Aequivalente der
Epilepsie, ängstliche Visionen, nächtliche Schreckbilder,
Entsetzen, Aufspringen vom Lager, Flucht in das Freie.
Halbseitige Reizerscheinungen wurden beobachtet,
plötzliche Todesfälle im Anfall kamen vor. Die Kin¬
derepilepsie wird besprochen, mögen dabei auch Fälle
von hysterischen Krämpfen mit untergelaufen sein;
Schreckepilepsie wird erwähnt. Auch die Heredität
wird berücksichtigt. Als prognostische Regel wird
betont, dass bei längerer Dauer keine Aussicht auf
Heilung besteht; die Anfälle werden allmählich häufiger
und treten rascher ein. Aehnlich treffend ist die
Symptomatologie bei Aretäus von Kappadocien im
i. Buch über Ursachen und Zeichen der acuten Krank¬
heiten geschildert*).
Hinsichtlich der Beurtheilung der Krankheit betont
Hippokrates, Entstehung und Veranlassung seien in
derselben Richtung zu suchen, wie bei den übrigen
Krankheiten, die Frage der Heilbarkeit verhalte sich
ebenso. Freilich konnte er in Bezug auf die Patho¬
logie des Leidens keinen anderen Standpunkt ein¬
nehmen, als den seiner Zeit, der ja zum guten Theil
von ihm selbst präzisirt worden war, also den der
Humoralpathologie. Klar spricht er zunächst aus,
Schuld an der Krankheit sei das Gehirn. Die sym¬
metrische Anlage des Hirns bringt er mit dem halb¬
seitigen Kopfweh in Zusammenhang. Er nimmt nun
ferner an, dass Leute von schleimiger Constitution, nicht
solche von galliger, an Epilepsie erkranken. Der alten
Lehre entsprechend wird weiterhin eine Versorgung
des Hirns durch zwei Aderzüge angenommen, die von
Leber und Milz zum Hirn gehen und das Pneuma
befördern sollen. Die Anfälle wurden hervorgerufen
durch das Eindringen des kalten Schleims in das warme
Blut, das dadurch stillstehe. Vor allem bei Südwind
kämen Anfälle vor.
Geradezu actuell muthen uns nun die Ausführ¬
ungen an, in denen sich Hippokrates gegen die un¬
wissenschaftliche Auffassung der Epilepsie und gegen
die Aftertherapie jener Zeit richtet. Er betont nach¬
drücklich, dass die Fallsucht, der Morbus sacer, in
keiner Beziehung einen mehr göttlichen Ursprung
habe, als die übrigen Krankheiten, auch nicht heiliger
sei. Infolge ihrer Unerfahrenheit haben die Menschen
geglaubt, die Beschaffenheit und Veranlassung der
Epilepsie seien etwas Göttliches, indess, wenn sie wegen
des Wunderbaren für etwas Göttliches gehalten werden
sollte, so werde es viele heilige Krankheiten geben
und nicht eine einzige.
*) Medicorum graecorum opera quae exstant. Editio Kühn.
Fol. XXIV. Leipzig 1828, S. 1 f.
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Lebhaft polemisirt er gegen das Laienelement in
der Behandlung. „Mir will es scheinen“, drückt er
sich aus, „als wenn diejenigen Leute, welche diese
Krankheit zuerst für eine heilige ausgaben, solche ge¬
wesen wären, wie auch heutigen Tages die Magier,
Sühnepriester, Marktschreier und Aufschneider sind,
welche so thun, als wenn sie sehr gottesfürchtig wären
und mehr wüssten. Diese also haben als Deckmantel
und Vorwand für ihre Hilflosigkeit den göttlichen Ur¬
sprung angegeben, dafür, dass sie nichts hatten, durch
dessen Anwendung sie Hilfe bringen konnten, und
so sind sie, um nicht offenkundig werden zu lassen,
dass sie nichts verstehen, zu dem Glauben gekommen,
dieses Leiden sei ein göttliches, und indem sie ge¬
eignete Gründe dazu aussuchten, haben sie die Be¬
handlung desselben zu einer für sie gesicherten ge-
gemacht, indem sie Sühneopfer darbrachten, Beschwör¬
ungsformeln sprachen und befahlen, sich der Bäder
und vielerlei Speisen zu enthalten, deren Genuss für
kranke Menschen unzuträglich ist.“ Unter den ver¬
botenen Speisen finden sich einige, wie Hirsch- und
Schweinefleisch, scharfe Gemüse wie Zwiebel, Knob¬
lauch, Minze, die man auch heute bei Epileptikerdiät
verbieten würde. Dann geisselt Hippokrates mit Recht
Rathschläge wie die, man solle nicht auf einem Ziegen¬
fell liegen, dürfe nicht die Füsse oder die Hände
übereinanderschlagen, dürfe keine schwarze Kleidung
tragen, denn das seien Hindernisse für die Beschwör¬
ung. Es wird vom Uebersetzer auf den Homöopathen
v. Bönninghausen verwiesen, der hierzu bemerkte:
„Die schnelle Beschwichtigung der Fallsuchtanfälle
durch Bedeckung des Gesichts mit einem schwarz¬
seidenen Tuche, die in neuerer Zeit entdeckt und
vielfach erprobt ist, erinnert an das alte Verbot für
Fallsüchtige, schwarze Kleidung zu tragen.“
Hippokrates fährt hinsichtlich jener Recepte der
Kurpfuscher fort: „Dieses alles aber setzen sie nur
um des Göttlichen willen hinzu, um den Anschein
zu erwecken, als wenn sie mehr wüssten, und andere
Vorwände anführend, damit, wenn der Betreffende
gesund wird, das ihrem Ruhme diente und ihrer Ge¬
schicklichkeit zugeschrieben wurde. “ Schliesslich
schildert Hippokrates lebhaft, wie nach der Lehre
dieser Sühnepriester die einzelnen Gottheiten betheiligt
sind, je nachdem der Kranke dies oder jenes Symp¬
tom äussert: Poseidon beim Schrei, Hermes Enodios
beim Kothabgang, Ares beim Schäumen und Umsich -
schlagen, Hekate bei den Delirien und nächtlichen
Attacken. —
Wie wenig unzeitgemäss diese polemischen Erör¬
terungen des grossen Mediciners heute, nach mehr
als 23 Jahrhunderten geworden sind, ergiebt sich am
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
54 i
1903]
besten, wenn wir eine Schrift aus unserer Zeit da¬
neben halten, die in manchen Punkten jenen Anschau¬
ungen entspricht, die Hippokrates bekämpfte.
Der „Christliche Rathgeber für Epileptische“ von
Pastor v. Bodelschwingh schwankt in der Auffassung
der Epilepsie als Krankheit und als Besessenheit.
Durch die Krankheitsschilderungen im neuen Testa¬
ment, die der jetzigen Fallsucht entsprechen, sei noch
keineswegs gesagt, dass wir in jedem Fall von Fall¬
sucht dämonische Einwirkungen oder Besessenheit zu
erkennen haben. Also manche Fälle mit dämonischer
Einwirkung giebt’s demnach doch? Es sei wahr,
fährt das Heft fort, „dass auch heutzutage Fälle von
Epilepsie Vorkommen, bei welchen man sich des Ein¬
drucks dämonischer Einwirkungen kaum erwehren
kann.“ Als weiteres Argument wird angeführt, dass
manche Kranke den Eindruck haben und es geradezu
aussprachen, dass es ihnen zu Muthe sei, als ob sie
von einer feindlichen Macht plötzlich ergriffen und
hingerissen würden. Doch wird betont, dass in den
Tagen Christi dämonische Erscheinungen häufiger
waren, wir aber kein Recht hätten, in allen Fällen die
Epilepsie auf eine directe Einwirkung des Satans zu¬
rückzuführen. Dass es solche dämonische Antastungen
des Leibes gebe, stehe freilich ebenso gewiss fest, als
es feststeht, dass es dämonische Anfechtungen der Seele
gebe. „Die letzteren sind viel häufiger und gefähr¬
licher als die ersteren, und man kann auch wohl
sagen, dass viel häufiger eine persönliche Verschuld¬
ung vorliegt, wenn die Seele von solchen Anfecht¬
ungen überwältigt wird, als wenn dies dem armen
Leib geschieht, der sich gegen dieselbe gar nicht
wehren kann.“
Man habe kein Recht zu schliessen, dass Epilep¬
tische oder ihre Vorfahren in besonderer Weise vor
anderen Menschen einer Sünde gefröhnt hätten, — indess
„ein Christ weiss, dass alle Krankheit eine Folge der
Sünde ist . . . .“
Falsch ist die Angabe, dass die fallende Krankheit
in bei weitem den meisten Fällen durch einen plötz¬
lichen Stoss auf das Nervensystem hervorgerufen sei,
an dem der Betroffene zunächst keine Schuld hat;
„meistentheils ist es ein Schrecken, also zunächst eine
Erschütterung der Seele, welche dann auf den Leib
übertragen wird, in welchem die Erschütterungen als
Krämpfe nachzittern.“ Psychische Einflüsse lösen viel¬
mehr selten epileptische Störungen aus, manche Autoren
leugnen sie vollständig.
Vor Geheimmitteln wird zwar gewarnt, gleichzeitig
aber werden „Familienmittel“ erwähnt, „welche im Be¬
sitz bestimmter, sehr angesehener und wohlthätiger
Familien sind“ und laut Familienchroniken „eine nicht
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unbedeutende Zahl dauernder Heilungen“ bewirkt
haben sollen. Der Gebrauch solcher Mittel sei, wenn
sie nicht offenbar schädliche Bestandteile enthalten,
gern erlaubt. Als eins dieser Familienmittel, die an¬
geblich keine Geheimmittel und nicht mit Aberglauben
verbunden sind, wird Eselsblut, ferner auch Elstemasche
erwähnt! Dass Brompräparate von Bethel in Massen ver¬
sandt werden, ist bekannt. Bis 1888 waren es nicht weniger
als 48000 Epileptiker, die sich dorthin um Rath ge¬
wandt hatten. „Wie lange es Gott gefallen wird“,
sagt das Heft hinsichtlich der Bromsalze, „gerade auf
diese Mittel einen Segen zu legen, wissen wir nicht.
Es kann sein, dass sie über ein kleines ganz verworfen
werden und statt dessen wiederum andere aufkommen.“
Von der eminent wichtigen Alkoholenthaltung ist nicht
die Rede.
Es kann jedem Leser getrost überlassen bleiben,
die Parallelen zwischen dieser Schrift unserer Tage
und jenen Missständen, die Hippokrates bekämpft,
selbst zu ziehen.
Die wesentlichste Hoffnung, dass wir jemals aus
dieser misslichen Vermengung der Irrenheilkunde mit
der Laienbehandlung herauskommen, ruht auf der
Einführung eines durchgreifenden Reichsirrengesetzes,
das z. B. in Preussen die bisher zum guten Theil nur
auf dem Papier stehenden Bestimmungen des Gesetzes
vom 11. VII. 1891 auch ausnahmslos durchsetzt,
dass Provinzial - und Stadtverbände die hilfsbe¬
dürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten
in eigenen, unter ärztlicher Leitung und Verantwort¬
ung stehenden Anstalten zu bewahren haben. Es
entspricht dem Wesen des modernen Staats, für seine
auf Grund geistiger Abnormität dauernd oder zeit¬
weise nicht geschäftsfähigen Glieder selbst die Für¬
sorge in die Hand zu nehmen. Ueber all die zahl¬
reichen Anstalten für Geisteskranke, Idioten, Epilep¬
tische, die heutzutage noch geistlicher und anderer
nichtärztlicher Leitung unterstellt sind, muss die Säku¬
larisation herein brechen. Selbst in unseren Tagen be¬
steht noch die Gefahr, dass in Landestheilen mit über¬
füllten Irrenanstalten sich unternehmende Geistliche
zur Uebemahme von Kranken, insbesondere Epilep¬
tischen erbieten und dass ihnen aus finanziellen
Gründen nachgegeben wird. Die erhoffte Erleichterung
für das Irren wesen des betreffenden Landes ist nur
scheinbar und rasch vorübergehend, dauernd aber wird
ein beträchtlicher Schaden für die Organisation eines
ungemein wichtigen Zweiges staatlicher Fürsorge.
Bei den Idiotenanstalten könnte noch ein Schein
von Berechtigung gefunden werden für ihre Unter¬
stellung unter pädagogische Leitung, wie man sie in
Deutschland, im Gegensatz zu den französischen Idio-
Original from
HARVARD UNIVERSUM
54 2
tenanstalten, gewöhnlich antrifft. Aber auch auf
diesem Gebiet ist ärztliche Leitung und Eingliederung
der Idiotenanstalt in das ganze System der staatlichen
Einrichtungen für geistig Abnorme weitaus vorzuziehen,
wie ich an anderer Stelle*) mehrfach betont und
mit weiteren Gründen belegt habe. Vor allem die
bisher allzu üppig gedeihende Privatinitiative in Bezug
auf die Errichtung von Idiotenanstalten ist abzustellen.
*) Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in
ärztlicher und pädagogischer Beziehung, Wiirzburg 1900, S. 8b
und 90.
• Ueber die Leitung der Idiotcnanstaltcn, in einem der
nächsten Hefte der Zeitschrift für die Behandlung Schwach¬
sinniger und Epileptischer.
[Nr. 4"
Neben den gut 30° () solcher Anstalten unter geist¬
licher Leitung befinden sich noch etwa 40 ° ; ( , der
deutschen Idiotenanstalten in Händen von Privatunter¬
nehmern.
( Dass auch eine Erweiterung des § 174 Abs. 3
D. Str. G. B. auf Privatanstalten am Platz ist, wurde
anderweitig mehrfach hervorgehoben.)
Erst wenn jedem geistig Abnormen die Unter¬
kunft in einer öffentlichen Anstalt als sein Recht,
nicht als ein Gnadengeschenk daigeboten wird, brauchen
wir uns beim Vergleich mit den erwähnten Verhält¬
nissen zur Zeit des Hippokratcs nicht mehr zu schämen
und dann erst nimmt das Irrenwesen den ihm gebühr¬
enden Platz im modernen Staat ein.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Internationaler Aufruf an die Irren- und Nervenärzte.
Jn der Zeit vom 14. bis 19. April d. Js. tagt in
Bremen der IX. Internationale Congress gegen
den Alkoholismus, der erste derartige Congress auf
dem Boden des deutschen Reichs. Es handelt sich
um eine Vereinigung von Vertretern aller Culturstaaten,
Stände und Berufe zur Bekämpfung der gesundheit¬
lichen und socialen Schäden, welche der Alkohol er¬
zeugt. J^der Irren- und Nervenarzt, dem es ge¬
nügend deutlich vorschwebt, welch' grosser Procent¬
satz von Gehirn- und Nervenkranken der Unheilbar¬
keit verfallen ist, bei wie wenigen Krankheiten des
Nervensystems die Ursache bekannt und zugleich greif¬
bar, die Verhütung möglich ist, wird cs freudig be-
grüssen, dass sich gegen den gefährlichsten und offen¬
kundigsten Feind der geistigen Gesundheit, den Al¬
kohol, ein neuer Feldzug vorbereitet. Möge auch
Jeder, der irgendwie abkömmlich ist, durch sein per¬
sönliches Erscheinen bei dem Congress und seine
Betheiligung an den Diskussionen zeigen helfen, dass
wir in der Erfassung und Würdigung der Prophvlaxe
der Geistes- und Nervenkrankheiten nicht nur nicht
hinter Anderen zurückstehen, sondern an erster Stelle
marschiren. Für diejenigen Collegen, welche der
Antialkoholbewegung bisher noch nicht activ und per¬
sönlich näher getreten sind, bietet sich in Bremen
eine vorzügliche Gelegenheit, sich davon zu überzeugen,
welchen grossartigen Umfang diese Bewegung bei den
CulUirvölkern angenommen hat und wie der Kampf
gegen den Alkofu ilismus eine k u 11 u rnothwendige
und k u 11 u r f o r t s c h r i 111 i c h e Erscheinung von der
allergrössten Bedeutung darstellt.
Prof. Dr. G. A n t o n - Graz. Prof. Dr. G. Asc h a f -
f e n b u r g - Halle a. S. Prof. Bleuler- Zürich. Dr.
B r e s le r - Kraschnitz. A. C r am er-Güttingen. Dr.
De 1 b r iick - Bremen. Prof. Dr. Edingcr-Frankfurt
a. M. Prof. Dr. Er b - Heidelberg. Dr. A. Forel-
Chignv bei Morgucs. Dr. G a n se r - Dresden. E.
K r a e p e 1 i n - H ci<leiberg. Dr. M ü b i u s - Leipzig.
Prof. Modi- Berlin. Dr. P a e t z - Alt-Scherbitz. P i c k-
Prag. Pn»f. O p p en h e i m - Berlin. Dr. Schl ö s s -
Kierling-Gugging. Prof. Dr. Som 111er-Giessen.
Italienische Irrenanstalten.
A n s t a 1 1 S. L a z a r o in R e g g i o - E m i 1 i a.
(Siehe beiliegende Tafel.)
E etwa 1 km von Reggio entfernt, liegt an der von
Alters bekannten Via Aemilia eine der sehens-
werthesten Irrenanstalten Italiens. Der Italien
bereisende Psychiater, welcher die Strecke Mailand-
Bologna wählte, hat wenig Umstände, in Reggio auf
eüiige Stunden auszusteigen und die Anstalt in Augen¬
schein zu nehmen. Die grosse Gastfreundschaft der
U< »liegen trägt dazu bei, den Besuch der Anstalt nicht
nur zu einem lehrreichen, sondern auch zu einem
sehr angenehmen zu machen.
Als Leprahaus hat das Hospital des S. Lazarus
□ igitized by Google
schon im XII. Jahrhundert bestanden. Im XVI.
diente cs auch zur Bewahrung von Siechen, Gelähmten,
Taubstummen und Epileptikern und seit 1 536 wurden
Geisteskranke aufgenommen, seit 1754 ausschliesslich
solche. 1810 ei folgte eine neue Organisation unter
Gal Ioni: ärztliche Direktion, Aufnahmenormen etc.:
auch was in baulicher Beziehung damals geleistet
wurde, hat noch für die heutigen Verhältnisse in der
Anstalt S. Lazaro dauernden Werth. Einen bedeuten¬
den Aufschwung nahm die Anstalt unter Livi (1873
bis 1877), besonders in wissenschaftlicher Beziehung;
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 543
Livi begründete auch eine psychiatrische Zeitschrift,
die „Revista spcrimentale di Frcniatria e Medicina
legale delle aliena/ioni mentali“; für die Studirendcn
der Universität Modena wird seitdem die psychiatri¬
sche Klinik in der Anstalt S. Lazarus abgehalten;
Laboratorien und Sammlungen wurden angelegt. Gegen¬
wärtig besitzt die Anstalt ein bakteriologisches, histo¬
logisches (Dr. Ccni), chemisches und psychologisches
(Dr. Guicciardi und Dr. Ferrari) Laboratorium, eine
Schädelsammlung von über 1200 Exemplaren, ein
diagnostisches und ein elektrothcrapeutisches Zimmer,
Räume für Massage, Gymnastik und Hydrotherapie;
eine stattliche Bibliothek, ein Zimmer für Photographie
und Mikrophotographie. Untersuchungen an Thieren
werden auch häufig gemacht; der Bedarf an Thieren
wird aus einem besonderen hierfür angelegten Stall
gedeckt. Die wissenschaftlichen Arbeiten werden in
oben genannter Zeitschrift, die von Tamburini und
Ferrari herausgegeben wird, veröffentlicht und jahr¬
weise in den „Memorie delf Istituto psichiatrico di
Reggio“ gesammelt. Dass ein reges wissenschaftliches
Leben in der Anstalt Reggio herrscht, ist bekannt.
Die maschinellen und wirtschaftlichen Einrich¬
tungen sind ganz modern: elektrische Beleuchtung,
Dampfwaschanstalt, Dampfmühle, Bäckerei, Schläch¬
terei. Die Wasserleitung von Reggio, sowie die eigenen
artesischen Brunnen liefern zusammen täglich 150
cbm Wasser.
An Werkstätten aller Art ist kein Mangel; selbst
Spinnerei und Weberei sind vorhanden; die von den
weiblichen Kranken gefertigten Gewebe verdienen alle
Anerkennung. — Eine landwirtschaftliche Colonic
ist ebenfalls vorhanden. Für jugendliche Kranke ist
eine Schule eingerichtet; ausserdem wird auch an Er¬
wachsene regelmässig Unterricht erteilt; namentlich
wird der Zeichenunterricht sehr gepflegt. Der Ele¬
mentarunterricht wird auch im Interesse des Pflege-
personales äbgehaltcn und nehmen Mitglieder des
letzteren turnusweise daran Theil.
Die Anstalt hat drei Verpflegungsklassen. — Bei
der Beköstigung ist bemerkenswert, dass auch jeder
Kranke der dritten Klasse zum Mittag- und
Abendessen Wein erhält. — Die Zahl der Beschäf¬
tigten beträgt etwa 5O°/ 0 ; es besteht facultative Aus¬
zahlung von Arbeitslohn. — Bei der Behandlung wird
von Bettliegen und prolongirten Bädern ausgiebig Ge¬
brauch gemacht. Zwangsjacke und Isolirung findet
nur ausnahmsweise Anwendung. — Bei Entlassung
Ungeheilter wird eventuell von den Angehörigen ein
Revers eingefordert. — Es besteht ein Verein für ent-
-• — i" 1
M i t t h e i
— Die erste Provinzialanstalt für Nerven¬
kranke. In der Sitzung des hannoverschen Pro¬
vinziallandtages vom 24. Febr. d. J. wurde Beschluss
gefasst über den Antrag des Provinzialausschusses, be¬
treffend den Ankauf der „Rasemühle“*) bei Göttingen
behufs Einrichtung einer Heilanstalt für Nervenkranke
daselbst.
*) Änm. d. Red.: 5 Kilometer von Güttingen idyllisch ge¬
legen, bisher beliebter Ausflugsort der Einwohner der Stadt.
lassene arme Geisteskranke mit dem Sitze in Reggio und
mit einem Vermögen von über 30000 L. Letzteres
ergänzt sich durch Beiträge von Vereinen und Com-
munen, aus dem Ertrag von Lotterien und Wohl-
thätigkeitsvorstellungcn, die in der Anstalt stattfinden,
ferner aus dem Erlös für Eintrittskarten in die letzteren.
Wer nämlich die Anstalt besichtigen will, hat beim
Portier für 1 L. eine Eintrittskarte zu kaufen und
wird erst dann hcrumgeführt. — Bei Pflegerfamilien und
bei pensionirten Pflegern, auch Pflegerinnen, im Nach¬
bardorfe sind Kranke untergebracht; eine weitere
Ausdehnung der Familien pflege wird angestrebt. —
Ca. 100 ruhige chronische Kranke sind der Congre-
gazione di Carita di S. Giovanni in Pcrsiceto über¬
wiesen ; sie werden von Zeit zu Zeit von den Aerzten der
Anstalt in Reggio besucht. — Ein Asyl für chronisch
Kranke will die Prov.-Vcrwaltung noch errichten. — Auf
die Initiative Prof. Tamburini’s wurde 1898 im S.
Giovanni in Persiccto auch ein medicinisch-pädago-
gisehes Institut für schwachsinnige Kinder errichtet.
Es steht unter der Oberaufsicht Tamburini’s.
An der Anstalt in Reggio wirken unter dem Di-
rector, der zugleich Arzt ist (gegenwärtig Prof. Dr.
Tamburini), 3 Primarärzte, deren jedem eine der drei
Abtheilungen der Anstalt verantwortlich zugewiesen
und ein Assistenzarzt beigegeben ist. Ausserdem giebt
es an der Anstalt noch Practikanten, d. h. Aerzte,
die sich in das Studium der Psychiatrie etwas weiter
einführen lassen wollen. Auch ein Prosector und
ein Pharmaceut ist angestellt.
Das Oberpflegepersonal legt täglich seinen Rapport
vor.
Das Verhältnis der männlichen Pflegcpersonen
zu den männlichen Kranken ist 1:7 (10b), das der
weiblichen zu ihren Kranken 1 : 10 (40). Von den
Pflegern werden nur 80 zum eigentlichen Krankendienst
verwendet, 20 zu Werkstätten, Landwirtschaft etc.
Ausserdem sind viele Personen für Tagelohn in der
Anstalt beschäftigt.
Beim Pflegepersonal sind Prämien eingeführt; es
besteht eine gemeinsame Unterstützungskasse (ca.
40000 L.), ausserdem Anschluss an die Arbeiter-In-
validitätsversicherung. Mit dem Personal, das sich aus
der landwirthschafttreibenden Bevölkerung der Um¬
gegend rekrutiert, ist man zufrieden.
Krankenbestand; 1.Januar 1900: 961 (586männl.,
375 wcibl.). Zugang in den letzten Jahren ca. 400
pro Jahr, Abgang ca. 250, Sterbefälle ca. 130. Bilanz
ca. 850000 Lire.
1 u n g e n.
Der Antrag lautete:
1. Die Rasemühle bei Göttingen mit allen dazu
gehörigen Grundstücken in Grösse von 28,8751 Hektar
Gebäuden und Gerechtigkeiten zu einem Preise von
290000 M. anzukaufen, daselbst eine N crvcnheil-
anstalt für minder bemittelte Nervenkranke
unter Aufwendung eines Kostenbetrages von 99 200
M. einzurichten und behufs Versorgung der Provin¬
zial-Heil- und Pllcgeanstalt Göttingen mit Wasser det
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544 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 1902.]
Rasequellen eine Wasserleitung von diesen Quellen
zur Anstalt unter Aufwendung eines Kostenbetrages
von 60800 M. anzulegen; 2. zur Bestreitung der
entstehenden Kosten eine Anleihe im Betrage von
450000 M. aufzunehmen. Dieselbe soll mit 3 Proc.,
höchstens mit 3% Proc. verzinst und bei 3procentiger
Verzinsung mit 1 l j t Proc., bei höherer Verzinsung
aber mit einem so viel niedrigeren Procentsatze getilgt
werden, dass an Zinsen und Tilgungsraten nicht mehr
als 4 ’/ 2 Proc. zu zahlen ist; 3. für den Betrieb der
Nervenheilanstalt für das Halbjahr 1. October 1903
bis 31. März 1904 den in der Anlage III der Er¬
läuterungen des Landesdirectoriums enthaltenen Haus¬
haltsplan zu genehmigen.
Landesdirector Lichtenberg führte hierzu aus,
dass seit Bestehen der Heil- und Pflegeanstalt Gött¬
ingen dort stets Wasser-Kalamität gewesen sei. Die
Gewinnung des einwandfreien Wassers der Rase¬
quellen auf den Grundstücken der Rasemühle sei
deshalb schon lange in Erwägung gezogen worden.
Zur endgültigen Beseitigung der Kalamität sei die
Erwerbung der Rasequellen erforderlich. Diese sei
aber nur möglich, wenn zugleich der ganze, zur Rase¬
mühle gehörige Besitz angekauft wird. Der Besitzer
fordere dafür 310000 M. Aus den Quellen solle
das zur Versorgung der Anstalt erforderliche Wasser
entnommen und in den Gebäuden der Rasemühle
eine Nervenheilanstalt eingerichtet werden. Die Ge¬
bäude seien dazu sehr gut geeignet Die zur Her¬
richtung einer solchen Anstalt erforderlichen baulichen
Einrichtungen würden mit einem Kostenauf wände von
40000 M. zu beschaffen sein. Es würden dann 75
Patienten, und zwar 15 der oberen Klasse und 60 der
unteren Klasse, angemessen untergebracht werden
können. Die Kosten für die sonstigen Anschaffungen
beliefen sich auf rund 53 000 M. Die Wassermengen
der Rasequellen seien so beträchtlich, dass die Pro¬
vinz in der Lage sein werde, nicht nur den Wasser¬
bedarf der Anstalt zu decken, sondern auch von dem
werthvollen Rasewasser an andere abzugeben.
Nach diesem Referat begründete Prof, Dr. Cramer-
Göttingen eingehend die Nothwendigkeit der Erricht¬
ung der Nervenheilanstalt vom ärztlichen Standpuncte
mit ungefähr folgenden Ausführungen:
Man hat versucht, das verflossene Jahrhundert als
das nervöse zu bezeichnen; wenn auch mit einer der¬
artigen Bezeichnung entschieden zu weit gegangen ist,
so lässt sich doch nicht leugnen, dass die Nervosität
im allgemeinen immer mehr um sich greift und all¬
mählich zu einer socialen Gefahr sich entwickelt.
Denn gerade die Kopfarbeiter unterliegen je nach
ihrer individuellen Disposition und unter dem Einfluss
zufälliger Schädlichkeiten, welche auf sie einwirken,
früher oder später der Ueberanstrengung und versagen
an ihrer Leistungsfähigkeit; sie zeigen alsdann die
verschiedenartigsten Erscheinungen der nervösen Er¬
schöpfung. Dazu kommt das grosse, täglich -sich
mehrende Heer von Unfallkranken aus den verschie¬
denartigsten industriellen Betrieben. Es drängt sich
jedem Nerven- und Irrenarzt täglich die Erfahrung
in immer neuen Gestalten entgegen, dass es schwer
ist oder meistens ganz unmöglich, diesen Kranken
die Pflege und Behandlung angedeihen zu lassen,
welcher sie bedürfen. Nur ein ganz geringer Theil,
und zwar diejenigen, welche der besitzenden Klasse
angehören, sind in der Lage, eine geeignete Anstalt
oder ein Sanatorium aufsuchen zu können, und doch
ist erste Bedingung für eine geeignete Behandlung
dieser Zustände Entfernung aus der gewohnten Um¬
gebung, vollständige Ausspannung bei geeigneter, in¬
dividuell angefasster Behandlung. — Ein Unterkom¬
men in einem modernen, auf der Höhe der Zeit
stehenden und sachgemäss geleiteten Sanatorium zu
finden, ist heute unmöglich, wenn man nicht 6—10 M. in
den Sanatorien von geringem Rufe, 12—20 M. und mehr
in den Sanatorien von gutem Rufe, unvermeidliche Neben-
ausgaben noch nicht mitgerechnet, pro Tag zahlen will.
— Es ist unsere feste Ueberzeugung, dass in nicht
zu ferner Zukunft die meisten Communen und Pro¬
vinzen vorgehen müssen, um diesem Uebelstande ab¬
zuhelfen. Es muss Gelegenheit geschaffen werden,
auch den nicht Bemittelten einen Aufenthalt in einein
zweckmässig eingerichteten und geleiteten Sanatorium
zu ermöglichen. Auf diese Weise wird in nicht we¬
nigen Fällen dem vorgebeugt werden, dass die un¬
terstützungsverpflichteten Gemein wiesen dauernd arbeits¬
unfähige und chronische Geisteskranke zur dauernden
Fürsorge erhalten. Es handelt sich also nicht nur
umeinewohlthätige Einrichtung an sich, sondern um eine
Vorbeugungsmaassregel im wahrsten Sinne des
Wortes, wenn öffentliche Nerven an st al t en
geschaffen werden. Die Provinz Hannover wird,
wenn sie sich entschliesst, die Rasemühle zu dem
mehrfach gedachten Zwecke anzukaufen, auf diesem
Gebiete der Wohlfahrtsbestrebungen an die Spitze
von ganz Deutschland treten und, wie sie früher mit
der Einrichtung der Ackerbaukolonie in Einum und
der Einrichtung der freien Behandlung in Göttingen
in der Irrenpflege ganz Deutschland die Wege wies,
auch auf diesem neuesten Felde der socialen Für¬
sorge die führende Stellung einnehmen. Wie die ver¬
schiedenen, von uns beigelegten Etats beweisen, würde
der Ankauf der Rasemühle den Betrieb einer der¬
artigen Nervenheilanstalt ohne grosse dauernde und
regelmässige financielle Ausgaben ermöglichen lassen.
Da die Anstalt nur dem Mittelstand und den Unbe¬
mittelten zur Heilung und Pflege dienen soll, kommt
bei den Verpflegungssätzen eine 1. Klasse in Weg¬
fall. Die höchste Klasse der Rasemühle wird zu
einem Satze von 3 M., die 2. Klasse zu einem Ver-
pflegssatze von 2 M. in Anschlag zu bringen sein.
Nach kurzer Debatte, in welcher u. A. behauptet
wmrde, dass die Errichtung von Nervenheilstätten nicht
zu den Aufgaben der Provinzialverwaltung gehöre,
erfolgte Ueberweisung des Antrags an eine Commission
von 12 Mitgliedern. —
Wir beglückwünschen die hannoversche Prov.-
Verwaltung (Herrn Landesdirector Dr. Lichtenberg
ebenso wie Herrn Prof. Dr. Cram er, den intellektuellen
Urheber jenes Antrags) auf’s Freudigste zu dieser zeit-
gemässen Initiative.
Der Antrag des Provinzialausschusses wurde in der
Plenarsitzung vom 27. Febr. mit grosser Majorität ange¬
nommen. Die Anstalt wird bereits am 1. Okt. d J. eröffnet.
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Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lireslcr, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann'sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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ge zur „Psychiatrisch - Neurologischen Wochenschrift“
IV. Jahrgang, Heft 49.
Verlag von Carl Marhold in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
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Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraachnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 50. 14 . März. 1903.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1 — 2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Zur Familienverpflegung der Irren in Holland. Mitgetheilt von Walter Berger (S. 545). — Bemerkungen
zur Genese der Tetanie. Von Dr. G. von Voss, St. Petersburg (S. 549). — Mittheilungen (S. 551). — Personalnach-
richten (S. 552).
Zur Familienverpflegung der Irren in Holland.
Mitgetheilt von Walter Berger.
ie Familien Verpflegung der Geisteskranken, di.:
nach dem einstimmigen Urtheile der hollän¬
dischen Autoren als integrirender Theil der Irren¬
pflege und als ein therapeutisches Agens betrachtet
werden muss, steht in Holland in engem Zusammen¬
hänge mit Irrenanstalten; sie geht von der Anstalt
aus und liegt in den Händen des dirigirenden Arztes
und der übrigen Aerzte der Anstalt. In der Regel
werden die Kranken aus der Anstalt in Familien im
Bereiche dieser in Pflege gegeben, es kann aber auch
Vorkommen, dass Kranke aus einer andern Anstalt,
die keine Pflegecolonic besitzt, in eine fremde Colonie
überführt werden. Als Leiter der einzelnen Familien¬
oder Hauswesen (Hospes) kommen in erster Reihe
verheirathete Pfleger oder Pflegerinnen in Betracht,
die noch in der Anstalt Dienst thun oder gethan
haben, oder Familien, in denen sich eine unverhei-
rathete Pflegerin befindet. Der Hospes und die
Glieder des Haushaltes sind als Pfleger und Pflege¬
rinnen zu betrachten. Durch den Umgang und das
Zusammenleben mit Irren breitet sich übrigens das
(losch ick und die Befähigung zu diesem Umgänge
unter der Bevölkerung der Colonicn aus und es
können auch andere Personen, die vorher in keiner
Beziehung zur Irrenpflege gestanden haben, als Pfleger
in Berücksichtigung kommen, doch müssen sie für
diesen Beruf besonders vorbereitet werden, wie auch
die Personen, die mit der Controlle betraut sind.
Als Beweis, wie sehr sich das Geschick für die Irren-
pflege ausbreiten und vererben kann, dienen die Be¬
wohner der Umgegend von Glied, die geborene
Pfleger genannt werden; auch in den Umgegenden
von Ermelo und Meerenberg, wo die Familienpflege
der Irren bisher die meiste Ausbreitung in Holland
gefunden hat, wachsen Geschlechter auf, die von Jugend
auf an den Anblick von Geisteskranken gewöhnt, zum
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54 6 . PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50.
Theil auch mit dem Umgang mit ihnen vertraut
sind.
Der Zweck der Familien Verpflegung ist ein ver¬
schiedener. In manchen Fällen soll sie den Ueber-
gang zur Rückkehr in die Gesellschaft bilden und es
ist dies selbst in Fällen möglich geworden, in denen
die Kranken nach früheren Ansichten lebenslang in
der Anstalt hätten bleiben müssen. In andern Fällen
hält man den Aufenthalt in tler Familie für vortheil-
haft, nicht sowohl in Hinsicht auf die Herstellung
der Kranken, als vielmehr als ein Mittel, ihnen das
Leben angenehm zu machen; der Erfolg ist gewöhn¬
lich gut und übertrilTt manchmal die Erwartung. In
manchen Fällen soll die Familienpflegc nur eine
Probe sein, um zu sehen, ob Pat., die in der ge¬
schlossenen Anstalt schwierig und unbequem zu ver¬
sorgen und unzufrieden sind, sich in andern Ver¬
hältnissen besser befinden und zufrieden sind; die
Pflege in der Familie bietet mehr Gelegenheit zu in-
dividualisiren, die Person des Kranken kann mehr zur
Geltung und zu ihrem Rechte kommen, der Kranke
hat mehr Gelegenheit, sich nach seinem Geschmack
und seiner Neigung zu beschäftigen, Liebhabereien
zu treiben, wozu sich in der Anstalt nicht so leicht
die Gelegenheit findet. In vielen Fällen ist der
Zweck der, Kranken, die ihr eigenes Heim vermissen,
einen Ersatz dafür zu bieten ; für solche Kranke ist
das Mögliche erreicht, wenn sie sich in der Familie,
die sie aufgenommen hat, heimisch fühlen, und dieses
Ziel wird oft erreicht; die Kranken schliessen sich
oft innig an die Familie an; einen besonders gün¬
stigen Einfluss übt dabei die Gegenwart von Kindern
aus, mit denen sich die Kranken meist gern be¬
schäftigen und für die sie oft in rührender Anhäng¬
lichkeit besorgt sind.
Der Kranke geniesst dabei so viel Freiheit als
möglich, lebt inmitten von Gesunden, die sich mehr
und eingehender mit ihm beschäftigen können, als
es die Wärter in der Anstalt thun können; infolge¬
dessen fühlt er seine Hülfsbedürftig- und Abhängigkeit so
wenig als möglich; er kann ungehindert ein und ausgehen,
kann sich an der Unterhaltung und der Arbeit be¬
theiligen, steht in lebhafterem Verkehr und empfängt
mehr Anregung als im einförmigen Anstaltsleben;
nicht ohne Bedeutung ist dabei auch der Umstand,
dass der Kranke sich in einer ihm vorher ganz fremden
Familie befindet. Aber nicht blos für den Kranken
hat die freie Verpflegung Vortheile, sondern auch für
die Anstalt und das Pflegepersonal, sowie auch für
die Bewohner der Colonien. Die Anstalt wird ent¬
lastet, der L T eberfüllung wird vorgebeugt und Platz
für acute Fälle geschafft. Den Pflegern, namentlich
dem männlichen Theile derselben, wird Gelegenheit
geboten, sich zu verheirathen und einen eigenen Haus¬
stand zu gründen; sie können den Dienst in der An¬
stalt aufgeben und doch fortfahren, ihr nützlich zu
sein, können aber auch ihren Dienst in der Anstalt
beibehalten und auf diese Weise können gute Kräfte
der Anstalt länger erhalten und an sie gebunden
werden, wenn ihre Zukunft gesichert ist. Aus finan-
ciellem Gesichtspuncte entspringen Vortheile sowohl
daraus, dass die Aussichten für die Kranken, in die
Gesellschaft zurückzukehren, grösser werden, als auch
daraus, dass die productive Arbeit der Kranken besser
zur Geltung kommt. Für die Bewohner der Colonie
ist die mit der Pflege verbundene Einnahme eine
Hülfe, den Wohlstand zu befördern. Als ein nicht
geringer Vortheil kann es auch betrachtet werden,
wenn dadurch bessere Begriffe über die Irrenfürsorge
in das Publicum dringen und die Angehörigen der
Kranken sich leichter und eher entschHessen, die
Aufnahme in eine Anstalt zu bewirken.
Als ein Nachtheil für die Anstalt ist es betrachtet
worden, dass gerade die ruhigen, verträglichen, ordent¬
lichen und arbeitsamen Kranken durch die Ueber-
gabe in Familienpflege der Anstalt entzogen werden, die
für die Anstaltsbevölkerung einen guten Kern bilden
und für die Erhaltung des Friedens und der Gesellig¬
keit unentbehrlich sind. Das ist aber nur zum Theil
und bedingt richtig und nicht von ausschlaggebender
Bedeutung, denn es werden ja die ruhigen und thätigen
Kranken nicht alle und nicht zugleich der Anstalt
entzogen, es bleiben immer noch genug derartige
Kranke zurück, die aus irgend einem Grunde nicht
zur Familienpflege geeignet sind; es werden aber
auch manche entfernt, die in einer Anstalt mit fest
gebundener Organisation störend wirken können, in
der Familie aber sich besser an ihrem Platze fühlen
und es in der That auch sind. Wenn die grosse
Gruppe derjenigen Kranken, die ohne jede Störung
durch ein besonderes Ereigniss in der Anstalt ihr
Leben ruhig verbringen und der Anstalt mehr den
Character eines Versorgungshauscs aufprägen, in
Familienpflege gegeben wird und nur die Kranken
in der Anstalt bleiben, die specielle Pflege und Be¬
handlung verlangen, nimmt die Anstalt mehr den
Character . eines Krankenhauses an, in das die in
Familienpflege Untergebrachten zurückkehren, wenn
sie an einer intercurrenten Krankheit erkranken oder
bedenkliche Symptome auftreten, die specielle Beob¬
achtung und Behandlung erfordern.
Keine Form der Geistesstörung schliesst die
Familienverpflegung aus. Bei der Auswahl der Kranken
kommt es nur auf ihre Art und Individualität und
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ihren Zustand an. Gefährliche, widersetzliche, zer¬
störende Kranke, solche Kranke, die eine fort¬
währende strenge Ueberwachung brauchen, sind na¬
türlich nicht für die Familienpflege geeignet. Dagegen
eignen sich in erster Reihe dazu ruhige, chronische
Kranke, solche mit primären und secundären
Schwächezuständen und Reconvalescenten, arbeits-
same Kranke, die durch Beschäftigung vortheilhaft
erweckt werden können, solche, die eine Anregung
brauchen, die sie in der geschlossenen Anstalt weniger
haben können. Es kommt übrigens vor, dass sich
Patienten als geeignet für die Familienpflege erweisen,
von denen man es nicht erwartet hätte. Van
Dev ent er theilt aus der Familienpflege der Anstalt
Meerenberg 16 Fälle mit, die nach seiner Meinung
den Schluss gestatten, dass die freie Verpflegung selbst
in scheinbar hoffnungslosen Fällen, bei äusserst un-
lenkbaren und gefährlichen Individuen mit Erfolg an¬
gewendet werden kann. Es war merkwürdig, wie
diese Verpflegung bei Patienten einwirken konnte, die
Neigung hatten, zu excediren, wenn nur Sorge ge¬
tragen wurde, dass sie in eine für sie geeignete Um¬
gebung kamen. Jeder Patient stellt seine besonderen
Anforderungen und es liegt auf der Hand, dass die
Anstaltsärzte, die den Kranken genau beobachtet
haben, am besten geeignet sind, ihren Einfluss auch
in der Familienpflege auf ihn auszudehnen. Auch
die Wahl der Pflegefamilie kann manche Schwierig¬
keiten bieten und am besten ist es, wenn auch diese
dem Arzte genau bekannt ist. Trotzdem gelingt es
nicht immer beim ersten Male gleich, das richtige
zu treffen, sondern manchmal erst nach öfterem
Wechsel. Es kann durchaus nicht als ein Fehler des
Anordnenden bezeichnet werden, wenn Kranker und
Familie nicht für einander passen, denn dabei kommen
Eigenthümlichkeiten in Frage, die sich leicht der Be¬
rechnung entziehen. Besonders dann ist die Auswahl
einer Familie für einen Kranken mit Schwierigkeiten
verbunden, wenn dieser aus einer fremden Anstalt
kommt. Am besten ist es auf jeden Fall, wenn der
Kranke auch in der Familienpflege den Arzt behält, der
ihn in der Anstalt behandelt hat.
In solchen Anstalten, in denen vorwiegend arme
Kranke auf Kosten des Staates oder der Gemeinden
untergebracht sind, haben sich bis vor kurzer Zeit
der Einführung der Familien Verpflegung Schwierig¬
keiten in den Weg gestellt, die auf gesetzlichen Be¬
stimmungen beruhen ; während in denjenigen Anstalten,
deren Insassen vorwiegend den mehr begüterten
Klassen angehören, derartige Rücksichten nicht zu
nehmen sind, so dass sich die Einführung schon vor
längerer Zeit ohne Schwierigkeit vollziehen liess.
Durch einen Erlass der holländischen Regierung vom
24. Nov. 1900 aber, nach dem Staatsbeiträge auch
für solche Kranke gewährt werden, die nicht in der
Anstalt selbst verpflegt werden, ist dieses Hindemiss
beseitigt werden. Es wird dadurch auch für die
armen Kranken die Abgabe in Familienpflege ermög¬
licht und diese Art der Verpflegung wird durchaus
nicht kostspieliger als die in der Anstalt selbst. Für
auf Staatskosten verpflegte Kranke besteht indessen
die Vorschrift, dass sie vorher mindestens 3 Monate
in einer Staatsanstalt verpflegt w’orden sein müssen,
ehe sie in Familienpflege gegeben werden können.
Kranke, die auf Gemeindekosten verpflegt werden,
müssen, wenn für sie ein Staatsbeitrag gewährt werden
soll, mindestens ein halbes Jahr lang in einer Irren¬
oder Idiotenanstalt gewesen sein. Ferner soll nicht
mehr als der 10. Theil der in einer Anstalt befind¬
lichen Kranken in Familienpflege gegeben werden,
und für den 10. Theil der in Familien untergebrachten
Kranken müssen in der Anstalt Plätze frei gehalten
werden, damit eine eventuell nothw’endig werdende
Rück Versetzung in die Anstalt ohne Verzug statt¬
finden kann. Die Kosten der Familienverpflegung
sind übrigens nach den bisherigen Erfahrungen be¬
deutend geringer als die der Verpflegung in der An¬
stalt selbst
Am ausgedehntesten und zugleich am ältesten in
Holland ist die Familien pflege der Anstalt Vekhvijk
zu Emielo, wo die. Kranken meist den mehr be¬
güterten Klassen angehören, so dass auf gesetzlichen
Bestimmungen beruhende Rücksichten der Einführung
nicht hindernd im Wege standen. Neuerdings wurde
es in Folge der erwähnten Verordnung, dass Kranke,
zu deren Verpflegung Staatsbeiträge gewährt werden,
nicht in der Anstalt selbst verpflegt zu werden
brauchen, auch in Meerenberg, w-o die meisten
Kranken den ärmeren Klassen angehören, möglich,
vom Dezember [901 an, solche Kranke in Familien¬
pflege zu geben, während dies bei den den mehr be¬
güterten Klassen angehörenden Kranken schon seit
189.2, unabhängig von der Anstalt, geschehen ist.
Mehr oder weniger in Gebrauch ist die Familienver¬
pflegung auch in den Anstalten Grave, Medernblik,
Dennenoord und Bloemendaal. Ein genauer Bericht
liegt nur aus Veldwijk von J. H. A. van Dale vor.
In Veldwijk wurde schon im Jahre 1886 mit der
Familienpflege begonnen, aber erst neuerdings hat sie
grössere Ausdehnung gewonnen. Von 1895 an, wo
17 Personen sich in Fainilicnpflege im Dorfe be¬
fanden, ist die Anzahl der in dieser Weise Verpflegten
langsam gestiegen; im Jahre 1896 wurden 31, im J.
1897 37, im J. 1898 33, im j. 1899 37 und im
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54ö PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50.
J. 1900 44 Kranke in Familien verpflegt. Von den
37 Familien, in denen die Kranken untergebracht
sind, sind 19 die Familien von Beamten der Anstalt,
8 haben keine Beamten der Anstalt zum Familien¬
haupt, stehen aber in enger Beziehung zur Anstalt.
Als Anleitung für den Umgang mit den Kranken
dient eine von Dr. Schermers bearbeitete Schrift.
Die Verpflegung, wie sie in Veldwijk eingerichtet
ist, findet in verschiedener Weise statt. i. In zwei
Villen, die die Anstalt gekauft und eingerichtet hat,
sind von Beamten der Anstalt geleitete Haushaltungen
eingesetzt, die direct von der Anstalt abhüngen.
2. In der Mehrzahl der Fälle sind die Kranken , in
bestehenden Haushaltungen aufgenommen und leben
ganz in den Familien. 3. In einigen Fällen sind
die Kranken bei Familien in Pension, haben aber
ihr eigenes Zimmer und leben für sich. 4. In ein¬
zelnen Fällen haben sich die Familien der Kranken
in der Umgegend niedergelassen, so dass die Patienten
in ihren eigenen Familien leben. Der Kranke wird
stets als ein Glied der Familie betrachtet und als
ein Kranker behandelt, er wird täglich, zu verschie¬
denen Zeiten, von einem Beamten der Anstalt be¬
sucht, wöchentlich einmal vom dirigirenden Arzte oder
von einem anderen Arzte der Anstalt und über die
Besuche wird Protokoll geführt.
Von den Kranken konnten 2, die an Melancholie
gelitten und die Zeit ihrer Reconvalescenz in der
Familienpflege zugebracht hatten, in die Gesellschaft
und ihre frühere Stellung zurückkehren, eine schon
lange an Insania neurotica leidende Kranke konnte
wesentlich gebessert aus der Pflege entlassen werden.
Acht Kranke, vier männliche und vier weibliche,
kehrten in die Anstalt zurück, zum Theil auf ihren
eigenen Wunsch, zum Theil, weil ihre Pflege in der
Familie zu beschwerlich war. Ein an Paranoia
leidender Kranker, der seit Jahren abwechselnd in
der Anstalt und in Familie, nach eigener Wahl und
in Zusammenhang mit seinen krankhaften Vorstellungen
verpflegt wurde, kehrte in die Anstalt zurück, traf
aber zur Zeit der Mittheiiung schon wieder vorbe¬
reitende Anstalten, sich wieder in Familien pflege zu
begeben. Ein anderer an Paranoia leidender, der
seit Ende October 1897 in einer Familie verpflegt
wurde, bekam Verfolgungswahnideen, die sich auf
seinen Hospes bezogen , und verlangte selbst, wieder
in die Anstalt aufgenommen zu werden. Ein an
Dementia senilis Leidender wurde zu lästig und
musste deshalb wieder internirt werden. Ein jugend¬
licher Imbeciller musste wegen seines ungehörigen und
unleidlichen Betragens wieder in die Anstalt zurück¬
versetzt werden. Eine unzufriedene und schwer zu
befriedigende, an Insania neurotica Leidende wurde
versuchsweise in Familienpflege gegeben, konnte cs
aber auch da nicht aushalten. Eine Kranke, die aus
Familienpflege in ihre eigene Familie entlassen worden
war, verfiel in einen Zustand von Stupor und wurde,
als es sich gezeigt hatte, dass ihre Pflege in der
Familie zu beschwerlich war, wieder in der Anstalt
aufgenommen. Eine an Dementia moralis Leidende,
bei der die Familienpflege als Mittel, sie wieder in
die Gesellschaft zurückzuführen, angewendet worden
war, konnte keine passende Stellung finden, verlor
den Muth und kehrte nach einigen Wochen selbst¬
ständiger Führung in die Anstalt zurück. Eine an¬
dere musste in die Anstalt zurückgenommen werden,
weil sie durch fortwährendes Klagen zu lästig w r ar.
Unfille kamen mit den Patienten nicht vor und ihre
Rückkehr in die Anstalt ging stets ohne Beschwerde
vor sich.
Ende 1900 waren noch 33 Kranke (14 männl.,
19 weibl.) in Familienpflege, je 1 seit 1891, 1893
und 1895, 8 seit 1897, 4 seit 1898, 7 seit 1899
und 11 seit 1900. Von den 14 männl. Kranken
waren 8 als Handwerker in den Werkstätten der
Anstalt thätig, 2 zu Hause mit schriftlichen Arbeiten,
die übrigen 4 verrichteten keine bestimmte Arbeit.
Die weiblichen Kranken waren ohne Ausnahme im
Haushalte thätig oder verrichteten weibliche Hand¬
arbeiten, eine w'ar in der Wäschekammer der Anstalt
thätig.
van Deventer, Vrije verpleging. Psych. en.
neurol. Bladen. 1901. blz. 48. — D. Schermers.
Gezinsverpleging. Ibid. blz. 93. — J. H. A. van
Dale. Veldwijksgezinsverpleging. Ibid. blz. 189. —
van De venter, van Dale en Vos. Rapport in-
zake de gezinsverpleging von krankzinnigen. Ibid.
1902. blz. 240. — van Dev enter, Gezinsverpleging.
Ibid. blz. 273.
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1902.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
549
Bemerkungen zur Genese der Tetanie.
Von Dr. G. von Poss (St. Petersburg).
|~^ie eigentümliche Erkrankungsform der Tetanie
und ihre vielfachen Beziehungen zu anderen
Krankheiten haben zu sehr verschiedenen Erklärungs¬
versuchen ihrer Entstehung Veranlassung gegeben.
In der 18g6 erschienenen Monographie von Frankl-
H oc hwart *) werden etwa 5 diesbezügliche Hypo¬
thesen erwähnt und discutirt, wobei der Autor sich
für die Wahrscheinlichkeit einer infectiösen Ursache
ausspricht. In einer fiüheren Arbeit **) habe ich
mich dieser Auffassung angeschlossen und die Ueber-
einstimmung in dem Auftreten der Tetanie in Peters¬
burg und Wien betont. Trotz der Annahme eines
infectiösen Agens als Erreger dieser eigentümlichen
Krampfkrankheit bleiben aber Formen derselben
übrig, für welche diese Erklärung gezwungen oder
gar unmöglich erscheint. Das Zusammenvorkommen
der Tetanie mit anderweitigen motorischen Erkran¬
kungsformen und Erscheinungen (Myotonie, Beschäfti¬
gungskrämpfe, Epilepsie) haben mich veranlasst, nach
neuen genetischen Erklärungen zu suchen. Zunächst
möchte ich darauf hinweisen, dass die wenigen patho¬
logisch-anatomischen Befunde auf eine Localisation
der Erkrankung im Rückenmark hinzuweisen scheinen;
für diese Möglichkeit sprechen sich Frankl-
Hochwart und N e u s s e r aus. Die häufigen
Rückfälle der Krankheit, das Fehlen von Lähmungs¬
erscheinungen dürfte wohl gegen einen destruirenden
entzündlichen Process sprechen, es handelt sich
also eher um einen Reizzustand in den Vorder-
hörnern und besonders in den Ganglienzellen der¬
selben. Die Schmerzhaftigkeit der Krämpfe braucht
nicht auf eine Wurzelaffection hinzuweisen, die
tonische Muskelcontraction ist an sich schmerzaus-
lösend. Wenden wir uns der Betrachtung eines an¬
deren motorischen Symptomencomplexes, der Epilepsie,
zu, die gleichfalls mehr oder weniger typische Krampf¬
anfälle als Haupterscheinungen hervorruft, so sehen
wir, dass in letzter Zeit ihre Abhängigkeit von mo¬
torischen Centren höherer Ordnung w r ohl so ziemlich
als bewiesen erachtet werden kann (Binswanger ***).
Zur Entstehung der Epilepsie ist eine bestimmte
Veränderung der Hirnrinde nothwendig, die man
*) Nothnagel^ Handbuch Band IX.
**) Monatsschrift für Psychiatrie und Nervenkrankheiten.
Bd. VIII. H. 2. 1900.
***) Nothnagei’s Handbuch Bd. VII.
kurzweg als Spasmophilie (Fere) bezeichnet hat. Eine
Auslösung dei Krämpfe findet durch secundäre Ur¬
sachen statt, unter denen die verschiedensten Factoren
zu nennen sind, der Hauptsache nach mechanische,
chemische, thermische, infectiöse Noxen. Da wir
das pathologisch-anatomische Substrat der Epilepsie
nur in der Minderzahl aller Fälle zu finden vermögen,
wo nämlich grobe anatomische Laesionen vorliegen,
für die Mehrzahl aber i. e. die sog. idiopathischen
Fälle der anatomische Process uns verborgen ist, be¬
gnügen wir uns damit, die Epilepsie als Neurose zu
bezeichnen. Fassen wir nun die Epilepsie als
Krampfneurose der höheren motorischen Centren auf,
so scheint es mir berechtigt, die Tetanie als Krampf¬
neurose der niederen motorischen (Rückenmarks-)
Centren zu bezeichnen. Der nähere Zusammenhang
der genannten Krankheiten wird nicht nur durch
diese hypothetischen Localisationen bewiesen. Ich
stütze mich hierbei zunächst auf die Autorität von
Frankl-Hoch wart’s und dann auf unzweifelhafte
klinische Thatsachen. Zu den vom ebengenannten
Autor citirten Fällen von Fried mann, Gottstein,
Chvostek, von Jak sch u. a. sind neuere wuchtige
Beobachtungen hinzugekommen. Kürzlich hatte ich
Gelegenheit ein zehnjähriges Mädchen zu sehen, das
vor einem halben Jahre an typischen Tetanieanfällen
erkrankt w'ar, die Krämpfe traten aber nur vereinzelt
auf, meist Nachts. Nach Ablauf einiger Monate
stellten sich echte epileptische Krampfanfälle mit
Zungenbiss und Bewusstlosigkeit ein. Bei der ein¬
maligen Untersuchung konnte ich nur das Vorhanden¬
sein des Trousseau’schen und Chvostek’schen Phäno¬
mens nachw'eisen; leider entzog sich die Kranke der
weitem Beobachtung. Der von Jaksch *) beobach¬
tete Fall schwerer cerebraler Erkrankung (Tumor?)
zeigte typische Tetanieanfälle mit Trousseau, Chvostek
und gesteigerter galvanischer Erregbarkeit. Im Laufe
der Behandlung beobachtete v. Jaksch einen typi¬
schen epileptiformen Anfall; er hält das Zusammen¬
treffen beider Krampfformen nicht für Zufall, sondern
spricht von der Möglichkeit einer Localisation der ge¬
meinsamen Krankheitsursache im Ependym des III.
Ventrikels. Von besonderem Interesse ist ferner der
Fall von E h rhard t**): 3 Tage nach fast totaler
*) Zeitschrift für klin. Medicin Bd. 17. Supl. Heft S. 144.
**) Mittheilung aus den Grenzgebieten ftlr innere Medicin
und Chirurgie. Bd. X. Heft 1 und 2. S. 225.
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550
Exstirpation der malign entarteten Schilddrüse traten
unter ziehenden Schmerzen Krämpfe in den Vorder¬
armen auf, wobei das Sensorium frei blieb. Chvostek
und Trousseau vorhanden, galvanische Erregbarkeit
gesteigert. Daneben traten bald Anfälle allgemein
clonisch-tonischer Krämpfe mit Bewusstseinsverlust,
typisch epileptischer Art, auf. Andere Anfälle trugen
den Character von Mischformen der Epilepsie und
Tetanie. Die hierher gehörige Arbeit von Clark
„Tetanoid seizures in Epilepsia“ *) war mir leider
nicht zugänglich. Ganz übereinstimmend mit der
Ehrhardt’sehen Schilderung ist der erste von 2
Tetaniefällen, die neuerdings W es t p ha 1 beschrieben.
Auch hier hatten sich nach der Strumektomie typische
Tetanieanfälle eingestellt, zu denen sich nach Ablauf
eines halben Jahres einerseits epileptiformc Krampf¬
anfälle mit Bewusstseinsverlust, andererseits „eigenthüm-
liche Misch- und Uebergangsformen“ beider Krampf¬
bilder gesellten. Mit Recht betont Westphal das
wahrscheinliche Vorhandensein von Toxinen, als ge¬
meinsame Ursache der Tetanie und Epilepsie, die
meines Erachtens hier gewiss nur als verschiedene
Symptome eines Krankheitsprocesses angesehen
werden dürfen.
Neben der Epilepsie zeigt noch eine andere Er¬
krankung des motorischen Systems eine Verwandt¬
schaft zur Tetanie, nämlich die Myotonie im weiteren
Sinne, wie ich in meiner oben citirten Arbeit betont
habe [man vgl. auch die Arbeiten von J o 1 1 y **) und
J acobi ***)]. Es kommen auch nicht allzuselten Com-
binationen beider Krankheiten vor. G owers t) macht
für die Entstehung myotonischer Erscheinungen, wie
mir scheint, mit Recht eine Erkrankung de* Vorder-
hömer des Rückenmarks verantwortlich; ich nehme
für die Tetanie eine ähnliche Localisation in Anspruch,
eine Combination beider Störungen wäre auf diese Weise
erklärlich. Endlich möchte ich noch an die Chorea
minor (infectiosa-W o 11 e n b e r g) erinnern, die in ihrer
Abhängigkeit von infectiösen Processen, der Neigung
zu Recidiven und der Form der bei derselben beob¬
achteten Geistesstörung gewisse Analogien mit der
Tetanie zeigt.
In allerletzter Zeit hat Peters ff) bei Kindern,
die intra vitam an Tetanie gelitten, eine Pachymenin-
gitis haemorrhagica acuta mit einer Neuritis intersti-
tialis der Wurzeln und Entzündung der Spinalgang-
licnzcllen gefunden. Er vermuthet hierin den der
*) Amer. Journal of insanity April 1899.
**) Neurol. Centralbl. 1896. S. 140.
***) >jew Yorker med. Monatsschr. 1898. Nr. 8.
j) Centralblatt für Nervenheilkunde. 1892, Februar.
ff) Petersburger med. Wochenschrift. 1902 S. 411.
[Nr. ^30.
Tetanie zu Grunde liegenden Process gefunden zu
haben. Ohne auf die genaue Besprechung dieser
Befunde eingehen zu wollen, will ich nur bemerken,
dass dieselben sich mit den früheien Sectionsresuitaten
bei Erwachsenen und Kindern kaum in Ueberein-
Stimmung bringen lassen;*) auch lässt die Peters'sehe
Annahme keine Erklärung für die Symptome von
Seiten der Himnerven zu, noch weniger aber ist sie
auf alle Fälle von Tetanie anwendbar (z. B. nach
Strumektomie!). Viel wahrscheinlicher ist es, dass
ineningitische Erscheinungen im Bereiche des Rücken¬
marks zu directer oder reflectorischer Reizung der
Wurzeln und Vorderhörner und dadurch zur Te¬
tanie führen können.
Ich brauche nicht besonders hervorzuheben, dass
die Annahme einer spasmophilen Diathese der Vor¬
derhörner des Rückenmarks als Entstehungsursache
der Tetanie eigentlich nur eine Praecisierung der
früheren Annahme von einer reflectorischen Ent¬
stehung dieser Krankheit ist. Dass die Tetanie bei
Kindern verhältnissmässig häufig ist, stimmt einerseits
mit dem von Sol tmann festgestellten erhöhten Tonus
der kindlichen Musculatur und dem häufigen Vor¬
kommen von epileptischen und epileptiformen i. e.
eclamptischen Krämpfen überein, andererseits scheint
die bei Kindern so häufige Rhachitis eine Entstehung
der Tetanie zu begünstigen. Andauernde, ange¬
strengte Arbeit mit den oberen Extremitäten, wie sie
bei vielen Handwerkern die Regel ist, mag die Dia¬
these entstehen lassen; tritt eine Infection sui generis
(die eventuell an gewisse Städte gebunden ist und
eine Abhängigkeit von den Jahreszeiten zeigt) hinzu,
so werden die Tetanieanfälle ausgelöst. Verschiedene
toxische Substanzen (besonders das Blei) scheinen
ähnlich praedisponierend zu wirken. Andere Toxine
(in der Gravidität, die an und für sich zu gewissen
Krampfformen zu disponieren scheint, ich erinnere
nur an die Chorea und Eclampsia gravidarum, ferner
bei Magendarmstörungen) rufen offenbar ebenfalls
die Tetaniediathese hervor, wobei dann durch das
Hinzutreten eines mechanischen Reizes (Einführen
der Magensonde z. B.) der Anfall entsteht. In be¬
sonders specifischer Weise scheint die Kropfexstir¬
pation zu wirken, die hierbei entstehenden Toxine
müssen in electiver Weise die motorischen Centren
reizen.
Die obigen Erwägungen scheinen mir erstens
den nahen Zusammenhang der Tetanie mit der Epi-
*) Eine leichte Andeutung der von Peters erhobenen Be¬
funde findet sich in den Fällen von Berger. In dem von
mir geschilderten Fall fand sich ebenfalls eine Pachymehingitis
haemorrhagica, doch war das Krankheitsbild sehr complicierU
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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« 9 ° 3 -]
lepsie zu beweisen, zweitens aber die Annahme
einer Diathese zur Erklärung des Entstehens der
Tetanie wahrscheinlich zu machen. Als Localisation
des Krankheitsprocesses, der nach dem Stande unserer
heutigen Kenntnisse als Krampfneurose zu bezeichnen
55 i
ist, müssen die Vorderhörner des Rückenmarks und
die Kerne der motorischen H imnerven angesehen
werden.
(Nach einem am 5. März 1902 im Verein St.
Petersburger Aerzte gehaltenen Vortrage).
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
M i t t h e i
— Aus dem Provinziallandtag der Provinz
Brandenburg. (Februar/März 1903). Der Verwal¬
tungsbericht des Provinzialausschusses pro 1902 zeigt,
dass am Schlüsse des Jahres 1901 in den Anstalten
der Provinz 4037 Geisteskranke und erwachsene Idi¬
oten und 617 jugendliche Idioten und Epileptiker
sich befanden, gegen 1900 eine Steigerung um ö,oi
resp. 6,19°/ 0 . Von den Kranken befanden sich 73
resp. 55 in Privatanstalten.
Im September 1902 w>ar der Kranken bestand auf
4939 angewachsen.
Bei der Discussion bemerkte der Abg. Prof. Dr.
Mendel, dass er es freudig begrüsse, dass zum ersten
Mal in dem Verw'altungsbericht die practisch eingeführte
„Familienpflege“ erscheine. Wenn auch die Zahl (Be¬
stand am 31. 12. 02: 19 M. 8 Fr.) im Ganzen noch
klein erscheine, so verspreche er sich doch von der
Weiterentwicklung Segen für die Kranken und finan¬
zielle Vortheile für die Provinz.
Er erkenne ferner das Bestreben der Verwaltung
an, die Kranken der Provinz in ihren eigenen An¬
stalten zu behandeln, w-ie es sich in dem Satze aus¬
drückt, dass die „schwierige und verantwortungs¬
reiche, öffentlich-rechtliche Pflichtder eigent¬
lichen Irrenfürsorge grundsätzlich nicht durch
Ueberweisung Kranker an Privatanstalten
erfüllt werden darf.“
Die Anstalten der Provinz seien jetzt voll, zum
Theil überfüllt. Die projectirten Bauten von Pavillons
im Anschluss an die bestehenden Anstalten würden
nur noch für kurze Zeit genügen, um die Durch¬
führung jenes Grundsatzes zu ermöglichen. Es ist
demnach die Errichtung einer neuen Irrenanstalt er¬
forderlich, von welcher bereits in den Verw'altungsbe-
richten 1900 und 1901 die Rede war.
Wenn man in Betracht zieht, dass bis zur Eröff¬
nung der neuen Anstalt eine Reihe von Jahren ver¬
läuft, so wird man nicht fehl gehen, wenn man die
Bevölkerung der Vororte von Berlin zu dieser Zeit
auf ca. 700000 schätzt. Für diese Vororte mit ihrem
grossstädtischen Character hat man zum Mindesten
aber auf je 500 Einwohner einen Platz in der Irren¬
anstalt bereit zu halten [jetzt ist das Verhältnis in
der Provinz Brandenburg 5000 Kranke auf 3 100000
Einwohner (ausser Berlin) = 1 : 610]; es würden
demnach die Vororte allein schon eine Anstalt für
1400 Kranke füllen.
Unter diesen Umständen erscheint es billig, dass
die neue Anstalt in einen der Vororte oder deren
Nähe kommt, um so die Möglichkeit einer leichten
1 u n g e n.
Ueberführung der Kranken, der Besuche der Ange¬
hörigen, der leichten Beurlaubung und Entlassung der
Kranken zu geben. In seiner Erwiederung erklärte
der Landesdirektor Frhr. v. Man teuf fei, dass er die
Eröffnung einer neuen Anstalt für 1909 in Aus¬
sicht genommen, dass er die Bauzeit auf 3 Jahre
schätze und dass er der Ansicht sei, dass die neue
Anstalt in das Centrum der Provinz kommen solle
d. h. also in die Nähe von Berlin. Die Schwierigkeit
geeignetes und nicht zu theures Terrain zu schaffen,
sei hier allerdings nicht zu unterschätzen. —
Die Vororte, besonders die starkbevölkerten um
Charlottenburg mit über 100000 Einw'ohner, haben
ein erhebliches Interesse an der Beschleunigung der
Angelegenheit und werden dieselbe möglichst zu för¬
dern suchen.
— Elberfeld. Vom bergischen Verein für Ge¬
meinwohl w’ird die Errichtung einer Heilstätte
für unbemittelte Nervenkranke angestrebt.
Der Plan ist seiner Verwirklichung nahe. Zu den auf
600000 M. veranschlagten Kosten wird die Landes¬
versicherungsanstalt Rheinprovinz, wie der Vorsitzende
derselben, Geheimrath Klausener, gestern bekannt gab,
480000 M. zu mässigem- Zinssatz darleihen. Der
Rest von 120000 M. soll durch Zeichnungen aufge¬
bracht werden. Da bereits beträchtliche Summen in
Aussicht gestellt worden sind, dürfte der ganze Be¬
trag bald aufgebracht sein. Die konstituirende Ver¬
sammlung soll bereits am 21. März in Düsseldorf
stattfinden. Inzwischen wird eine Kommission mit
den Landräthen des bergischen Landes wiegen der
Platzfrage verhandeln. Wie gross das Bedürfniss für
die Anstalt ist, erhellt daraus, dass allein von der
Landesversicherungsanstaltder Rheinprovinz im vorigen
Jahre 333 nervenkranke Frauen und 163 derartige
Männer in verschiedenen Heilstätten untergebracht
werden sind. [Zweckmässiger wäre es freilich ge¬
wesen , wenn die Landesversicherungsanstalt selber
diese Anstalt erbauen würde, darin dem Beispiel der
Provinz Hannover (s. vorige Nr.) folgend].
— Das endgültige Programm des IX. Intern.
Congresses gegen den Alkoholismus. Bremen,
14.—19. April, ist soeben in deutscher, englischer und
französischer Sprache herausgegeben worden und wird
vom Bureau des Kongresses, Bremen, Bahnhofstrasse
1, bereitwilligst an jede aufgegebene Adresse versandt.
Nach den bisherigen Anmeldungen zu schliessen, wird
dieser zum ersten Male in Deutschland tagende Con-
gress der besuchteste seiner Art werden. Nicht zum
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552 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50
wenigsten dürfte das hochbedeutsame Congresspro-
gramm dazu beitragen, das 22 hervorragende Redner
und Rednerinnen, zur Hälfte aus dem Auslande, zählt.
Auf dem Bremer Congresse wird nicht mehr die ganze
Alkoholfrage, wie auf früheren Congressen behandelt
werden, sondern elf hervorragende Capitol derselben
sind ausgewählt worden, um Raum für eine ausge¬
dehnte Besprechung zu behalten. Eine reichhaltig
beschickte Ausstellung wird ebenfalls dazu beitragen,
den diesjährigen Congress besonders interessant zu
gestalten. Erwähnen wollen wir noch, dass der Hohe
Senat Bremens die Congresstheilnehmer zu einem
Frühstück im Rathhause einladen wird und dass die
Direction des Norddeutschen IJovd eine Fahrt in Sec
auf einem seiner Schnelldampfer vorgesehen hat.
Der Preis der Mitgliedskarte des Congivssrs betlägt
5 Mark; sie berechtigt zur Theilnalnne an den Ver¬
anstaltungen des Congresses und zum Bezüge des
später zu veröffentlichenden stenographischen Verhand¬
lungsberichtes.
— Les Alienäs en libertä. La question des
alienes en liberte et des dangers qu’ils peuvent courir
a 1’ordre public et a la securite des personn es, con-
tinue, plus que jamais, d’etre a l'ordre du jour. Les
A n n a 1 e s m e d i c o - ps y c h o 1 og i q u e s se confe »nnant
ä un usage etabli, il y a plus de trente ans, par Bail-
larger et Lunier, collectionnent les faits divers racon-
•ant les exploits des alienes qu’on laisse vaguer sans
surveillance, et en donnent un resume statistique dans
le demier numero de l’annee. Voici celui qui vient
de paraitre dans lc numero de novembre 1002:
Resume. — Nous avons recueilli dans les Anna-
les de l’annec iqo2, qo cas d'alienes en liberte, pub-
hes dans divers joumaux de Paris et de la province.
Ces alienes avaient commis, les uns de simples exceu-
tricites ou des actes delictueux, le plus grand nombre
de veritables crimcs: homicides, tentatives d'homicide,
menaces de inort, incendies, etc.: enfin, les suicides
simples, ainsi, que les suicides preeedes d'homicides,
fournissent un fort contingent.
Tentatives d’homicide, aggressions
violentes, menaces de mort . . 31
Suicides et tentatives de suicide . iq
Homicides.14
Homicides et suicides.10
Excentricites et actes delictueux . 9
Incendies. 7
Total.00
Ainsi sur 90 cas, il y eu 24 homicides, dont 10
ont etc suivis du suicide de l’aliene apres la per-
pretation du meurtre. Nous ne parlerons que ]>our
memoire des nombreuses tentatives d'homicide, des
aggressions violentes, des actes delictueux, ainsi (jue
des sept incendies. Ce qui nous parait plus impor¬
tant, c’est de compter le nombre de victimcs faites
par ces 90 alienes en liberte. Il y a eu
Blesses grievement.34
Morts.32
Suicides.1 q
Total.85
Ainsi notre statistique — qui est loin d’etre com-
plete — donne 34 personnes qui ont etc bl esse es
grievement par des alienes en liberte, et un grand
nombre d’entre eil es ont succombe a leurs blessures;
32 ont ete tuees; enfin iq alienes se sont tues, dont
plusieurs apres avoir tue soit leur femine ou leur man,
soit leurs enfants.
Comme les annees precedentes, nous avons a sig-
naler de veritables hecatombes faites par certains de
ces alienes; ainsi il en est qui ont fait, l'un 3 victi-
mes, un autre 5, un troisieme 12 dont 7 tues et 5
blesses.
Comme tous les ans aussi, nous devons faire re-
marquer que la plupart de ces crimes et de ces delits
ont ete commis par des alienes dont la plupart
etaient malades depuis longtemps et que la prudence
la plus elementaire aurait du faire sequestrer. Beau-
coup avaient deja ete traites dans les asiles; quelques-
uns venaient meine d’en sortir.
Ant. R i 11 i.
Personalnachrichten.
— Dr. Ra ecke, I. Ass.-Arzt der Psychiatrischen
Klinik in Kiel ist als Nachfolger Dr. Alzheimers an
die städtische Irrenanstalt in Frankfurt a. M. berufen
worden. Er hatte sich vor Kurzem in Kiel habi-
litirt mit einer umfangreichen Schrift: „Ueber die
transitorischen Bewusstseinsstörungen der
Epileptiker“ (erschienen bei C. Mar hold in
Halle a. S., Preis M. 3,80).
— In Moskau habilitirte sich Dr. Bajenow für
Psychiatrie und Neurologie, in Modena für dieselben
Fächer Dr. Brisgia.
Dr. Tantzen, bisher 4. Arzt der Provinzial-
Heil- und Pflege-Anstalt zu Lüneburg, ist zum 3.
Arzt derselben Anstalt ernannt.
— Dr. Bchr, bisher Assistenzarzt an der Pro-
vinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Lüneburg, ist
zum 4. Arzt derselben Anstalt ernannt.
— Den 80. Geburtstag feierte am 5. d. Mts. der
P s y c h i a t e r D r. J essen, Privatdozent an der Uni¬
versität Kiel. Auch wir senden dem verehrten Ju¬
bilar die herzlichsten Glückwünsche.
Der heutigen Nummer liegen drei Beilagen
bei:
1. Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning,
Höchst a. M.,
2. Konstanzer Hof - Sanatorium für Nerven-
und innere Krankheiten zu Konstanz.
3. Einladung zum Treizieme Congres des Medecins
Alienistes et Neurologistes, Bruxelles,
die wir zur Beachtung empfohlen halten.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J . Biesier, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheiat ledeti Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgalx'. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevneniann’sche nuchdruckerei (Gehr. WoifTl in ITalb' a S.
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Psychiatrisch - Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I*. Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttetadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. F. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst Schultze, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 51. 21. März. _ 1903.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (KatalogNr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate w'erden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Ueber zwei schwere Fälle von Hysterie. Von Dr. Carl Decsi in Budapest (S. 553). — Mittheilungen
(S. 558). — Referate (S. 559). — Personalnachrichten (S. 560).
Aus der psychiatrischen Universitäts-Klinik des Prof. Dr. Emil Moravcsik in Budapest
(Beobachtungs-Abtheilung des St. Johann-Spitals).
Ueber zwei schwerere Fälle von Hysterie.
Von Dr. Carl D^csi^ I. Assistenten der Klinik.
Tch hatte auf unserer Klinik oft Gelegenheit, Fälle
von Hysterie zu sehen und zu behandeln, welche
mit schweren Symptomen einhergingen. Kranke dieser
Art — wenn wir von den kürzeren oder mehr pro-
trahirten Zuständen von hysterischer Geistesstörung
absehen, von welchen ich einige im Jahrbuche der
hauptstädtischen Spitäler vom Jahre 1898 mitzutheilen
Gelegenheit hatte, und nur diejenigen hierher rechnen,
bei welchen überhaupt keine Psychose festzustellen
war — gelangten zumeist aus anderen Spitälern auf
die psychiatrische Klinik, besonders in Folge von
schweren, stürmischen Krankheitserscheinungen, welche
die Behandlung auf einer gewöhnlichen Spitalsabthei-
Iung (internen oder Nervenabtheilung) unmöglich
machten. Ausserordentlich heftige und sich sehr oft
erneuernde hysterische Anfälle, die psychische Reiz¬
barkeit und das unverträgliche, oft schonungslose Be¬
nehmen solcher Kranken, lärmender, und beinahe
constanter, die Ruhe der Krankengenossen störender
Singultus hystericus, hartnäckige Nahrungsverweigerung,
enorme Reizbarkeit mit heftigen Wuthausbrüchen:
diese waren in den meisten Fällen die unmittelbaren
Ursachen der Ueberführung auf die psychiatrische
Abtheilung.
Die systematische, zielbewusste Behandlung von
Kranken dieser Art, besonders, wenn viele auf der¬
selben Abtheilung Zusammentreffen, verursacht dem
Arzte so manche sorgenvolle Stunde und erfordert
einen Aufwand von Geduld, welchen nur derjenige
begreifen kann, der die Gewohnheiten, den schonungs¬
losen Egoismus, das sozusagen dissociale Benehmen
dieses ganz eigenartigen Krankenmaterials aus näoh-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51.
554
ster Nähe kennen gelernt hat. Noch in viel grösserem
Maasse aber wird die Geduld solcher Patienten durch
die geschlossene Anstalt und deren Bewohner, durch
die Anstalts-Ordnung und Gewohnheiten in Anspruch
genommen, da diese Kranken — trotzdem sie an
keiner Geistesstörung leiden und nach eigenem Gut¬
dünken in der Anstalt verbleiben oder dieselbe ver¬
lassen können — auf Anrathen des Arztes sämmt-
liche Unannehmlichkeiten dieser Umgebung freiwillig
ertragen und — die Besserung ihrer Krankheit er¬
hoffend — durch Monate in der Anstalt verbleiben.
Diese gegenseitige Geduld aber hat ihre guten Folgen,
da die Behandlung in der geschlossenen Anstalt,
wenn sie durch eine gewisse Zöit und mit der nöthi-
gen Energie durchgeführt uird, — bei gewissen Kran¬
ken sehr schwere Krankheitserscheinungen zu besei¬
tigen und dadurch den Zustand des Kranken be¬
deutend zu verbessern im Stande ist. Nachstehend
theile ich die Krankengeschichten zweier Kranken
dieser Art mit, welche in der Anstalt mit besonders
günstigem Resultate behandelt wurden.
Fall I. Die 26jährige N. N. kam am 12. März
1898 auf unsere Abtheilung; vor 12 Tagen fand die¬
selbe im St. Stefans-Spitale Aufnahme, konnte aber
hier w-egen ihres lärmenden Singultus und heftigen
Nervenanfällen im gemeinsamen Krankenzimmer nicht
weiter gehalten werden. Sie schluchzte so laut, dass
sämmtliche Krankengenossinnen im Schlafe gestört
wurden, auch hatte sie während der letzten Nacht
19, besonders vehemente Krampfanfälle und beinahe
unausgesetzten, krampfhaften Singultus, demzufolge
die Kranke in einem Isolirzimmer untergebracht
wurde.
Nach Aussage der Kranken ist Heredität nicht
zu ermitteln; ihr Vater starb an Darmverwicklung,
die Mutter lebt und ist gesund. Als Kind litt sie
an Masern und Lungenentzündung, sowie wiederholt
an Wechselfieber. Ihr jetziges Leiden begann vor
10 Jahren, die eminenten Symptome der Krankheit
waren: Singultus, Lach- und Weinkrämpfe; Haupt¬
klage der Kranken ist der qualvolle, erschöpfende
Singultus, welcher durch 10 Jahre' beinahe unausge¬
setzt andauert. Im Anfänge wurde Brombehandlung
angewendet, sodann applicirte ihr Arzt Morphium-
Einspritzungen, und seit dieser Zeit benützt sie un¬
ausgesetzt diese Einspritzungen, welche die Patientin
nicht mehr entbehren kann, da sie sich nur auf diese
Art einige Stunden Ruhe zu verschaffen im Stande
ist. —
Patientin ist klein, schwach gebaut, kvphoscolio-
tisch, sehr stark abgemagert, blutarm. Pupillen gleich¬
weit, Reaction auf Licht und Accomodation prompt.
Zunge und Hände zittern, die Reflexe sind stark er¬
höht. Die Empfindlichkeit gegen tactile Reize ist normal.
Der Arm ist mit kleinen Stichnarben bedeckt, welche
von den eigenhändig angewendeten Morphium-Ein¬
spritzungen herstammen. Patientin fordert gegen
ihre oft wiederkehrenden, heftigen Krampf- und
Singultus-Anfälle Morphium - Einspritzungen , welche
für sie unentbehrlich sind, und von denen sie stufen¬
weise abgewöhnt wird. Sämmtliche Krankheits-Symp¬
tome zeigen eine grosse Beeinflussbarkeit durch Sug¬
gestion , Hypnose gelingt leicht und wird bei der
Patientin täglich angewendet (dieselbe wurde ausser¬
dem noch durch Bäder, Elektrizität und durch Medi-
camente von rein suggestiver Wirkung behandelt) —
worauf das Allgemeinbefinden sich schnell bessert,
die Krampfanfälle seltener und milder werden; die
Abgewöhnung der Morphium-Einspritzungen findet
leicht statt, der Singultus ist nicht mehr andauernd.
(Während der ärztlichen Visite erscheint der Singultus
ganz regelmässig!) — Schon im Monate Mai treten
Intervalle von 1—2 Wochen auf, während welcher
überhaupt kein Singultus erscheint; anfangs Juni end¬
lich bleibt derselbe ganz aus, sodann verschwinden
auch die Krampfanfälle und die Kranke verlässt
Mitte Juni 1898 im besten Wohlbefinden, von ihren
Singultus- und Krampfanfällen befreit, und von ihrer
Morphiumsucht entwöhnt, das Institut, wo sie wäh¬
rend einem Aufenthalte von 4 Monaten an Körper¬
gewicht bedeutend zugenommen hat.
Seit dieser Zeit stand die Kranke sowohl in
unserer Anstalt, als auch in anderen Spitälern wieder¬
holt in Behandlung und immer waren es die Krampf¬
anfälle, welche den Kern der Krankheitserscheinungen
bildeten, zu denen nachträglich noch starker Tremor,
Meteorismus, Anfälle von Dyspnoe, Ohnmächten hin¬
zutraten, jedoch der quälende Singultus, welcher die
Hauptursache ihrer ersten Anstaltsbehandlung war,
erschien überhaupt nicht mehr, Patientin blieb von
diesem überaus unangenehmen Symptome der Krank¬
heit ganz befreit.
Die wiederholte Anstaltsbchandlung war auch auf
die anderen Krankheitserscheinungen von günstigem
Einflüsse, und so oft die Kranke in unserer Anstalt
behandelt wurde, gelang es immer, die prägnanteren
Symptome zu unterdrücken und Patientin — wenn
auch nur auf beschränkte Zeit — von denselben zu
befreien.
Im beschriebenen Falle hat sich demnach die
Internirung und Behandlung der Patientin in einer
geschlossenen Anstalt sehr gut bewährt und stets zu
gutem Resultate geführt. Betrachten wir nun das
Wie dieses günstigen Einflusses etwas eingehender.
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555
iQo.v] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Wenn wir die psychogene Natur der Krankheit in
Betracht ziehen, kann hier nur von suggestiver Wirk¬
ung die Rede sein, und zwar — nach meinem Er¬
achten — hauptsächlich und in erster Linie von der
suggestiven Einwirkung der Anstaltsordnung, der un¬
gewohnten Umgebung, der ständigen, strengen Auf¬
sicht in der Anstalt. Es ist ganz bezeichnend, wie
sich die aufgeregteste Hysterikerin, welche inmitten
ununterbrochener Anfälle im Spitale anlangt, wie auf
einen Schlag verändert, als dieselbe auf einige Tage
im Wachzimmer (zwischen den unruhigeren Geistes¬
kranken) untergebracht wird, wo durch die geringste
Begünstigung (Transferirung auf eine ruhigere Abthei¬
lung, Gewähren von Handarbeit, Lesen von Büchern,
etc.) schon bedeutende Besserung hervorgerufen werden
kann, ja sogar oft die Anfälle sofort eingestellt werden.
Das regelmässige Leben und die Disciplin in der
Anstalt rufen Autosuggestionen hervor, welche den
Krankheitszustand in günstigem Sinne beeinflussen;
die fortwährende Gegenwart des Arztes, seine ge¬
wissenhafte Beschäftigung mit den Patienten erweckt
in den willenlosen und zur Selbstbeherrschung un¬
fähigen Kranken Vorstellungen, welche für die Ge¬
nesung günstig sind; die Patienten bemerken, dass
man sich mit ihren Leiden befasst, ihre Klagen an¬
hört, und in Folge dessen unterwerfen sich dieselben
gerne der etwas militärischen Disciplin der Anstalt;
und als die stürmischeren Symptome, welche die Be¬
handlung in einer gewöhnlichen Spitalsabtheilung un¬
möglich machten, vergangen sind, verbleiben die
Patienten gerne auch für längere Zeit in der ge¬
schlossenen Anstalt, so lange, bis eine Spitalsbehand¬
lung überhaupt nothwendig ist
In leichteren Fällen genügen schon die verschie¬
denen suggestiven Behandlungsmethoden im wachen
Zustande; aber bei hartnäckigen Patienten — wie
z. B. im obigen Falle, welcher io Jahre hindurch
erfolglos behandelt wurde — kann die Hypnose
sehr gute Dienste leisten, indem durch dieselbe die
psychische Beeinflussbarkeit der Patienten bedeutend
erhöht werden kann, und dadurch die Genesung be¬
fördernde Vorstellungen in das Bewusstsein der Kran¬
ken eingeführt werden. Es ist zweckmässig bei der
Hypnose — mit Ausnahme von Fällen, w'o dieselbe
schädliche Erscheinungen verursacht, was individuell
Vorkommen kann — dauernd zu beharren; bei der
erwähnten Patientin wandte ich dieses Verfahren durch
3 Monate unausgesetzt und stets mit sehr gutem Er¬
folge an.
Aber auf welche Art wir auch die hysterischen
Kranken behandeln mögen, das am meisten suggestiv
wirkende Moment in solchem Falle ist nicht die Be¬
handlung, das Verfahren selbst, sondern stets die
Anstalt, Die schweren Hysterieen bessern sich in
der gewohnten, familiären Umgebung nicht und es
ist eine Erfahrungsthatsache, dass die Entfernung der
Patienten von dieser normalen, gewohnten Umgebung
einen hauptsächlichen, weil am meisten wirkungsvollen
Faktor der Behandlung bildet. Die Entfernung be¬
wirkt das Aufhören sämmtlicher schädlichen Ein¬
flüsse, welche der Verkehr mit der täglichen Um¬
gebung, die fortwährende Wiederholung der gewohn¬
ten Reize auf das Seelenleben der Kranken ausüben;
und diese Wirkung entsteht dadurch, dass durch die
Entfernung die gesammten äusseren Lebensverhält¬
nisse der Patienten wie auf einen Schlag umgeändert
werden. Die radikalste Art dieser Veränderung be¬
steht in der Unterbringung in einer Anstalt, wodurch
die vollkommene Ruhe und Isolirung der Kranken
von der Aussenw f elt erreicht wird.
Das Princip der Isolirung wurde zuerst von
Charcot, dem Altmeister der modernen Neuro¬
logie nach Gebühr beachtet, und in seinen Vorträgen
stets besonders hervorgehoben: „Je ne saurais trop
insister devant vous“ — sagte er zu seinen Hörern *)
— „sur l’importance capitale que j’attache ä l’isole-
ment dans le traitement de l’hysterie, ou, sans con-
testation possible, l’element psychique joue dans la
plupart des cas un röle considerable quand il n’est
pas predominant. — II y a pres de 15 ans que je
suis fermement attache a cette doctrine, et, tout ce
que j’ai vu depuis 15 ans, tout ce que je vois jour-
nellement, ne fait que me confirmer de plus en plus
dans mon opinion.“
Dem Beispiele Ch areot’s folgend, betonen Weir,
Mitchel und Play fair die Bedeutung der Isoli¬
rung und betrachten dieselbe als ein Haupterforder-
niss zur erfolgreichen Durchführung der durch sie
empfohlenen Mastkur. Nach Burkart**) ist die
Isolirung unumgänglich nothwendig und ist immer
nach Möglichkeit durchzuführen:.„sogar
jeder Besuch von Bekannten und selbst jeder aus¬
führliche Briefwechsel mit den Angehörigen über die
Art und Weise und über das Gelingen der einge¬
schlagenen Behandlung bleibt während des grössten
Theiles der eigentlichen Kurzeit streng untersagt, da¬
mit die einmal in Scene gesetzte Isolirung so voll¬
ständig als irgend möglich durchgesetzt werde“.
Burkart erwähnt noch den Umstand, dass in den
Fällen, wo er den Bitten der Kranken und Ange-
*) J. M. Charcot: Le<;ons sur les maladies du Systeme
nerveux, tome III. p. 238.
**) Burkart: Zur Behandlung schwerer Formen von
Hysterie und Neurasthenie.
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55 b PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51.
hörigen nachgebend, die Mastkur zuhause, in der Jahre wollte sie sich von ihrem Manne gerichtlich scheiden
Wohnung der Kranken begonnen hat, dieselbe immer
erfolglos blieb. —
Die Isolirung der Kranken und die Ausschliessung
der äusseren, schädlichen Einflüsse auf dieselben ist
in der geschlossenen Anstalt jedenfalls vollkommener
als in einer offenen Spitals-Abtheilung (Inneren oder
Nerven-Abtheilung), wo der Kranke täglich Besuche
empfangen, brieflichen Verkehr pflegen kann und be¬
züglich des Verkehrs mit anderen Personen ganz sich
selbst überlassen ist. Und dies ist nach meiner An¬
sicht die eine Ursache der günstigen Wirkung der
Anstalt; ausserdem bilden die eigenthümliche Um¬
gebung in der Anstalt, die Disciplin und die dadurch
geschaffene Zwangslage der Patienten, die suggestive
Kraft der Person des Arztes und das Vertrauen in
dieselbe ein Gemisch von Einwirkungen, welche zu¬
sammen — wie ich schon oben erwähnte — die¬
jenige Veränderung in der Psyche, im geistigen Leben
der Kranken schaffen, welche günstige Autosugge¬
stionen hervorruft und dadurch auch die hysterischen
Krankheitserscheinungen günstig zu beeinflussen im
Stande ist. —
Dem nächstfolgenden Fall verleiht nicht nur das
erreichte günstige Resultat, sondern auch die Selten¬
heit der Krankheitserscheinungen besonderes Interesse.
Fal 1 II. X. Y., 28 Jahre alt, verheirathet, Schneide¬
rin, wurde am 23. Januar 1900 von der I. chirur¬
gischen Klinik auf die psychiatrische Abtheilung trans-
ferirt. Auf die chirurgische Klinik wurde dieselbe
wegen habitueller Luxation des Unterkiefers, behufs
operativen Eingriffes aufgenommen, aber die wieder¬
holten hysterisdien Anfälle und das unruhige Be¬
nehmen der Kranken vereitelten die geplante Ope¬
ration und ergaben die Nothwendigkeit der Transfe-
rirung auf die psychiatrische Abtheilung.
Patientin entstammt einer Familie ohne nachweis¬
bare hereditäre Belastung; ihr Vater starb vor i 1 / 2
Jahren an Herzlähmung, die Mutter vor 25 Jahren
an Lungenschwindsucht; 8 Geschwister leben und sind
gesund. — Patientin wurde im Eltemhause erzogen
und war stets gesund. Die Menstruation stellte sich
mit 12 Jahren ein und erschien regelmässig, nur seit
einigen Jahren ist dieselbe von krampfhaften Schmerzen
begleitet und unregelmässig. — Patientin ist seit 13
Jahren verheirathet; diese Ehe war keine glückliche.
Gleich im ersten Jahre der Ehe erbte sie eine Krank¬
heit (Lues ?) von ihrem Manne; nach einer Schwanger¬
schaft von 8 Monaten kam ein Kind zur Welt, welches
nach 14 Tagen starb. Die Geburt war normal, er¬
folgte aber erst nach langem Kreissen und Patientin
erlitt dabei bedeutenden Blutverlust. — Nach einem
lassen, denn sowohl ihr Mann, als auch ihre Schwieger¬
mutter verursachten ihr durch schlechte Behandlung
sehr viel Kummer; auch die Geburt griff ihre Nerven
sehr an: es traten Ohnmächten, Herzklopfen, Kopf¬
schmerzen auf. Ungefähr 1 Jahr lebte sie getrennt
von ihrem Manne, sodann kehrte sie zu ihm zurück,
wurde aber nochmals grob behandelt und da wurde
sie noch nervöser, bekam starke „Nervenkrämpfe“,
Krampfanfälle, und hütete manchmal monatelang das
Bett. — iVj Jahre vor ihrer Aufnahme in unsere
Anstalt starb ihr Vater und Patientin reiste zum Be-
gräbniss; nach der Rückkunft traten nach 4 jähriger
Pause abermals Krampfanfälle auf, welche sich nun
oft wiederholten; Patientin war immer sehr erregt,
zornig, konnte nicht schlafen. In Folge dieses Zu¬
standes nahm sie ihr Mann nach N. Set. Nicklos und
unterbrachte sie im dortigen Spitale. Hier erfolgte
zum ersten Male (im Febr. 1899) die Luxation des
Unterkiefers während eines Krampfanfalles (Patientin
behauptet, eine Wärterin hätte ihren Mund mittelst
einem zwischen den Zähnen applicirten Instrumentes
gewaltsam geöffnet). Durch 20 Stunden konnte sie
den Mund nicht schliessen, bis es endlich gelang,
den Unterkiefer zu reponiren; nun aber erneuerte
sich die Luxation bei jeder Gelegenheit, auch öfter
des Tages und auch unabhängig von den Krampf¬
anfällen, beim Kauen von festen Speisen (Fleisch,
Brod) bei Brechreiz u. s. w. — Vom Spital kehrte
sie zu ihrem Manne zurück, aber auch hier erneuerten
sich die Luxationen und Patientin musste bei jeder
Gelegenheit in die nächste Stadt reisen, um ihren
Unterkiefer reponiren zu lassen, weil dem Dorfarzte
die Reposition überhaupt nicht gelingen wollte. Ende
Juli 1899 kam die Kranke auf die chirurgische Klinik;
hier wurde ihr Unterkiefer einige Wochen in einem
Gypsverband gehalten und sie konnte nur flüssige
Speisen zu sich nehmen; seit dieser Zeit suchte sie
wiederholt in verschiedenen Spitälern Hilfe gegen ihr
Leiden, bis sie endlich im Januar 1900 beschloss,
ihren Unterkiefer operiren zu lassen; Patientin fand
abermals in der chirurgischen Klinik Aufnahme, und
wurde von hier in folgendem Zustande auf unsere
Abtheilung gebracht:
Patientin ist von mittlerer Körperhöhe, schwach
entwickelt, sehr abgemagert, hat bläuliche Sclerae,
angewachsene Ohrläppchen, schwülstige, dicke Lippen.
Pupillen sind gleichweit, reagiren lebhaft; feiner Tre¬
mor in der Zungenmusculatur und in den Händen.
Reflexe stark erhöht; beim Auslösen des Patellarre-
flexes erfolgt ein Zusammenfahren am ganzen Körper.
Das Gefühl für tactile Reize ist überall erhalten. Das
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I 9 ° 3 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
557
Gesichtsfeld zeigt eine concentrische Einengung massi¬
geren Grades; der Farbensinn ist normal. Patientin
ist sehr suggestibler Natur, Hypnose erfolgt leicht
durch verbale Suggestion; nach der Dehypnotisirung
treten Schläfrigkeit, Schwindel, Autohypnosen auf.
Stimmung sehr deprimirt, Pat. klagt unaufhörlich; oft
treten heftige Krampfanfälle auf (mit dem gewohnten
Typus der „grossen hysterischen Convulsionen“), wo¬
bei jedesmal die Luxation des Unterkiefers erfolgt,
das Kinn sinkt, der Mund bleibt weit geöffnet, die
untere Zahnreihe schiebt sich vor die obere, die
Mundschleimhaut trocknet aus und verursacht der
Patientin, welche gelegentlich jeder derartigen Luxation
unbeschreibliche Schmerzen im Gesichte empfindet,
grosse Qualen. Die Reposition ist nur durch Auf¬
wand grosser Muskelkraft möglich, wobei eine sehr
kräftige tonische Contraction der Kiefemiusculatur
fühlbar wird. Der Widerstand dieser Musculatur ist
bis zur Zeit der vollständigen Lösung des Krampf¬
anfalles so stark, dass die Reposition des Unterkiefers
gänzlich unmöglich wird. — Sogar nach der Repo¬
sition, zumal ein neuer hysterischer Anfall im Anzug
ist, treten im Unterkiefer eigenartige, seitliche Beweg¬
ungen auf, und nur durch die kraftvolle Unterstützung
des Kiefers und durch das forcirle Zuhalten der Zahn¬
reihen ist eine neuerliche Luxation zu verhüten.
Die benannten Krämpfe und Luxationen des
Unterkiefers wiederholen sich mehrmals täglich; dieser
Zustand besteht bei der Kranken Monate hindurch
unverändert; es werden Bäder, Electricität, Hypnose
und Eisen - Arsenpräparate in Anwendung gebracht.
Oft treten nächtliche Anfälle mit der unausbleiblichen
Luxation auf; und die ständige Schlaflosigkeit, die
unaufhörlichen Krampfanfälle und die mit der Repo¬
sition einhergehenden Schmerzen erschöpfen die Kranke
vollständig. Noch im Monate Juli ist die Luxation
eine fast tägliche, Patientin schlaflos, oft von Krämpfen
befallen, weint unaufhörlich, geht mit Selbstmordge¬
danken herum und begeht einige Male auch Versuche
von Suicidium. Anfangs August schliesslich tritt eine
auffallende Besserung ein, Patientin nährt sich besser,
nimmt zu, die Krampfanfälle und die damit verbun¬
denen Luxationen bleiben aus. Am i October 1900
verlässt Patientin in bestem Wohlbefinden die Anstalt,
wo sie während ihres 8 monatlichen Aufenthaltes 13 kg
an Körpergewicht zugenommen hat. —
Seitdem verging mehr als 1 7 2 Jahr, ohne dass
sich — wie ich mich zu überzeugen Gelegenheit
hatte — die Unterkieferluxation wiederholt hätte.
Zwar besteht die Nervosität noch weiter und verur¬
sacht der Kranken besonders zur Zeit der Menses
Unannehmlichkeiten (Ohnmächten, unbedeutendere
Krampfanfälle), dieselben sind aber bei Weitem nicht
so hochgradig, wie vormals; die Luxationen aber blieben
gänzlich aus. —
Der beschriebene Fall, in welchem die ausdauernde
Behandlung in der geschlossenen Anstalt von wahrlich
eclatantem Erfolge war, erhält hauptsächlich durch
die Unterkieferluxationen Interesse. Diese bilaterale
Kiefergelenks-Luxation erfolgte bei der Kranken zum
ersten Male anlässlich eines hysterischen Krampfan¬
falles, angeblich dadurch, dass der Mund der Patientin
behufs Verhütung des Lippen- und Zungenbisses über¬
mässig geöffnet wurde. In der That kann die ex-
cessive Entfernung der beiden Zahnreihen (übermässiges
Oeffnen des Mundes, Kauen grosser Bissen, Gähnen,
etc.) die Luxation des Unterkiefers herbeiführen und
bekanntlich neigen solche Luxationen zu Wiederhol¬
ungen. Ferner ist erwiesen, dass das Kiefergelenk
eines jener Gelenke ist, bei denen forcirte Muskel¬
bewegung ebenfalls eine Luxation zu verursachen im
Stande ist; und derartige Muskelbewegungen sind in
Betracht zu ziehen, wenn wir die oben beschriebenen
Luxationen mit den hysterischen Anfällen der
Patientin in Zusammenhang bringen wollen. Und
dieser Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich, wenn
wir den Verlauf der Krankheit betrachten, welchem
zu entnehmen ist, dass die Luxationen gewöhnlich
mit diesen Anfällen einhergingen (nur selten und aus¬
nahmsweise auch ohne diesen) und dass dieselben parallel
mit den Anfällen und successive ausgeblieben sind. Wäh¬
rend der Anfälle hatte ich öfter Gelegenheit, die Me¬
chanik der Luxation zu beobachten, wobei der soeben
reponirte Unterkiefer inmitten eigenthümlicher Seitenbe¬
wegungen erst auf der einen, dann schnell auf der
anderen Seite aus dem Gelenke sprang, eine Wirkung,
welche durch die altemirende Contraction der Kiefer-
musculatur zu erklären wäre, wobei besonders durch
die Action des Muse, pterygoid. extern, das Gelenks¬
ende des Kiefers über dem tuberculum articulare
nach vorne springt und wenn dies auf der einen
Seite schon ei folgt ist, springt der processus condy-
loideus der anderen Seite infolge der schnellen Con¬
traction der betreffenden Musculatur noch leichter
und beinahe in demselben Augenblicke aus dem Gelenk.
In der Symptomatologie der Hysterie sind sehr
viele Analogieen solcher localen Muscelcontractionen
aufzufinden und bekanntlich gehören solche isolirten
Muscelcontractionen, entweder vorbeigehende Spasmen,
oder anhaltende Contracturen zu den öfter vorkom¬
menden Symptomen der Hysterie. Ich fand in der
mir zur Verfügung stehenden Litteratur über die bei
hysterischen Kranken vorkommenden Kieferluxationen
nur in Zusammenhang mit dem hysterischen Gähnen
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51-
558
Aufzeichnungen in dem Sinne, dass das übermässige
Oeffnen des Mundes beim hysterischen, krampfhaften
Gähnen manchmal die Unterkiefer-Luxation erwirken
kann*): „Ce qui estexagere, par exemple, c’est l’am-
plitude de l’ecartement des mächoires porte a son
maximum, au point qu’il part se produire une luxation
des mächoires et des phenomenes inflammatoires du
cote des articulations temporo-maxillaires“.
Später wiederholten sich die Luxationen schon
öfter und zuweilen auch unabhängig von den Krampf¬
anfällen (übermassiges Oeffnen des Mundes, Kauen
grösserer Bissen), welcher Umstand durch die Re¬
laxation der Gelenkkapsel und durch die Neigung
solcher Luxationen zu Wiederholungen erklärlich wird;
immer aber waren es die hysterischen Anfälle, welche
die Luxationen in erster Linie herbeiführten. Dies
war die Ursache, dass auch die therapeutischen Ein¬
griffe besonders die Behandlung des Nervensystems
der Kranken zum Ziele hatten, und dieser Umstand
drängte die chirurgischen Indicationen (Resection der
Kieferenden) gänzlich in den Hintergrund; der Er¬
folg zeigt, dass ein chirurgischer Eingriff in diesem
Falle überhaupt nicht angezeigt war.
Ich wäre geneigt, auch das in diesem zweiten
Falle erreichte, gute Resultat in erster Linie der An¬
stalt zuzuschreiben. Alles, was ich oben von der
*) Gilles de la Tourette: Trait£ pratique et th£ra-
peutiquc de l’hysterie, torae III.
suggestiven Wirkung der Anstalt sagte, erwies sich
in noch höherem Maasse in diesem besonders hart'
näckigen Falle, welcher mehr als 1 Jahr jeder
Behandlung trotzte, und ich könnte über die Art
dieser Wirkung nur wiederholen, was ich diesbezüglich
schon in Zusammenhang mit dem ersten Falle gesagt
habe.
Es wäre aber ein grosser Fehler, diesem Princip
der Behandlung ein zu weites Feld einzuräumen, denn
auch unter den schweren Fällen von Hysterie giebt
es nur eine gewisse Zahl, wo die geschlossene Anstalt
von guter Wirkung ist, Fälle, bei welchen die Fern¬
haltung schädlicher psychischer Einflüsse, die strenge
ärztliche Controlle, die ständige Leitung und Führung
der willensschwachen Hysterischen die unausgesetzte
Gegenwart des Arztes nothwendig machen. Hierbei
ist strenge Individualisirung Aufgabe des Arztes, denn
es giebt Hysterische, bei welchen die geschlossene
Anstalt von schlechter Wirkung ist; in diesen Fällen
ist schnelle Entlassung am Platze, solche Kranke sollen
je nach Bedarf in eine ihrem Zustande entsprechende
Umgebung befördert werden. Es ist interessant, dass
unter den Hysterischen, welche auf unserer Abtheilung
behandelt wurden, besonders bei den weniger intelli¬
genten Elementen ein günstiger Erfolg zu erreichen
war, ein Umstand, welchen ich ebenfalls auf Ursachen,
suggestiver Natur zurtickzuführen geneigt wäre. —
M i t t h e i
— Ländliche Kranken- und Armenpflege.
(Landgericht Augsburg.) Im September v. Js. hatte
ein Artikel der „M. N. N.“, der sich mit der Miss¬
handlung des geisteskranken Armenhäuslers Leix in
Weiden befasste, eine ziemlich heftige Zeitungsfehde
südbayerischer Blätter erregt. Der Fall kam vor
der Strafkammer in Augsbuig zur Verhandlung.
Angeklagt ist der 17 jährige Tagelöhnerssohn und
Schuhmachergeselle Gg. Kraus von Weiden, der am
6. September, früh nach 6 Uhr, beim Vorübergehen
am Armenhaus bemerkt hatte, dass sich der dort
untergebrachte Geisteskranke Leix bei offenen Fen¬
stern, nur mit einer Schultern, Brust und den oberen
Theil des Rückens bedeckenden Zwangsjacke beklei¬
det, ausserhalb seines Bettes herumtrieb. Kraus trat
in das Haus, um den Geisteskranken zu Bett zu
schaffen. Beim Eintritte rüstete er sich, angeblich
nur zum eigenen Schutze, mit einem etwa 60—70 cm
langen kantigen Prügel aus, mit dem er nach dem
Eröffnungsbeschluss dem Leix, um ihn fügsam zu
machen, mehrere Schläge über den nackten linken
Oberschenkel versetzt haben soll. Der Angeklagte
leugnet das, wird aber durch die bestimmten Aus¬
sagen eines Hauptmanns des damals in der Gegend
übenden 1. Feld-Art.-Regiments und verschiedene
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1 u n g e n.
andere Zeugen überführt. Die Zeugen stellen fest,,
dass das Zimmer, in dem Leix untergebracht war,
sich in einem wahrhaft scheusslichen Zustande be¬
funden habe. Die ganze Einrichtung habe aus einer
Bettstelle mit einer Lage Häcksel und einer Decke
bestanden. Für den Kranken war eine Pflegerin be¬
stimmt, die sich aber nicht allzuviel um ihn sorgte.
Die übrigen Dorfbewohner bekümmerten sich wenig
um ihn, und wenn einmal, dann in nicht gerade
liebevoller Weise. Ein als Zeuge vernommener Ar¬
tillerieleutnant erhielt auf seine entrüstete Frage, wie
man denn dazu komme, den Geisteskranken so zu
behandeln, von einer Frau die Antwort: „Ja, dös Ls
a Varrückta, dem g’hörin alle Tag Prügel!“ Bezeich¬
nend ist es, dass der Bürgermeister eigens aus¬
schellen lassen musste, niemand dürfe den „Var-
rückt’n“ schlagen und der Geistliche dies Verbot in
der Predigt wiederholen musste. Als Milderungs¬
grund Hess die Strafkammer gelten, dass Kraus den
Leix nur deshalb mit Gewalt ins Bett bringen wollte,
um den zahlreich herumstehenden Kindern den An¬
blick des nackten Mannes zu entziehen, und ver-
urtheilte deshalb den Angeklagten zu der immerhin
geHnden Geldstrafe von 30 M. event 6 Tagen Ge-
fängniss. (Münch. N. Nachr.)
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
559
*903]
— Der Berliner Verein zur Besserung entlasse¬
ner Strafgefangener hielt am Montag unter dem Vor¬
sitz des Oberstaatsanwalts am Kammergericht , Geh.
Rath Wachler, seine Monatssitzung und daran an¬
schliessend eine Directorialsitzung ab, in welch letz¬
terer Polizeipräsident v. Borries in das Directorium
des Vereins gewählt wurde. Den Hauptgegenstand
<ier Tagesordnung bildete die Antwort des Medicinal-
raths Dr. Leppmann über die in der letzten Versamm¬
lung angeregte Frage, ob der Verein gewisse geistes¬
kranke Strafentlassene in Arbeit auf das Land schicken
darf. Der Vortragende leitete seine Ausführungen
mit einem historischen Rückblick auf die Entwickelung
der Behandlung des Irrenwesens ein. Es seien bei
diesen Kranken drei Gruppen zu unterscheiden, solche
welche ganz gesund geworden, ferner defect Geheilte,
welche man mit einem gewissen Fragezeichen aufs
Land in Arbeit bringen dürfe, und drittens solche,
welche unter keinen Umständen verschickt werden
dürfen. Für die zweite Gruppe, die sogenannten
Schwachsinnigen, erweist sich eine geregelte Armen¬
pflege, wie sie Berlin besitzt, und die noch nicht ge¬
nügend anerkannt worden, als besonders segensreich;
die erzielten Resultate seien als ganz ausgezeichnete
zu nennen. Leider habe man auf dem platten Lande
für die armen Geisteskranken bisher noch keine Spur
von Verständniss. Es frage sich nun, ob hier nicht
der Verein unter Erweiterung seines Wirkungskreises
die Hand bieten möchte. Es sei zweifellos, dass sich
unter Gewährung eines Zuschusses Bauern finden
würden, die solche Schwachsinnigen in Pflege und
Arbeit nehmen würden. Besonders empfehlenswerth
wäre eine solche Behandlung der Irrenfrage für unsere
Vororte, namentlich für Rixdorf, das den grössten
Procentsatz geistig Minderwerthiger aufweist. Für
die dritte Gruppe von Kranken, welche meist aus
Trinkern hervorgeht, fehlt noch die nöthige Organi¬
sation unserer Trinkerheilanstalten. Für Berlin und
Charlottenburg sind seit Inkrafttreten des Gesetzes nur
ca. 20 Entmündigungen ausgesprochen worden.
Referent empfiehlt dem Verein, geisteskranke Straf¬
entlassene vor ihrer Verschickung ärztlich untersuchen
zu lassen, und erklärte sich Medicinalrath Dr. Lepp-
Tnann zu solchen Untersuchungen bereit, wie er an¬
dererseits auch noch Specialkollegen hierzu veran¬
lassen will.
— Krankenhausbauten in Chemnitz. Zur Be¬
arbeitung der genaueren Pläne für die von den städti¬
schen Collegien beschlossene psychiatrische An¬
stalt ist die dauernde Fühlung des Hochbauamtes mit
dem künftigen Leiter dieser Anstalt, sowie die ge¬
meinsame Besichtigung verschiedener Musteranstalten
dieser Art dringend erwünscht. Der Rath beschloss
deshalb, schon jetzt dieser Frage näher zu treten
und designirt auf Vorschlag des Krankenpflegeaus¬
schusses für die Stelle des Oberarztes der psychia¬
trischen Anstalt vorbehaltlich der Bestimmung des
Termins der Anstellung Herrn Dr. med. Hüfler hier-
selbst.
— Baden. Nach einer Mittheilung des Grossh.
Ministeriums des Innern werden die Kosten für die
Erwerbung des Geländes zur Erbauung einer Landes-
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Irrenanstalt bei der Station Reichenau ih den
Staatsvoranschlag für das Jahr 1904 eingestellt werden.
Referate.
— Alt. Die familiäre Verpflegung der
Kranksinnigen*) in Deutschland. Halle a. S.
Carl Marhold. 1903. Pr. 1,50 Mk.
Zu diesem auf dem internationalen Congress zu
Antwerpen am 1. September 1902 gehaltenen Vortrag
hat A. das Unterlagematerial den speciell hierfür ge¬
gebenen amtlichen Berichten aus den einzelnen
deutschen Ländern und Provinzen entnommen.
Das bekannte Gesetz vom Jahre 1891, welches
den preussischen Landarmenverbänden die Fürsorge
für die geistig Gebrechlichen auflegte, liess eine plötz¬
liche Vermehrung der Anstaltsplätze verlangen und
führte, um die Anstalten etwas zu entlasten, in der
Folge dort zu einer intensiveren Einführung der
Familienpflege als im übrigen Deutschland. Allein in
Preussen wurden in den letzten 2—3 Jahren von 14
Anstalten Versuche mit dieser gemacht; sie führten im
Allgemeinen, von einzelnen Misserfolgen abgesehen,
wobei zweifellos äussere Factoren ausschlaggebend
waren, zu guten Erfofgen, gaben die Gewähr, dass
die Familienpflege auch im modernen Wirthschafts-
leben bei uns eine Zukunft hat, und zwingen anderer¬
seits gemäss dem Griesingerischen Ausspruch, dass
selbst die best organisirte und geleitete Anstalt jene
nicht zu ersetzen vermag, w r o immer es die örtlichen
Verhältnisse gestatten, zu deren Einrichtung. Die
Familienpflege ist billiger, erhält und eiweckt das
Interesse zur Beschäftigung, bewahrt eine gewisse per¬
sönliche Selbständigkeit, welche im uniformen An¬
staltsleben leicht verloren geht, in ihr fühlen sich die
Kranken w'ohler und freier; jedenfalls entzieht sie
auch der Anstalt nicht Arbeitskräfte, sondern trägt
vielmehr zur „Heranbildung neuen Nachwuchses“ bei.
— Abweichend von den bisherigen Versuchen hat
Alt-Uchtspringe die Einführung der Familienpflege
unterstützt durch Erbauung von Doppelhäusern für
je zwei Pflegerfamilien mit gleichzeitigem Platz für
je 3 Kranke. Die Familien zahlen nur relativ wenig
Miethe unter der Voraussetzung, dass sie Kranke zu
sich nehmen, für welche sie pro Tag 60 Pfg. Pfleg¬
geld erhalten. So ist allmählich 1,5 Kilometer von
der Anstalt entfernt ein kleines Dörfchen entstanden,
in welchem 39 Pfleglinge untergeb rächt sind, und
der Erfolg war ein derartiger, dass sowohl zahlreiche
Wünsche um Ueberlassung von Pfleglingen aus der
Umgegend laut wurden, als auch die Provinz
Sachsen 1900 nach Alt’s Vorschlägen die Errichtung
zweier Landesasyle mit je 150 Betten zur Ein¬
führung der Familienpflege beschloss, deren eines
(Jerichow’) etw'a nach Jahresfrist schon 80 Pfleglinge
in Familien untergebracht hatte. — Vielfach haben
sich nach den bisherigen Erfahrungen die Familien
früherer Wärter und Wärterinnen als besonders ge-
*) Da man längst bestrebt ist, die vielen Menschen
peinlichen Worte „geisteskrank“ „Irre“ dnreh eine andere Be¬
zeichnung zu ersetzen, wäre Alt’s Vorschlag zu erwägen, hier¬
für das früher bei uns und noch jetzt in Belgien und Holland
gebräuchliche Wort „Kranksinnig“ zu wählen, dessen Bildung
uns durchaus nicht fremd ist (tief-, schwach-, wahnsinnig).
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560
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. ,si.
eignet erwiesen. Eine grössere Zahl Kranker in einer
Familie wird man vermeiden, da sonst derCharacter
der Familienpflege verloren geht. Aus den ver¬
schiedensten Gründen wird man auch eine grössere
Entfernung von Grossstädten wählen. Sommer glaubt,
dass man die Familienpflege recht wohl einer psych.
Poliklinik angliedern könne. Jedenfalls müssen die
Pfleglinge unter ärztlicher Aufsicht bleiben und des¬
halb ist die organische Beziehung zu einer ärztlichen
Controlle (Anstalt oder Asyl) dringend zu empfehlen,
welcher sowohl die Begutachtung bei Auswahl der
Pfleglinge und Pflegerfamilien, wie auch deren Unter¬
weisung, Hilfe in vorkommenden Fällen und die
leitende Controlle obliegt. Wichtig für eine gedeih¬
liche Entwickelung der Familienpflege ist, dass das
Pflegegeld den örtlichen Verhältnissen entsprechend
so bemessen ist, dass die Pflegerfamilien auch ein
reales Interesse daran gewinnen, Kranke bei sich
aufzunehmen. So erwächst jenen aus der Familien¬
pflege zugleich eine regelmässige Einnahmequelle,
welche w'irthschaftlich nicht ohne Werth ist. Ande¬
rerseits hat sich auch gezeigt, dass die Familien pflege
eine grössere Sauberkeit und Ordnung in die Pfle¬
gerfamilie brachte, welche häufig der Ausdruck besse¬
rer wirtschaftlicher Verhältnisse sind. — Von Inter¬
esse ist der dem Vortrage beigegebene, dem Landes¬
hauptmann der Provinz Sachsen erstattete erste Be¬
richt über die Familienpflege in Jerichow.
Die Art der familiären Unterbringung von Geistes¬
kranken ist zweifellos weit besser, zw’eckentsprechender,
grösseren Erfolg verbürgend als jene, wenn die öffent¬
lichen Verwaltungen ihre Kranken geistlichen — sei es
katholischen oder protestantischen — Genossenschaften
übergeben und so glücklich überwundene Zustände
wieder heraufbeschwören helfen, denn nur die streng
naturwissenschaftliche Auffassung der Psychosen und
ihrer Erscheinungsformen verbürgt die humane Be¬
handlung der geistig Kranken. Keliner-Untergöltzsch.
— Schoen, Kopfschmerzen und verwandte
Symptome. Wien 1903. Perles.
Es genügt hier eine Inhaltsangabe der 51
Seiten enthaltenden Schrift. Nachdem Verfasser
die Eintheilung der Arten des Kopfschmerzes von
Windscheid, Fuchs und eine dritte gegeben hat, führt
er aus: I. Begriff und Arten des Kopfschmerzes. II.
Die objectiven Träger der Schmerzempfindung. III.
Der subjective Ort oder die Localisation der Schmerz¬
empfindung. IV. Unmittelbare Reizung. V. Ueber-
tragene Reizung. A. Erste Vermittlungsvorgänge: a)
Erhöhung des intrakraniellen Druckes, b) Gefässmuskel-
krampf, c) Synästhesien. Ausstrahlung von sensiblen
auf sensible Nerven. B. Zweite Vermittlungsvorgänge :
a) Erhöhung der Körperwärme, b) Chemische Ein¬
flüsse (von den fertig in den Körper gelangenden
Giftstoffen erzeugen die meisten den Kopfschmerz
durch GefässVerengerung, hierzu gehört der Alkohol),
c) Reflexe, Synkinesen, Ausstrahlungen von sensiblen
und motorischen auf vasomotorische Nerven. C.
Umstände, welche die Ausstrahlung begünstigen. VI.
Die Reizursprungsstellen. A. Am übrigen Körper mit
Ausnahme des Kopfes. B. Die Reizursprungstellen
am Kopfe, das Gehirn ausgenommen. C. Reizursprung
im Gehirn: Innervationskopfschmerzen, a) Begriff und
Entstehungsweise der Innervationskopfschmerzen (diese
Kopfschmerzstelle muss als Eigenthümlichkeit des Auges
gelten), b) Ursachen krampfhafter Innervation sind
Uebersichtigkcit, schlechte Körperhaltung und Be¬
leuchtung, asymmetrische Krümmung der Hornhaut,
Weitsichtigkeit, Presbyopie, Alterssichtigkeit, Ueberan-
strengung der Musculi recti, Ungleichheit beider Augen,
Anisometrie, verschiedene Höhenlagen der Augen,
Höhenscheiden, ungewöhnliche Arbeitshaltung, c) die
Erzeugung des Kopfschmerzes geschieht durch schmerz¬
haftes Fühlbarwerden der Innervation selbst, durch
Synästhesie mit synkinetisch erzeugtem Muskelschmerz,
durch synkinetischen Krampf der Hirngefässe, d) aus
den aufgezählten Symptomen setzen sich vielgestaltige
Krankheitsbilder zusammen, leichtere und schwerere
Formen, manche Neurasthenie, sehr viele Migränefälle;
interessant ist hier, dass S. betont, dass jeder Fall
von Epilepsie auf Augenfehler zu untersuchen sei.
VII. Diagnose. VIII. Behandlung, ätiologische und
symptomatische. „In zw’eifelhaften Fällen kann man
behufs Ausschaltung der Ursache selbst Alkohol . . .
verbieten“. (Warum so zaghaft!) „Nach Ausgleich¬
ung der Augenfehler werden alkoholische Getränke,
selbstverständlich in nicht ungewöhnlicher Menge,
wieder anstandslos ertragen.“ (Eine nicht ungewöhn¬
liche Menge Alkohol ist zu unbestimmt ausgedrückt.
Der Kranke bestimmt sich diese Menge selber, w T enn
der Arzt ihm — zu wenig erlaubt.) „Bei ablaufender
Alkoholw’irkung hilft der Alkohol selbst wieder“ (Wozu ?).
Das Werkchen ist anregend und empfiehlt sich
zum Nachlesen. J. S. Mas eher-Hubertusburg.
Personalnachrichten.
— Unserem sehr verehrten Herrn Mitherausgeber,
dem Privatdocenten der Psychiatrie an der Würz¬
burger Universität, Dr. Weygandt, wurden aus der
Cramer-Klett - Stiftung 1500 M. zur Erforschung des
Kretinismus in Franken zuerkannt.
— Herrn Dr. med. Bruns, Nervenarzt in Hanno¬
ver, ist der Charakter als Professor verliehen.
Statistische Kommission des
Vereines deutscher Irrenärzte
Die statistische Kommission wird auf der Ver¬
sammlung in Jena am 20./21. April 1903 den Be¬
richt über ihre bisherige Thätigkeit erstatten. Die¬
jenigen Herren Collegen, die noch Mittheilungen
aus dem wiederholt umgrenzten Interessengebiet der
Kommission zu machen haben, werden dringend ge¬
beten, dieselben spätestens bis zum 28. März
an die Adresse von Prof. Hoche, Freiburg i. Br.
gelangen zu lassen.
Der heutigen Nummer lieget das
Programm für den IX. Internationalen
Kongress gegen den Alkoholismus
(Bremen, 14.—19. April 1903)
bei, worauf wir noch besonders hinweisen.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lircsler, Krazchnit* (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schloss der Inseratcnannahme 3 Tag« vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S
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Halle a S.
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Psychiatrisch ^Neorologlscbe
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irren&rzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. I* Edinger,
Uchtspringe (Altmark). Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazsrini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mo ns (Belgien).
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Professor Dr. Ernst 8ehultae, Direktor Dr. Urquhart,
Budapest. St. Maurice (Seine). Andernach. Perth (Schottland).
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Kraschnitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 244.
Nr. 52 . 28. März. 1903 .
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Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post (Katalog Nr. 6495), sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3*paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Kraschnitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt. Originale: Manisch-depressives Irresein und circulare Paralyse. Von Priv.-Doc. Dr. Alexander Bernstein in Moskau
(S. 561). — Luftliegekuren bei Psychosen. Von Dr. W. Alter, Assistenzarzt (S. 566). — Das Enquete-Referat von Prof.
Dr. Benedikt über die Privatirrenanstalten und die private Irrenpflege. Von Dr. Dieckhoff (S. 568). — Joseph Krayatsch f
(S. 569). —- Mittheilungen (S. 570). — Referate (S. 570). — Personalnachricht (S. 572).
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Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift (bei den Postämtern unter Nr. 6495
des Zeitungs-Kataloges) baldigst zu erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen
kann.
Diejenigen unserer verehrt. Abonnenten, welche die Wochenschrift unter
Kreuzband empfangen, erhalten dieselbe weiter geliefert, sofern eine Abbestellung
nicht erfolgt
Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“
Carl Marhold in Halle a. S.
Manisch-depressives Irresein und circuläre Paralyse.
(Aus einer klinischen Vorlesung.)
Von Priv.-Doc. Dr. Alexander Bernstein , Director der Centralaufhahmestation für Geisteskranke in Moskau.
£s giebt eine eigenthümliche Verlaufsart der pro- hältnissmässig harmlosen klinischen Bilde einer cir-
gressiven Paralyse, welche für die Diagnose ganz culären Psychose verläuft; von Letzterem gar keine
besondere Schwierigkeiten darbietet. oder fast keine Unterschiedsmerkmale darbietend,
Kurze Zeit nach der luetischen Infection — etwa äussert es sich bald in einer manischen, resp. hypo-
3 — 4 Jahre, manchmal auch früher — entwickelt manischen Erregung, bald in einer depressiven Hem-
sich bei dem bisher völlig psychisch gesunden Indi- mung, bald in einem Mischzustande des circulären
viduum eine Seelenstörung, welche unter dem ver- Stupors, der agitirten Depression u. s, w. Ganz analog
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5^2
der Verlaufsart des manisch-depressiven Irreseins mit
seinen periodisch resp. cyclisch verlaufenden Episoden,
zeigen auch diese psychotischen Erkrankungen gewöhn¬
lich einen intermittirenden Typus, indem jede einzelne
Erkrankung mit einem offenbar völligen Zurücktreten
aller pathologischer Erscheinungen schliesst und eine
Tendenz zu Recidiven zeigt. Obwohl sich in manchen
Fällen während der psychotischen Periode einzelne
für die Paralyse charakteristische physische Merkmale
constatiren lassen — wie z. B. Pupillendifferenz oder
träge Lichtreaction, Störung der Kniereflexe, der
Sprache oder der Schrift, verschwinden auch diese
Zeichen manchmal mit dem Eintritt der psychischen
Besserung.
Das psychische Gleichgewicht, sowohl auf intellek¬
tuellem, wie auf emotionellem Gebiete, wird dabei
in solchem Maasse wiederhergestellt, dass die ent¬
lassenen Patienten, in ihre gewöhnlichen Verhältnisse
zurückgekehrt, ihre verantwortlichen dienstlichen oder
professionellen Pflichten tadellos erfüllen können; die
Remissionen zwischen den einzelnen Perioden können
jahrelang dauern ohne bemerkbare Defecte aufzu¬
weisen ; und erst mit der fatal eintretenden Wiederkehr
solcher Erkrankungen, stellen sich allmählich die phy¬
sischen und psychischen Stigmata der Paralyse stabil
ein und beherrschen das allgemeine Krankheitsbild.
Solche Verlaufsart nach dem Typus einer circu-
lären Psychose lässt sich besonders häufig bei Fällen
von sogenannter Taboparalyse beobachten; es sind
Fälle, welche sich klinisch durch das Vorhandensein
von tabischen Symptomen (Fehlen der Kniereflexe,
Romberg’s Phänomen, lancinirende Schmerzen
u. s. w.) unterscheiden. In diesen Fällen sind die
Intervalle zwischen den einzelnen psychotischen Er¬
krankungen auffallend lang und die Remissionen —
oder besser gesagt Intermissionen — besonders weit¬
gehend. Die terminale Periode der Paralyse scheint
in diesen Fällen sehr weit zurückgeschoben zu sein;
aber in Wirklichkeit ist eine solche Annahme eigent¬
lich kaum berechtigt
Die durchschnittliche Dauer einer typischen Para¬
lyse wird jetzt gewöhnlich mit 4 — 6 Jahren berech¬
net ; da die Paralyse am häufigsten 8 —15 Jahre
nach der stattgehabten Infektion ausbricht, so beträgt
die Dauer zwischen dem primären Ulcus und dem
Tode des Paralytikers 1 2 bis 20 Jahre. Wenn wir
uns aber vergegenwärtigen, dass der Ausbruch der¬
jenigen Erkrankungen, von denen hier die Rede ist,
ziemlich bald nach der Infection geschieht, so ver¬
steht sich von selbst, dass in diesen Fällen die all¬
gemeine Krankheitsdauer 10 bis 18 ja 20 Jahre be¬
tragen kann, ohne sich dadurch von der Dauer der
[Nr. 5--
Durchschnittsfälle grundsätzlich zu unterscheiden. Und
solchen quasi protrahirten Fällen mit circulärem Ver¬
lauf begegnen wir in Wirklichkeit, wenn wir die Ge-
sammtdauer der Krankheit von der ersten psycho¬
tischen Erkrankung ab berechnen und dieselbe nicht
als eine zufällige, nicht mit der Grundkrankheit zu¬
sammenhängende, Episode betrachten.
Der langen Dauer und den tiefen Remissionen,
die diese Verlaufsart darbietet, haben wir es wahr¬
scheinlich zu verdanken, dass bis jetzt hie und da
von einzelnen Autoren von geheilten Fällen von
Paralyse gesprochen wird; auch die „manie paraly-
tique“ von Bai 11 arger und die „Pseudoparalyse“
von F ü rs t n e r scheint mir inj diesem Sinne gedeutet
werden zu dürfen: es handelt sich dabei wohl um
Fälle, welche nicht bis zu ihrem natürlichen Ende
verfolgt wurden und welche in den Intermissionen
auch ihre physischen Stigmata vorübergehend verloren
haben. Andererseits geben solche circulär verlaufende
Fälle Anlass, von einer Combination (oder sogar Com-
plication!) des manisch-depressiven resp. periodischen
Irreseins mit der Paralyse zu sprechen. Um aber
von einer solchen Combination mit Recht sprechen
zu dürfen, ist es nothwendig zu beweisen, dass das
betreffende Individuum wirklich circulär war und
nicht von vornherein an einer Paralyse gelitten hat,
dass also diejenigen Episoden circulärer Art, welche
dem ausgesprochenen Bilde der Paralyse voraus¬
gingen, wirklich idiopathischer Natur waren und nicht
eine Initialerscheinung des definitiven Leidensvor¬
boten.
Nach dem Gesagten leuchtet es ein, dass es bei
der ziemlich genauen Identität beider Zustandsbilder
sehr schwierig, ja unmöglich ist, ein objectives, zuverlässi¬
ges Criterium aufzufinden, welches uns erlaubt hätte die
Frage nach der einen oder der anderen Richtung zu
entscheiden. Einerseits fehlen häufig den Initial¬
erkrankungen der Paralyse die physischen Merkmale
ganz, oder es lassen sich nur so vieldeutige Zeichen
auffinden, wie etwa Pupillendifferenz, gesteigerte Knie¬
reflexe, Tremor u. s. w., andererseits aber lassen sich
manchmal auch in circulär-manischen Zuständen vor¬
übergehende Sprachstörungen, Schwindel etc. beob¬
achten, wie das von Kirn, Korsakoff, Regis
u. A. betont wird.
Die Frage von der Combination einer circulären
Psychose mit der Paralyse ist nicht nur eine rein
wissenschaftliche Frage, deren Lösung nur einen aka¬
demischen Werth hat; ihr praktischer Zweck liegt in
der Möglichkeit, eine richtige Diagnose am Kranken¬
bett zu stellen und Voraussagen zu können, ob der
Patient sein Leben lang circulär bleiben, oder aber
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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'W]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 563
noch vor zwei Decennien paralytisch sterben wird.
Wie wir soeben gesehen haben, sind aus dem Zu¬
standsbilde ziemlich oft die diagnostischen Schlüsse
nicht zu ziehen; das Alter ist auch wenig maass¬
gebend , da bekanntlich die circuläre Psychose im
beliebigen Alter, also auch in den dreissiger Jahren,
cinsetzen kann.
Glücklicher Weise haben wir, wie mir scheint, ein
einfaches klinisches Mittel, dieser Aufgabe näher
zu treten: das ist die Syphilis. Wenn ein ausge¬
sprochen circulärer Patient syphilitisch inficirt und
eventuell io Jahre später eine typische Paralyse auf¬
weisen würde, so wäre ein solcher Fall mit grossem
Recht im Sinne einer Combination zu deuten, in
welche die Lues als Verbindungsglied eingetreten ist.
Ein Fall von der Formel — Circuläre Psychose —
Lues — Progressive Paralyse würde für die Combi-
nationsfrage eindeutig entscheidend sein.
Es ist merkwürdig und kaum einem Zufall zuzu¬
schreiben, dass bis jetzt kein derartiger Fall in der
psychiatrischen Litteratur verzeichnet wurde; offen¬
bar erkranken die mitLues inficirten cir-
culären Patienten nicht an progressiver
Paralyse. Diese Thatsache scheint um so auf¬
fallender, als die Circulären während der manischen
Phase oft genug erotisch gestimmt und zu sexuellen
Ausschweifungen geneigt sind, und somit besonders
günstige Gelegenheit zum Inficiren darbieten; ohne
diesen unbegreiflichen Antagonismus zwischen beiden
Krankheiten, würde die Complication des manisch-
depressiven Irreseins mit Paralyse sicher eine alltäg¬
liche Erscheinung darbieten.
Pilcz, welcher, soviel ich weiss der erste, seine
Aufmerksamkeit darauf vorübergehend gerichtet hat,
schreibt: „Es ist eine auffallende Thatsache, dass
periodisches Irresein und progressive Paralyse ein¬
ander gewissermaassen ausschliessen“.*) Dabei lässt
aber Pilcz die Zeit der primären Infection ganz
ausser Acht, was methodologisch kaum zulässig ist.
Erstens weist seine Darstellung den logischen Fehler
der Petitio principii auf: diejenigen Fälle, welche in
eine ausgesprochene Paralyse ausliefen, werden dabei
von selbst aus der Rubrik der periodischen ausge¬
schlossen, indem sie als circulär verlaufende Paralyse
gedeutet werden, und somit auch der Satz, dass, wo
eine Paralyse vorhanden ist, keine circuläre Psychose
vorausgehen konnte, dieser Satz, welcher zu beweisen
ist, wird als gegeben angenommen. Andererseits aber
werden zu Beweiszwecken auch solche Fälle ange¬
führt, welche noch lange nicht abgelaufen und welche
*) Alexander Pilcz: Die periodischen Geistesstörungen.
Jena. P'ischer. 1901. S. 184.
somit in diagnostischer, resp. prognostischer Hinsicht
zweifelhaft sind.
So steht z. B. der Sachverhalt bei dem Kranken
der Beobachtung Nr. 4 von Pilcz, von welchem
er selbst bemerkt, dass „der Zeitraum nach der lueti¬
schen Infection nicht gross genug ist, um mit Sicher¬
heit sagen zu können, dass eine Erkrankung an Para¬
lyse nicht noch möglich gewesen wäre“ (1. c.); aller¬
dings wird bei der Beschreibung des Falles darauf
hingewiesen, dass „schon während des ersten Anfalles
eine Differenz der gut reagirenden Pupillenstarre be¬
merkt w'urde“. Pat. ist gegenwärtig 38 J. alt; erste
Erkrankung vor 11 Jahren. *) In der Beobachtung
Nr. 23 beträgt die Krankheitsdauer 14 Jahre (Pat.
ist 40 J. alt); vor sechs Jahren eine Hemiplegia sini-
stra, welche nur zum Theil zurückging; zunehmende
Verblödung.**) In den beiden übrigen Lues-Fällen
von Pilcz ist die Zeit der Infection nicht bekannt.
Es ist somit selbstverständlich, dass die Frage
nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Com¬
bination des circulären Irreseins mit der Paralyse auf
Grund deijenigen Fälle, wo die Lues dem Ausbruch
des circulären Bildes vorausging, nicht zu entscheiden
ist; das Vorhandensein einer Combination nach der
Formel — Lues — circuläre Psychose — progressive
Paralyse — kann immer mit gewissem Recht auf
eine einfache cirgulär verlaufende Paralyse zurück -
geführt werden. Die Möglichkeit einer Combination
würden nur solche Fälle beweisen, in denen sich
die Gesammtkrankheit nach der zuerst oben ange¬
führten Formel — Circuläre Psychose — Lues —
Paralysis progressiva — entwickelt hätte. Wie gesagt,
wurde bis jetzt ein derartiger Fall nicht beschrieben
und es kann somit, bis das Entgegengesetzte nicht
bewiesen ist, die klinische Behauptung als geltend
behalten werden, dass die luetische Infection einem
von vornherein circulären Kranken nicht mit einer
späteren paralytischen Erkrankung droht.
Nach dem Gesagten leuchtet es ein, welche tief¬
greifende Bedeutung die Beschreibung eines derartigen
Falles haben würde; ein solcher Fall müsste der
strengsten Kritik Widerstand leisten und auf das
Sorgfältigste geprüft werden; er müsste allen An¬
forderungen entsprechen, die einem Experimentum
crucis gestellt zu werden pflegen. Ein derartiger Fall,
— der einzige in der Litteratur — wurde vor kurzem
hierselbst von Lund borg veröffentlicht***) und wollen
*) Ihid. S. 32-33.
**) Ibid. S. 94.
***) Her man Lun d borg: Dementia paralytica bei einem
Ehepaar. „Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift“. 1902. Nr. 27
bis 28.
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564
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5 2 .
wir ihm nun die ganze Aufmerksamkeit widmen,
welche seine Sonderstellung verdient.
Es handelt sich um das Ehepaar N. N. Der
Mann verheirathete sich im Alter von 2 6 Jahren;
mit 40 Jahren hatte er „eine kleine Gehirnblutung
gehabt (Ohnmachtsanfälle, Parese in den Gesichts¬
muskeln der einen Seite)“. 1 1 j 2 Jahr darauf wurde
er tiefsinnig, „litt an Kopfschmerzen und Schwindel
und hatte deutliche Symptome von Tabes dorsalis“.
Sein Zustand verschlechterte sich immer, er war völlig
abgestumpft und starb im Alter von etwa 42 Jahren.
Lund borg hat den Kranken selbst nicht beobachtet
und benutzt eine briefliche Mittheilung über ihn von
einem Arzte, welcher den Patienten unregelmässig
behandelt hatte. Aus dieser Mittheilung sehliesst
Lundborg mit grösster Wahrscheinlichkeit, dass
N. N. an Tabes wie Dementia paralytica gestorben
ist, dass er Lues gehabt hat und damit vermuthlich
seine Frau inficirt hatte.
Die Frau N. N. bildet den Mittelpunkt des Inter¬
esses. „Von ihrem 14. Jahre an hat Pat. Anfälle
von Geisteskrankheit (Mania per.) 3 mal alljährlich
während eines oder mehrerer Monate gehabt“. Im
Alter von 31 Jahren verheirathet, hatte sie zuerst
einen Missfall (auf einer Seereise bei hoher See).
Darnach hatte sie 4 Kinder, welche noch leben, und
darauf wieder 5 Missfälle. Es sei nebenbei bemerkt,
dass, trotzdem ein grosser Theil ihres Lebens im
Krankenhause verlief, bei ihr nie etwaige Erschei¬
nungen luetischer Natur beobachtet worden waren
und sie selbst weiss nichts von einer venerischen
Krankheit, weder bei sich selbst noch beim Manne.
Mit 51 Jahren stellten sich bei ihr, bei Ausbruch
einer Unruheperiode, zahlreiche epileptiforme Anfälle
ein, welche sich spätei öfters wiederholten. Während
der kurzen ruhigen Perioden ist Pat. in den letzten
Jahren „stumpf und gleichgültig, aber recht geschwätzig
geworden“.
Jetzt ist Pat. 53 Jahre alt. „Die rechte Pupille
ist etwas kleiner, als die linke und reagirt langsamer“.
Keine Sensibilitätsstörungen. In den Händen und
der Zunge „ein gewisser Grad von Tremor“. „Im
Gesicht dann und wann fibrilläre Muskelzuckungen“.
Ueber den Zustand der Patellarreflexe wird leider
nichts berichtet. Von der Sprache wird nur ange¬
geben, dass Pat. „ziemlich tadellos“ lesen kann;
„längere Wörter, wie z. B. Artilleriebrigade kann sie
nicht nachsprechen ohne sich zu verwickeln“ (also
kein Silbenstolpern!); nur wenn sie hochgradig erregt
ist, wird die „Sprache undeutlicher und verwischter“.
Gesichtsausdruck „etwas schlaff“; „Blick sehr lebhaft“.
„Pat. zeigt deutliche Euphorie, abwechselnd mit Wei¬
nerlichkeit“. „Sie ist sehr gedächtnissschwach, beson¬
ders für die Ereignisse späterer Zeit. Das weiss sie
selbst“. Diese Gedächtnisschwäche schwankt von
einem Tag zum anderen, indem sie „sich an ver¬
schiedenen Tagen verschieden erweist“. „Sie vergisst
nicht selten, was sie hat sagen wollen.“ „Es fällt ihr
oft schwer einen Gedanken auszudrücken“ oder „einen
Gedanken zu Ende zu denken“, einen Brief zu
schreiben, eine Addition richtig auszuführen. Beim
Schreiben wird hier und dort eine Silbe zweimal ge¬
schrieben und „merkt sie einen Theil der Fehler,
so giebt sie den Versuch auf“. „Weder Sinnes- noch
Gedanken wahn ist nachzuweisen“. Von Zeit zu Zeit
Unruheperioden; Pat. wird geschwätzig, cynisch, un¬
sauber, aggressiv; während der Erregung zahlreiche epi¬
leptiforme Anfälle („vom 27. XI. bis 4. XII. hatte
Pat. nicht weniger als 23 epileptiforme Anfälle“).
Soviel lesen wir in dem Beobachtungsprotokoll.
Obwohl das Vorhandensein einer luetischen Infection
bei der Frau durch nichts bewiesen wird, da ja die
stattgefundenen Missfälle im besten Falle für eine
Syphilis des Mannes und nicht der Frau sprechen,
lassen wir zu, dass die an ausgesprochener circulärer
Psychose leidende Patientin in der That Lues vom
Manne acquirirt hatte. Ist nun das beschriebene
Zustandsbild als eine Paralyse zu deuten? In der
Epikrise äussert sich Lundborg wie folgt: „Aus
dein Status geht ja mit aller Deutlichkeit hervor, dass
bei der Kranken wirklich eine Paralyse vorliegt. . . .
Die Krankheitszeichen, w r elche dann (bei der Auf¬
nahme) hervortraten, w'aren wohl ausschliesslich der
Paralyse zuzuschreiben“. Diese Zeichen, die ich
oben ausführlich und womöglich authentisch wieder¬
gegeben habe, sind aber kaum für eine solche Be¬
hauptung genügend. Der Pupillendifferenz an sich
ist kaum ein etwaiger syraptomatologischer Wert bei¬
zugeben, da dieselbe häufig genug bei Geistesgesunden
wie bei -Kranken, besonders bei älteren Personen
vorkommt; dass die engere Pupille langsamer reagirt,
als die weitere, hat an sich nichts Auffallendes und
wird bei der alltäglichen Beobachtung der nicht para¬
lytischen Kranken gefunden; der geringe Tremor in
den Händen und der Zunge ist auch nicht ohne
Weiteres bei der 53 jährigen Patientin für die Diag¬
nose zu verwerthen. Es bliebe somit die Sprach¬
störung, welche im Status als Verwicklung beim Lesen
längerer Wörter bezeichnet, in der Epikrise aber als
„litterale Ataxie“ gedeutet wird. Es bleiben weite
die epileptiformen Anfälle.
Wenn wir uns nun zur Analyse des psychischen
Bildes wenden, so finden wir auch hier wenig für
die Paralyse charakteristisches. Ausser der Euphorie,
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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 565
welche ja nur auf einen manischen Zustand deutet,
der bei einem drculär-manischen Ausbruch schwer¬
lich zu vermissen würde, spricht nach Lundborg
für die Paralyse die Gedächtnisschwäche und die
Unfähigkeit zum systematischen Denken. Wenn wir
aber in die Angaben des Status etwas tiefer ein-
dringen, so ist es, bei all ihrer Spärlichkeit, nicht
schwer zu bemerken, dass die Störungen ein ganz
anderes Gepräge tragen, als bei der Paralyse. Es
ist vor Allem hervorzuheben, dass Patientin sich dieser
Störungen bewusst ist, dass sie dieselben bemerkt,
was bei der Paralyse gewöhnlich nicht der Fall ist.
Die Gedächtnissschwäche bezieht sich bei ihr beson¬
ders auf die späteren Ereignisse; sie vergisst die
Namen, vergisst, was sie sagen wollte etc. und die
Tiefe der Störung schwankt an verschiedenen Tagen;
bei der Paralyse sind wir dagegen gewöhnt einer
stabilen Hypomnesie zu begegnen, welche an zeit¬
liche Grenzen weniger gebunden scheint, bei welcher
aber dagegen vorzüglich die zeitliche Localisation der
reproducirten Ereignisse gestört ist; dabei tritt bei
der Paralyse die Merkschwäche mehr als die Repro-
ductionsschwäche hervor. Die Erschwerung der Denk¬
fähigkeit bei der Patientin äussert sich in der „Un¬
fähigkeit einen Gedanken zu Ende zu denken“, einen
Brief abzufassen, eine einfache Addition auszuführen;
diese Störung zeugt bei ihr eher von einer Erschwe¬
rung des Denkprocesscs, als von einer Urtheilsschwäche,
Zerfahrenheit, Unfähigkeit zu combiniren, welche wir
bei paralytischen Kranken treffen. „2 i / 2 Jahre sind
bereits vergangen, seit sich deutliche Symptome von
dieser Krankheit zuerst zu zeigen begannen — sagt
uns Lundborg, — und trotzdem ist die ganze
Krankheit gegenwärtig noch nicht weiter vorgeschritten,
als dass die Pat. arbeiten und sich selbst bedienen
kann“. Wenn wir dabei berücksichtigen, dass eben
dieser Zeitraum durch viele Serien von epileptiformen
Anfällen erfüllt wurde, so wäre bei einem ähnlichen
Verlauf der Paralyse eine viel tiefere Verblödung zu
erwarten, als wir bei dieser, in ihren ruhigen Perioden
geordneten, besonnenen, ja vernünftigen Patientin
mit „recht lebhaftem Blick“ finden. Nur nebenbei
sei bemerkt, dass bei einer aufgeregten, euphorischen
vorgeschrittenen Paralyse kaum etwaige Wahnideen
fehlen würden.
Wenn aber die aufgezählten Erscheinungen dem
Character der paralytischen Psyche wenig entsprechen,
so ähneln sie auffallend denjenigen Störungen, welche
sich bei Sclerose der Himgefässe allmählich ent¬
wickeln, wie sic so glänzend noch vor kurzem auf
der Münchener Versammlung der Irrenärzte Deutsch¬
lands zusammengefasst wurden: Der geschilderte Cha¬
racter der Gedächtnissschwäche und der Erschwerung
des Denkprocesses, die Intensitätsschwankungen ein¬
zelner Störungen und die Krankheitseinsicht, das Er¬
haltenbleiben des Kerns der Persönlichkeit und der
Fähigkeit, sich in gewohnten Gedanken- und Leis¬
tungskreisen aufzufinden, endlich die Verwicklung der
Sprache bei schwierigen Wörtern. Das Alles sind
Kennzeichen, welche den arteriosklerotischen Hirner¬
krankungen eigen sind und welche auch das Krank¬
heitsbild von Frau N. N., von den manischen Zügen
abgesehen, vollständig zu decken im Stande sind.
Auch die häufigen epileptiformen Anfälle sprechen
eher für, als gegen eine solche Deutung des Krank¬
heitsbildes; so häufige serienweise auftretende und
während mehr als zwei Jahre andauernde Anfälle habe
ich bei Paralytikern nicht gesehen, und glaube, dass
derartige Anfälle einen echten Paralytiker noch vor
Ablauf von zwei Jahren tödten würden.
Somit wäre, wie mir scheint, der Fall von
Lund borg dahin zu deuten, dass die Patientin,
welche seit ihrer Pubertät circulär erkrankt war, im
Alter von etwa 50 Jahren Zeichen von arteriosklero¬
tischen Processen im Gehirn aufzuweisen begann,
welche durch eine mässige Demenz das zu Grunde
liegende circuläre Krankheitsbild gewissennaassen com-
plieirt haben. Wenn wir auch die angebliche luetische
Infection hier als bewiesen annehmen, so ändert die
Frage danach, ob die Arteriosklerose durch die Sy¬
philis oder durch andere Gelegenhcitsursachen bedingt
worden war, gar nichts in der prinzipiellen Auffassung
dieses Falles. Im Gegentheil würde, unter solcher
Annahme, dieser weit verfolgte Fall, in welchem trotz
der stattgehabten Infection bisher keine Paralyse ein¬
getreten ist und vermuthlich nicht mehr eintreten
wird, meine Behauptung von der Unmöglichkeit eines
Uebcrgangcs des manisch-depressiven Irreseins in
eine Paralyse trotz des Eingriffs einer Lues nicht
unbedeutend unterstützen.
Wenn wir nun diese Behauptung der zweifellosen
Häufigkeit des Debütirens der progressiven Paralyse
mit eirculärartigcn Ausbrüchen kurz nach der Infection
entgcgcnstellen, so entspringt daraus in vollem Maasse
die grosse praktische Wichtigkeit, das Moment der
Ansteckung eventuell anamnestiseh genau zu eruiren:
dadurch gelangen wir zur Diagnostik des circulär-
verlaufenden Krankheitsbildes und zur Voraussage
über die Zukunft des Patienten. Wenn der Patient
vor der Infection auch nur einen Ausbruch des
manisch-depressiven Irreseins erlebt hatte, so wird er
mit grösster Wahrscheinlichkeit frei von Paralyse
bleiben, und wird die Lues keinen bedeutenden Ein¬
fluss aul den weiteren Verlauf seiner Krankheit aus-
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566
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. .52.
üben; wenn aber der erste Ausbruch erst nach der
Infection, sei es auch kurz darauf, sich gezeigt hat,
so ist die Wahrscheinlichkeit nicht minder gross,
dass der Patient unter der Gefahr einer imminenten
Paralyse sich befindet, wenn auch das Anfangsbild
so harmlos ist, so völlig der reinen circulären Psy¬
chose entspricht, wenn auch die sichtbare Genesung
so vollständig erscheint und das freie Intervall sich
so lange zieht.
Neben dieser praktisch wichtigen Thatsache, sei
noch darauf hingewiesen, dass diese klinische Un¬
vereinbarkeit von zwei Krankheiten, deren Zustands¬
bilder und Verlaufsart in einigen Fällen und einigen
Punkten so viel Aehnliches darbieten, als weiterer
Beweis für die Berechtigung ihrer nosologischen Ab¬
grenzung, als besonderer Krankheiten und nicht nur
als klinischer Formen dienen kann. Wenn auch die
Abgrenzung der progressiven Paralyse ohnedem genug
begründet ist und weiterer Unterstützungen kaum be¬
darf, so ist es bis jetzt für die circuläre Psychose
oder vielmehr für das von K ra e p e 1 i n umgrenzte
manisch-depressive Irresein noch nicht der Fall. Die
hier aufgestellte Behauptung kann weiter als neuer
Stimulus dienen zur Beseitigung des Vorurtheils von
dem angeblichen Vorhandensein von Uebergangs-
formen zwischen einzelnen klinisch abgesonderten
psychischen Krankheiten.
Aus der Provinzial-Irren-Anstalt Leubus.
Luftliegekuren bei Psychosen,
Vod Dr. IV. Alter , Assistenzarzt.
P^in Einwurf, der immer wieder gegen die Bettruhe
in der Irrenanstalt gemacht wird, ist der, dass
bei ihrer strikten Durchführung die Zahl der Tuber¬
kulose-Erkrankungen entschieden zunehme. Es ist
das ja im allgemeinen sehr schwer exakt zahlenmässig
zu widerlegen: wir können es nach unseren hiesigen
Erfahrungen — Leubus war unter den ersten An¬
stalten, in denen die Bettruhe Eingang fand — ent¬
schieden nicht zugeben. Die Mortalität an Lungen¬
tuberkulose betrug bei uns:
86/87 87/88 88/89 89/90 9091 91/92
4 -i 4-5 3-4 3-3 «•o 2.5%
9 2 /93 93/94 94/95 95 / 9 6 Q6 67 97/98
0.9 0.9 1.7 1.3 2.2 2.6 °/ n
98/99 99 00 OO/'OI 01/02
3-5 3-9 3-7 2 • 3 °/o
der mittleren Belegziffer.
Die Bettruhe wurde seit Oktober 1888 in immer
grösserem Umfange angewendet, die Phthisenmortali¬
tät ist in den folgenden Jahren so exorbitant ge¬
sunken, dass man eher von einem günstigen Einfluss
der Bettruhe sprechen müsste. Die eximierte Stellung
des Jahres 91/92 erklärt sich ja als Consequenz der
Influenzaepidemie von 90 und 91. Später ist die
Mortalität wieder gestiegen, da würde man eher an
die Opfer langjähriger Bettruhe denken können. Es
bleibt aber immer sehr beachtenswerth, dass die hohen
Mortalitätsziffern aus den Jahren vor der Einführung
der Bettruhe nie wieder erreicht worden sind. Man
wird also auch daraus eine causale Bedeutung dieser
Behandlungsform für die Propagation der Tuberkulose
in der Anstalt kaum ableiten dürfen.
Dagegen schliessen sich auf anderem Gebiete an
die Bettruhe nicht selten entschieden ungünstige
Folgezustände. Bei Kranken, die längere Zeit, Mo¬
nate oder Jahre der Bettruhe unterstehen — manch¬
mal auch schon eher — entwickeln sich leider nur
zu oft Anämieen von wechselnder, bisweilen recht
grosser Intensität, ja von ausgesprochen deletärem
Charakter, die auch in den leichtesten Formen eine
höchst unerfreuliche Complication abgeben und sich
meist gegen jede Therapie recht hartnäckig erweisen.
Der schädigende Faktor ist dabei schwerlich die Bett¬
ruhe an sich, sondern die mit ihr verbundene Fem-
haltung der fraglichen Patienten von den für jeden
gesunden und kranken Organismus so eminent werth¬
vollen Einflüssen der freien Luft, der Insolation und
der intensiven und directen Lichteffecte überhaupt.
Von solchen Erwägungen aus habe ich seit dem
Sommer vorigen Jahres versucht, bei Kranken der
mir unterstellten Pensions-Abtheilungen die Bettruhe mit
Liegekuren im Freien zu kombiniren, oder sie durch
solche theilweise zu ersetzen. Ich kann heut schon
sagen, dass die damit erzielten Erfolge sehr günstig
sind und zu immer ausgedehnteren Versuchen er¬
mutigt haben. Ich habe die Liegekur fast durchweg
wenigstens im Anfänge mit hydrotherapeutischen Be-
handlungsmaassnahmen verbunden. Im einzelnen
stellte sich das Verfahren dann meist so, dass die
Kranken vormittags zwischen 9 und 11 Uhr ins Freie
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1903.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
5^7
gebracht wurden; die Aussentemperatur habe ich da¬
bei mehr und mehr vernachlässigen gelernt: ich habe
z. B. eine Kranke den ganzen Winter über, selbst
bei 8—io°C. Kälte, stundenlang im Freien liegen
lassen, mit nur günstigen Folgen. Benutzt werden
einfache Rohrliegestühle, auf die eine dünn gepolsterte
Matratze kommt. Die Kranken sind in gewöhnlicher
Kleidung, die im Sommer thunlichst hell und leicht
gewählt wird — im Winter werden die Patienten in
Fusssäcke und Decken so warm eingepackt, dass ein
Frösteln ebensowenig ein tritt, wie eine Wärmestauung.
Sie liegen dann, oft in grosser Gesellschaft, zusammen,
plaudern, spielen und lesen und nehmen auch die
Hauptmahlzeit vielfach im Freien ein. Im Laufe des
Nachmittags, nach 4—6—8 Stunden kehren sie in
die Abtheilungen zurück und erhalten nun, meist so¬
fort, ein Kurbad, ein prolongirtes Bad, prolongirte
Sitzbäder oder Einpackungen — je nach der Indivi¬
dualität und Indikation. Erkältungskrankheiten, die
ich im Anfang immerhin befürchtet hatte, sind unter
diesem Regime thatsächlich nie beobachtet worden :
ich möchte übrigens auch ausdrücklich hervorheben,
dass wir von Erkältungskrankheiten seit der ausge¬
dehnten Anwendung der Hydrotherapie*) in auffallend
geringem Maasse zu leiden hatten. Sehr bemerkens-
werth ist auch die Thatsache, dass eine Influenza,
die in diesem Frühjahr bei uns grassierte, ausnahms¬
los die Kranken freiliess, die unter Badebehandlung
und Freiluftkur standen.
Indiziert erscheint mir ein partieller Ersatz der
Bettruhe durch Liegekuren im Freien im Grunde bei
allen Kranken, deren psychisches Verhalten sie irgend
ermöglicht. Die Zahl solcher Kranken ist viel grösser
als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Ich habe
es aber auch, bisher freilich nur im Sommer, ohne
weiteres riskirt, unruhige Kranke — sie machten dem
Prädikat alle Ehre —, bei denen eine Anämie vor¬
lag oder drohte, einfach in der Einpackung — ich
verweise da wieder auf Mittheilungen an anderer
Stelle**) — stundenlang ins Freie zu legen. Mein Ma¬
terial ist da natürlich vor der Hand noch recht klein,
denn die äusseren Bedingungen sind bei uns sehr
imgünstig: altes Haus mit drei je ca. 7 m hohen Etagen,
ohne Fahrstühle — aber in den wenigen Fällen,
über die ich verfüge, waren die Erfolge sehr be¬
friedigend, nicht zuletzt auch in psychischer Beziehung.
In der neuen Anstaltsanlage für 800 Kranke, die
hier im Bau ist, sind jedenfalls daraufhin auch an den
*) ef: Zur Hydrotherapie bei Psychosen, Centralblatt für
Nervenheilkunde und Psychiatrie, März 1903.
**) a. a. o.
Pavillons für Unruhige grosse Veranden in Südlage
vorgesehen, die mit den Bettsälen direct kommuni-
ciren und die es ermöglichen werden, auch solche Kranke
im Bett stunden- und tagelang ins Freie zu bringen
— mit oder ohne Packung.
In allererster Linie sind es aber Kranke in hy¬
pomanischen oder depressiven Zuständen, ruhige Pa¬
ralytiker, viele Formen von Dementia präcox, die für
die Liegekur in Betracht kommen, und zwar ebenso
alte Anstaltsinsassen, wie frisch aufgenommene Pa¬
tienten. Selbst bei einigermassen agitirten Melancholien
lässt sich die Durchführung der Behandlung meist ohne
Schwierigkeiten ermöglichen, wenn eine geeignete Umge¬
bung unter individualisirender Auswahl geschaffen werden
kann. Die Ergebnisse sind, wie gesagt, recht günstig,
in erster Linie auf rein körperlichem Gebiet. Anä¬
mische Kranke bekommen rasch Farbe und eine
bessere Blutzusammensetzung; Appetit und Stoff¬
wechsel, die bei der Bettruhe nur zu oft zu wünschen
lassen, werden mächtig angeregt. Aber auch die
Stimmung der Kranken wird günstig beeinflusst. Sie
werden nicht nur körperlich, sondern auch geistig
frischer und regsamer, zugänglicher und theilneh-
mender. Die vielen Klagen über „das ewige im Bett
liegen“ treten ganz zurück, der Durchführung jeder
anderweitigen Behandlung wird wesentlich Vorschub
geleistet. Manchmal sind die Erfolge ganz frappant.
So habe ich einen Patienten, einen 23jährigen ini¬
tialen Paralytiker, Offizier, der in hochgradigster Anä¬
mie, mit arger Appetit- und Schlaflosigkeit und
schwerem Damiederliegen aller visceralen Funktionen
zu uns kam. Er war bei jähen und extensiven
Affektschwankungen meist tief deprimiert, voller hypo¬
chondrischer Beschwerden und Selbstmordideen. Er
wurde vom ersten Tage an einer combinirten Be¬
handlung mit Bettruhe und 6Std. Bädern unterworfen,
nach 8 Tagen trat dazu — mitten jm Winter — eine
regelmässige Liegekur von 4—6 Stunden. Nach 2(>
Tagen war sein Gewicht um 24 Pfund gestiegen,
sein Aussehen war blühend, die körperlichen Funk¬
tionen hatten sich in wünschenswerthester Weise ge¬
hoben, die Stimmung war gleichmässiger, in der Regel
vergnügt und euphorisch. Ein Medikament hat er —
ausser einigen Pyramidonpulvem zu 0,25 — nie be¬
kommen, als Kostzulage wurde nur Milch gereicht.
Das sind natürlich Renommirfälle, die zur Beur-
theilung des Regime an sich von geringerem Werte
sind. Aber die Resultate sind auch im allgemeinen
so gleichmässig erfreulich und augenfällig gewesen,
dass ich daraus schon heut der Freiluftliegekur in
der Behandlung der Psychosen ein weites Feld ein-
r.iumen möchte.
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568 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
Das Enquete-Referat von Prof. far. Benedikt
über die Privatirrenanstalten und die private Irrenpflege.
U nter den Referaten betreffend die Reform des
Irrenwesens in Oesterreich ist in Nr. 38
dieser Wochenschrift auch das Referat von Professor
M. Benedikt im Auszuge mitgetheilt. Weil dies Re¬
ferat wegen des Namens seines Verfassers auch auf
die Beurtheilung und Entwicklung des Irrenwesens
in Deutschland Einfluss haben könnte, ist es nöthig
zu wissen, welcher Werth ihm beizulegen ist.
Mit Bedauern muss gesagt werden, dass eine
„Laiencommission“ dem Irrenwesen nicht vcrständiss-
loser, den Aerzten nicht ungerechter gegenüberstehen
kann als der hervorragende Wiener Neurologe in
seinem Referat. Wenn man das Referat liest — cs
ist, getrennt von den übrigen Enquete-Referaten, in
der Wiener klin. Wochenschr. iqoi, Nr. 44 veröffent¬
licht —, so muss man über die gelegentlich ein¬
gestreuten pathologischen Ausführungen erstaunen.
Ueber die Neurasthenie heisst es zum Beispiel: „Im
Zusammenhang mit dem verhandelten Thema sind
als Neurastheniker jene zu bezeichnen, welche durch
Willensschwäche und Erschöpfbarkeit bei jeder ernsten
Beschäftigung zu jeder Berufsthütigkeit unfähig sind.
Diese Zustände können angeboren oder erworben
sein; es handelt sich also um psychische und phy¬
sische Arbeitsunfähigkeit, die, wenn angeboren, zur
„Arbeitsscheu“ sich entwickelt.“ Das hätte auch ein
nicht approbirter Heilkundiger schreiben können.
Weiterhin liest man von „Weibern, die wegen ihrer
krankhaften Ausschweifungen allgemeines Acrgerniss er¬
regen und die Ehre der Familie cynisch blossteilen
und daher unter Curatel gestellt sind“, von „Indivi¬
duen, welche einer Entziehungskur wegen lasterhafter
Gewohnheit der Selbstvergiftung durch Morfin, Cocain,
Alkoholika etc. benöthigen“; so darf sich ein Arzt
doch nicht ausdrücken, auch nicht „im Zusammen¬
hang mit dem verhandelten Thema“. Auffallend ist
auch die Behauptung, „bei der Influenza-Psychose“
bestehe „ein Doppelbewusstscin, ein psyc hopathisches
und ein normales nebeneinander“; nachher heisst es
kurz „Influenzakranke“. Von den gelegentlichen
Aeusserungen über die Behandlung der Geisteskran¬
ken seien nur erwähnt „alle jene Strafvorgänge, die
auch bei Geisteskranken zum Behufe der Besserung
des Verhaltens wirksam und angezeigt sein können“.
Auf dem Boden einer derartigen Pathologie sind
die Reform Vorschläge erwachsen. „Wenn bei stürmisch
einsetzenden und verlaufenden Geistesstörungen —
durch mindestens zwei Wochen — und bei langsam
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verlaufenden — durch mindestens acht Wochen —
alle Spuren der Geistesstörung verschwunden sind,
ist es Pflicht der Anstaltsleitung, davon der Fürsorge¬
behörde die Anzeige zu machen“ (die über die Ent¬
lassung entscheidet). In dem Eingangs genannten
Auszug heisst es: „die Heilung muss längstens 8
Wochen nach Schwund aller krankhaften Symptome
der Fürsorge-Behörde angezeigt werden“; diese Fass¬
ung entspricht zwar nicht dem Wortlaut, aber wohl
der Meinung des Verfassers; aber wer kann denn
bei den langsam verlaufenden Psychosen auf den
Tag, oder auch nur auf die Woche genau angeben,
wann alle Spuren der Krankheit verschwunden sind ?
In wunderlichem Gegensatz zu dieser Bestimmung
steht die andere, dass Gesuche der Vormundschaft
um Entlassung eines Kranken, wenn sich die Be¬
dingungen als nicht erfüllt zeigen, nicht vor sechs
Monaten wieder erneut, resp. berücksichtigt werden
sollen; „sonst würde die Fürsorgebehörde zu sehr
behelligt werden“. Etwas kühn ist die Behaup¬
tung: „Das Gesuch des Kranken (um Entlass¬
ung) wird die Fürsorge - Behörde wohl in’ weitaus
den meisten Fällen an und für sich sofort erkenne»
lassen, ob eine wirkliche Gesundung vorauszusetzen
ist oder nicht“. Das gäbe in der That ein sehr ein¬
faches Verfahren.
Das sind alles so Meinungen, wie sie die Freunde
der „Laiencommission“ haben mögen. Und „die
Laien haben ein sehr schiefes Urtheil über Geistes¬
kranke“ sagt Prof. Benedikt.
Dem irregeführten und übelwollenden Laien-
Urtheil entspricht auch die ganz allgemein gehal¬
tene moralische Einschätzung der Aerzte an Privat¬
irrenanstalten ; hervorgehoben sei nur der Vorwurf,
durch die verabreichten Schlafmittel würde die Hei¬
lung in vielen Fällen verzögert oder gefährdet Um
derartige Missbräuche zu verhindern, empfiehlt ProL
Benedikt eine strenge Controle der Privatanstalten,
deren wichtigstes Substrat die genau zu führenden
Krankengeschichten sein sollen. Diese Krankenge¬
schichten sind dann nicht etwa nur der Fürsoige-
behörde und den von ihr mit der Controle beauf¬
tragten Aerzten vorzulegen, sondern sie sind auch
den visitirenden Polizei- und Gemeindebehörden zu
zeigen und den Angehörigen der Kranken; dann
vermag ein Jeder, der nichts von der Sache versteht,
leicht zu eontroliren, ob auch zu viele Medicamente
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HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT,
5°9
1903]
gebraucht, ob „alle jene Strafvorgänge“ zu häufig an¬
gewandt werden u. s. w. „Auch nächtliche Besuche
sind angezeigt“.
Das Vorstehende ist nur eine kleine Blütenlese;
die übrigen Ausführungen stehen zumeist auf dem
gleichen Niveau. Es dürfte aber genügen, um zu
sagen, dass die Meinungen Prof. Benedikt’s, der eine
so geringe psychiatrische Erfahrung in seinem En¬
quete-Referat verräth, der eine Klasse von Aerzten
— Prof. Benedikt spricht nur von ärztlich geleiteten
Anstalten — ganz uneingeschränkt und in der schlimm¬
sten Weise öffentlich verdächtigt, für eine Reform
des Irrenwesens keinen Werth haben.
Dr. Dieckhoff.
Joseph Krayatsch f.
ief erschüttert bringen wir zur Kenntniss,
dass Herr Regierungsrath Dr. Joseph
Krayatsch, Direktor der Heil- und Pflege¬
anstalt in Mauer-Oehling, Sonntag, den 22. März
d. Js. V2 10 Uhr moigens, nach dreitägigem
Krankenlager gestorben ist. Am Donnerstag,
den 19. März, hatten sich bei dem an Myode-
generatio cordis leidenden Manne Insufficienz-
erscheinungen gezeigt, die ihn zwangen, sich
zu legen. Es stellte sich eine Magenblutung
ein, welche binnen wenigen Stunden zum Tode
führte. Er wurde am Mittwoch, den 25. nach¬
mittags auf dem Centralfriedhof in Wien be¬
erdigt.
Krayatsch war 1849 zu Iglau in Mähren
geboren, promovirte 1881 in Wien und trat
1882 als Sekundärarzt in die niederösterreichische
Landes-Irrenanstalt in Wien ein. Am 24. März
1885 übernahm er als Anstaltsleiter die Leitimg
der Irrenanstaltsfiliale Kierling-Gugging. Am 1.
Juli 1890 wurde er, da diese Filiale am gleichen
Tage zur selbständigen Landes-Irrenanstalt er¬
hoben worden war, zum dirigirenden Primararzt
derselben ernannt. Nach Erweiterung der An¬
stalt durch den Bau des Centralgebäudes, durch
den Ausbau einzelner Pavillons und durch Eta-
blirung der Pflege- und Beschäftigungsanstalt für
schwachsinnige Kinder am 1. Jänner 1897
avancirte er zum Direktor derselben Anstalt.
Die am 16. März 1899 eröflfnete, mit der An¬
stalt in Kierling-Gugging verbundene Kolonie
auf dem Haschhof verdankt ihre Entstehung
seiner Initiative. Am 15. April 1902 übernahm
er die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt in
Mauer-Oehling, bei deren Bau er als Experte
mitgewirkt hatte. Die Organisation des Dienstes,
die Instruktionen für die Aerzte, die Pläne für
die innere Einrichtung dieser Muster-Anstalt etc.
sind sein Werk. Am 24. August 1902 verlieh
ihm der Kaiser in Anerkennung seiner Verdienste
um die Errichtung der Heil- und Pflegeanstalt
in Mauer-Oehling den Titel „Regierungsrath.“
Kray atsch legte das Schwergewicht seiner
Thätigkeit auf die Administration, und die Be¬
handlung und Lösung administrativer Themen
war seine liebste Beschäftigung. Daneben hatte
er sich allmählich und durch eigenes Studium
eine Menge technischer Kenntnisse angeeignet,
wodurch er in hohem Maasse die Befähigung
erhielt, bei der Errichtung von Irrenanstalten
als ärztlicher Berather mitzuwirken. In dieser
Beziehung wurde er nicht nur in Nieder-Oester-
reich, sondern auch in anderen Provinzen der
Monarchie in Anspruch genommen.
Sein nimmer müder, rastloser Fleiss, sein
fortgesetztes Streben, in allen die Irrenpflege
betreffenden Fragen stets auf der Höhe der
Zeit zu stehen, Hessen ihn nicht an seine eigene
Person denken, und selbst als es allen Kollegen
zur traurigen Gewissheit geworden war, dass
der Körper dieses hünenhaft gebauten Mannes
den Todeskeim in sich trage, kannte er, ob¬
wohl ihm der richtige Blick für sein Leiden
keineswegs fehlte, keine Schonung für sich.
Krayatsch war seit 1890 in glücklichster
Ehe verheirathet. Der Ehe entstammt ein
gegenwärtig zwölfjähriges Töchterchen.
Der allzufrühe Hingang dieses vortrefflichen
Mannes versetzt nicht nur die Aerzte, Beamten
und Kranken der Anstalt Mauer-Oehling, son¬
dern auch die Fachcollegen, welche ihn kannten,
in tiefste Trauer. Denn wer ihn kennen ge¬
lernt, musste ihn hochschätzen und verehren.
Friede seiner Asche!
Ehre seinem Andenken!
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570
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 52
M i t t h e i
— Mit Bezug auf die auf S. 551 citirte Ansicht des
Brandenburgischen Provinzialausschusses schreibt Sani¬
tätsrath Dr. Jenz, Direktor der Grossherzoglichen
Idiotenanstalt in Schwerin, in einem Aufsatze: „Zur
Streitfrage zwischen Aerzten und Pädagogen“:*)
„Dieser Grundsatz sollte allgemein auch auf die
Fürsorge für Idioten, Schwachsinnige und Epileptische
wenigstens in Bezug auf solche Anstalten ausgedehnt
werden, die der ärztlichen Leitung noch entbehren.
Hierdurch würde entweder eine Aenderung in deren
Organisation in unserem Sinne herbeigeführt werden,
oder es würden mehr staatliche oder kommunale An¬
stalten errichtet werden müssen, was allerdings noch
vorzuziehen ist. Denn wenn es auch noch einzelne
staatliche Anstalten giebt, die bezüglich dieser Forde¬
rung rückständig sind, so zweifle ich doch keines¬
wegs, dass sich die in Betracht kommenden Behörden
bei Neuerrichtungen solcher Anstalten der Einsicht
nicht verschliessen werden, dass es sich um Kranken¬
anstalten handelt, und wissen werden, wem sie die
Leitung ihrer Krankenanstalten an vertrauen sollen, wie
denn Preussen und Mecklenburg bezüglich der Leitung
und Organisation ihrer staatlichen Idiotenanstalten
bereits ein Beispiel dafür bieten“.
Wie schon Reg.-Rath Dr. Krayatsch kürzlich
in dieser Wochenschrift forderte, verlangt auch Jenz,
dass der Arzt der Anstalt selbst auch Leiter der¬
selben sein muss, und hält es für einen ernsten
Fehler, dass eine dahin lautende gesetzliche Vor¬
schrift noch nicht existirt. Bei Anstalten, die nur
eine Art Hülfsschule für schwachbefähigte und psy¬
chisch minderwerthige Kinder mit Internat darstellen,
genüge die Aufsicht und Berathung durch einen psy¬
chiatrisch gebildeten Arzt
Für die Forderung, dass Aerzte an die Spitze
der Idiotenanstalten gehören, hat Zimmer die iro¬
nische Bemerkung: „ . . . . w’arum sollte ein Arzt
nicht leisten können, was Brüder aus Diakonenan¬
stalten geleistet haben“. ... Zimmer sagt nämlich
von dem Leiter der Idiotenanstalt:
„Das kann ein Arzt sein, der ein Herz voll
Liebe hat und pädagogisches Geschick — w'arum
nicht das, w f arum sollte ein Arzt nicht leisten
können, w'as Brüder aus Diakonenanstalten ge¬
leistet haben? — aber der Arzt als solcher, der
wirklich ärztliche Interessen verfolgt, wird nach
solcher Arbeit gar kein Verlangen tragen ; nimmt er
eine Stellung in einer Idiotenanstalt an, so thut er
es entweder, weil ihm das Elend der Idioten per¬
sönlich besonders aufs Herz gelegt ist, sodass er
seinen eigentlichen ärztlichen Beruf aufgiebt und
lieber Pfleger dieser Annen w erden will, oder aber,
was vielleicht eher zu befürchten ist, Aerzte, denen
der dornenvolle freie ärztliche Beruf zu unbequem
ist, melden sich zu derartigen Leitungen, die ihnen
*) In „Die Krankenpflege“ 1902/3, Nr. 6, als Entgegnung
auf einen gleichbetitelten Artikel ebenda 1902/3 von Professor
Friedrich Zimmer, Präsident des „Evangelischen Diakoniever-
eins u . Auch im Uebrigen erfahren Zimmer’s Ausfälle gegen
den Acrztestand durch Jenz die verdiente Zurück Verweisung.
1 u n g e n.
bequemer sind. Jedenfalls muss man damit rechnen,
denn die Menschen bleiben Menschen. Und darum
würde es ein ernster Fehler sein, wenn man gesetz¬
lich für die Idiotenanstalten die Leitung durch Aerzte
vorschriebe und nach dem Schema „F“ Idiotenan¬
stalten einfach unter die Irrenanstalten mitklassificirte.
Hierher gehört für die Leitung in erster Linie Liebe
für diese Armen und in zweiter noch einmal Liebe,
sodann das nöthige pädagogische Geschick und
schliesslich Verwaltungstalent Wer das hat mag be¬
rufen sein, sei er Arzt oder Theologe oder Pädagoge
oder was sonst; aber eine Standesaufgabe der Aerzte
ist die Leitung von Idiotenanstalten nicht“
Worauf Jenz entgegnet:
„Ich versage es mir durchaus, die Art der Moti-
virung des Verfassers, weshalb Aerzte überhaupt
seiner Ansicht nach die Leitung von Idiotenanstalten
erstreben sollen, näher zu beleuchten. Nur die In¬
sinuation des Verfassers muss ich noch auf das
schärfste zurückw'eisen, als ob Standesinteressen in
einem Sinne für die Aerzte in Frage kämen bei der
Forderung, dass auch für die Idiotenanstalten ärzt¬
liche Leiter nöthig sind. Nur rein sachliche Inter¬
essen sind es gewesen, welche die bekannten Reso¬
lutionen in der Versammlung Deutscher Irrenärzte zu
Frankfurt im Jahre 1893 gezeitigt hab/m, und sind
es noch, die uns an diesen Resolutionen festhalten
lassen. Ein Standesinteresse könnte nur soweit in
Frage kommen, als man es eventuell für standesun würdig
halten könnte, wenn Aerzte Stellungen als Anstalts¬
ärzte an Idiotenanstalten einnehmen, welche unter
der Direktion von Nichtärzten stehen, ohne wenig¬
stens einen maassgebenden Einfluss auf die Leitung
dieser zu besitzen.“
Aus der oben skizzirten Haltung Zimmer’s
werden wir Aerzte Winke für unsere Stellung zu
seinem Krankenpflegerinnen verein und für unser
Urtheil über den über letzterem waltenden Geiste
entnehmen dürfen.
— Stuttgart. Am 26. April soll hier im Justiz¬
gebäude eine Versammlung von Juristen und Aerzten
.stattfinden zur Erörterung von Fragen aus dem Ge¬
biete der Psychiatrie, die für die beiderseitigon Be¬
rufskreise von practischer Bedeutung werden können.
Es sind bereits zahlreiche Vorträge in Aussicht gestellt.
— Eisass. (Bezirksirrenanstalt zu Rufach.) Der
notarielle Ankauf der Parzellen zur Bezirksirrenanstalt
hat nun begonnen und nimmt seinen regelrechten
Verlauf. Der Ankauf des ganzen Bodens beträgt ca.
300000 M.
Referate.
— Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und p syc h.-gerieht 1 . Medicin. Bd. 59 Heft 4.
Kirchhoff (Neustadt in Holstein). Die Höhen-
messung des Kopfes, besonders die Ober-
hö he.
Ausgehend von der Thatsache, dass die Höhen¬
verhältnisse des Schädels wichtiger sind, als Länge
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1903}
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
und Breite, hat V$rf. nach der brauchbarsten Methode
gesucht, am Lebenden die Höhe des Kopfes zu be¬
stimmen. Wichtig sind die Ohrstirnlinie und die Ohr¬
höhe, deren gemeinsamer Ausgangspunct das äussere
Ohrloch ist. Diese beiden Maasse lassen gewisse
Schlüsse auf den Abschnitt des Schädelgrundes zu,
welcher die Ganglien des grossen Gehirns trägt.
Raecke (Kiel). Ueber H ypochond rie.
Unter 2800 Kranken der Tübinger Klinik waren
18 sichere Fälle von reiner Hypochondrie. Verf.
berichtet über 9 Fälle ausführlicher und kommt zu
dem Schluss, dass die Hypochondrie eine selbständige
Krankheitsform ist, welche sich hauptsächlich bei ge¬
schwächtem Nervensystem (Neurasthenie, Hysterie,
schwerer erblicher Belastung) entwickelt. Im Verlauf
treten häufig Remissionen und gelegentlich Exacer¬
bationen ein. Dauerde Heilung ist zweifelhaft, nie¬
mals tritt Demenz ein. Die echte Hypochondrie ist
stets eine Hypochondria sine materia.
Nawratzki (Dalldorf). Ueber Ziele und
Erfolge der Fam i 1 ien p fl ege Geisteskranker
nebst V ors chlägen für ei ne Abänderung des
bisher in Berlin angewendeten Systems.
Die Statistik lässt ein allmählich fortschreitendes
Anwachsen der Berliner Familienpflege vermissen, und
zwar nicht aus Mangel an geeigneten Kranken oder
an geeigneten Pflegestellen, sondern aus Schwierig¬
keiten im inneren Betrieb, verursacht durch erhöhte
Belastung von Arzt und Verwaltung. Verf. schlägt
deshalb vor: Abtrennung der Familienpflege von der
Anstalt, Angliederung an die Armendirection ev. auch
an die Deputation für die Irrenpflege, Unterstellung
unter die selbständige Leitung eines fachmännisch ge¬
bildeten Arztes mit dem Wohnsitz in Berlin, Verbleib
der Pfleglinge unter der Aufsicht des Arztes bis zur
endgiltigen Entlassung.
— Rosenblath. Neurasthenie, hervor¬
gerufen durch Einatmung von Xylo I -
dämpfen. Aerztl. Sachverstztg. October 1902.
Die durch Einwirkung irgendwelcher Gifte ent¬
standenen Nervenstörungen gehen nicht selten mit
psychopathischen Zuständen einher oder gehören
eventuell zu den Grenzgebieten zwischen Nerven-
und Geisteskrankheiten. Der von R. mitgetheilte
Fall von Xylolvergiftung betrifft einen Mann, welcher
bei der Gummirung von Gew f eben beschäftigt war,
wobei das als Lösungsmittel des Gummi verwandte
Xylol mit einem Zusatz von Eucolyptusoel durch
Hitze verflüchtigt wurde. Die bei ungenügender Ven¬
tilation eingetretenen Intoxicationserscheinungen be¬
standen anfänglich in einem angenehmen Allgemein¬
gefühl, dann in Eingeschlafensein der Hände und
Füsse, Atembeklemmungen, Angstzuständen, Zittern
und unsicherem Gang, zuletzt in deliranten Angst-
paroxysmen. Während diese Symptome bei ander¬
weitiger Beschäftigung vergingen, entwickelte sich ein
ausgesprochen neurasthenischer Zustand: bei irgend¬
welchen Arbeiten traten Angstzustände auf, Schwindel,
Herzklopfen, Kopfcongestionen, körperliche Mattigkeit,
Schlaflosigkeit, Vergesslichkeit, nervöse Sensationen
und Hyperaesthesie. Später traten Beklemmungsge¬
fühle beim Passieren enger Gassen, das Gefühl, als
ob Jemand hinter ihm heigehe u. a. auf. Bei Ab¬
schluss der Arbeit bestanden die Symptome noch
fort. — Interessant würde die Kenntniss des weiteren
Verlaufs der Krankheit sein, speciell, ob sich der
psychopathologische Character einzelner Symptome
noch verschärfte, so dass man eventuell die Genese
einzelner psychopathischer Erscheinungen verfolgen
könnte. Kellner- Untergöltzsch.
— Psychiatrische en neurologische
Bladen. 1902. No. 1.
Ziehen, Zur Differentialdiagnose der Hebephre-
nie (Dementia praecox).
Verfasser will den Begriff der Hebephrenie enger
fassen und damit ausschliesslich eine Psychose ver¬
stehen, welche in der Pubertätszeit auf tritt und als
Hauptsymptom einen vom Krankheitsbeginn ab nach¬
weisbaren längere Zeit progressiven Intelligenzdefect
zeigt. Häufige Nebensymptome sind Apathie und
Stereotypien. Auch Kompilationen mit Wahnvor¬
stellungen (Dem. paranoides). Hallucinationen, Affect-
störungen kommen vor. Ausgehend von dieser De¬
finition fand Verf. unter 5880 Aufnahmen der Jenen¬
ser Klinik 402 Pubertätspsychosen und unter diesen
höchstens 34 Fälle von Hebephrenie, also etwa 10%
der Pubertätspsychosen und weniger als I °/ () aller
Aufnahmen.
1) Differentialdiagnose gegenüber der hypochon¬
drischen Neurasthenie: „Unter hypochondrischer
Neurasthenie verstehe ich eine Psychose, bei welcher
auf dem Boden der typischen neurasthenischen Symp¬
tome hypochondrische Vorstellungen und Verstim¬
mungen anftreten.“ Der körperliche Befund zeigt
keine grossen Unterschiede. Bei der Hebephrenie
beginnt ziemlich früh eine Abnahme der Schmerz¬
empfindlichkeit. Die Ermüdungscurve bei Neurasthenie
zeigt meist einen relativ niedrigen Anfangswerth und
die weiteren Werthe nehmen abnorm rasch ab. Auch
bei der Hebephrenie bleiben die Anfangswerthe nicht
selten hinter der Muskelentwicklung zurück, weiter¬
hin aber fällt neben ziemlich starken Schwankungen
der Werthe ihre geringe Gesammtabnahme auf. Bei
der Hebephrenie bleibt der Ernährungszustand normal,
oder nimmt sogar bedeutend zu. Bei der Neuras¬
thenie ist die Reproductionsfähigkeit zuweilen, bei der
Hebephrenie fast stets herabgesetzt. Der Neurasthe¬
niker schreibt oft besser als er spricht, der Hebe-
phreniker schreibt fast stets schlechter als er spricht.
Vor allem ist die schon im Prodromalstadium auf-
tretende Apathie eines der sichersten Differenlialdiag-
nostischen Zeichen der Hebephrenie gegenüber der
hypochondrischen Neurasthenie. Stereotype Be¬
wegungen und Haltungen sprechen nur dann mit
einiger Sicherheit für Hebephrenie, wenn keine Angst-
affccte, keine pathologischen Sensationen, keine hypo¬
chondrischen Vorstellungen und keine Zwangsvorstel¬
lungen vorliegen oder Vorlagen.
2) Differentialdignose gegenüber der acuten hallu-
cinatorischen Paranoia.
Das unmittelbare Vorausgehen einer Intoxication
oder Infection, eines Traumas oder einer schweren
Ueberanstrengung spricht mehr für acute hall. Paranoia,
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 52.
572
während Fälle ohne nachweisbare Gelegenheitsveran¬
lassung stets auf Hebephrenie verdächtigt sind. Eine
besonders hervortretende Häufigkeit der gleichartigen
Vererbung bei Hebephrenie, wie sie Vorster fand,
konnte Verfasser nicht nachweisen. Für die Hebe¬
phrenie ist die initiale Apathie characteristisch. Die
prodromale Depression der acuten hall. Paranoia ist
kürzer, continüirlicher und namentlich fast nie mit
Apathie combinirt. Auch die weitere Entwicklung ist
bei der acuten hall. Paranoia acuter, bei der Hebe¬
phrenie chronischer.
Für den Krankheitszustand auf der Höhe ergeben
sich folgende differentialdiagnostische Hinweise:
a) Auf Hebephrenie verdächtig sind Fälle, in
weichen die Stereotypien sich in einem monotonen
Grimmassiren oder Gesticuliren, oder in monotonen
tikartigen Abweichungen des Ganges äussem, während
andere Stereotypien bei beiden Krankheitsformen Vor¬
kommen.
b) Auf Hebephrenie verdächtig sind Fälle, in
welchen ausgesprochene Perseveration auch bei Fragen
besteht, welche nicht wohl in Beziehung zu Wahn¬
vorstellungen und Sinnestäuschungen des Kranken
stehen können.
c) Flexibilitas cerea kommt bei beiden Psychosen
vor. Pseudo-Flexibilitas cerea ist bei Paranoia
häufiger.
d) Selbstanklagen und Verfolgungsvorstellungen
können bei beiden Krankheiten Vorkommen, kindische
Grössenideen fast nur bei Dementia praecox.
e) Normale oder gesteigerte Nahrungsaufnahme
und normaler Schlaf sprechen für Hebephrenie.
f) Negativismus kommt bei beiden vor.
g) Eintritt einer Remission oder scheinbaren
Intermission spricht nicht gegen Hebephrenie, Eintritt
eines Recidivs nicht gegen acute hall. Paranoia. —
Hulst, Een geval van Dementia paralvtica als
Paranoia hallucinatoria debuteerend.
Mann von 37 Jahren mit Gesichts- und Gehörs-
hallucinationen, ängstlicher, deprimirter Stimmung.
Verfolgungs- und Vergiftungsideen. Körperlicher Be¬
fund negativ. 2 Monate nach der Aufnahme plötz¬
lich characteristische Anfälle, so dass die Diagnose
der Paranoia hall, in die der allgemeinen Paralyse
umgeändert werden musste. Bestätigung durch die
Section.
Mecus, Een katatonisch geval van dementia
praecox.
Eine ausführliche Krankengeschichte. Hervorzu¬
heben wäre etwa die Neigung des Kranken sich zu
schlagen, so dass er beide Augen verlor, und ein
Othaematom entstand. Die Bewegungsstörungen haben
nach Verf. einen dreifachen Ursprung: Sie sind theils
psychisch bedingt, theils werden sie durch Sensibili¬
tätsstörungen hervorgerufen, theils sind sie rein impulsiv.
Bouman, De verpleging van patienten, lijdende
an dementia senilis.
Die Fälle von Dementia senilis betrugen 1896 :
4,5 °/ 0 Männer und 4,5 % Frauen von den Auf¬
nahmen, 1897 : 5,7 °/„ und 7%, 1898 : 3,5 °/ 0 und
11,1 %, 1899 : 5,3 % und 10,8 °/ 0 , 1900 : 8,9 % und
7%, i9Oi:4,Q°/ 0 und 16 °/ 0 . Insgesammt von
504 Männern 28=5,5% un< * von 369 Frauen
30 = 8,1 °/ n . Die Fälle mit einfacher Verblödung
können unter Umständen auch in der Familie oder
in Siechenanstalten verpflegt werden, während mit
Manie oder Melancholie complicirte Fälle der Pflege
in der Irrenanstalt bedürfen. Hier können diese
Kranken im gleichen Saal, wie die Siechen und die
Paralytiker im Endstadium, untergebracht werden.
Sie bedürfen der dauernden Ueberwachung. Auf der
Wachabtheilung und auf der Abtheilung für ruhige
Kranke können sie wegen ihres störenden Verhaltens
zur Nachtzeit nicht gehalten werden.
Wert heim Salomo n so n, Bijdrage tot de
kennis van de theorie van den Resonateur vau Ondin.
Beschreibung des Appartes von Ondin zur Er¬
zeugung von Wechselströmen hoher Spannung.
Ganter.
— Hermann Fischer: Die chirurgischen
Ereignisse der genuinen Epilepsie. Archiv
für Psychologie und Nervenkrankheiten. Bd. 36.
Heft 2. 1902.
Aus dieser wichtigen Arbeit, deren Studium viele
neue Beobachtungen über Häufigkeit, Art und Schwere
der Verletzungen bringt, sei besonders hervorgehoben,
wie oft solche selbst in Anstalten, übersehen werden.
So war Verfasser z. B. (Seite 17) „betroffen von der
grossen Anzahl kleiner, schmerzhafter Knoten in den
Muskeln nach schiveren, epileptischen Anfällen.“ Er
hält sie für Rupturen von Muskelbäuchen, ausgefüllt
und umgeben von Blutcoagulis. Sehr wichtig ist der
Hinweis, dass nach schweren Verletzungen eine mit¬
unter sehr lange Pause in den Anfällen auftritt. Es
würde dies namentlich von Wichtigkeit sein können,
wenn gelegentlich einer, bei einem Geisteskranken
Vorgefundenen Verletzung, die sow r ohl im epileptischen
Anfall als durch Schuld des Dritten entstanden sein
könnte, z. B. bei der Schlägerei, eine sechswöchent¬
liche Beobachtung in einer Irrenanstalt den Nach¬
weis der Epilepsie* liefern sollte.
Hermann Kornfeld.
Personalnachricht.
Dr. med. Paul Schuster, Assistent an der Prof.
Mendelschen Poliklinik für Nervenkrankheiten in
Berlin, hat sich als Privatdocent für Irren- und
Nervenheilkunde bei der dortigen Universität habilitirt.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brest er, Kraschnitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Sachregister.
(Die Zahlen bedeuten die Seiten.)
(Die Bibliographie über Cri mi nalanth ropologie und Verwandtes von Med. Rath Dr. N&cke befindet sich S. 39 » 219, 389
403, 5 2 3 - Die Sammlung der gerichtlichen Entscheidungen von Prof. Dr. Schultze in Nr. 1 u. 2.)
Aberration, psychische, 13 29
Abstinenz in Irrenanstalten (Alkohol-Abst.), 53, 223
Agarophobie 76
Agraphie nach epilept. Anfällen 165, 420
Alkohol, Behandl. fieberhafter Krankh. ohne A. 329;
Einfluss des A. auf die Arbeit 392; A. — Nahrung
oder Gift? 322; Thatsachen über den A. 308;
Alkoholiker, Anstalten für A. 402; Waidfrieden 117;
Geistesstörungen der A. 418; A. in Irrenan¬
stalten 229; Prognose u. Therapie 386, 464;
Suggestivbehandl. 385
Alkoholismus, chron. A. u. Geistesstörungen 316;
Controverse Clemm-Möbius 281, 288; Congress,
intemat. in Bremen, 551, Aufruf dazu 542;
Trunksuchtsgesetz in England 120; A. u. Straf¬
rechtsreform 263; Trunksüchtige im Kranken¬
versicherungsgesetz 495
Allenberg, 50 j. Jubiläum 304
Amnesie 391 (nach Kohlenoxyd-Vergiftung); totale
retrograde 299
Andernach, St. Thomas, Wachabtheilung für Unrein¬
liche 225 ;
Anatomie, d. Gehirns u. Psychologie 391
Annahmen, über A. 228
Ansbach, Eröffnung der Anstalt zu A. 182
Aphasie 420, A. u. Demenz 94; nach epil. Anfällen 165
Apoplexie 512 (Thalamus opt.)
Arbeitshäuser, Geisteskranke in engl. A. 120
Arbeitscurve, Die 131
Arteriosklerose u. Gesichtsfeldeinengung 51; A. u.
Geistesstörung 85
Atlas und Grundriss der Psychiatrie von Weygandt 299
Attentäter, geisteskranker 38
Augenmuskellähmung 386
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Bäderbehandlung 222
Beachtungswahn 94
Beschäftigung der Kranken 222
Bettbehandlung 223; (bei chronischen Psychosen) 316;
Bizzozero +51
Bleivergiftung, psychische Störungen 299
Blutdruckmessungen 463
Bromeigon 242
Bromipin 56, 241
Bromocoll 242
Cerebrospinalflüssigkeit, bei Dementia paralyt. u. an¬
derem Schwachsinn 316
Chemnitz, Irrenabtheilung 559
Chirurgischer Pavillon der Seine-Anstalten 157
Cholin bei Epilepsie 443
Circuläre Psychosen 387
Coloniale Verpflegung 230
Congress, intemat. d. Irrenfürsorge in Antwerpen 84,
249, 277, 285
Congress gegen den Alkoholismus in Bremen 542, 551
Coniinum hydrobroraatum 242
Correctionshäuser in Sizilien 445
Craig Colony, Preis 443
Criminalanthropologie, V. intemat. Congress 420, 444,
454; Bibliographie über Criminala. von Med.
Rath Näcke 39, 219, 389, 403, 523
Cyklopie 332
Cysticercus im IV. Ventrikel 92
Dämmerzustand, hyster. 385
Degeneration 11; D. u. Straf- u. Civilrecht 226; 463
Degenerationszeichen 463, 464, innere 279; physiol.
Grundlage 87; D. am Jugum sphenoidale 444
Delirium acutum 360 (Urämie), 75; D., halbseitiges
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574
.SACHREGISTER.
361; D. tremens, körp. Erscheinung. 280; von
mehrmonat. Dauer 241 ; von nächtl. Auftreten 241
Dementia senilis 5 72
Demenz u. Aphasie 94; Dem. paralvt. l>. Ehepaar
301, 311 ; Dementia präcox 403, 571
Dionin 69
Dipsomanie 471
Distomum pulm., Eier im Gehirn 375
Dösen, Ueberwachungsabtheilung 233
Dortmund, Irrenfürsorge 471
Dysenterie in Anstalten 2 15
Ehescheidung b. Geisteskrankh. 242; Urtheil 445;
bei inducirtem Irresein 298; Prozesskosten 399
Eigenbeziehung 94
Ekstase 532
Electricität, therap. Anwendung bei Geisteskrank. 87;
neuere Methoden 330, 572
Elmira Reformator}' 454
Encephalomyelites 141
Entmündigung 12; Ablehnung ein. E. 310; E. u. Ge¬
schäftsfähigkeit 143; E. wegen Geistesschwäche 385
Entscheidungen, gerichtliche 2, 19
Entweichungen 200
Epilepsie, Aphasie u. Agraphie nach Anfällen 1 (>5;
Behandlung nach Toulouse-Richet (diätetische)
92, 242, 387, 405, 479, 484, 525; Bromeigon
242, Bromipin 241, Bromocoll 242; Cholin als
Ursache 443; chirurgische Ereignisse 572; Co-
niinum hydrobromicum 242; Geschichte d. E.
(Hippokrates) 539; E. und Geisteskrankheit 449;
E. u. Hysterie, Differentialdiagnose 128; E. u.
Meteorologie 449; E. u. Migräne 384; E. und
Verbrechen 05
Epileptikeranstalt, ()rganisation 170, 287 ; E.-Fürsorge
in Württemberg 401
Erbliche Belastung 189 (s. a. Vererbung), 464
Ergotismus 297
Erlass d. preuss. Justizministers v. 1. X. 02 323, 324,
332, 340, 350, 377, 38O, 392, 49b, 530
Erlass, d. preuss. Medicinal-ministers betr. Pflegeper¬
sonal 260
Erlass d. preuss. Minister betr. Anzeige von Todes¬
fällen in Anstalten etc. 307
Erlass d. österr. Justizministers betr. geisteskranke
Häftlinge 246
Facialiskrampf, tonischer 12 7
Familienpflege 205, 230, 2b 1 (Geschichtliches), 262,
277, 278, 286, 325, 337, 433, 545, 559, 57 «
„Friedau“, Colonie 77
Fuhrmann, Prozess 23
Furcht, krankhafte 21b
Fürsorgeerziehung in Prcussen u. Arzt 428
Galkhausen 265
Gedächtnissstörung und Gehirnkrankheit 392
Gefängnisspsychosen 241
Gehirn, Anatomie des G.-s und Psychologie 108, 391,
279; G.-Anatomie vergleichende 130; chemische
Constitution 248; Gehimkrankheit u. Gedächt¬
nissstörung 392; Ausschaltung motor. Funktionen
339; Eier v. Distomum pulmonale im Gehirn 375;
G.-Hypertrophie (Thymus, Nebenniere) 330;
G.-Gefässc, Pathologie 332; Gypsmodelle 522;
Otische Erkrankungen 307 ; Gehhnsectionen 204;
G.-Stanun, Topographie 87; Stich Verletzung 418;
G.-Syphilis 438.
Geisteskranke, ausserhalb der Anstalt 118, 2 77, 279,479,
55 -» 55 «; Behandlung io, 247,403, 566 (Luft-
liegekuren), 572; Beschäftigung 286; elektrische
Untersuchung. 330; erbliche Belastung 189; G-e.
im Heere 38, 315; Krankenbett f. Unreinliche 411 ;
Messungen des Schädels 512; Rechtsschutz G-er.
451; Sclbstbcschädigungsversuche 62; Statistik
in dcutschsprachl. Anstalten 197: unbekannte
Geisteskranke Beilage zu Nr. 12, 29, 42, 51 ;
verbrecherische Geisteskrank (s. auch Verbrecher)
420, 450; verurtheilte G-e. 83
Geisteskrankheit, G. u. Arteriosklerose 85; Classifikation
339 ) G.-e bei Eisenbahnbeamten 83; G.-en bei
Göthe 473, G.-en bei Juden 386; G. bei Hunden
experimentell erzeugt durch Strumektomie 130;
bei Influenza 108 ; G. nach Körperverletzung und
körperl. Misshandlungen 206; Beziehung zw. G.
u. körperlichen Erkrankungen 419; G. der Land¬
streicher 417; Prognose bei alsbaldiger Aufnahme
in die Anstalt 188; Therapie 439; therapeut.
Anwendung von Elektricität 87; G. u. Toxämie 87
Geistesschwäche, Bestrafung von Delikten an solchen
2b2 ; Entmündigung G.-er 383
Genie und Verbrechen 435
Geschichte der Irrenbehandlung im 18. Jahrli. 299
Geschlecht u. Krankheit 434 ; Geschlechtsorgane und
Nervenerkrankungen 480; Geschlechtstrieb und
Schamgefühl 27
Gesichtsfeldeinengung bei Arteriosklerose 51; Gesichts¬
feldstörungen bei Hunden, experimentelle 93
Gheel 280
Glia u. Gefässapparat 131
Golgipräparate, Dauerhaftmachung solcher 120
Göttingen, Poliklinik für Nervenkranke 106, Neubauten
94, 176, Prov.-Nervenheilanstalt 543
Graphologie 463
Graphospasmus 107
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575
Graüdenz, Irrenabtheilung bei der Strafanstalt 265
Grenzfragen, jurist.-psychiatrische 278, 428
Griesinger, Denkmal 84
Grossschweidnitz 2 5
Gynäkologische Beobachtungen b. Geisteskranken 391
Hallucinationen, einseitige 96; psychische Störungen
nach solchen 391
Hallucinatorisches Irresein, acutes 403
Hallucinator. Verwirrtheit als Initialstad. d. Melancholie
203
Hamblasenruptur bei progr. Paralyse 133
Hebephrenie, Differentialdiagnose 571
Hemicephalie, Nervensystem dabei 338
Hemiklonus 375
Heredität der Geisteskrankheiten 417
Hilfsverein für Geisteskranke 86, 93, 173, 217, 231,
398.493
Homosexualität 420
Hochweitzschen 400
Hydrocephalie fötale 331
Hygiama 107
Hygienisches in Anstalten 214
Hypnose, Heilwerth 415,410, 531; bei Verbrechern 464
Hypochondrie, Lehre v. d. 50, 571; traumatische 419
Hysterie, Amaurose, doppelseitige 391 ; Dämmerzu¬
stand 385; H. u. Epilepsie, Differentialdiagnose
128; Hystero-Epilepsie 478; H. u. Katatonie
Diff.-Diagnose 316; Kieferluxation 553; Mord¬
impuls 119; Mutismus, hysterischer, in der Ge¬
schichte 392; Singultus 553; Unfallh. 385; Un-
fallh. bei Telephonistinnen 384
Hysterisches Irresein 393, 417
Ichthoform 242
Idiotie, Histologie 509, Behandlung mit Thyreoidin 241
Idiotenanstalten, Organisation 170, 287, 481 , 489
501, 570; Prügelstrafe 428
Idiotenfürsorge 481, 501 (Oesterreich), 401 (Württem¬
berg), 486 (Europa)
Inducirtes Irresein 141
Influenzapsychosen 108
Inspirationsreflex 464
Irrenanstalten, Aufnahmeatteste 286; Aufsichtsrecht
214; Benennung 109, 181, 216; Centrallabora¬
torium 120; Chirurg. Dienst 157 (Paris), 286; I.-en
bei Goethe 473 ; Grösse der I.-en und Organi¬
sation 41, 43, 45, 76, 97, 109, 170, 286, 289, 400,
465, 568 ; I. in der Levante 162 ; freiwillige Pen¬
sionäre in besonderen Häusern unterzubringen
449; Entlassung bei Ablehnung der Entmündi¬
gung 440; Mord in einer I. 132; Steuerfreiheit
der Privatanstalten 217; I.-en in den Tropen
316; Typhus in I.-en 432; Ueberfüllung 198;
Verdächtigung der I.-en in der Presse 25, 107,
296; Wandschmuck 244
Irrenärzte, Gehälter nnd materielle Lage 120-* -218,
233, 238, 521; Klage gegen einen I. wegen In-
ternirung 288
Irrenbehandlung im 18. Jahrh. 299
Irrengesetzgebung Deutschland 05, 118, 131,-170.
385, 389, Italien 52, Oesterreich 421, Ungarn 429
Irrenfürsorge, Baden, 89, 102, 103, m, 181, 1-56,
150, Bayern 398, Belgien 227, 325, Berlin ii8 }
203, 246, 457, 465, Böhmen 333, 347, Branden¬
burg 351, Dortmund 471, Eisass-Lothringen-131,
570, Frankreich 297, 325, Hessen 10, 182, 308,
Hessen-Nassau 398, Holland 545, Italien 277,
N.-Oesterreich 193, 273, 277, 296, Ostpreussen
357» 375 » 3 8 7 > 4°4> Pommern 25, Rheinprovinz
263, 521, Rumänien 277, Russland 171, Kgr.
Sachsen 400, 559, Schlesien 337, Tirol 154,
Ungarn 236, 277, Westfalen 398, Württemberg
272, 401, 415
Irrenhaus oder Privatpflege? 76
Irrenrechtliches 11, 262 (Bestrafung von Delikten an
Geisteskranken); Beihilfe zu strafbaren Hand¬
lungen Geisteskranker nicht strafbar 38; Anrech¬
nung des Aufenthalts in Irrenanst. auf die Straf¬
zeit 9, 208, 282
Irresein, acut, hallucinator. 403
Isolirhaft und Psychosen 241
Jubiläum der Anstalt Allenberg 304; v. Krafft-Ebing’s 1
Juden, Geisteskrankheiten 386
Kaplan, Nachruf 374
Kastration bei Verbrechern etc. 464
Katatonie u. Hysterie 316; K. im höheren Lebens¬
alter 131
Kehlkopflähmung 130
Kinderlähmung, Muskelüberpflanzung 127
Kirchliche Congregationen und Irrenanstalten 227, 277
Kleinhirnabscess 92
Kleptomanie 279
Königsberg, psychiatr. Klinik 509
Kopfschmerzen und verwandte Symptome 560
Körperverletzung als Ursache von Geistesstörungen 206
Krankenbett f. Unreinliche 41 1
Krayatsch f 568
Lehre v. Leben (Bilharz) 172
Levante, Irrenanstalt in der 162
Localisation, spinale 330
Luftliegekuren bei Psychosen 566
Luisa v. Toscana 476
Lumbalpunktion 360
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576
SACHREGISTER.
Luxation des Kiefers bei Hysterie 553
Manganvergiftung 338
Manie 420 chron. ,
Manisch-depressives Irresein und progressive Para¬
lyse 561
Manissa, Irrenanstalt (Levante) 162
Markscheidenfärbung 522
Mauer-Oehling Beschreibung 251; Eröffnung 260
Medicinalgesetze Preussen; 247
Melancholie, bei Zwillingen 120; mit halluc. Verwirrt¬
heit als Initialstadium 203
Menstruation u. Psychosen 487
Meschede 404
Migräne und Epilepsie 384
Militär, Untersuchung vor Einstellung 444; Psychia¬
trie 383
Missbildungen des Centralnervensystems 331 (bei
Hydrocephalie), 332 (bei Cyklopie)
Misshandlung, Ursache von Geistesstörung 206
Mohammed — Epileptiker? 132, 353, 367
Motorische Funktionen, künstl. Ausschaltung 339
Münch Frhr. v. 183, 193, 228, 449
Muskelatrophie 127 (progress.)
Muskelüberpflanzung 127
Mutismus, hysterischer 392
Myasthenie u. verwandte Zustände 300; Muskel¬
präparate 131
Myasthenische Paralyse 298
Myelitis, acute 128
Myosklerose 339
Nagelformen 464
Nekrophilie 280
Nerven, Markscheidenfärbung 522, Zerfallsprocesse 340
Nervenerkrankungen u. Geschlechtsorgane 480; N.-n.
bei Manganvergiftung 338 ;
Nervenheilstätten, Steuerfreiheit 217; Volksn. 77, 118,
401, 513, 551; Prov.-Nervenheilanstalt bei Göt¬
tingen 543
Nervensystem des Hemicephalen 338; N. u. Syphilis
248; path. Anat. 128
Nervenzelte 308; feinere Anatomie 523
Neubauten 209
Neurasthenie, objektive Symptome 340; Pathologie
298; N. u. Kleptomanie 279; Pulsphänomen 340;
Hyloldämpfe 571
Neurastheniker, Lebensregeln f. solche 144
Neurobiologisches Institut in Berlin 216
Neurofibromatose der Haut 128
Neuronfrage 331, 384
Neurosen, traumatische 76; vasomotorische 129
Occultismus in Schlesien 509
Offenthürsystem 224
Oikophobie 62
Opisthotonus, operativ geheilt 127
Ostpreussen 357, 375, 387, .404
Paranoia 94, 420, P. acute als Initialstadium von
Paralyse 572
Paralyse, myasthenische 131, 298, 300
Paralyse, progr. 419; Achillessehnenreflex 477; Ana¬
tomie 119, 477: Aetiologie 298; Cerebrospinal¬
flüssigkeit 316; beim Ehepaar 301, 311; Ge¬
schlechtssinn 391; P. und manisch-depressives
Irresein 561; P. als acute Paranoia auftretend 572;
psych.-motor. Hallucinationen 390; Hamblasen¬
ruptur, spontane 133; Statistik 298, in Ungarn 508
Pseudoparalyse 40, 61
Patentcigairen von Wendt 480
Pellagra, prophvlact. Gesetzgebung in Italien 52;
Einfluss experim. erzeugter P. auf Reproduktion
und Vererbung 63
Pennsylvania Hospital 419
Periodische Psychosen 387; Aetiologie 488
Periodischer Wahnsinn 121
Perversitäten, sexuelle 383, 452, 461, 476
Pflegepersonal, materielle Lage, Unterricht, Unfall¬
fürsorge 132, 238, 286, 287, 451; Min.-Erlass,
preuss. 260; „Mädchenopfer“ 76
Physiognomik, neue Methode Hallenordens 309
Plexuslähmung 383
Polioencephalitis 330
Privatanstalten, nicht für öffentliche Irren-, Epileptiker-
und Idioten-Fürsorge zu benützen 203, 228,
246, 277, 28O, 359. 375, 404, 551; Beaufsich¬
tigung 568
Psychiatrie, Handbuch der gerichtl. Ps. 300; psych.
Erkenntniss 415
Psychiatrisch-forensisches (s. a. Sach verständigen thätig-
keil) 242, 243, 278, 317, 379, 432, 455, 535
Psychiatrisch-forensische Vereinigung in Göttingen
220, Zürich 428, Stuttgart 570
Psychiatrische Klinik, Breslau 10, 398, Königsberg
509, München 182, 226, Wien 351
Psychische Infection 298, 444
Psychologie, collective 420, normale 486, 507; Ps. u
Gehirnanatomie 391, Benedikts Grundformel 420
Psychophysische Methoden im Strafprocess 454
Psychopathia sexualis 26, 383, 452, 476, 511
Psychosen (s. a. Geisteskrankheiten), Classification 339,
bei Bleivergiftung 299, circuläre 387, periodische
488, indudrte 298; Luftliegekuren 566; men¬
struelle 487, postepileptische 241, polyneuritische
241, bei Verbrechern 241
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SACHREGISTER.
577
PupiUenreaction 352
Pulsphänomen, neurasthenisches 340
Quärulantenwahn 420
Rasse, Einfluss auf Criminalität 464
Rauchen in den Nervenanstalten 480
Raynaudsche Krankheit 339
Reggio-Emilia (mit Abbildung als Beilage) 542
Reils Denkmal 207
Rindengefässe, Pathologie 49
Rückenmark, Cocainisirung 360, Röntgographie 439,
523
Ruhr in Anstalten 2 15
Sachverständigenthätigkeit 80, 140 (sachv. Zeuge),
190, 217, 317, 323, 324, 332, 340, 341, 377,
379 » 380» 392, 432, 455 » 463, 530 » 534
San Servilio 427, 432
Santiago, Irrenanstalt 142
Schädelknochen, äusserst dünner 11
Schädelmessung 570
Schadenersatz wegen ungerechtfertigter Internierung
279
Schamgefühl und Geschlechtstrieb 27
Schlafmittel 223
Schwachsinnige, Fürsorge f. Schw. 278, 286, 376,
453 » 481» 501
Schwachsinn, physiolog. 62, 156
Schwindel 248
Schulkinder, schwachsinnige 453
Schule f. nervenkranke Kinder 411
Sehsphären, Entwicklung 130
Selbstmorde 200
Sexuelle Perversitäten 383, 452, 476, 511, 512
Singultus, hyster. 553
Sirolin bei Tuberkulose 242
Sittlichkeitsverbrechen, Psychologie 383
Sklerodermie 339
Spinale Kinderlähmung, Muskelüberpflanzung 127
Spinale Localisation 330
Spiritismus u. Hystero-Epilepsie 171, 478
Spiritismus in Schlesien 509
Stadtasyl, Projekt, 286, 289
Statistische Commission des Vereins deutscher Irren¬
ärzte 60, 65
Stereotypien 360
Strafrecht und Wülensfreiheit 484
Stuttgart, Irrenanstalt 272, 401, 415
Suggestivbehandlung 11, bei Trinkern 385
Syringomyelie 95, 141
Syphilis u. Nervensystem 248; path. Anatomie 128
Tabak, Einfluss auf die Arbeit 392
Tabes u. nicht paralytische Geistesstörung 417
Temperatursinnprüfung 338
Tetanie, Genese 374, 549; Verhalten der Zunge 130
Thiocoll bei Tuberculose 242
Tic convulsiv 127
Tonus u. Sehnenreflexe 75
Toxämie u. Geistesstörung 87
Traumatische Neurosen 76
Träume, Buch von Sanctis, 264, 470
Trinker, Trunksucht, s. Alkohol —
Tropische Irrenanstalt 316
Tropenkoller 486
Tuberkulosen in Anstalten 214, 242
Tumoren, Stimhim 129, 413, 414; Thalamus 129,
130; subdurale 92; Rückenmarkshäute 130
Typhus in Anstalten 214
Uebungstherapie bei Bewegungsstörungen 383
Unfallhysterie 384, 385
Unglücksfälle in Anstalten 201
Urämie, Delirium acutum 360
Urlaubsunterstützungen f. Kranke 203
Vasomotorische Neurosen 129
Ventilationseinrichtungen 214
Verbrechen und Epilepsie 95, und Genie 455, bei
Greisen 444, Prophylaxe 444, 454, V. u. Sozial¬
demokratie 455
Verbrecher 463, 464, geisteskranke II, 450, 464,
Unterbringung etc. 88, 144, 205, 244, 282, Für¬
sorge für entlassene geisteskr. V. 559; Typen
nach Dostojewsky 454
Verdauung, Einfluss auf Psyche 172
Vereine: Sitzungsberichte: abstinente Aerzte 25. IX. 1902
3 2 2,3 29; bayrische Psychiater 227; Satzungen 387;
Berlin. Ver. f. Psychiatrie und Nervenkrankh. 10.
XI. 1902 374; mitteldeutsche Psychiater und
Neurologen 25. u. 26. X. 1902 383; Irrenärzte
Niedersachsens und Westfalens 3. V. 1902 92,
10b; Irrenärzte der Rheinprovinz 7. VI. 1902
140; 15. XL 1902 385; Ver. deutscher Irren¬
ärzte 14. IV. 1902 37, 49, 60, 85, 95; schwei¬
zerisch. Psychiater 19. u. 20. V. 1902, 278;
südwestdeutsch. Irrenärzte 1. u. 2. XI. 1902
401, 411; südwestdeutsch. Neurologen u. Irren¬
ärzte 24. u. 25. V. 1902, 127; nordostdeutsch.
Psychiater 11. VII. 1902, 203; Abtheilung f.
Neurologie u. Psychiatrie d. Vers, deutscher
Naturforscher und Aerzte 1902, 330, 338, 351;
ungarische Irrenärzte 1902, 429, 439, 450, 461,
476, 484, 507; französische Psychiater und
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57»
SACHREGISTER.
Neurologen 19QI 75; psycholog.-forensische
Vereinig, in Göttingen 18. XII. 1902. 484
Vererbung u. Genealogie 298; V. von Geisteskrank¬
heiten 279; Bedeutung der V. für d. Pathologie
11, 403, 464
Verurtheilung, bedingte 455
Volksheilstätten f. Nervenkranke 513, s. a. Nerven . . .
Vogelgehirn, Anatomie 130
Wachabtheilung f. Unreinliche 223
Wahnsinn, periodischer 12 1
Wahrendorffdenkmal in Ilten 201
Waldfrieden, Trinkerheilstätte 117
Wandschmuck in Irrenanstalten 244
Wasserversorgung in Anstalten 214
Weinsberg 415
Wiener Irrenthurm 273
Willensfreiheit u. Strafrecht 484,' W. u. Psychopatho¬
logie 488
Willensbestimmung, freie 379, 380
Windungsprotuberanzen des Schädels 128
Xyloldämpfe und Neurasthenie 571
Zellenbehandlung 222
Zellenlose Behandlung 10, 145
v. Zeller, Nekrolog 313
Zerfallsprocesse an peripheren Nerven 340
Zurechnungsfähigkeit, verminderte 217, 352, 399,,
400 ; 463 (Preisausschreiben)
Zwangshandlungen 392
Zwangsmittel 221
Zwangsvorstellungen, sexuelle 419
Zwillingsirresein 120.
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Original fram
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Namenregister.
(Die Zahlen bedeuten die Seiten).
Abadie 420
Aietrino 420
Alt 45, 92, 94, 277, 285,
559
Alter 566
Alzheimer 85, 86
Anton 330, 332, 339, 340
Antonini 464
Aschaffenburg 300, 329,
339 » 383
Auerbach 298
Baganis 525
Baker 95
Balint 479, 485
v. Bar 484
Bartels 130
Baucke 56, 69, 141
Baumgarten 461
Bäumler 129
Bayerthal 129
Beckh 87
v. Becker 486
Behr 433
Benda 522
Bennecke 383, 384
Benedikt 420, 568
Berger, W. 545
Berillon 464
Berkhan 94
Bernhardt 375
Bernstein 561
Bezzola 416
Bilharz 13, 29, 172
Binswanger (Jena) 383, 384
Binswanger (Constanz) 299
Bleuier 121, 361, 428
Bloch 26, 511
Blum 130
Bödeker 449
Bohn 509
Böhmig 384
Bolton 119
Bombarda 455
Böthke 377
Boumann 444, 572
Brandes 76
Bratz 496
Brauchli 278
Brayn 88
Brero, v., 316
Bresler 251, 323, 480
Brosius 86, 386
Bruns 76, 92, 94, 129,
383,384
Brunswig 500
Buckler 11
Busch 419
Buvat 390
Cahen 360
Carrara 463
Carrier 75
Ceni 62
Chyzer 236
Clark Bell 455
Claus 278, 286
Clemm 281
Colojami 455
Cramer 93, 94, 226, 484,
544
Crocq 286
Cullerre 360
Cutrera 455
Cuylits 286
Decsi 451, 452, J§3
Dedichen 420
Degenkolb 49, 86
Deiters 185, 197, 209, 221,
229, 237
Deknatel 444
Delbrück 400
Deventer van 286
Dewey 11
Dieckhoff 568
Dietrich 403
Dietz 401, 415
Döllken 280
Donath 443, 477, 47Ö
Dorada 444
Drews 11
Duckworth 87
Ebers 127
Edel 62, 133
Edinger 130
Epstein 432, 452
Erb 128
Eschle 411
Eulenburg 330
Fajersztajn 300
Fauser 401, 415
Febure 391
Feldmann 418
Fere 392
Ferri 455
Fischer (Illenau) 89, 102,
iii
Fischer F. (Pforzheim) 473
„ (Ungarn) 431,451,
Fischer H. 572 [462
Förster O. 383
» R. 141
Franchi 454
Frank 278, 415
Frey E. 509
Freymuth 204
Frick 329
Friedmann 129
Fries 282
Fuchs 340
Fürstner 8, 60, 86, 128
Ganser 383, 385
Garnier 4Ö3
Gauckler 444
Gaupp 61, 104, 415, 471
Gerenyi 277, 285
Gerhardt 130
Gerstenberg 93
Gluszczewski 203
Gock 449
Göthe 473
Greppin 278, 463
Grohmann 77
Grunmach 439
Gudden 87
Hänel 86, 329, 338, 340,
3 ** 3 , 384
Hajos 478, 486, 507
Hallervorden 309
Halmi 525
Hankein 387
Havelock Ellis 27
Hellms 76
Hess 393, 417
Hesse 92
Hinrichsen 279
Hippel 484
Hirt 449
Hitzig 61, 95, 128, 129,
383. 384
Hoche 65, 128, 300, 403,
488
Hoffmann (Heidelberg) 127
H offmann 141
Holländer 108
Hollos 508
Hoppe 384
Hoppe (Königsberg) 145,
218, 304, 308, 357, 375,
404, 420
Hüfler 559
Hulst 572
Hüppe 323
Ilberg 384
Israel 143
Jacksch v. 338
Jacobsohn 375, 449, 522
Jahrmärker 297
Jelgersma 420
Jenz 570
Jolly 10, 60, 61
Jones 87
Juliusburger 459
Kaiser 316
Kalischer 374
Kalmus (Prag) 333, 347
Kalmus (Lübeck) 298
Kekule v. Stradonitz 298
Kende 486
Keraval 277
Kirchhoff 570
Kirsch 530
Kockel 499
Kolb 289
Kolk 512
Kölpin 298
Konrad 431, 451
Körner 307
Kornfeld 316
Krafft-Ebing 1, 487
Kraepelin 129, 131
Krauss 417
Krayatsch 481, 489, 501,
Kreuser 87 [569
Krömer 206
Kronthal 308
Ladame 279
Laquer 453
Laudenheimer 419
Learcy 11
Lechner 431, 439, 450
Legrain 464
Lenzmann (Duisburg) 323
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Original frnm
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580
NAMENREGISTER.
Leonova 332
Leroy 392
Levi 418, 523
Levis 496
Leyden 439
Lichtenberg 544
Lilienstein 331
Link 131
Linke 420
Lombroso 455, 463
Lorenz, W., 273
Löwenthal 92, 340, 449
Lückerath 142, 265
Lundborg 301, 311
Luther 316
Macdonald 120
Macpherson 286
Manes 9
Marandon de Montyel 391
Marburg 332
Marie 325, 277, 286, 390
Marina 352
Marinesco 330, 338
Masoin 286
Meeus 278, 286, 572
Meier 420
Meinong 228
Meschede 204, 339, 404
Möbius 62, 156, 265, 281,
454 , 532
Möli 383, 44Q, 457, 465
Moll 463
Möller 76
Mönkemöller 299
Moharrem 132, 353, 367
Molnar 450, 451
Monakow 130, 278
Moravcsik 430, 450
Morel 444
Moulton 11
Münzer 331, 339
Mumm 498
Mundy v. 261
Näcke 144, 444
Nawratzky 571
Neisser 488
Neugebauer 205
Neumann, M., 401,402,513
Nissl 131
Nitsche 392
Nonne 248
Obersteiner 330, 331, 338
Öbecke 386
Olah 109, 216, 277, 430,
440, 451, 508
Pandy 405, 484
Panse 248 '
Pamisetti 463
Peeters 277
Pelman 60, 87, 403
Peretti 87
Petit 391
Pfausler 341, 455
Pick, Fr., 338
Pick 298, 43 2 , 4/2
Picque 157, 391
Picquet 286
Piepers 444
Pierson 385
Pilcz 330
Pitres 360
Plank 484
Poppel 463
Poszvek 485
Preston 11
Pron 172
Quaet-Faslam 106
Quensel 209
Räcke 50, 298, 571
Raimann 331, 339
Rärsz 452
Ranschburg 478, 484, 508
Raymund 499
Reich 449, 523
Risch 420
Robertson 96, 120
Robinovitch 454
Rorie 108
Rosemann 323
Rosenblath 571
Rosenfeld 339, 419
Rothmann 330, 338, 339,
438
Rudolph 392
Rumpf 129, 323
Rühle 417
Rütte 512
Salgo 190, 431, 443, 451,
452, 476, 485, 508
Salomonsohn 572
Sanctis, de, 264, 270
Sander 205
Sano 286
Sarbo 477, 478, 508
Sauermann 386
Schäfer (Lengerich) 41
„ (Blankenhain) 316
Schafter 477
Schermers 512
Schlöss 53
Schmidt, A., 383
Scholz 247
Schön 560
Schönstedt 530
Schröder (Heidelberg) 131
Schüle 61, 128
Schultze (Bonn) 19, 127,
129, 130
Schultze, E., (Andernach)
2, 140, 300, 385, 386
Schwalbe 128
Schwartzer v. Babarcz 429
Seeligmüller 129
Seifert 385
Sickinger 323
Siefert 420
Sighele 444
Siemens bo, 86, 87, 204,
502
Silbersrlimidt 12
Simpson 10
Smith 402
Snell, R., 93, 173
Soury 391
Soutzo 277
Stadelmann 165, 411
Starlinger 97, 421
Stegmann 385
Steiner 387
Steckei 330
Stemberg 332, 338
Sticher 129
Stier 38, 315
Stockmaus 278
Stransky 340
Sträussler 331
Strohmayer 384
Struelens 464
Strümpell 129
Sutherland 463, 464
Szigeti 431, 450, 462
Szeszy, v. 451
Taquet 76
Tamburini 36, 62, 277, 286
Taniguchi 375
Telegdi 431, 451, 478
Trachini 444
Theilhaber 480
Thomson 386, 387
Thudichum 248
Tilkowsky 534
Treitel 76
Treves 464
Truelle 391
Tschisch, v. 454, 464
Ulrich 278
Ungar 386
Vaschide 391
Vogt 217
Voigt 51, 94
Vorster 242
Voss, v. 549
Vulpas 391
Vulpius 127
Wallenberg 205
Wagner, v. 338
Weber (Sonnenstein) 385
Weber (Göttingen) 94, 176,
419
Wehmer 247
Weichelt 225
Weil, M., 414
Wellenberg 444
Westphal 95
Weygandt 129, 162, 299,
30. 380,539
Wickel 204
Wichmann 144
Wiedemann 401
Wiener 339
Wigles worth 119
Wilcox 120
Wildermuth 401
Wille 279
Willmanns 417
Winkler 128
Witthauer 171
Wolff 87
Wollenberg 300, 413
Würth 316
Zacher 387
Ziehen 571
Zimmer 570
Zimmermann 43
Zuccarelli 464
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